Der sich sein Schicksal zurückholte Imre Kertész, Literaturnobelpreisträger, Auschwitz-Überlebender, ist gestorben ▶ Seite 2 AUSGABE BERLIN | NR. 10982 | 13. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ FREITAG, 1. APRIL 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Das Dorf der Schlepper ÄGYPTEN Fast alle, die in einem Fischerdorf nahe Alexandria wohnen, arbeiten im selben Business: Sie bringen flüchtende SyrerInnen übers Meer bis an die italienische Küste ▶ SEITE 3, 12 MARKE Die große Verführung: Heute vor 40 Jahren wurde Apple gegründet ▶ SEITE 13 MUSIK Das New Yorker Trio Yeasayer erforscht auf „Amen & Goodbye“ das Dilemma mit der Religion ▶ SEITE 15 MENSCH Positive Bilanz bei der Berliner Kältehilfe. Trotzdem gibt es immer mehr Obdachlose in der Stadt ▶ SEITE 22 Borg Megheisil im ägyptischen Nildelta, März 2016. Es heißt, eine Bootsladung voller Menschen nach Italien bringe bis zu 300.000 Euro Foto: Karim El-Gawhary Fotos: ap „Wahlen sind nötig“ Freispruch für Ultranationalisten KONGO Oppositionschef Katumbi im taz-Interview Manchmal ist das Nachrich tengeschäft sehr undankbar. Da zerbricht sich verboten wo chenlang den Kopf über die Frage, mit welchem Quatsch die verehrte Leserschaft am 1. April in die Irre geführt wer den kann, und denkt sich lau ter herrlichen Unsinn aus. Zum Beispiel, dass Apple und der BND beide am selben Tag ei nen runden Geburtstag feiern. Dass die SPD Merkels Türkei politik lobt. Oder dass der größte nationalistische Hetzer der Jugoslawienkriege vom UN-Kriegsverbrechertribunal freigesprochen wird. Und dann ist 31. März und BERLIN taz | Der beliebteste Po- alles stimmt. Z Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.714 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Er verlängerte das Mandat der knapp 20.000 Soldaten starken UN-Mission im Kongo um ein Jahr – ohne die von Kabila gewünschte Truppenreduzierung. ▶ Ausland SEITE 11 UN-Tribunal: Šešelj nicht für Kriegsverbrechen verantwortlich BELGRAD dpa | Schockstarre, böse Kritik und ungläubiges Kopfschütteln in Kroatien und Bosnien – Jubel im rechtsextremen Lager Serbiens. Der völlig unerwartete Freispruch des UNJugoslawien-Kriegsverbrechertribunals für den serbischen Nationalisten Vojislav Šešelj hat die Balkanhalbinsel erschüttert. Die Folgen dieser Sensation sind kaum überschaubar: für die oh- nehin angespannten Beziehungen in der Region und für das politische System Serbiens. Nach diesem „erschreckenden und schockierenden Urteil“ sollte man „das Gericht sofort schließen“, verlangte eine einflussreiche kroatische Zeitung. Die „eingesparten Millionen sollte man für die Exhumierung der Massengräber verwenden“, so der bittere Vorschlag. roatiens Regierungschef Tiho K mir Orešković verurteilte die Entscheidung als „Schande“. Der Freispruch katapultiert den Chefideologen des Projekts Großserbien, das in den Kriegen der 90er Jahren weit über 120.000 Tote, Hunderttausende Verletzte und Millionen Vertriebene verursacht hatte, in politisch lichte Höhen. ▶ Schwerpunkt SEITE 5 ANZEIGE KOMMENTAR VON ERICH RATHFELDER ZUM FREISPRUCH DES SERBISCHEN NATIONALISTENFÜHRERS ŠEŠELJ Der Brandstifter bleibt unversehrt uerst haben die Menschen in Bosnien und in Kroatien die Nachricht über den Freispruch von Vojislav Šešelj für einen schlechten Scherz gehalten. Auch in Serbien war die Überraschung perfekt, selbst Šešelj hatte nicht mit diesem Urteil gerechnet. Denn er hatte das Gericht immer als Instrument des Westens betrachtet, Serbien zu demütigen. Doch auch nach dem Spruch in Den