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Imre Kertész
Letzte Einkehr
Tagebücher 2001–2009 (2013)
Ein Tagebuchroman (2014)
Rezension von Bernhard Sarin, 2015
Imre Kertész hat 2013 ein neues radikales Werk vorgelegt: Letzte Einkehr. Tagebücher 2001–2009. Wie immer
stellt Kertész sich mit dem Schreiben der ihn bedrängenden Umwelt. Das ist nicht nur ein Fakt, sondern
gewissermaßen sein Hauptthema. Seine Bücher sind
Anleitungen zum Ungehorsam, namentlich zur persönlichen Bildung inmitten eines nivellierenden, alles
vereinnahmenden Konformismus. Deshalb sind sie für
Jedermann von Interesse. Früher war es die sozialistische
ungarische Gesellschaft, gegen deren Ideologisierung er
sein literarisches Werk demonstrativ abschottete, und
in der er entsprechend isoliert war. Heute sind es die
Zumutungen, die seine Rolle als Nobelpreisträger und
prominenter Holocaust-Überlebender mit sich bringen,
aber auch seine angeschlagene Gesundheit und die
Forderungen seines Familienlebens, denen er seine Inspiration abtrotzt. Schon 1991, als sich sein Leben durch
die politische Wende zu normalisieren schien und er
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Erfolg zu haben begann, notiert er im Galeerentagebuch
(1961–1991): „die Inspiration ist die Probe, der Katalysator; doch in den ausgeglicheneren Zeiten meines
Lebens verschwindet die Inspiration, löst sich gleichsam
auf im Ölbad der zufriedenen Gefühle.“
Tatsächlich bewirkte der Systemwechsel von
1989 bei Kertész einen weiteren Kreativitätsschub.
Zunächst sah es so aus, als habe er – nach Schicksalslosigkeit (1975) und Fiasko (1988) – mit seinem dritten
Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1989)
unter den gegebenen Umständen alles Wesentliche gesagt und könne, da seine Aufgabe als Autor erfüllt ist,
die Arbeit guten Gewissens einstellen. Im Roman fragt
in diesem Sinne der Protagonist „B.“, ein „Schriftsteller
und Übersetzer“: „wozu sollte ich danach noch schreiben?“ Jedoch entstand durch die Wende unerwartet eine
neue Situation, die Kertész wiederum schriftstellerisch
beantworte. Er wurde endlich im Westen bekannt (wo
Eva Haldimann doch schon seit 1977 von der Schweiz
aus seine in Ungarn erschienenen Romane rezensierte!),
seine Werke wurden übersetzt, und er hatte zum ersten
Mal ein größeres Publikum. Neben weiteren literarischen Texten (Protokoll und Die englische Flagge 1991,
Ich - ein anderer 1996) verfasste er zu dieser Zeit nicht
zuletzt auch eine Reihe von Essays und Reden, die neue
Weltordnung und das alte Problem des Kulturbruchs
seit Auschwitz betreffend. Die neu entstandenen Möglichkeiten nutzte Kertész zudem dadurch, dass er um
2001 seinen Lebensmittelpunkt aus Budapest nach Berlin verlegte. 2002 erhielt er schließlich den Nobelpreis
für Literatur, was seine Arbeitsbedingungen wiederum
spürbar veränderte. Er wurde zur öffentlichen Person,
welcher Rolle er sich de facto nicht entziehen konnte,
gegen die er aber literarisch zunehmend revoltierte.
Die Tagebücher setzen 2001 ein und berichten
unter anderem von der Fertigstellung neuer Romane
(Liquidation 2003, Dossier K. 2005) sowie den Dreharbeiten für Fateless (2003–2005), der Verfilmung von
Schicksalslosigkeit unter der Regie von Lajos Koltai.
Dabei scheint immer auf, dass der literarische Ruhm
(vielleicht noch mehr als einst die geistige Isolierung)
für Kertész’ Kreativität durchaus problematisch ist und
er sich ihren Erhalt hart erkämpfen muss. Etwa lautet
ein Eintrag von 2003: „Nie hätte ich geglaubt, dass das
Leben eines Erfolgsschriftstellers dermaßen ekelhaft
ist. […] Mir die Möglichkeit zum Schreiben schaffen.
