Zeitfragen - Taz-Beilage zur MaerzMusik 2015

ZEIT
FRAGEN
TIME IS
WHAT
HAPPENS
WHEN
NOTHING
ELSE DOES
Richard Feynman
2
Vorwort
Warum haben wir alle so wenig Zeit? Die Erfahrung des Wettlaufs gegen die Zeit, gerade in einer Stadt wie Berlin, ist stets
präsent in unserer Gegenwart. Sie wirkt hinein in unsere
Wahrnehmung von Kunst und Kultur, und weckt zugleich die
Sehnsucht nicht nur nach mehr Zeit, sondern nach anders
­erfahrbarer, reicherer Zeit.
Das „Festival für Zeitfragen“, wie Berno Odo Polzer es als neuer
Leiter von MaerzMusik für die Berliner Festspiele entwickelt
hat, nutzt in den nächsten Jahren das Phänomen der Zeit als
eine Sonde. Wer sich dem Phänomen der Zeit widmet, hört
­anders hin, erlebt Räume und die Gesellschaft anders und denkt
über Politik neu nach. Musik ist ein Medium, das chronologische
und effizienzorientierte Ordnungen sprengen kann und eine
alternative Erfahrung und Art zu leben bereithält, dem das
Festival in ungewöhnlichen Konzertsituationen und Diskussionen nachspürt.
In dem neuntägigen Diskursformat „Thinking Together“ sollen
Leben, Kunst und Theorie, Erlebnis und Reflexion konvergieren
können, genauso wie in „The Long Now“ über 30 Stunden Bilder,
Filme, Raum und Klang im Kraftwerk Berlin verschmelzen.
MaerzMusik lädt uns, wie Berno Odo Polzer sagt, in einen Garten
von Pfaden, die sich verzweigen, ein: Konzerte, Performances,
Installationen, Filmpräsentationen und Diskursformate an
­verschiedenen Orten Berlins und vor allem rund um das Zentrum
im Haus der Berliner Festspiele.
Willkommen in der andauernden Gegenwart: The Long Now.
Thomas Oberender
Intendant der Berliner Festspiele
3
Wir können von der Zeitlichkeit
der Kunst viel lernen
Berno Odo Polzer im Gespräch
Seite 4
10:09 Uhr, die ganze Zeit
Warum ist Zeit politisch?
Seite 9
Kreative Routinen
Tägliche Rituale von Künstlern
und Kreativen
Seite 12
Der Zeitwert der Kunst
Das übermalte Wandgemälde
in der Cuvrystraße Seite 12
Die Freiheit des Hörens
„Liquid Room“: Autonomie über
Raum und Zeit
Seite 15
Wetten auf die Zukunft
Ökonomien des Handelns:
„KREDIT“ und „RECHT“
Seite 21
Arbeit, Alltag, Abenteuer
Der Komponist Georges Aperghis
im Porträt
Seite 24
Der unendlich lange Moment
„The Long Now“
im Kraftwerk Berlin
Seite 27
Kalender
Kartenverkauf, Impressum
Seite 30
„WIR KÖNNEN
Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Musik:
Ein Gespräch mit Berno Odo Polzer, dem neuen künstlerischen Leiter von
MaerzMusik – Festival für Zeitfragen. Von Carsten Fastner
Herr Polzer, wenn wir den Begriff „Festival“ verstehen als einen – im Wortsinne ja sogar „feierlich“ – aus dem
Alltag herausgehobenen Zeitraum:
Was ist dann Ihre Idealvorstellung
eines Festivals?
Berno Odo Polzer: Idealvorstellung
habe ich keine. Klar ist aber, dass ein
Festival über die reine (Re-)Präsentation hinausgehen, dass es mehr als die
Summe seiner Programm-Teile sein
muss, auch wenn die darin gezeigten
Arbeiten im Mittelpunkt stehen.
Was könnte dieses Mehr sein?
Ein Festival ist für mich ein Zeitraum
der erhöhten Aufmerksamkeit, der Verdichtung und Intensivierung von Erfahrungen: körperlicher, sinnlicher, geistiger und sozialer Erfahrungen. Ich begreife dieses Format als Instrument der
Forschung, der Spekulation und Imagi-
„Wir brauchen F
­ estivals,
die öffentliche Orte­
der Ausein­andersetzung
und der politischen
Imagination sind.”
nation, das Wissen generieren und Bewusstsein schaffen kann. Ein Festival
ist für mich auch eine Erzählform, innerhalb derer sich Elemente zu einem
beziehungsreichen Gefüge bündeln,
das gelesen, interpretiert, weitererzählt
werden kann. Festivals interessieren
mich als Gestalten in der Zeit, die ihre
eigene Struktur und ihren eigenen
Rhythmus entfalten: Eine Art von Komposition oder Assemblage im Stadtraum. Festivals sind aber vor allem
auch Räume der Öffentlichkeit. Sie vergegenständlichen Gesellschaft und
Gemeinschaft, erzeugen Sichtbarkeit
und damit auch Unsichtbarkeit, reproduzieren und hinterfragen Normen.
Deshalb sind Festivals für mich Teil der
politischen Sphäre, selbst wenn sie
nicht explizit politischen Inhalts sind.
Was ist für Sie ein gutes Festival?
Eines, das den Wert meiner dort verbrachten Zeit respektiert. Eines, das
mich provoziert und mich weiterbringt,
mich neue Dinge entdecken und verstehen lässt. Wenn ich als Festivalbesucher den Eindruck habe, dass mir Zeit
gestohlen wurde, bin ich auf keinem
guten Festival gewesen. Und als Festivalmacher versuche ich, mit den genannten Aspekten zu arbeiten, diese
Imaginationen in reale Räume und Zeiten zu übersetzen.
Und wo bleibt das Feierliche?
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Festival, die Sie ansprechen, und die
auf Kirchenfeiertage zurückgeht als Perioden des Festlichen, Glanz- und Freudvollen, schwingt heute wohl immer noch
mit. Erstaunlicherweise, möchte man
fast sagen, angesichts der seit den
80er-Jahren explodierenden Zahl dieser
4
Ausnahmezustände. Festivals sind inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Was Guy Debord in seiner Analyse
der „Gesellschaft des Spektakels“ in den
60er-Jahren formuliert hat, ist relevanter denn je: Das Festival scheint als Format prädestiniert zu sein, einen Lebensund Produktionsmodus darzustellen,
der vom Versprechen des Einzigartigen
und Spektakulären als redundantem
Verkaufsargument lebt und dabei doch
sehr viel Gewöhnliches hervorbringt im
Interesse des Konsums. Ganz ehrlich: Ist
Ihnen zum Feiern um seiner selbst willen
zumute? Wir brauchen Festivals, die öffentliche Orte der Auseinandersetzung
und der politischen Imagination sind.
Das Feiern stellt sich von alleine ein, wenn
Menschen inspiriert und involviert sind.
Nun machen Sie mit Ihrem ersten Programm die Zeit selbst zum Festivalthema, ja mehr noch: Die MaerzMusik wird, so ihr neuer Untertitel, zu
einem „Festival für Zeitfragen“.
Warum?
Das Phänomen Zeit ist faszinierend:
nicht definierbar, irreduzibel und jedem
gleichermaßen zugänglich. Diese widerständigen und egalitären Eigenschaften interessieren mich sehr. Hier setzen
die Zeitlichkeiten von Kunst, Musik,
Performance, Film und Fiktion an, die
sich der Chronologie, dem Zeitmanagement, der Verwertungs- und Effizienzorientierung entziehen. Ich denke,
wir können von der Zeitlichkeit der
Kunst viel lernen. Zeit ist aber vor allem
auch eine zentrale Kategorie des Politischen, und das heißt: etwas, das uns
VON DER
ZEITLICHKEIT DER
KUNST VIEL LERNEN”
alle angeht, weil es im Kern die Frage
berührt, wie wir ­
leben, arbeiten und
produzieren wollen. Ich bin davon überzeugt, dass der Faktor Zeit immer mehr
ins Zentrum eines Konflikts rücken
wird, bei dem es um Emanzipation und
Selbstbestimmung, aber auch um Zusammenleben und Produktionsweisen
gehen wird. Frei ist, wer frei über seine
Zeit verfügen kann; Macht hat, wer das
Tempo und den Rhythmus vorgibt. Diese
alten Konflikte nehmen in unserer Gegenwart neue Gestalt an, einer Gegenwart, die vom Verschwinden der Zukunft und von Gleichzeitigkeit, von globaler Vernetzung und technologischer
Beschleunigung gekennzeichnet ist.
Wie stellt sich dieser alte Konflikt
­heute dar?
Wir erleben täglich die Symptome von
Transformationsprozessen, die im Kern
mit Zeit zu tun haben: Zeitarmut in
Wohlstandsgesellschaften, soziale Beschleunigungsphänomene, die Deregulierung von Arbeitszeiten, Hochfrequenzhandel an den Finanzmärkten, globale
ökologische Katastrophen, die sich in
Zeitlupe vor unseren Augen entfalten,
ohne dass wir in der Lage zu sein scheinen, zeitgerecht dagegen vorzugehen.
Was wir erleben, sind die Konflikte und
Reibungen zwischen den unterschiedlichen Zeitlichkeiten von Natur, Mensch,
Maschine, Informationstechnologien
und Kapital. Und diese Divergenzen
sind eine der großen Herausforderungen sowohl für Individuen als auch für
soziale und politische Gefüge der
Zukunft.
Andererseits erleben wir eine Werteverschiebung, in der Zeit nicht mehr in erster Linie Geld, sondern ganz einfach
nur Zeit ist: eine nicht erneuerbare Ressource, etwas wirklich Wertvolles – in
gewisser Weise das Einzige, was wir
wirklich haben. Jacques Attali hat das
schön formuliert: „Nichts ist rar. Das
einzig Rare ist Zeit. Zeit ist der wahre
Wert. Wer nicht in der Lage ist, für andere wertvolle Zeit zu erzeugen, wird
verschwinden.“
Angesichts dieser Veränderungen ist
eine Beobachtung wichtig: Unser Konzept von Zeit und wie wir sie strukturieren, organisieren, verwalten, valorisieren und kapitalisieren ist nicht naturgegeben, sondern historisch gewachsen
und damit veränderbar. Das Politische
von Zeit setzt dort an: zu realisieren,
dass wir sie anders imaginieren, anders
praktizieren können, dass unser Umgang mit Zeit bis zu einem gewissen
Grad in unserer Macht steht.