Haag bleibt er vor der Geschichte schuldig. Als Šešelj 1989 seine Tschetnikbewegung gründete, gab er den Ton für die nationalistisch-faschistische Bewegung in Serbien vor. Der ehemalige Kommunist, der Mitte der 80er Jahre zum glühenden Nationalisten konvertierte, wurde zum Ideologen eines ethnisch reinen Großserbiens, das alle Serben, die in Jugoslawien lebten, in einem Staat zusammenfassen wollte. In einer Vielvölkerregion, wie es der Balkan nun einmal ist, bedeutet diese Strategie von vornherein, Kriege zu provozieren und die Vertreibung und Ermordung aller Nichtserben aus den von Serben beanspruchten Gebieten durchzuführen. Šešeljs Tschetniktruppen aus Hooligans und Kriminellen waren 1989 die ersten paramilitärischen Verbände. Die später im Krieg von ihm politisch beeinflussten Truppen wie die der „Weißen Adler“ und „Gelben Wespen“ begingen zweifelsfrei große Verbrechen in der zu Kroatien gehörenden Region Slawonien, in Vukovar und in Ostbosnien, sie waren beteiligt an der Ermordung Hunderter in der Kleinstadt Visegrád an der Drina, in Ovčari und später dann im Kosovo. Šešelj war schlau genug, niemals direkt als militärischer Kommandeur aufzutreten, wie andere es taten. Er hatte ständig Krach mit ihnen und sogar mit Präsident Slobo- Die Aufarbeitung der Verbrechen der 90er Jahre dürfte in Serbien nun noch schwerer fallen dan Milošević, mit dem er mal koalierte und den er mal bekämpfte. Das wirre Verhalten Šešeljs ist ihm jetzt im Urteil zugute gekommen. Die Aussage des Gerichts, für Großserbien einzutreten sei Politik und kein Verbrechen, macht die allerdings fragwürdige Haltung des Gerichts deutlich. Dass das UN-Tribunal die Ideologen des Völkermords nicht zur Verantwortung ziehen will, war schon in anderen Prozessen deutlich geworden. Die serbische Öffentlichkeit interpretiert diesen Freispruch trotz der Verurteilung des Serbenführer Radovan Karadžić vor einer Woche als Entlastung für die Serben insgesamt. Und Šešelj hat jetzt sogar die Chance, bei den Wahlen am 25. April triumphal ins serbische Parlament zurückzukehren. Die Aufarbeitung der Verbrechen der 90er Jahre wird nun noch schwerer fallen. Weil Šešelj weiterhin für Großserbien kämpfen will, wird sich die Atmosphäre in der Region wieder verschlechtern. Und ob mit Šešelj als EU-Gegner und Russlandfreund die Pro-EU-Strategie der jetzigen Regierung durchgesetzt werden kann, ist fraglich. DIE ERSTE BIOGRAFIE „Christian – Du Ulrike Meinh spinnst.“ of, 1974 ,00 TAZ MUSS SEI N litiker der Demokratischen Republik Kongo, Fußballmäzen Moise Katumbi, hat nach seiner Kür zum Präsidentschaftskandidaten des wichtigsten Oppositionsbündnisses gegenüber der taz Sorgen über die Stabilität seines Landes geäußert. Im Interview in Brüssel warnt Katumbi Präsident Joseph Kabila vor Verfassungsbruch und for- SERBIEN Seiten, gebu nden , € 24 Guten Tag, meine Damen und Herren! 464 VERBOTEN „1968 ist für Ströbele noch immer Chiffre einer kollektiven Identität, gegen die deutsche Nation und die Mehrheitsgesellschaft. Die Revolution ist ihm geistige Heimat. Ströbele hält es mit 68 und der linken Militanz so wie manche Patrioten mit ihrer Heimat: Right or wrong – my movement!