Den geistigen Raum schaffen, besser gesagt, wiederherstellen, in dem ich so lange gelebt habe und der meine
einzige und wahre Heimat ist.“ Durch das gesamte Buch
zieht sich ferner Kertész’ Plan, einen letzten fiktionalen
Text zu schreiben, der ihn in autobiographischer Ma-
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nier gleichsam bis zu seinem Tod begleitet, im Gegensatz zum Tagebuch aber von zufälligen persönlichen
Details abstrahiert: Die letzte Einkehr. Dieser Anspruch
ist für Kertész nicht neu – schon 1974 bewundert er
im Galeerentagebuch Kafkas Fähigkeit zu einer solchen
kalten Selbstobjektivierung. Dessen Figuren, „die K.s“,
würden „nichts Persönliches mehr enthalten, nur noch
das fremd, aber gültig gewordene Allgemeine.“ Daher
sei Kafka für ihn „das Vorbild für jede radikale Kunst:
den Weg angewidert bis zu Ende zu gehen. Dieser Widerwille bedeutet Ablehnung von Selbstbetrug (von
Schönheit) und Verurteilung von Konformismus, der
Ausschmückung des Bewusstseins in Kleinbürgerart
(Lobpreisung des Eigentums und der Mythos von der
Seelentiefe).“ Zu dem Plan, die eigene Existenz bis
zuletzt einer ebenso radikalen Analyse zu unterziehen, kommt eine weitere Idee: eine Nacherzählung
der biblischen Geschichte von Lot, „Gottes einzigem
Gerechten in Sodom“. Dieses Motiv habe er seit jeher
verfolgt, jedoch warte „die Geschichte des Sodomers
Lot […] immer noch darauf, geschrieben zu werden“,
notiert Kertész bereits 2001. 2006 entschließt er sich,
jene beiden Vorhaben „miteinander zu verknüpfen“,
und zwar nach dem Vorbild Rilkes, der in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge die Meditationen des
Protagonisten – die etwa von der Gefährlichkeit des
Ruhms handeln, aber auch von den Vorzügen eines individuellen, „eigenen“ Todes – mit einer Nacherzählung
der Geschichte vom Verlorenen Sohn beschließt, der
von zu Hause floh, weil er die vereinnahmende Liebe
seiner Familie nicht ertrug. 2007 entsteht hierzu als fiktive Figur Dr. Sonderberg („Sonderberg wird geboren“),
der einen Lot-Roman aus gegenwärtiger Perspektive
zu schreiben versucht. Damit stilisiert Kertész sich offensichtlich selbst, insofern er von seiner eigenen Rolle
des geistigen (und nationalen) Exilanten Zeugnis geben
will (was im übrigen stark an seinen 1948 emigrierten
Landsmann Sándor Márai und dessen Tagebücher gemahnt, die er in den USA bis zu seinem Freitod 1989
führte). Als erster Teil des geplanten Textes erschien
das Kapitel Die letzte Einkehr - Doktor Sonderberg im
Vorabdruck in der NZZ vom 7. November 2009. Ein
weiteres Fragment ist in den Tagebüchern gegen Ende
des Jahres 2003 eingefügt. Anscheinend hat Kertész es
also aufgegeben, den Roman zu vollenden. Auffällig
ist dabei die planmäßige Verstreuung des Textes: so
muss das Sonderberg-Kapitel in der NZZ nachgelesen
werden, da es nicht in den Tagebuchband übernommen
wurde. Interessant ist auch eine Notiz Kertész’ von Februar 2007. Aufgrund seiner Befürchtung, das Projekt
nicht regulär beenden zu können, entwirft er dort die
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Lösung, den „Lot-Roman gleichsam vor den Augen
des Lesers entstehen“ zu lassen, ohne ihn aber konkret
auszuführen. Er stellt sich vor, nur zu zeigen, „wie sich
der detaillierte Plan entwickelte“, wobei er aber „vom
Erzählen selbst absehen“ wolle: „Das heißt ihn [den
Roman; B. S.] bis zur Schwelle tragen, aber nicht
mehr den Raum literarischer Prosa betreten …“
Demnach hielte der Leser mit den Tagebüchern,
und dem 2009 in der Presse vorabveröffentlichten Sonderberg-Kapitel, eine Art romantisches
Fragment in Händen, einen bis zur Grenze des
Möglichen ausgeführten und dann demonstrativ unvollendet gelassenen Text. Für diese Sicht
spricht auch Kertész’ Notiz vom 31. Juli 2001:
„Dann wäre also, könnte man sagen, jede große
Kunst, jede bedeutende Stilrichtung für dich romantisch? Aber natürlich, würde ich antworten.
Es gibt zwei Arten von Kunst: romantische und
schlechte Kunst …“ – Ich denke, Kertész hat uns
ein weiteres, großes Werk geschenkt.