Das Thema Zeit liegt also in der Zeit?
Es findet gegenwärtig ein breites Nachdenken über das Phänomen Zeit statt.
Nicht nur in wissenschaftlichen Disziplinen, in der Philosophie, in Politik- und
Sozialwissenschaften, sondern auch in
Bewegungen, die an zeitbezogenen politischen Strategien wie Entschleunigung, Akzelerationismus oder Commoning Times arbeiten. Der Faktor Zeit
wird in den unterschiedlichsten Kontexten in einem neuen, politisierten
Licht betrachtet. Zeit ist kein Spezialthema für Fachleute, sondern das
Medium, in dem sich unser aller Leben
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entfaltet. Jeder hat einen einzigartigen
Zugang zu diesem Medium.
„Ich bin davon über­
zeugt, dass der Faktor
Zeit immer mehr ins
Zentrum eines Konflikts
rücken wird, bei dem
es um Emanzipation
und Selbstbestimmung
gehen wird.”
Und was hat all das nun mit einem
Festival zu tun?
Festivals selbst sind Zeugnis des
menschlichen Zeitbewusstseins: Von
prähistorischen Ritualen zu den Sonnenwenden bis hin zu Kirchenfeiertagen – zyklisch wiederkehrende Festivitäten waren und sind Teil kollektiver Erinnerungsarbeit, die uns die Zeit selbst
bewusst und damit handhabbar macht.
Welche Möglichkeiten bietet das Festivalformat, diese Zeitfragen zu
untersuchen?
Es ermöglicht das Komponieren mit unterschiedlichen Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Reflexionsformen und mit
unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Daher
ist es ideal geeignet, sich diesem vielschichtigen Thema Zeit anzunähern.
Die jeweiligen Eigenzeiten der künstlerischen Arbeiten, die subjektive Erlebniszeit jeder einzelnen BesucherIn lassen
sich in Beziehung setzen zu Reflexionsräumen in Theorie- und Diskursformaten. Kunst, Lebenserfahrung und Theorie sollen bei diesem „Festival für Zeitfragen“ konvergieren.
„Zeit ist kein Spezial­
thema für Fachleute,
sondern das Medium,
in dem sich unser aller
Leben entfaltet.”
Sie sprechen von Thinking Together.
Das ist das zentrale Projekt für Diskurs,
Theorie und Spekulation innerhalb des
Festivals – ein Ort für Begegnungen und
gemeinsames Nachdenken. Wir haben
internationale Gäste aus den Bereichen
Philosophie, Kultur-, Politik- und Sozialwissenschaften, aber auch KünstlerInnen und AktivistInnen eingeladen, die
sich in ihrer Arbeit mit Zeit auseinandersetzen. Neun Tage lang steht das
Haus der Berliner Festspiele als öffentlich und frei zugänglicher Ort zur Verfügung. Das Projekt beginnt am Eröffnungswochenende mit einer dreitägigen Konferenz zum Politischen von Zeit,
danach fächert es sich auf in informelle Seminare, Lectures, Lesungen, Diskussionsrunden, Präsentationen, Workshops, Arbeits- und Lesegruppen. Jenseits der üblichen Formen der (Re)
Präsentation von Wissen wollen wir uns
die Zeit für Gedankenreisen nehmen.
Worum soll es bei Thinking Together gel gesagt hat, dann berührt Musik als
Zeitkunst das Subjekt in seinem eigenskonkret gehen?
Wir werden nachdenken über das Zeit- ten Medium. Es ist die gelebte Zeit, die
regime der Moderne und seinen derzei- in der Musik greifbar und spürbar wird:
tigen Niedergang; über kapitalistische nicht reduzierbar, nicht komprimierbar,
Zeit und die Verbindungen zwischen nicht objektivierbar.
Zeit, Schuldenpolitik und Finanzialisie- Musik soll in diesem Festival nicht als Ilrung, die das neoliberale Milieu prägen, lustration gesellschaftspolitischer Zeitin dem wir leben; über die Zusammen- fragen missbraucht werden. Sie soll für
hänge zwischen Rhythmus, Macht und sich stehen und ihre Eigenzeit entfalGlobalisierung; über Zeitregime als ten. Ebenso wenig sollen umgekehrt
Mittel der postkolonialen Machtentfal- Theorie und Diskurs die Zeitlichkeit von
tung. Wir werden über Streik, postkapi- Kunst erklären. Zeiterfahrung und Zeittalistische Zeitlichkeiten, über die Ver- reflexion stehen als komplementäre
schwenden von Zeit und Verlangsa- Räume nebeneinander und sind durch
mung nachdenken und an zeit-­ vielfältige Beziehungen miteinander
bezogenen politischen Strategien und verbunden. Das Interessante an der
Imaginationen arbeiten. Queer-theo- Konfrontation von künstlerischen, poliretische und feministische Zeitver- tischen, wirtschaftlichen und sozialen
ständnisse werden ebenso eine Rolle Zeitbegriffen und -praktiken besteht
spielen wie postkoloniale Visionen von gerade darin, dass dadurch Differenzen
Zeit. Es wird aber nicht zuletzt auch um sichtbar werden.
Zeit in den Künsten gehen, insbesondere in der Musik, aber auch in der bilden- Sehen Sie in der Musik unserer Zeit
den Kunst, Film und Performance. Wir künstlerische Positionen, die sich expliwerden an einer Bibliothek lebendiger zit mit Zeitfragen auseinander setzen?
Bücher sowie an Zeitkapseln arbeiten, Natürlich, und solche expliziten künstdie mit einer unbekannten Zukunft kor- lerischen Bezugnahmen auf Zeitfragen
respondieren, und vieles mehr. Das Pro- gibt es auch im Festival. Um nur vier
gramm ist dicht und vielschichtig und Beispiele zu nennen: Wenn Morton
lässt sich hier leider nicht komplett Feldman ein fünfstündiges Streichdarstellen. Aber ich freue mich beson- quartett komponiert, dann ist dies eine
ders auf Gäste wie Antonio Negri, Mau- bis heute radikale Geste, die Wahrnehrizio Lazzarato, Aleida Assmann, Rana- mungsgewohnheiten, den Konzertbebir Samaddar, Pascal Michon, Diedrich trieb und die Hörer explizit herausforDiederichsen oder Mark von Schlegell, dert und mit einem einmaligen Erlebnis
beschenkt. Wenn Peter Ablinger in „TIM
um nur einige zu nennen.
Song“ die telefonische Zeitansage der
Die Gretchenfrage: Was hat das alles BBC zum Text einer Komposition macht,
die bei jeder Aufführung die Realzeit vor
mit Musik zu tun?
Dass die Macht der Musik auch mit ih- Ort angibt und damit die Eigenzeitlichrem Verhältnis zur Zeit zu tun hat, ist keit des Konzerts planmäßig bricht,
nichts Neues. Dass Musik gestaltete dann adressiert er damit explizit ZeitZeit ist, muss nicht extra betont wer- fragen. Wenn Menschen in Mette Edden. Jedes Stück Musik lässt uns die vardsens Projekt „Time has fallen asTiefe subjektiver Zeitwahrnehmung leep in the afternoon sunshine“ ganze
spüren. Wenn es stimmt, dass die Zeit Bücher auswendig lernen, um sie eindas Sein des Subjekts selbst ist, wie He- zelnen Zuhörerinnen und Zuhörern in
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einer Situation großer Intimität vorzutragen, dann verletzt sie damit die Gesetze von Zeiteffizienz und Kosten-Nutzen-Rechnungen. Und wenn schließlich
Daniel Kötter und Hannes Seidl in ihrem
Musiktheaterprojekt „RECHT“ die Spekulationsmechanismen an den Finanzmärkten thematisieren, die die Gegenwart zur Geisel einer unbestimmbaren
Zukunft machen, dann setzen sie sich
explizit mit einer zeitbezogenen Problematik der Gegenwart auseinander.
Am unmittelbarsten und eindrücklichsten musikalisch erfahrbar wird das
Phänomen Zeit wohl beim Abschluss
des Festivals, bei „The Long Now“.
Der Titel spricht eigentlich für sich. Als
ich das Projekt zu konzipieren begann,
nannte ich es „Chronosphäre“ – was mir
vorschwebte, war eine Zeitblase, eine
Situation, in der sich Zeit selbst entfalten kann, die Wahrnehmung von Zeit
sich verändert, in der die Zeit stillsteht,
ein Ort, der sich gegenüber der getakteten Welt abgrenzt und an dem man
sich verlieren kann. Als ich Dimitri Hegemann und das Kraftwerk Berlin kennenlernte, war sofort klar, dass es dafür
keinen besseren Ort gibt. Gemeinsam
mit den Kuratoren von Berlin Atonal,
Berno Odo Polzer. Foto: Lucie Jansch
Laurens von Oswald und Harry Glass,
haben wir das Projekt dann weiterentwickelt zu einer audiovisuellen Komposition in Raum und Zeit, die den Tages-Nacht-Rhythmus genauso hinter
sich lässt wie Stil- und Genregrenzen.
Das Projekt beginnt am 28. März um
18:00 Uhr und erstreckt sich bis zum 29.
März um Mitternacht. In den dreißig
Stunden von „The Long Now“ werden
Konzerte, Film- und Klanginstallationen, audiovisuelle und elektronische
Live-Acts zu einem langen Moment verschmelzen. Zu den beteiligten Künstlern zählen Morton Feldman und das
Minguet Quartett, Phill Niblock, Zinc
and Copper Works, Nelly Boyd, FM Einheit, Leif Inge, Thomas Köner, Eric
Holm, Mix Mup & Kassem Mosse, Mika
Vainio, Actress und andere. Es soll ein
Fest der Zeit werden, eine künstlerische
Extremerfahrung. Die Besucher sind
eingeladen, sich diesem Zeitraum ganz
hinzugeben, über Nacht zu bleiben,
hier zu frühstücken. Für Feldbetten, Essen von Big Stuff Smoked BBQ und alles
weitere ist gesorgt.