“ Stefan Reinecke www.berlinverlag.de 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt FREITAG, 1. APRI L 2016 Literatur Nicht alle in seiner Heimat Ungarn mochten Imre Kertész. Zu sehr rüttelte der Träger des Literatur-Nobelpreises am Tabu der Schuld Der Überlebende NACHRUF Mit Imre Kertész ist einer der größten Schriftsteller der Weltliteratur gestorben. Er hat seine Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern literarisch und gnadenlos gegen sich selbst durchdrungen und blieb doch stets der freundliche ältere Herr VON DIRK KNIPPHALS Auf späten Fotos trägt Imre Kertész gern einen Hut. Krawatte, guter Anzug – die Gestalt eines Schriftstellers, zu der einem der Begriff „leicht veraltet“ einfällt, was aber gut zu einem 1929 geborenen Herrn passt. Er selbst hat sich als „hedonistisch“ bezeichnet. Menschen, die ihm begegnet sind – von 2001 bis 2012 hat Kertész in Berlin gelebt –, betonen seine Höflichkeit und seine Selbstironie. Wenn man sich klarzumachen sucht, was den Lauf dieses Lebens und vor allem aber auch den Rang seines Schreibens ausmacht, kann man aber auch auf ein ganz anderes Foto stoßen. Es zeigt einen ausgemergelten Jungen mit glattrasiertem Kopf und dünnem Hals. Er trägt Sträflingskleidung, im unteren Bereich des Bildes steht eine Nummer: 0 24 6 44 21. Mit den späten Bildern des berühmten Schriftstellers, Nobelpreisträgers und freundlichen Herrn bekommt man es nicht zusammen. Und doch ist das auch Imre Kertész, der bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 durch die Amerikaner 329 Tage in Konzentrationslagern gefangen gehalten worden war. Bereits im September 1945 saß er schon wieder auf derselben Schulbank des ungarischen Gymnasiums, aus dem er ein Jahr zuvor geholt worden war. Seine Biografin Irene Heidelberger-Leonard merkt dazu an: „Über die Umstände seiner Abwesenheit wurde nicht gesprochen, niemand stellte Fragen, und er gab nichts preis.“ Genau dieser Umgang mit der Geschichte, das Beschweigen, wird von Imre Kertész in seinem Hauptwerk, dem „Roman eines Schicksallosen“, als Überlebensstrategie beschrieben. „Vor allem musst du die Gräuel ver- gessen“, bekommt der jugendliche Ich-Erzähler gesagt, in dem Kertész seine eigenen Erlebnisse in Auschwitz und Buchenwald beschreibt. „Wieso?“, fragt er zurück. „Damit du leben kannst“, bekommt er zur Antwort. Imre Kertész selbst gelang ein anderer Weg. Verbissen, wie er in autobiografischen Auskünften beschrieben hat, auch immer wieder hoffnungslos, kämpft er von 1960 an gut ein Dutzend Jahre darum, seine Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Heraus kam Mitte der siebziger Jahre – und zunächst überhaupt nicht gewürdigt – der „Roman eines Schicksallosen“, eine der größten, nachhaltigsten und zugleich herausfor- derndsten Leseerfahrungen, die die Weltliteratur bereithält. Herausfordernd keineswegs deswegen, weil es besonders kompliziert oder umfassend wäre. Das Buch ist eines dieser Meisterwerke, die nicht auftrumpfend entgegentreten, dem Leser aber doch alle seine gewohnten Sichtweisen durcheinanderwirbeln. „Es ist konsequent aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählt, der Auschwitz nur überleben konnte, indem er seine Individualität aufgab und sich restlos dem System KZ unterwarf. Er akzeptiert die totale Herrschaft über seinen eigenen Körper und sein Schicksal und macht sich damit, so eine der Thesen Kertész’, ebenso am Fort- bestehen des KZ schuldig wie die Henker. Kertész: „Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der das durchlebt hat, kann […] nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein.“ Seinen Rang als Autor macht aus, dass Kertész diese Erfahrung literarisch durchdrungen hat, bis hin zu solchen zunächst unangemessen klingenden, aber doch genauen Wendungen „Vor allem musst du die Gräuel vergessen.“ – „Wieso?