Basierend auf den Tagebüchern von 2013 erschien 2014 von Kertész unter dem gleichen Titel
überraschend der Band Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman (dt. Übers. 2015). Zunächst unterscheidet sich dieser Roman von den Tage­büchern
durch einige Kürzungen und den weitgehenden
Verzicht auf Daten. Kertész strafft dadurch den
Text, ohne aber die wesentlichen Themen auszublenden. Statt wie in den Tagebüchern von
einer Vielzahl konkreter Details zu berichten,
zielt er nun offenbar darauf ab, dem Leser eine
dazu äquivalente, abstrahierende Vorstellung
zu vermitteln. Wichtiger als diese Kürzungen
erscheint jedoch, dass am Schluss des Romans
endlich auch das in den Tagebüchern fehlende
Sonderberg-Fragment eingefügt ist („Die letzte
Einkehr. Zweiter Anlauf “). Sonderberg nimmt
sich dort vor, die biblische Geschichte von Lot
unter heutigen Bedingungen nachzuerzählen,
wobei er an eine realistische Darstellung seiner eigenen
Erfahrungen denkt: „Wie komme es, dass heutzutage
ein Roman seinem Verfasser die denkbar unromanhaftesten Mittel, die schwerfällige und langweilige Moral
absoluter Authentizität abfordere […]?“ Damit ­realisiert
­Kertész seine Idee, analog Rilkes Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge die Lot-Thematik mit der abstrahierenden Selbstanalyse zu verbinden, wie er sie für
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Die letzte Einkehr geplant hatte: Ein möglicher LotRoman Sonderbergs bestünde nämlich in den fiktiven
Tagebüchern eines Schriftstellers Imre Kertész, die
unter anderem zwei fragmentarische Entwürfe zu Die
letzte Einkehr enthalten, wovon der zweite eben das
Magda und Imre Kertész
Berlin 2012
Sonderberg-Kapitel ist. (Diese Form der Fiktionalisierung hat Kertész bereits in Fiasko verwendet – dort liest
„der Alte“ Passagen aus seinen „Papieren“, welche sich
als Notizen aus Kertész’ Galeerentagebuch erweisen.)
Im Gegensatz zu den Tagebüchern, die im Prinzip fortlaufend erweitert werden könnten und gegenüber den
realen Erlebnissen Kertész’ offen sind, erhält der Text
des Romans so eine geschlossene Form, in der alles auf
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eine fiktionale Ebene gebracht ist, ohne freilich auf das
reale Fundament zu verzichten.
Was bei Erscheinen der Tagebücher noch wie
ein mit großer Geste abgebrochenes Projekt aussah,
konnte Kertész also, durch zweckmäßiges Umgruppieren des vorhandenen Materials, im Tagebuchroman wie
vorgesehen vollenden. Durch die (warum so späte?)
Hinzunahme des Sonderberg-Kapitels fügt sich das im
romantischen Sinne Fragmentierte glücklich zu einem
organischen Ganzen. Tatsächlich ist im Roman auch
die Tagebuch-Notiz von 2001 über die „romantische“
„Kunst“ gestrichen, die als Bekenntnis zum Fragmentarischen gedeutet werden könnte. Stattdessen bezeichnet
Kertész in der Widmung das neue „Buch“ als konstruktive „Krönung“ seines „Werkes“ (wie schon im Tagebuch,
8. November 2006: „Dieses kleine Buch wird die Krone
… aber lassen wir das, wer spricht von Siegen?“)
Imre Kertész, Die Letzte Einkehr - Doktor Sonderberg,
NZZ, 7. November 2009, Übers.: Ilma Rakusa
http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/die-letzteeinkehr-1.3981868 (20.03.2015)
Imre Kertész, Letzte Einkehr. Tagebücher 2001–2009.
Mit einem Prosafragment, Übers.: Kristin Schwamm
und Adan Kovacsis (Prosafragment)
Reinbek (Rowohlt), 2013
ISBN 978 3 498 03562 4
Imre Kertész, Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman,
Übers.: Kristin Schwamm, Adan Kovacsics (Prosafragment Erster Anlauf) und Ilma Rakusa (Zweiter Anlauf)
Reinbek (Rowohlt Taschenbuch Verlag), 2015
ISBN 978 3 499 26910 3
Fotos: Bernhard Sarin, Eröffnung des Imre Kertész Archivs in der
Akademie der Künste Berlin, 15. November 2012
© Bernhard Sarin, 2015