Das Festival eröffnet am 20. März um
09:42 Uhr. Weshalb diese seltsame
Uhrzeit?
Genau gesagt sogar um 09:42:38 Uhr –
nämlich zum Beginn der partiellen Sonnenfinsternis, die Berlin gegen 11 Uhr zu
75 Prozent verdunkeln wird. Ein schöner
Zufall, den wir gleich als Anspielung auf
die kosmischen Anfänge menschlicher
Zeitrechnung nehmen. In den Zeitraum
des Eröffnungsprojekts „Liquid Room“
fällt dann auch der astronomische
Frühlingsbeginn am 20. März um 23:45
Uhr. Und am letzten Festival-Tag, während „The Long Now“, findet die Zeitumstellung auf Sommerzeit statt: Am
29. März um 2:00 Uhr werden die Uhren
um eine Stunde vorgestellt – eine ganz
andere, un-kosmische Manipulation
der Zeit. Für manche Projekte von „The
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Long Now“ stellt dies ein echtes Problem dar, wie z. B. für Leif Inges 24-stündige Klanginstallation „9 Beet Stretch“:
Nach welchen Zeitkoordinaten soll
man sich richten? Nach der willkürlich-menschlichen
Sommerzeitregelung oder nach dem uniformen Weiterfließen der Realzeit?
„Es ist die gelebte
Zeit, die in der Musik
greifbar und spürbar
wird: nicht reduzierbar,
nicht komprimierbar,
nicht objektivierbar.”
Eine Manipulation wie die Sommerzeit
bringt auch das Politische von Zeit
nochmals schön zum Ausdruck.
Genau. Die Sommerzeit ist ein Relikt
des Ersten Weltkriegs und wurde aus
kriegsökonomischen Überlegungen heraus erstmals im Jahr 1916 eingeführt,
um Energie zu sparen bzw. mehr Energie in den Krieg investieren zu können.
Allgemein eingeführt wurde diese Regelung dann in den Ländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft ab
1977 als Reaktion auf die Ölkrise von
1973. Die kurios schöne Formulierung
der Bestimmung zur erstmaligen Einführung im Deutschen Reich ist es wert,
zitiert zu werden: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11
Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung.“ Es darf bezweifelt werden, dass
dies auf Anhieb geklappt hat. Aber der
Krieg ging trotzdem weiter.
Patricia Reed, „Perfect Present“ (2013). Foto: Cassander Eeftinck Schattenkerk. Mit freundlicher Genehmigung von Witte de With Center for Contemporary Art, 2014
8
10:09 Uhr,
die ganze
Zeit
B
efragt man Bild-Datenbanken
wie Dreamstime und Depositphotos nach der Unmöglichkeit, die Zeit darzustellen,
zeigen sie hunderte Bilder
von Uhren an, zumeist von
analogen Weckern, Armbanduhren und altmodischen Taschenuhren.
Das aber wirft sofort ein Problem auf: Das
Foto eines Zifferblatts kann nur eine einzige
Zeit zeigen; stecken wir jedoch in einer einzigen Uhrzeit fest, dann – so sagt uns unser
gesunder Menschenverstand – muss die Zeit
aufgehört haben zu existieren. Die Darstellung setzt also das, was sie darstellen will,
außer Kraft. Zudem stellt sich die Frage, ob
man die Zeit selbst mit den derzeitigen In­
strumenten ihrer Messung verwechseln sollte.
Da uns aber keine anderen zufriedenstellenden Darstellungsweisen der Zeit zur Verfügung stehen, nehmen wir uns hier die Zeit,
darüber nachzudenken, was die Abbildung
einer Uhr heute bedeuten könnte.
Die Europäer begannen vor weniger als tausend Jahren, ihre Zeit mithilfe von Uhren zu
regulieren. Die Bedeutung dieser automatisierten Apparate sollte nicht unterschätzt
werden; zahlreiche Historiker weisen darauf
hin, dass die Einführung einer säuberlich
unterteilten und allgemein eingehaltenen
Zeit mit der Entwicklung des kapitalistischen Systems einherging und das Zeitalter
des Imperialismus ermöglichte. Die Unterwerfung von und der Handel mit immer
größeren geographischen Gebieten erforderten eine immer genauere Zeitmessung.
Uhren unterstützten die Organisation von
Arbeit und den Betrieb von Eisenbahnen. ­
Sie säkularisierten, rationalisierten und
standardisierten die Zeit. Über das Zifferblatt der Uhren gespannt, wurde die
Zeit verflacht und in einheitliche Stücke
­geschnitten und so bereit gemacht zu ihrer
Instrumentalisierung.
Früher wurde Zeit wie Geld behandelt: in
präzise regulierten, abstrakten, neutralen
numerischen Einheiten. Wie das Geld war
auch sie auf eine kontrollierte Zukunft hin
orientiert. Man ließ sie arbeiten, sie näherte
sich durch Anschaffungen und Rücklagenbildungen an Gewinn und Kredit an (oder
an deren unvermeidliche Korrelative, Verlust und Schulden). Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Charles Dickens‘ Roman
„Hard Times“ („Schwere Zeiten“) nicht
nur „Zeiten der Härte“, sondern auch die
„Verhärtung der Zeit selbst“ zu rigiden,
austauschbaren Segmenten.
9
Von Amelia Groom
Warum
ist
Zeit
politisch?
D
ieser Roman, erschienen als
wöchentliche Serie, spielte in
Coketown, einer fiktionalen
Abbildung von Preston, der Textilstadt in Lancashire, die sowohl Dickens
als auch Karl Marx in den frühen 1850er-Jahren besuchten. Für die Einwohner von Coketown war „ein jeder Tag wie gestern und
morgen und jedes Jahr wie das Gegenstück
des vergangenen und des nächsten“. So
schreibt Dickens und evoziert damit die
Monotonie und Austauschbarkeit der Zeit
im Industrialismus. „Die Zeit bewegte sich
in Coketown wie dessen Maschinen: so viel
Stoff verarbeitet, so viel Brennmaterial verbraucht, so viele Kräfte abgenützt und so
viel Geld gemacht.“
In seiner Polemik gegen das, was er „die
­Tyrannei der Uhr“ nannte, beobachtete der
Anarchist George Woodcock im Jahr 1944,
dass die Homogenisierung und mechanische
Messbarkeit der Zeit durch die Uhr die Körper der Arbeiter dazu zwang, deren unaufhörliches Ticken zu befolgen und zu verkörpern. In seinen Worten war die Uhr „das
Instrument, mithilfe dessen die Regulierung
und Reglementierung des Lebens, die für
ein ausbeuterisches Industriesystem nötig
waren, am besten erreicht werden konnten“.
Ikonische Bilder der Angst, die durch die
tyrannischen Forderungen der Uhr nach
Pünktlichkeit und Produktivität erzeugt
wird, finden sich auch im Kino der Zwischenkriegszeit. So ringt zum Beispiel in Fritz
Langs „Metropolis“ (1927) der Held Freder
verzweifelt mit den übermächtigen und
gleich­gültigen Zeigern einer riesigen Fabrikuhr und nimmt am Ende die Haltung eines
auf dem Zifferblatt Gekreuzigten ein. Auch
Charles Chaplins Tramp leidet in „Modern
Times“ (1936) unter den körperlichen und
psychischen Folgen der seelenlosen und
­unmenschlichen Beschleunigung am Fließband. Der Film zeigt einen menschlichen Körper, der auf tragische Weise asynchron zu
den mechanisierten „modernen Zeiten“ lebt,
die ihn umgeben. Im Vorspann sehen wir
die unheilvolle Großaufnahme einer unbarmherzig tickenden Uhr.
Flexibilität und Spaß bei der Arbeit zu größerer ­Effizienz der Belegschaft führen. Die
disziplinarischen Mechanismen der Stechuhr
­­zu entfernen, ist also nicht sonderlich subversiv, solange ihre Grundprinzipien von
­Ausbeutung und Knechtschaft nur in neuen
Formen wiederhergestellt werden. Wir müssen uns fragen, was mit der Stechuhr passiert,
nachdem Dolly Parton und ihre Mitkämpferinnen sie aus dem Büro verbannt haben.
Übrigens begann der taiwanesische Künstler
Tehching Hsieh 1980 – im gleichen Jahr, in
dem der Film erschien und Partons Hymne
in den Radios lief – die Arbeit an seinem
„Time Clock Piece“, einer Performance, bei
der er ein ganzes Jahr lang Tag und Nacht
in seinem Studio zu jeder vollen Stunde eine
Stechuhr bediente. In einem großstädtischen,
D
ie Angst vor dem Diktat
der Uhr durchzieht die
populäre kulturelle Vorstellungswelt des gesamten 20. Jahrhunderts. Der Titel des
Films „9 to 5“ aus dem Jahr 1980
könnte von der 9to5 National Association of Working Women inspiriert
sein, einer Organisation, die 1973 in
den USA mit dem Ziel gegründet
wurde, die Arbeitsbedingungen
weiblicher Büroangestellter zu verbessern. Die Anfangssequenz besteht
aus Bildern von Weckern und nervösen berufstätigen Frauen, die ins Büro
hetzen, wo sie weniger verdienen als
ihre männliche Kollegen, die sie darüber hinaus sexuell belästigen und
ihre Ideen stehlen.
klar eingegrenzt werden. Die Arbeit findet
zunehmend nicht mehr am Arbeitsplatz
statt, sondern, wie Maurizio Lazzarato
schreibt, „draußen in der Gesellschaft“.
­Daraus folgt, dass die Grenzen zwischen
Arbeitszeit und Freizeit unscharf werden:
„Der Kapitalismus beutet nicht mehr nur
die ,Arbeitszeit’ aus, sondern die Lebenszeit.“
F
ür die Mehrzahl derer, deren ­Arbeits­inhalt mit Information oder Kultur
zu tun hat, gibt es kein Ein- oder
Auschecken an der Stechuhr mehr.