“ – „Damit du leben kannst“ wie die vom „schönen Konzentrationslager“: „Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“ Kertész ist ein Autor, der als Überlebender mit sich selbst ins Gericht ging. Und genau damit holte er sich sein Schicksal zurück. „Schicksallosigkeit bedeutet, Menschen werden gezwungen, ein Schicksal zu leben, das eigentlich nicht ihres gewesen ist“, sagte er einmal. So etwas den Menschen anzutun warf er sein Leben lang den Nazis vor und auch den kommunistischen Regimen des Kalten Krieges. Die Literatur bot ihm – auch in seinen anderen Romanen „Fiasko“ und „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ sowie in seinen autobiografischen Büchern – die Möglichkeit, dieser Schicksallosigkeit reflektierend zu entkommen, indem er sie unerschrocken analysierte: eine ungeheure Leistung. 2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis. 2012 zog er, an Parkinson erkrankt, von Berlin in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Am 31. März 2016 ist er im Alter von 86 Jahren gestorben. Bibliografie Auszug der auf Deutsch lieferbaren Bücher ■■Roman eines Schicksallosen, Rowohlt 1999, 9,99 € ■■Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Rowohlt 2002, 7,90 € ■■Letzte Einkehr: Ein Tagebuchroman Rowohlt 2015, 10,99 € ■■Fiasko, Rowohlt 2001, 9,90 € ■■Galeerentagebuch, Rowohlt 1999, 8,50 € ■■Liquidation, Rowohlt 2005, 8,90 € ■■Ich – ein anderer. Roman, Rowohlt 1999, 7,50 € ■■Dossier K.: Eine Ermittlung, Rowohlt 2008, 8,95 € ■■Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt, Rowohlt 1999, 7,50 € ■■Detektivgeschichte, Rowohlt 2006, 7,90 € ■■Die englische Flagge, Rowohlt 1999, 8,50 € ■■Opfer und Henker, Rowohlt 2007, 7,00 € Im Herbst erscheint bei Rowohlt ein Abschlussband der Tagebücher: Der Betrachter – Aufzeichnungen 1991–2001. Höflicher Mann mit Hut: Imre Kertesz im Jahr 2003 Foto: B. Cannarsa/Opale/laif „Ist der überhaupt ein Ungar?“ „Kertézs litt sehr unter den Angriffen“ UNGARN In seiner Heimat war Kertész wegen seiner offenen Kritik umstritten BERLIN taz | Seit seiner Auszeich- nung mit dem Literatur-Nobelpreis im Jahr 2002 scheiden sich in Ungarn über Imre Kertész die Geister: Bis heute fällt es vor allem rechten Politikern und breiten Teilen der Bevölkerung schwer, sich mit seinen Werken auseinanderzusetzen. „Sein Thema hat das literarisches Werk immer verdeckt, und es wird noch lange Zeit brauchen, bis das nicht mehr so ist“, schrieb der ungarische Schriftsteller Péter Nádas, seit 2006 Mitglied der Berliner Akademie der Künste, über Imre Kertész. Anlässlich seines Todes kondolierten auch der Budapester Bürgermeister und Vertreter der ungarischen Regierung sowie einiger oppositioneller Parteien. Sie lobten das Lebenswerk des mittlerweile auch in Ungarn mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers. Doch der Holocaust gehört in Ungarn bis heute zu den unaufgearbeiteten Bereichen der Vergangenheit. Noch immer besteht kein Konsens über eine eigene Schuld. So ließ die un- garische Regierung 2014 ein Mahnmal errichten, das der NSBesatzungszeit gedenkt, das allerdings Ungarn als reines Opfer darstellt und die enge Zusammenarbeit der ungarischen Machthaber mit den Nazis ausblendet. 600.000 ungarische Juden sind damals deportiert worden. Den Regierungschef verglich Kertész mit dem Rattenfänger von Hameln Vor der Verleihung des Nobelpreises war Imre Kertész in Ungarn nicht Bestandteil des literarischen Kanons. Umso größer waren der Aufruhr und die Scham, als Kertész die höchste literarische Auszeichnung erhielt: Die Reaktionen reichten von „Ist er überhaupt ein ungarischer Autor?“ bis zu peinlicher Berührtheit über die Unkenntnis seiner Werke. „Als er den Nobelpreis erhielt, waren wir fast die einzige Buchhandlung in Budapest, die seine Werke parat hatte“, sagt Éva Rédei, Leiterin der Láng Téka Buchhandlung im jüdischen Viertel Budapests. Den Grund für die gespaltene Rezeption von Imre Kertész lieferten neben der Scheu vor dem Thema Holocaust auch einige Interviews mit Kertész, in denen er den Antisemitismus und die ungarische Politik scharf kritisierte. So nannte er sich selbst einen Holocaustclown, stritt ironisch ab, dass er überhaupt Ungar sei, sprach von der Balkanisierung Budapests, vom wachsenden Rechtsradikalismus und verglich Premier Viktor Orbán mit dem Rattenfänger von Hameln. Es folgten Hasstiraden von Rechtsradikalen. Erst 2014 erhielt der Schriftsteller die höchste Auszeichnung, die der Staat des Rechtspopulisten Viktor Orbán zu verleihen hat: den Sankt-Stephans-Orden. Dass Imre Kertész diese Ehrung angenommen hat, wurde vielerorts mit Befremden aufgenommen. ANNA FRENYO ERINNERUNG György Dalos über die Rezeption von Kertézs’ Werken in Ungarn taz: Herr Dalos, welche Bedeutung hat Imre Kertész für Ungarn? György Dalos: Imre Kertész hat mit seinen beiden Meisterwerken „Roman eines Schicksallosen“ und „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ die ungarische Literatur bereichert. Er gehört jetzt schon zu den Klassikern. Nun galt Kertész in seinem Heimatland Ungarn auch als ein Nestbeschmutzer, der auf die ungarische Mitschuld am Holocaust verwiesen hat. Wie ist das zu verstehen? Es ist eine schlechte ungarische Tradition, Ausland und Inland strikt auseinanderzuhalten. Ich glaube, wenn Kertész als in der ganzen Welt bekannter Schriftsteller in Deutschland etwas über Ungarn sagte, dann wurde das anders bewertet, als wenn er dies in Ungarn gesagt hätte. Das ist, so glaube ich, ein Zeichen der Provinzialität unseres Landes. Kertész, der kein Politiker war, zog daraufhin den Zorn von rechten bis rechtsradikalen Kreisen auf sich und litt sehr unter diesen Angriffen. Kertész hat mit seinen Romanen auch an einem Tabu gerührt. Der „Roman eines Schicksallosen“ erschien erstmals 1975. Das Thema war damals kein absolutes Tabu. Ich glaube aber, dass Kertész damals die Lektoren mit seiner völlig souveränen, eigentlich ironischen Schilderung des Holocaust mit den Augen eines Heranwachsenden in Verlegenheit brachte. Der Holocaust war in der kommunistischen Zeit in Ungarn ein nur sehr vorsichtig behandeltes Thema. Natürlich konnte man Romane über den heldenhaften antifaschistischen Widerstand der Kommunisten schreiben. Aber die Realität wurde in nur sehr wenigen Texten authentisch dargestellt. Und diese Authentizität hat damals gestört. Im Jahr 2014 hat Kertész den Stephansorden angenommen, dessen Geschichte bis in die Zeit der rechtsautoritären Führung Ungarns während des Zweiten Weltkriegs reicht. Hat er damit seinen Frieden mit der ungarischen Politik gemacht? Ich glaube, dass er als alter und kranker Mann von all diesen Angriffen einfach müde geworden ist. Er wollte endlich seine Ruhe haben. Aber er hat sie nicht bekommen – trotz dieser sehr freundlichen Geste gegenüber der ungarischen Regierung. KLAUS HILLENBRAND György Dalos ■■geboren 1943, wuchs in Budapest in einer ungarisch-jüdischen Familie auf und ist Schriftsteller. Wegen staatsfeindlicher Äußerungen erhielt er 1968 Berufsverbot und arbeitete fortan als Übersetzer. 