Wir können immer und überall arbeiten, aber
es besteht das Risiko, dass wir nie nicht
­arbeiten. Wie bei früheren Arbeitsformen
hängt auch diese von einer bestimmten
Ausstattung ab: Weil ich meinen Desktop
überallhin mitnehmen kann, tue
ich das auch meistens. Wir dachten
einmal, die beinahe Gleichzeitigkeit der E-Mail würde uns freie Zeit
bescheren, aber i­rgendwie fressen
E-Mails heute n
­ ahezu meinen ganzen
Tag auf und knabbern an meinen
Nächten. Die Hauptauswirkung dieses „Die ganze Zeit” ist das tiefgreifende Gefühl, nie genug Zeit zu haben.
Und was bedeutet all dies nun für
unsere Uhren? Die Einführung der
Apple Watch legt nahe, dass Uhren
die konventionelle Zeit nicht mehr
anzeigen müssen. Anstatt einfach
Stunden und Minuten zu markieren,
versprechen uns diese Geräte endlose
Beschäftigung mit kleinstteiligen Aufgaben: Wir müssen unsere E-Mails,
Herzfrequenzen, Wettervorhersagen
und Börsenwerte checken, Spiele
spielen, Updates posten, liken und
teilen. Die neue smarte Uhr sollte
als Bild der zeitlichen Fragmentierung betrachtet werden: konstante
Verfügbarkeit in Verbindung mit
zersplitterten Aufmerksamkeitsspannen. Wir tragen die Ablenkung
am Handgelenk, mit individuell angepassten Armbandfarben.
„Egal, wie sie es nennen, es ist ein
Spiel der reichen Männer“, singt Dolly
Parton in dem Titelsong, den sie für
den Film schrieb, „Du verbringst dein
Leben damit, Geld in seine Taschen
zu stecken“. Gleich zu Beginn des
Films wird darauf angespielt, dass
Tehching Hsieh, „One Year Performance” (1980–1981).Foto: Michael Shen. Mit
freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Sean Kelly Gallery, New York
Gewerkschaften verboten sind; aber
den drei weiblichen Hauptfiguren
postfordistischen Kontext, in dem das Bild
gelingt es, die Arbeitsbedingungen zu verrigider Zeitkontrolle fast schon ein Ana­
Aber dann fiel mir etwas Merkwürdiges auf:
bessern, indem sie Kinderbetreuung und
chronismus ist, könnte uns Hsiehs aufwänAuf allen Werbebildern der Apple Watch
flexiblere Arbeitszeiten einführen. In ihren
dige Darstellung des andauernden Ankomwird die gleiche Zeit abgebildet. Ob digitales
Bemühungen geht es zumeist um die Selbstmens vielleicht sagen, dass die Beseitigung
oder „analoges“ Zifferblatt, es ist immer
bestimmung der ­eigenen Zeit. Als eine ihrer
der Stechuhr zur Folge hatte, dass der Arbeits10:09 Uhr. Augenscheinlich handelt es sich
ersten Handlungen, nachdem sie den fiesen
tag nun nicht mehr von 9 to 5 andauert,
dabei um eine eingeführte Konvention der
chauvinistischen Chef beseitigt haben, schafsondern die ganze Zeit.
Uhrenwerbung. Die meisten großen Marken
fen sie die Stechuhr ab, damit die Beschäfstellen bei den Bildern, mit denen sie ihre
tigten sich nicht mehr an- und abmelden
Die ganze Zeit wird zunehmend zur üblichen
Uhren verkaufen wollen, die Zeit auf neun
müssen. Es überrascht nicht, dass der Film
Erfahrung von Zeit in der Arbeitswelt. In den
Minuten nach zehn. Im Internet fand ich
sich nicht zu einer wirklichen Strukturkritik
vergangenen Jahren wurde immer wieder
eine Erklärung: Dies sei der „kreative Standurchringt und letztlich die kapitalistischen
beobachtet, wie der wachsende Bedarf des
dard“ der Branche – ein hübsches OxymoIdeale fortwährend steigender ProduktiviKapitals an immaterieller Arbeit dazu führt,
ron, wie ich fand.
tät und Ausbeute bekräftigt. Konzerne wie
dass Dauer und Ort der Arbeit nicht mehr
Google haben inzwischen verstanden, dass
10
Die Grenzen
zwischen Arbeitsund Freizeit
werden zunehmend
unscharf.
Teure Schweizer Uhren werden gewöhnlich
von Ikonen der Hochleistung beworben,
wie zum Beispiel Tiger Woods (für TAG Heuer)
und James Bond (für Omega). Oft werden
dabei Vorstellungen von mechanischer und
menschlicher Kraft und Effizienz evoziert –
so ist zum Beispiel der Werbeslogan für die
Eco-Drive-Uhr von Citizen: „Unstoppable.
Just like the people who wear it.“ („Nicht
aufzuhalten. Genau wie die Menschen, die
sie tragen“). Wie eigentümlich, dass uns
die Werbung bei der Aufforderung zum
Konsum dieser kinetischen Gegenstände,
die entwickelt wurden, um den kontinuierlichen Verlauf zeitlicher Einheiten zu markieren, einen umfangreichen Katalog von Bildern präsentiert, auf denen die Zeit seit
Jahrzehnten stillzustehen scheint.
S
tillstand bei 10:09 Uhr, ungefähr
der Zeit, zu der sich die 9 to 5 Büro­
angestellte auf ihre erste Kaffeepause freut. Aber das war ja unser
Ausgangsproblem: Wenn es immer die gleiche Uhrzeit ist, dann hat die Zeit ihre Bedeutung verloren. Wohin ist die Bedeutung
­unserer Zeit verschwunden? Wie können
wir die Zeit wiederbeleben und zurückerobern? Und wie sollen unsere Uhren aussehen? „The Ecliptic“ (2014) ist eine nicht-­
numerische Uhr der Gruppe Raqs Media
Collective aus Delhi. Auf dem hier gezeigten Foto wurden die kinetischen Dimensionen des Gegenstands entfernt und er wurde
damit in der „freien Zeit“ festgehalten, eine
der verschiedenen Zeiten, die auf dieser
Uhr in LED-Leuchten angezeigt werden.
Aber die Worte „free time“ haben ihrerseits
auch eine Zeithaftigkeit: eine Zeit ohne
Verpflichtungen, eine Zeit, die kostenlos
zur Verfügung gestellt wird.
Raqs Media Collective, „The Ecliptic“ (2014). Foto: Raqs Media Collective
Und dann lesen wir die Worte als Imperativ,
als direkte Aufforderung, unsere Zeit zu
­befreien, sie von der Instrumentalisierung
zu erlösen. Die Zeit wird nicht länger festgenagelt, sondern befreit, um als aktive
Kraft der Veränderung und des Entkommens
zu wirken.
Vortrag Amelia Groom: 22. März, 12:00 Uhr,
Haus der Berliner Festspiele.
11
Sch
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Studien
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09
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G
eld
e
r
w
e
Lesen und
Fachartikel schreiben
Familiäres Abendessen,
Kartenspiele
oder Spaziergänge
12
g
gun
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Be
Sigmund Freud (1856 – 1939)
Psychoanalytiker
tarbeit
Haup
21
24
0
Schlaf
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Komponist
Patientenbesuche
und Analyse
Spaziergang auf der
Wiener Ringstraße
Schlaf
Zeitungslektüre im Gasthaus
Einfaches Abendessen,
Bier trinken, Pfeife rauchen
Frühstück,
Bartpflege
Patientenanalyse
Mittagessen
Kaffee kochen,
Frühstück
Spaziergang
Charles Darwin (1809–1882)
Naturforscher
Nachdenken im Bett
Essen, Wein trinken
Komponieren
Wissenschaftliche
Lektüre
Schlaf
Muße, kleines Essen
und Spiele mit
Ehefrau Emma
Honoré de Balzac (1799–1850)
Schriftsteller
Schlaf
Arbeit
Kurzer Spaziergang
Frühstück
Spaziergang
Kurzer Schlaf
Schreiben
Konzentrierte Arbeit
Zeitungslektüre, Briefe schreiben
Mittagessen
Briefe lesen
Arbeit
Hund
ausführen
Bad und Besuche
empfangen
Körperliche Übungen
Kurzer Schlaf
Schreiben, dabei viel Kaffee trinken
Quelle: Mason Currey, „Daily Rituals” (Knopf, New York 2013); eigene Recherche.
KREATIVE ROUTINEN
Tägliche Rituale historischer und heutiger Kreativer
Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791)
Komponist
Freizeit mit Ehefrau
Constanze
Thomas Mann (1875–1955)
Schriftsteller
Besucher empfangen, lesen
oder Schallplatten hören
Komponieren
Spaziergang
Schlaf
Artikel verfassen
Schlaf
Tee mit der Familie
Komponieren,
Konzerte geben
Kurzer Schlaf
Anziehen
Kaffee trinken, Bad
Lesen
Schreiben und Zigaretten rauchen
Komponieren
Mittagessen, Zigarre rauchen
Essen und Freunde treffen
Unterricht geben
Thomas Oberender (geb. 1966)
Autor, Intendant der Berliner Festspiele
Aleida Assmann (geb. 1947)
Kulturwissenschaftlerin, Teilnehmerin bei Thinking Together
E-Mail-Korrespondenz
Schlaf
Freizeit mit Familie und Freunden
Besuch von
Veranstaltungen
oder Lektüre
Schlaf
Hausarbeit,
kochen, Abendessen
Frühstück
Joggen
Arbeit, Meetings
Duschen,
Joggen,
Frühstück
Unterrichten, Studenten betreuen,
Veranstaltungen organisieren
Schreiben
Pierre Becker (geb. 1977)
Ta-Trung, Grafiker dieses Magazins
Eigene Zeit,
alternativ Grafik oder Meetings
Arbeit, Meetings
Mittagessen
Georges Aperghis (geb. 1945)
Komponist
Lektüre, Filme,
Besuch von Freunden
3 Stunden Kochen,
1 Stunde Essen
Lektüre
Schlaf
Unberührbare Zeit,
Kochen und Essen mit Familie
Schlaf
Kaffee, Zigarre
Konzeption und Gestaltung
Briefings und Meetings
Kaffee
Komponieren
Amelia Groom, „timeless “ (2015)
14
DER
ZEITWERT
DER
KUNST
Von Lutz Henke
J
eder, der schon einmal von einer Hausratsversicherung Gebrauch machen musste, wird mit
dem versicherungstechnischen Terminus des
„Zeitwerts“ vertraut sein. Im G
­ egensatz zum
„Wiederbeschaffungswert“ taxiert er den Wert
des Gegenstands zum Zeitpunkt des Verlusts. Hat ­der Zimmerbrand also beispielsweise den
einwandfreien, jedoch längst veralteten Fernseher erwischt, dürfte die ­erstattete Summe gering ausfallen
und kaum für eine Neuanschaffung ausreichen.