1987 zog er nach Wien, heute lebt er in Berlin. Zu seinen Veröffentlichungen zählen „Proletarier aller Länder, entschuldigt mich“ (1993), „Ungarn in der Nussschale“ (2004) und „Geschichte der Russlanddeutschen“ (2014). Foto: picture alliance Schwerpunkt Menschenschmuggel FREITAG, 1. APRI L 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Borg Megheisil sieht aus wie ein ganz normales ägyptisches Fischerdorf. Doch fast alle hier leben von der Schlepperei AUS BORG MEGHEISIL KARIM EL-GAWHARY Zu den Schleppern geht es entlang verschlungener, holpriger Straßen, eingerahmt von malerischen Dattelpalmenhainen und großen Schilfflächen. Es riecht nach Meer, die Brise schmeckt salzig, am nördlichen Ende des Nildeltas, dort wo der westliche Rosetta-Nil-Arm das Mittelmeer trifft. Hier liegt der Ort Borg Megheisil, ein ganz normales ägyptisches Fischerdorf, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein paar Fischkutter liegen im Sand auf Grund. Andere fahren gemächlich den Nil hoch, die letzten paar hundert Meter Richtung Meer. Auf der Dorfstraße herrscht eine rege Mischung aus Autos, Motorrikschas und Eselkarren. Knatternde Dieselmotoren pumpen das Wasser aus dem Bewässerungskanal auf die benachbarten Felder. Was man auf den ersten Blick nicht sieht: Praktisch das ganze Dorf lebt von der Schlepperei. Fast jeder hier steckt mit in dem Geschäft, vor allem syrische Flüchtlinge über das Meer nach Italien zu bringen. Reda, in ihrer schwarzen, elegant bestickten Abaya, ihrem Umhang, ist so etwas wie die Dorfmatrone. Sie selbst besitzt zwei Boote. Die seien von der Schlepper-Mafia gestohlen worden – das behauptet Reda zumindest. Denn beide Schiffe sind inzwischen von den Behörden konfisziert worden. Die Bootsbesitzerin redet als eine der wenigen offen über die dunkle Seite des Dorfes. „Die großen Schmuggler, die kennen wir alle beim Namen. Die nutzen die Jugendlichen des Dorfes aus, von denen 95 Prozent im Schlepperhandel arbeiten“, erzählt sie. Eine Überfahrt mit Flüchtlingen nach Italien werfe umgerechnet bis zu 300.000 Euro Gewinn ab. „Da sind Leute im Dorf über Nacht zu Millionären geworden.“ Den Reibach machten die großen Schlepper im Hintergrund und die Bootsbesitzer, erklärt sie. Die Vorgehensweise ist immer die gleiche. „Jeder große Schlepper hat mehrere Vertreter, die die Flüchtlinge zusammensammeln und dann in einem Haus oder in einer Viehscheune zwischenlagern, wie sie das nennen, bis sie sich mit dem Bootsbesitzer einig geworden sind. Dann bringen sie die Flüchtlinge mit kleinen Booten zu größeren. Von dort geht es nach Italien“, berichtet Reda. Vier bis sieben Tage dauert die Reise, entlang der Küste hinüber in libysche Gewässer und dann über das Meer an die italienische Küste. Die lokale Polizei scheint schon längst Teil des Geschäfts, erzählt die Bootsbesitzerin Reda. „Mit Geld kann man alles erreichen.“ Die großen Schlepper im Ort lassen sich nicht interviewen. Sie scheuen alles, was Licht auf ihre Geschäfte wirft. Aber unten am Strand trifft man die Jugendlichen des Fischerdorfes. Sie sind diejenigen, die am Ende mit den Booten rausfahren. „Ich bekomme für eine Ladung, die ich rüberfahre, umgerechnet 500 Euro“, berichtet einer von ihnen, ein Schüler, der sicher noch keine 18 Jahre alt ist und der seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen will. Es sei schwer, weil die Flüchtlinge oft in schlechtem Zustand seien. Aber den jungen Mann mit der Baseballkappe und den Hunderte Rettungswesten und ein zerschelltes Boot zeugen von der lebensgefährlichen Reise vieler Flüchtlinge Foto: Petros Giannokouris/ap Kasse machen mit der Flucht SCHLEUSER 95 Prozent der