Mit der Kunst, insbesondere mit öffentlicher Kunst, verhält
es sich oft genau andersherum: Die Werke und Bilder, die
Künstler in den Alltag unserer Städte einfügen, gewinnen
ihren Wert erst mit der Zeit. Das Umfeld, persönliche Erfahrungen und historische Ereignisse schreiben sich in die
­Arbeiten ein, lassen sie zu den individuellen Erinnerungsorten werden, die auch eine Stadt ausmachen.
Interessante Kunst bietet vielfältige Möglichkeiten einer
Inter­pretation und persönlichen Bindung. Deshalb funktioniert sie auch so gut als Informationsträger für den Einzelnen oder als Vehikel für groß angelegte Marketingkampagnen, ganz gleich, ob diese nun einen Turnschuh, eine
Punkband oder eine ganze Stadt bewerben. Ein Wandgemälde wie das von Blu in der Cuvrystraße fängt im besten
Fall den Zeitgeist ein, reift als Zeuge von Ereignissen und
auch durch seine unfreiwillige Verwertung. Man könnte
­sogar annehmen, dass die Kunst – im Zeitalter ihrer immateriellen visuellen Verwertbarkeit – mit dem Zeitwert sogar
eine Art Gebrauchswert entwickelt und so etwas wie einen
„aesthetic exchange value“.
Der Zeitwert der Blu-Gemälde zum Zeitpunkt ihres Verlusts
war hoch. Nachdem wir sie 2007 und 2008 unbefangen auf
die beiden Brandwände in der Cuvrystraße gepinselt hatten,
verselbstständigten sich die Motive ganz unabhängig von
der Absicht ihres Schöpfers. Sie wurden zum Sinnbild einer
Berliner Ära: Der Künstler als Freiraumpionier, Berlin unter
dem Mantra des „arm, aber sexy“, die hitzige Debatte um
ein „Recht auf Stadt“, die beinahe ideologisch geführte
Diskussion um die Bebauung der Spreeufer, die Entstehung
der informellen Siedlung auf der Cuvrybrache, das Verschwinden der Freiräume und das Selbstverdrängen der
Künstler, deren Werke die Werbebroschüren der Immobilienunternehmen schmücken – alles ist enthalten.
Warum der Verlust der übermalten
Wandgemälde in der Cuvrystraße
auch ein Gewinn ist.
Die beiden Bilder werden zum Archiv. Die Ereignisse und
Vorstellungen eines ganzen Jahrzehnts haben sich in dieser Zeitkapsel gespeichert. Exemplarisch fungieren sie als
Momentaufnahme, ja Chiffre einer Epoche.
A
uch die Schwärzung ist nun Teil dieser Chiffre.
Bereits bei der Entstehung beider Wandgemälde gab es die Absicht, sie wieder zu übermalen oder zu verändern. Die Entscheidung
darüber fiel mit Rücksicht auf den Zeitpunkt – gemeinsam mit
dem Künstler Blu, aber vor allem mit einer ganzen Gruppe
von Akteuren, denen die Übermalung, nach reiflicher Überlegung, ein Anliegen war und als ein Gewinn ­erschien:
fruchtbar als Werkzeug, um die Ereignisse und Prozesse
zu veranschaulichen und mit einer breiten Ö
­ ffentlichkeit
zu diskutieren.
Das gemeinsame Nachdenken über diese Zeit und die Fragen,
die sie aufwirft, das ist der Kern des Projekts „Precious
Time“, das im Rahmen von Thinking Together bei der
MaerzMusik stattfindet: Für welche persönlichen und
­öffentliche Ereignisse standen die Wandgemälde? War
das Malen der Bilder ein Fehler? War das Übermalen legitim? Existieren die Motive weiter in der Erinnerung und
als Phantomschmerz? Kann der Künstler Kontrolle über
sein Werk behalten? Gibt es eine Strategie des künstlerischen Auto-Ikonoklasmus? Welchen Gebrauchswert haben
die schwarzen Wände? Können sie helfen, Geschichten zu
­erzählen oder eine Debatte zu führen?
Aufruf: Die Auseinandersetzung mit den Cuvry-Wandgemälden im Rahmen von MaerzMusik soll die Grundlage ­für eine Publikation sein. Wir bitten um Zusendung
von ­Geschichten und Fundstücken im Zusammenhang
mit den Wandmotiven, von Bildmaterial oder Fragestellungen an: [email protected]
„Precious Time“: 23. bis 28. März bei Thinking Together
Haus der Berliner Festspiele.
Vortrag Lutz Henke: 22. März, 13:30 Uhr,
Haus der Berliner Festspiele.
Das übermalte Wandgemälde von Blu in der Cuvrystraße, Berlin.
Foto diese und folgende Seiten: Lutz Henke
Die Freiheit des
Hörens
Mit dem Konzertformat Liquid Room
gibt das Ictus Ensemble dem Publikum
die Autonomie über Raum und Zeit.
E
in Raum, vier Bühnen, zwei
Ensembles, über zwanzig
Stücke von ebenso vielen
zum Teil völlig verschiedenen Komponisten, und das
alles im Verlauf eines einzigen Abends. Und das ist
noch nicht alles: Es gibt keine festen Sitzplätze, sondern tragbare Papphocker, die
überall in der Spielstätte herumstehen.
Liquid Room präsentiert zeitgenössische
Musik in einem Club-Setting: Die Bar bleibt
geöffnet und Sie können als Zuhörer hineinund hinausgehen, wie es Ihnen passt. Sie
können sich aussuchen, wo Sie zuhören,
wann Sie zuhören (oder auch nicht) und
wie Sie zuhören möchten. Sie können analytische Distanz wahren, mit den Augen zuhören (indem Sie die Fingersätze des Pianisten
aus nächster Nähe studieren) oder der Musik mit geschlossenen Augen in einer dunklen, einsamen Ecke lauschen. Sie ­können
aufmerksam oder passiv zuhören, konzen­
triert oder abgelenkt, mit oder ohne Bier in
der Hand. Liquid Room ist eine freie Zone
für musikalische Grenzgänger.
Wie beeinflusst diese Freiheit unsere Einstellung zum Zuhören, und wie kann sie unsere
Einstellung zur Musik verändern, im Vergleich zu der – auch in der Welt der zeitgenössischen Musik gängigen – ritualisierten
und verknöcherten Konzertpraxis, die wir
von den Musikliebhabern des 19. Jahrhundert geerbt haben?
Beethoven ist tot
Bei dieser Ausgabe von Liquid Room – bereits
der sechsten – handelt es sich in der Tat um
eine Deluxe-Ausgabe, um die Vereinigung
der Kräfte des belgischen Ictus Ensembles
und des deutschen ensembles mosaik. Die
Musikerinnen und Musiker von Ictus hinterfragen schon seit mehr als zwei Jahrzehnten das traditionelle Konzertformat.
Bei Liquid Room geht es ihnen weniger
­darum, etwas zu behaupten, als darum,
­einen Raum und einen Moment zu schaffen,
in dem sich Musiker und Zuhörer begegnen
und ein Musikerlebnis teilen können, das
nicht i­m gezwungenen Verhaltenskodex
des 1­ 9. Jahrhunderts eingebettet oder gar
einbalsamiert ist. Die Konzertsituation wird
auf das Wesentliche reduziert: Ich biete
Musik dar, du bietest dein Zuhören dar, und
wir tun dies im selben räumlichen und zeitlichen Rahmen.
Jean-Luc Plouvier, der Pianist und künstlerische Leiter von Ictus, erläutert das Konzept:
„Es geht uns darum, dem Publikum die
­Musik, die wir spielen, so tiefgehend wie
möglich zu vermitteln. Alles begann eigentlich damit, dass uns die Art und Weise, wie
zeitgenössische Musik gespielt wurde – und
leider immer noch oft gespielt wird – zu
Tode langweilte. Sie wissen schon: Zwölf
Musiker spielen drei Stücke von je zwölf
­Minuten, und dazwischen gibt es lange,
umständliche Umbauten auf der Bühne.
Und die zwölf Zuhörer – vier Musiker, vier
Musikwissenschaftler und zwei etwas merkwürdig aussehende ältere Paare – schweigen
höflich und warten.“
Das hergebrachte Konzertformat, davon ist
Plouvier überzeugt, sei nichts als ein Relikt:
„Beethoven ist tot, das 19. Jahrhundert
­ist vorbei. Und doch ist diese beethovensche Mystifizierung der Musik bis heute
sehr lebendig. Es gilt noch immer das beinahe schon religiös gefärbte Dogma vom unermesslichen Geheimnis der Musik und
18
Von Wannes Gyselinck
vom Komponisten als Propheten, der verborgene Wahrheiten enthüllt, die nie ganz,
oder zumindest nie direkt verstanden werden können.“
I
ctus sucht nach Formaten, die einen
klaren Schlussstrich unter diese jahrhundertealte weltliche Religion ziehen
und den künstlich aufrechterhaltenen
Abstand zwischen Publikum und Musik
aufheben. „Das Publikum kann selbst entscheiden, wie groß oder klein dieser Abstand
sein soll. Es gibt keine verborgene Wahrheit,
die Musik ist durchaus ermesslich, auch
wenn sie schwierig ist. Wir erweisen der
zeitgenössischen Musik keinen Dienst, indem
wir den Zaubernebel, der sie umgibt, noch
verdichten, indem wir die Leute in eine
Konzertsituation wie in einen Kirchgang
zwingen: Man sitzt still, lauscht quasi betend
und huldigt der Musik. Liquid Room ähnelt
eher einem hinduistischen Tempel mit
ständigem Kommen und Gehen als einem
katholischen Hochamt. Oder eigentlich
­ähnelt es überhaupt keinem Tempel. Es ist
einfach ein Ort, wo Menschen Musik entstehen lassen, indem sie sie spielen und
ihr zuhören.“
Mehr als ein Gag
Die vier Bühnen sind mehr als ein Gag. ­
Sie sind nicht nur die Antwort auf eine
dramaturgische Frage – wie kann man
zeitgenössische Musik im 21. Jahrhundert
sinnbringend vermitteln? –, sondern bieten auch die Lösung eines praktischen
Problems: Wie können wir ein Programm
aus sehr unterschiedlichen Musikarten für
sehr unterschiedliche Ensembles realisieren? Und zwar ohne die zwangsläufigen
­Bühnenumbauten, die den Flow des Konzerts zerstören?