Jugendlichen des Ortes arbeiten für die großen Schlepper, schätzt eine Bewohnerin. Das hat System: Sollten sie beim Steuern der Flüchtlingsboote erwischt werden, bleiben sie meist straffrei Kopfhörern im Ohr plagen dennoch keine Zweifel: „Wenn es wieder eine Gelegenheit gibt, werde ich es wieder machen. Ich warte nur bis die Schule zu Ende geht. In den Ferien geht es dann wieder los. In der Schulzeit bin ich in der Schule, in den Ferien arbeite ich als Schlepper“, sagt er. „Entweder du arbeitest hier als brotloser Fischer oder du fährst die Italien-Route.“ In der eine Autostunde entfernten Hafenstadt Alexandria hat sich die Lokaljournalistin Hana’a Abul Ezz in ihrer Arbeit auf Recherchen rund um Flüchtlinge und die Schlepper spezialisiert. Dass die Jungen die Boote steuern, habe System, erklärt sie. „Diejenigen, die auf den Schiffen arbeiten, sind meist unter 18. Wenn das Schiff dann vor Italien aufgebracht werden sollte, dann können sie nur Minderjährige festnehmen. Meist werden sie dann als Opfer behandelt, bekommen einen Flüchtlingsstatus und statt ins Gefängnis wer- Die Überfahrt nach Italien ■■Route: Die Flüchtlingsbewegung übers Mittelmeer nach Italien nimmt deutlich zu. In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben sich mehr als 16.000 Migranten auf die gefährliche Überfahrt von Afrika nach Italien gemacht. Das waren etwa 6.000 mehr als im selben Zeitraum vor einem Jahr. ■■Unglück: Nach dem Untergang eines Flüchtlingsboots vor der Küste Libyens werden Dutzende Menschen vermisst. Ein Sprecher der libyschen Marine sagte, auf dem Boot hätten sich 120 Migranten befunden. 32 seien vor dem Ertrinken gerettet worden. (rtr) den sie in Italien in die Schule geschickt.“ Aber trotzdem wollten sich die Jugendlichen nicht erwischen lassen, denn für jede Fahrt bekommen sie umgerechnet 500 Euro. Wenn die großen EU-Kriegsschiffe also zur Schlepperbekämpfung durchs Mittelmeer kreuzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nur ein paar ägyptische Schuljungen aufgreifen. Die Journalistin Abul Ezz hat auch die übliche Vorgehensweise der Schlepper recherchiert. „Die Vertreter der Schlepper-Mafia gehen in die Cafés in Alexandria, in denen sich die syrischen Flüchtlinge aufhalten. Sie sprechen sie an und versprechen ihnen, dass sie ihnen helfen können. Ausgemacht wird dann ein Preis zwischen 3.000 und 3.500 Dollar für die Überfahrt“, erklärt sie. Wann diese beginnt, werde den Flüchtlingen nicht gesagt. Sie bekommen einen Anruf, wo sie sich versammeln sollen. Dort werden sie meist mit einem Bus zu einem entlegenen Ort gebracht und in einem Haus „zwischengelagert“, erklärt Abul Ezz. Zuvor würden ihnen vorläufig die Handys abgenommen, damit sie mit niemanden Kontakt aufnehmen können. Wenn die Reise schließlich losgehe, würden die Flüchtlinge überraschend und meist mitten in der Nacht geweckt. „Bei den Schleppern sind viele an der Operation beteiligt. Einige sichern den Ort ab, von dem aus es losgeht. Nichts wird dem Zufall überlassen, alles kalkuliert. Auch das Meer wird überwacht. Die wissen genau, wann und wo die Küstenwache langfährt“, sagt die Journalistin. Nicht immer geht das für die Schlepper gut aus, vor allem für jene, die die Boote gesteuert haben und die manchmal doch über 18 Jahre alt waren. Mehrere Familien laden im Dorf in ihre Häuser ein und erzählen, dass ihre Söhne in Italien verhaftet wurden. Andere wurden entlang der Strecke aufgebracht und sitzen in Libyen oder sogar in Tunesien im Gefängnis. „Ich dachte, mein Sohn sei rausgefahren zum Fischen. Dann habe ich gehört, er sei in Italien festgenommen worden“, erzählt dessen Mutter. „Der hat uns ganz schön über den Tisch gezogen“, sagt sie über den Mann, für den ihr Sohn gefahren ist. Von dem habe sie kein Geld gesehen. „Der sollte verhaftet werden. Der organisiert jeden Tag eine neue Tour“, fordert die Frau. „Da drüben nicht weit von hier hat der große Schlepper sein Haus.