Mithilfe der vier Bühnen wird eine kontinuierliche Montage von Stücken mit ganz unterschiedlichen Instrumenten und Interpreten
möglich. Das Zusammenfügen von Programm
und Ablauf gleicht daher einem technischen
und dramaturgischen Puzzle. „Liquid Room
ist ein technischer Albtraum“, erklärt Tom
Pauwels, Gitarrist und zweiter künstlerischer
Leiter von Ictus. „Alle hundert Kanäle des
Mischpults sind im Einsatz, jeder ist mit einem
der hundert Mikrofone für die ebenso vielen
Instrumente verbunden.“
Festival wiederbelebten, erklärten die zeitgenössische Musik für tot und im staubigen
Mausoleum des bürgerlichen Geschmacks
einbalsamiert. Zeitgenössische Musik könne
nur überleben und dabei wirklich lebendig
sein, wenn sie sich an der Flamme der
­populären experimentellen Musik (an sich
schon eine problematische Beziehung) neu
entzünden könne.
Romitelli bezog sich auf „die anonyme
Gruppe junger Leute mit Computern“.
­Liquid Room möchte diese Kontaktzone ­
der experimentellen Musik ausnutzen und
die Vorstellung dessen, was zeitgenössische Musik ist, dahingehend erweitern,
was sie eigentlich bedeuten sollte: Musik,
die als sinnvolles musikalisches Angebot
Aber auch über die Logistik hinaus muss der
Abend als künstlerisches Ganzes funktionieren, sowohl dramaturgisch als auch intuitiv.
Tom Pauwels: „Alle Stücke müssen zur offenen und eher formlosen Atmosphäre eines
Liquid Rooms passen.
Und natürlich muss auch
die Gesamtmontage Bedeutung haben. Das soll
nicht heißen, dass sie
durchweg nahtlos ablaufen soll: Komponierte
und improvisierte Musik,
Elektronik und Akustisches, disziplinierter Vortrag und kreischende
­Bricolage werden überblendet oder krachen
mit voller Kraft aufeinander. Man braucht
­einen fast schon makro-­
kompositionellen Ansatz,
der überraschende Kontinuitäten und interessante Kontraste hervorbringt. Beispielsweise
gewinnt hyperorganisierMitglieder des Ictus Ensembles. Foto: Ictus
te Musik an Bedeutung,
wenn sie Improvisationen oder einem Game
an ihre Zeitgenossen gemeint ist.
Piece gegenübergestellt wird.“
Zeitgenössische Musik als Subkultur neben
und in Interaktion mit anderen Subkulturen,
verbunden mit sich überschneidenden und
icht zuletzt hat die räumliche
flüchtigen Netzwerken.
Verlagerung von einer Bühne
zur anderen auch AuswirkunAber die Metapher der Flüchtigkeit, der
gen auf die Rezeption. Pauwels:
­Liquidität hat zwei Seiten. Einerseits konno„Sie erlaubt es dem Publikum, seine Hörtiert sie Mobilität, Freiheit und die Emanzimuster neu zu organisieren und seinen visupation von repressiven, erstarrenden Strukellen und akustischen Blick neu einzustellen.
turen. Andererseits spricht der polnische
Dabei bleibt die Erfahrung des Konzerts im
Soziologe Zygmunt Bauman in „Liquid
Fluss intakt. Und schließlich muss auch der
­Modernity“ („Flüchtige Moderne“, 2000)
drama­turgische Gesamtbogen über den
davon, dass die Vorstellung einer flüchtigen
ganzen Abend hinweg einen Sinn ergeben,
Gesellschaft nahelege, dass Individuen sich
denn es ist zwar kaum zu glauben, aber die
gleichsam wie lose Partikel bewegen; dass
große Mehrzahl des Publikums hört tatsie wie Touristen durch ihre Zeit, ihre Welt
sächlich vom Anfang bis zum Ende zu.“
und, letztendlich, ihr eigenes Leben reisen.
Sie verschieben also gleichsam ihren WegDie Paradoxien des Nomadentums
werfhocker aus Pappe von Aussichtspunkt
Liquid Room wurde unter anderem vom
zu Aussichtspunkt.
Mailänder Musikfestival Nuove Sincronie
­inspiriert. Die großartigen Kuratoren Fausto
Romitelli und Riccardo Nova, die dieses
N
19
B
auman argumentiert, dass diese
existentielle Form der Nicht-­
Bindung dem Individuum große
Verantwortung aufbürdet. In
­Liquid Room tragen die Interpreten und die
Zuhörer diese Verantwortung gemeinsam.
Das Ensemble zerfällt und fügt sich zu Sub-­
Ensembles zusammen, die wieder in kleineren
Sub-Sphären spielen. Dieses Nomadentum
ist jedoch Bestandteil der Selbstverpflichtung des Ensembles zur Kommunikation.
Die Freiheit des Zuhörers, so zuzuhören,
wie es ihm Spaß macht, erfordert aktive
Entscheidungen. Das Zuhören wird zu ­einer
­eigenen Performance. Paradoxerweise
entscheiden sich viele Zuhörer, die leicht
an Flucht denken, wenn sie bei einem tra-
ditionellen Konzert zum Sitzenbleiben
­gezwungen werden, dafür, auf ihrem
­Papphocker zu bleiben und mit größter
Konzentration zuzuhören.
Die Wahrnehmung der Zeit ist relativ, wie
wir täglich erleben. Da Musik nichts anderes
ist als ausgearbeitete Zeit, nimmt man die
Zeit ganz anders wahr, je nachdem ob man
gezwungenermaßen auf seinem Platz im
Konzertsaal sitzenbleibt oder sich frei
­bewegen darf. Die Freiheit, sich autonom
durch die Spielstätte bewegen zu können,
erleichtert die Entscheidung, die Aufmerksamkeit – zumindest zeitweise – im Zeitablauf verweilen zu lassen.
Liquid Room: 20. März, 20:00 Uhr,
Haus der Berliner Festspiele.
Benjamin Franklin erteilt einem ehrgeizigen Geschäftsmann Unterricht.
Wie Ihr mir aufgetragen habt,
schreibe ich Euch die folgenden
Hinweise, die mir selbst seit langem
dienlich sind und die, falls befolgt,
so auch Euch dienlich sein können.
von einhundert Pfund als Besitz
und zum eigenen Gebrauch haben.
Soviel als Grundkapital, rasch ge­
wendet von einem emsigen Mann,
kann hohen Gewinn erbringen. (…)
Die geringsten Taten, die den Kre­
Gedenket, dass Zeit Geld ist. Der, dit eines Mannes betreffen, sollten
der zehn Schillinge am Tag durch beachtet werden. Der Klang Eures
seine Arbeit gewinnen kann, und
Hammers um fünf Uhr am Morgen
umherschweift oder die Hälfte des oder um neun Uhr am Abend, vom
Tages Müßiggang hält, auch wenn Gläubiger gehört, lässt ihn sechs
er nur ein Sixpencestück während Monate länger beruhigt sein; wenn
seiner Zerstreuung verbraucht hat, er Euch aber am Billardtisch sieht
sollte nicht meinen, dies sei seine
oder Eure Stimme in einer Schenke
gesamte Aufwendung gewesen; in hört, während Ihr bei der Arbeit
Wirklichkeit hat er z­ udem fünf
sein solltet, wird er sein Geld den
Schillinge ausgegeben oder viel­
nächsten Tag holen lassen; er wird
mehr fortgeworfen.
es, noch bevor er alle Raten erhalten
Gedenket, dass ein Kredit Geld hat, im Ganzen zurückfordern. (…)
ist. Wenn ein Mann sein Geld in
meinen Händen liegen lässt, nach­ Kurz, der Weg zum Reichtum, wenn
dem es fällig geworden ist, gibt er Ihr ihn begehrt, ist so einfach wie
mir damit auch die Zinsen oder
der Weg zum Markt. Er hängt vor­
­soviel, wie ich daraus in dieser Zeit nehmlich von zwei Wörtern ab:
machen kann. Dies ergibt eine
Fleiß und Sparsamkeit; das heißt,
­beträchtliche Summe dort, wo ein weder Zeit noch Geld zu vergeuden,
Mann guten und hohen Kredit
jedoch den besten Nutzen aus beidem
­erhalten hat, und diesen auf gute
ziehen. Der, der alles auf redliche
Weise eingesetzt hat. (…)
Weise erwirbt, und alles, was er er­
Gedenket, dass sechs Pfund im wirbt, spart (notwendige Ausgaben
Jahr nur ein Groschen pro Tag
ausgenommen), wird gewiss r e i c h
sind. Für diese kleine Summe an
werden; falls nicht die Wesenheit,
Zinsen, die täglich entweder in Zeit die die Welt lenkt, nach deren Segen
oder in unbemerkten Ausgaben
für ihr redliches Streben alle trach­
vergeudet werden mag, kann ein
ten sollten, in ihrer weisen Vorse­
kreditwürdiger Mann die Sicherheit hung es anders bestimmt hätte.
Benjamin Franklin, „Advice to a Young Tradesman“ (1748).
20
Wetten auf
die Zukunft
Mit ihren Musiktheater-Projekten „KREDIT“ und „RECHT“
nehmen Daniel Kötter und Hannes Seidl die „Ökonomien
des Handelns“ unter die Lupe. Von Christoph Braun
D
ie Bankiers und Geldwechsler des Mittelalters benötigten für
ihre Arbeit einen Tisch,
und dieser Tisch bedeutete die Bühne für eine
Materialisierung: die
der Spekulation auf das Geschick eines
Schuldners. Würde dieser in der Zukunft
ökonomisch klug handeln, dann hätte der
Bankier das Geld, das er verliehen hat, gut
angelegt. Banco, so lautet das alte italienische Wort für Tisch; es hat sich in vielen
Sprachen auf die Institute des Geldhandels
übertragen: La banque im Französischen,
banco im Spanischen, Bank im Deutschen
und Englischen.
Auch in unserer Gegenwart, in der für das
alltägliche Banking nur noch PIN und TAN,
IBAN und BIC nötig sind, beschäftigt sich
der Beruf der Bankerin und des Bankers mit
einer Abfolge von Projektionen in die Zukunft:
Wie werden sich die Märkte entwickeln? Wie
werden sich meine Kunden darin bewähren?
Treffen deren Voraussagen auf eine finanziell
erfolgreiche Zukunft überhaupt zu? Dabei
hat die Digitalisierung der Finanzwirtschaft
den ohnehin abstrakten Begriff „Geld“ noch
einmal auf der Ebene der Interaktion
abstrahiert. Was noch nicht da ist, das lässt
Menschen handeln. Die Erwartung steckt
somit hinter dem Prinzip, das dem Geld auf
dem Tisch einen gesteigerten Wert für die
Zukunft zuschreibt.
darauf eine Wette ab. Ein anderer Player
aber erwartet eine andere Zukunft und
wettet dementsprechend. ­Auf diesen unterschiedlichen Erwartungen basieren zum
Beispiel Termingeschäfte.“
N
„Von der Erwartbarkeit zukünftiger Gegenun kann die Erwartung selbst
wart“ lautet denn auch der Untertitel des
kaum künstlerisch formal darMusiktheaters „KREDIT“ von Daniel Kötter
gestellt werden. Und so machen
und Hannes Seidl. In dieser Produktion –
Daniel Kötter und Hannes Seidl
uraufgeführt 2013 beim steirischen herbst
in „KREDIT“ einen wesentlichen Charakterin Graz und Auftakt einer Trilogie unter
zug der Erwartung sicht- und hörbar: die
dem Titel „Ökonomien des Handelns“ –
Unsicherheit. Das Duo, das bereits seit 2008
­beschäftigen sich
der Filmemacher
und Regisseur
Kötter und der
Komponist und
Musiker Seidl mit
dem ­Beruf des
Bankers. Es geht
ihnen um das Erfahrbarmachen
eines komplexen
Systems. Hannes
Seidel: „­ In diesem
System erwartet
ein Player eine bestimmte Zukunft
Filmstill aus „KREDIT“. Foto: Kötter & Seidl
und schließt
21
zusammenarbeitet, erschafft in formal komplexen Verfahren eine leicht entzifferbare
Formensprache: Gleich zu Beginn sehen
wir Frankfurt am Main, die Bankenstadt,
aus der Perspektive des umgebenden
­Hügellandes. Im Taunus zwitschern die
­Vögel, durch dichtes Grün und weichen
Nebel zeichnet sich in der Ferne Deutsch-
Hannes Seidl und Daniel Kötter. Foto: Kötter & Seidl
lands einzige Skyline ab. Als die Sinne sich
empfänglich machen für dieses Idyll, stürzen Ton und Bild ab, fiese Störgeräusche
untermalen einen schwarzen Bildschirm.
Es folgen Aufnahmen aus einer Bank,
Mitschnitte von Unterhaltungen unter
Bankern, geistliche Musik.
Es ergibt sich jedoch keine Erzählung. Und
auch sonst fehlen in „KREDIT“ ganz bewusst
die Sicherheiten einer moralischen Urteils­
ebene. Es gibt keinen Fixpunkt, keine Figur,
von der aus „KREDIT“ erzählt würde. Und es
gibt kein Gegenüber: Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von Frankfurter Banken sind
selbst die Akteure in diesem Stück, lassen
sich von einer merkwürdig distanzierten Kamera bei ihrer Arbeit, in ihrem Alltag filmen.
Geldprofis auf dem Weg in die Hochhäuser,
am Schreibtisch oder auf einer Aktionärs­
versammlung. „Wir haben erst einmal Szenen gedreht“, sagt Hannes Seidl über den
Produktionsprozess. „Unsere Ausgangsidee
für das Stück war, Banker zu treffen, die in
Bereichen arbeiten, in denen wir uns überhaupt nicht auskennen, zum Beispiel im
­Investment Banking oder in der Vermögensberatung oder im Bereich der Aktienanlage.“
Kötter und Seidl führten Interviews mit diesen
Menschen und schufen so eine Grundlage
für das Filmmaterial.
Auf der Bühne jedoch bleibt der Film stumm;
die Tonspur wird in der Tradition des Stummfilms live realisiert. So erst kann das – laut
Seidl „halbdokumentarische“ – Format
eine noch einmal gesteigerte Distanz zum
Gezeigten garantieren. Die Gespräche mit
den Finanzexperten tauchen während der
Aufführung immer wieder auf, schnipselweise, als Teil der Live-Montage. Ein Sprecher mixt auf der Bühne das Material aus
den Interviews mit theoretischen Schriften,
etwa Joseph Vogls „Das Gespenst des
­Kapitals“ oder Benjamin Franklins „Advise
From An Old Tradesman To A Younger One“. Dazu
singt der Chor der
Deutschen Bundesbank Credos und
Choräle. So entsteht jeden Abend
aufs Neue das, was
Kötter und Seidl ein
„Stummfilm-Oratorium“ nennen.
„Das Problem unserer Gesellschaft
­besteht darin, dass
wir ökonomische
Analphabeten sind“,
sagt Hannes Seidl.
„KREDIT – Von der
­Erwartbarkeit zukünftiger Gegenwart“ ist
aber nicht gedacht, das Publikum in Hinblick
auf das Bankensystem zu alphabetisieren.
Vielmehr könnte das Bühnenstück erfahrbar
machen, wie sehr unser Bankensystem
längst schon viel zu komplex geworden ist –
für alle seine Player.
A
uch in „RECHT“, dem zweiten Teil
ihrer Trilogie „Ökonomien des
Handelns“, beschäftigen sich
Daniel Kötter und Hannes Seidl
mit den Rahmenbedingungen gesellschaft­
lichen Handelns – und experimentieren ­dabei
wieder mit verschiedenen Formen dokumentarischen Erzählens in den Medien Film und
Musik. „RECHT“ behandelt die F
­ rage, wie
Raumordnungen und Grenzen die Rechtsordnung bedingen.
In einer experimentellen Anordnung arbeiten zwei Gruppen an der Schaffung von
­Regelsystemen: Im Film sieht man eine
Gruppe von sechs Rechtswissenschaftlern
und NGO-Mitarbeitern diskutieren, streiten,
tanzen und feiern. Sie befinden sich auf
­einer Moselinsel im Niemandsland nahe
des Städtchens Schengen in Luxemburg.
Drei Jahrzehnte nach dem ersten Schengener Abkommen fragen sie sich, wie sich
weltweit Gerechtigkeit durch Recht durchsetzen ließe. Ihr Auftrag: Ein neues, transnationales Recht zu erschaffen, das den
Ansprüchen tradierter nationaler Rechtspraxis genügt und zugleich neue, globale
Anforderungen berücksichtigt.
22
D
iese außergewöhnliche Gelehrtenrepublik initiierten Kötter und
Seidl im Spätsommer 2014 und
begleiteten sie über 24 Stunden
mit Kamera und Mikrofon. Bereits auf der
Insel standen den Denkern Solisten des
­Ensembles Nadar als „Festkapelle“ und
klangliche Konfrontation zur Seite. Live, auf
der Bühne, arbeitet in Analogie zur Insel
diese Gruppe von Musikern im Rahmen ihres
eigenen Regelsystems, das zwischen Partitur, Improvisation, Leinwand und Konzert­
raum aufgespannt ist: Experimenteller
­Dokumentarfilm und Live-Konzert rücken
zusammen, doppeln, begleiten und kommen­
tieren sich gegenseitig und lassen territoriale Bedingungen von Recht und Musik im
Zusammenspiel aller Ebenen zu einer konkreten Reflexion und Erfahrung über das
komplexe Phänomen des Rechts werden.
„KREDIT“ und „RECHT“:
26./27. März, 19:00 / 21:00 Uhr,
HAU / Hebbel am Ufer (HAU 2).
Das Maß der Arbeit ist die Zeit. Der konstituierte
Wert eines Produktes ist ganz e­ in­fach der Wert,
der konstituiert wird durch die in demselben ent­
haltene Arbeitszeit. Die Zeit ist alles, der Mensch
ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkör­
perung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um
die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles.
Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag.
Karl Marx, „Das Elend der Philosophie“ (1847)
Die Finanzwelt ist ein furchtbares Instrument, mit
dem die Zeit der Handlung kontrolliert wird, mit
dem das Mögliche, die ‘lebendige Gegenwart’, die
‘formbare Zone der Übertragung des Unsicheren’,
die ‘Begegnung von Vergangenheit und Zukunft’
neutralisiert wird. Sie verschließt das Mögliche, in
dem sie sich in die Zukunft projiziert. Die
­Zukunft ist für sie nur eine einfache Antizipation
der Herrschaft einer gegenwärtig bereits­
­bestehenden Ausbeutung. Aber wenn eine kritische
Schwelle der Unsicherheit über die Zukunft und
ihre Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen
einmal eintritt, dann bricht die vom Möglichen
entleerte Gegenwart in sich zusammen. Die Krise
ist also eine Krise der Zeit und der Emergenz einer
Zeit politischer und sozialer Kreation, die die
­Finanzen zu zerstören suchen.