“ Sie deutet auf ein neues dreistöckiges Haus mit Blick vom Balkon auf den Nil, das zwischen den heruntergekommen Nachbargebäude heraussticht. Es ist auffällig, dass einige der Gebäude im Dorf neu gebaut oder frisch renoviert sind. Diese Häuser seien nicht mit ägyptischen Pfunden, sondern mit den Dollars der Flüchtlinge finanziert, sagt Bootsbesitzerin Reda. „Jeder im Dorf träumt davon, eines Tages auch so ein schönes mehrstöckiges Haus wie der Schlepper zu besitzen.“ Doch der Blick auf die neuen Häuser bringt nur einen Teil des Schlepperreichtums zutage. Die haben ihren Wohlstand längst ausgelagert. „Diejenigen, die als große Schlepper arbeiten, haben Angst, gefragt zu werden, wo sie das Geld her haben. Also „In der Schulzeit bin ich in der Schule, in den Ferien arbeite ich als Schlepper“ bauen sie sich ein Parallelsystem auf“, erklärt die Lokaljournalistin Abul Ezz. Zunächst besäßen sie noch eine zweite große Wohnung in Alexandria. „Sie fahren regelmäßig nach Italien oder Frankreich oder an andere Orte in Europa. Dort haben sie sogar Wohnungen und manchmal eine andere Arbeit.“ Ab und zu kämen die große Schlepper, um ihre Familie zu besuchen, sagt Abul Ezz. „Sie haben ein schönes mehrstöckiges Haus hier, aber ihr wirkliches Leben findet woanders statt.“ Die Zeichen stehen gut, dass die sich noch mehr am Flüchtlingselend bereichern können. „Die Westbalkan-Route ist dicht, Libyen ist zu chaotisch und gefährlich, also wird Ägypten unter den syrischen Flüchtlingen ab dem Frühling wieder Konjunktur haben“, erläutert der auf Flüchtlinge spezialisierte Anwalt Muhammad Said in Alexandria. Aber auch Ägypten verweigert weiteren Flüchtlingen aus Syrien seit letztem Jahr den Zugang ins Nilland, in dem offiziell über 130.000 registrierte syrische Flüchtlinge leben. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weit höher. „Der einzige Weg für die Syrer, heute nach Ägypten zu gelangen, um von hier dann nach Italien weiterzureisen, der verläuft über den Libanon. Dann fliegen sie in den Sudan, weil sie in Ägypten kein Visum mehr bekommen. Von dort aus gehen sie zu Fuß durch die Wüste, drei, vier Tage lang, bis sie im südägyptischen Assuan ankommen“, sagt der Anwalt. Schließlich geht es weiter nach Alexandria, wo die Syrer von den Schleppern angesprochen werden. In Borg Megheisil bereiten diese die Kutter für die nächste Ausfahrt vor. Keiner weiß, ob sie nachts zum Fischen oder zum Schmuggeln rausfahren. „Hier haben sie schon alles geschmuggelt“, erzählt Bootsbesitzerin Reda. Politische Dissidenten und Muslimbrüder raus, Waffen und IS-Kämpfer rein. Und natürlich auch Drogen. „Aber das Geschäft mit den Flüchtlingen“, sagt sie, „das ist viel lukrativer als der Drogenhandel.“ Im Dorf der Schlepper gelten eigene Gesetze. Die Schleuser-Mafia gibt den Ton an, während die Jugendlichen davon träumen, eines Tages auch einmal ein so schönes Haus zu haben wie die großen Schlepperbosse. Sicher, sie sind hier fast alle kriminell und in dunkle illegale Geschäfte verstrickt. Aber für die Flüchtlinge sind sie auch ein Ticket – das einzige, dass sie nach Europa bringt.
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