Maurizio Lazzarato, „Die Fabrik des verschuldeten Menschen“ (2011)
23
A
RBEIT
LLTAG
BENTEUER
Der Komponist Georges Aperghis
nimmt sich die Zeit, aus den
Zwängen des Betriebs auszubrechen.
Von Patrick Hahn
Georges Aperghis. Foto: Xavier Lambours
D
azu fehlt im Theater
meist die Zeit: sich zu
begegnen, ohne dass
man weiß, worauf es
­hinausläuft; eine
­Improvisation zu beginnen, ohne zu wissen, ­ob
sie ein brauchbares Ergebnis liefern wird –
brauchbar im Sinne ihrer „Verwertbarkeit“
für eine Aufführung (und deren Wiederholung!), die allein den immensen zeitlichen
Aufwand zu rechtfertigen scheint, den eine
gemeinsame künstlerische Entdeckungsreise
erfordern kann.
Als der griechisch-stämmige Komponist
­Georges Aperghis 1976 sein erstes eigenes
Theater gründet, ist er nicht allein mit dem
Wunsch, auszubrechen aus den herrschenden Strukturen, wie sie der Theater- und
Konzertbetrieb vorgibt. „Die Spezialisierung“
– Grundlage der industriellen Autofertigung
ebenso wie eines auf Hochtouren laufenden
Kulturbetriebs – „war uns ein Graus“, sagt
Aperghis, der in seinen Theaterstücken abstrakten Tönen einen Körper verliehen und
Körper zu Musik gemacht hat. „Wir haben
nicht aus Geschmacksgründen experimentiert. Aber der künstlerische Kontext, in dem
wir leben, erlaubt es nicht, dass eine
24
Aufführung als Abenteuer entsteht! Wir
wollen in unseren Stücken über den Alltag
sprechen. Und wenn man über die Welt
heute sprechen will, muss man sich auch
darauf einlassen, Arbeitsweisen zu erfinden,
Sprachen, Bezüge zwischen Tönen und Gesten, die dem entsprechen, worüber wir sprechen wollen.“
Mit seiner Musik spricht Georges Aperghis
stets über die Gegenwart. Er tut dies nicht
auf journalistisch-zeitgeistige Weise; er
­nähert sich dem Hier und Jetzt mit der
­forschenden Neugier des Archäologen. ­
Der Blick des heute 69-Jährigen erkennt
die Gegenwart als eine ruinierte – und treibt
sein kindliches Spiel mit den Resten, die sich
ihm entgegenstrecken.
Vielleicht ist diese Perspektive zwangsläufig
für jemanden, der im Schatten der Akropolis
aufwuchs: In Athen, in einer schmalen
Gasse aus gestampfter Erde mit ihrem alltäglichen Straßentheater, untermalt von
rhythmischen Hammerschlägen auf Bronze
aus einem nahe gelegenen Bildhaueratelier
– dort ist die akustische Urszene von Aperghis’
Komponistenbiografie anzusiedeln. Man
kann sich lebhaft vorstellen, wie der Sohn
einer Malerin und eines Skulpteurs die Vorgänge in seiner Straße mit leicht zusammengekniffenen Augen und weit geöffneten
Ohren beobachtet, in sich aufsaugt und
innerlich neu und anders zusammensetzt;
wie sich die Laute aus den Höfen und Häusern zu einer außergewöhnlichen Polyphonie
des Alltags verbinden.
Aperghis’ griechische Herkunft kann man
heute allenfalls an der Härte erkennen, die
er manchen Konsonanten verleiht, die wie
kurze Schlagzeugeinsätze aus dem gemurmelten Strom seiner Rede herausstechen.
Er selbst spricht seinen Namen inzwischen
französisch aus – so wie die vielen Musiker
und Theaterleute auf der ganzen Welt, die
ihm als einem der wichtigsten Erneuerer
des Musiktheaters ihre Bewunderung entgegen bringen.
Dass Georges Aperghis einem breiteren
­Publikum in Deutschland noch nicht bekannt ist, erklärt sich einzig und allein
­dadurch, dass er den Marsch durch die
­Institutionen anderen überlassen und sein
­musikalisches Theater abseits der großen
Häuser entwickelt hat. Wie ein Bild, das
seinen Rahmen stets bei sich haben muss,
erfordern seine Werke einzigartige technische Setups, die nur äußerlich einfach sind.
So wie die vier Projektionsflächen über den
vier Frauen, die in „Machinations“ ein fesselndes Spiel entfachen an der Schnittstelle
von Mensch und Maschine: Stimmen zwischen kindlichem Gebrabbel und sexueller
Ekstase, technischer Manipulation und
­archaischem Urlaut.
A
ls illegaler Einwanderer erreicht
Aperghis 1963 Paris, dort will er
seine musikalische Ausbildung
fortführen. Er verdingt sich als
­Pianist in Bars und Nachtclubs, aber auch
in der Oper. Er schließt Bekanntschaften
mit Schauspielern, Regisseuren, Autoren. ­
Er entdeckt das Theater als Freiraum, der
ganz andere Dinge zulässt als der Konzertbetrieb. Der Geist des Festivals von Avignon
befeuert seine Suche nach neuen
Ausdrucksweisen. „Wir haben uns in Avignon ein Fleckchen auf dem Feld gesucht
oder am Wegesrand, um uns unseren Improvisationsübungen hinzugeben, in denen
jeder, Musiker oder nicht, den anderen seine künstlerischen Bedürfnisse mitgeteilt
hat, was ihn bewegt, was er an den Dingen
liebt oder am Leben – auf eine originelle
Weise. Diese Vorgehensweise, so primitiv sie
– im existenziellen Wortsinne – sein mag,
hatte zum Ziel, den Klängen einen Körper
zu geben durch die Stimme und die Geste.“
Eine Hand durchbricht eine papierne Wand,
eine Klarinette durchstößt sie an einer anderen Stelle. Knapp über dem Boden lugt
ein Kopf aus einem Loch und beginnt zu
sprechen. Zwei Menschen begegnen sich,
Mit seiner Musik
spricht Georges
Aperghis stets
über die Gegen­
wart – nicht auf
zeitgeistige Weise,
sondern mit der
forschenden
Neugier des
Archäologen.
fallen sich in die Arme, klopfen sich unablässig auf die Schultern und werfen sich
emphatisch Begrüßungsformeln an die
­Köpfe, frenetisch, als hätten sie gerade­­
ihre Sprache wiedergefunden. – Aperghis’
­„Énumerations“ sind, wie überhaupt sein
théâtre musical, eine Welt des permanenten Staunens: über das, was unsere Körper
artikulieren können; darüber, wie die Dinge
aussehen, trennt man sie von ihrem Körper
ab; und nicht zuletzt darüber, was an Musik
in den Dingen steckt, wenn beispielsweise
Telefonbücher, Möbel und Wände den
­r­ituellen Soundtrack zu einer geheimnis­
vollen Verrichtung beisteuern, die der
­Arbeitswelt abgeschaut sein könnte ode­r
einer uralten Zeremonie.
1988 sind die „Énumerations“ entstanden;
der Komponist legte dem Stück zunächst
Texte nordamerikanischer Indianer zugrunde.
25
D
och ist von diesem Ausgangspunkt im Spektakel, wie es der
Filmregisseur Hugo Santiago in
einem Pariser Abbruchhaus für
das Fernsehen festhielt, auf den ersten
Blick nichts mehr sichtbar. Erhalten geblieben ist die aus dem Stoff resultierende
Achtung, die dem Anderen, dem Fremden
entgegen gebracht wird: sei es das eigene
Spiegelbild, sei es die Haut des Gegenübers,
die mit Fingerspitzen abgetastet wird.
1976 gründete Georges Aperghis sein Atelier
Théâtre et Musique, genannt A.T.E.M., und
im Deutschen erinnert ­bereits die Abkürzung daran, dass dieses Theater zum Leben
möchte. Aperghis hat es bewusst im Banlieue, in den Rand­zonen und Vororten von
Paris angesiedelt, fernab der Tummelplätze
der Kaviar-Linken und der Bourgeoisie.
Nicht nur Schauspieler und Musiker, auch
Anwohner waren Teil der Truppe, mit der
Aperghis bis 1997 über zwanzig Werke erarbeitet hat.
Doch ist das théâtre musical nur ein kleiner,
wenn auch bedeutender Ausschnitt aus
dem Schaffen von Georges Aperghis. Neben
seiner Theaterarbeit hat er stets auch
Partituren geschrieben, selten für Orchester, häufig für Ensembles und meistens für
Künstler, die er persönlich gut kennt. So
sind über die Jahrzehnte zahlreiche intime
Porträts entstanden, von Instrumenten,
aber auch von jenen, die sie spielen. Es sind
vorsichtige, ja, zärtliche Erkundungen unbekannten Terrains, denen vor allem eines zu
eigen ist: ihr sprechender Charakter. „Quasi
parlando“, der Titel eines Stückes für Kontrabass, steht stellvertretend hierfür.
Das jüngste große Ensemblewerk, das
Aperghis für das Klangforum Wien schrieb,
dehnt diese Arbeitsweise auf ein ganzes
Ensemble aus, ein Gruppenbild entsteht
aus 23 Einzelporträts: „Situations“ ist eine
Feier der Gemeinschaft, die das Individuum
ins Zentrum rückt. Und Feste, das wusste
schon der Philosoph Hans-Georg Gadamer,
haben ihre eigene Zeit. „Das Fest ist nur,
­indem es gefeiert wird.“
So viel Zeit muss sein.
Aperghis I – V: 23. bis 25. März
im Haus der Berliner Festspiele und im
Kammer­musiksaal der Philharmonie.
Die genauen Termine finden Sie im
Kalender auf Seite 30.
Dendrochronologie
Die Geschichte hat immer existiert,
aber nicht immer in ihrer geschichtlichen
Form. Die Zeitigung des Menschen,
wie sie durch die Vermittlung einer
­Gesellschaft stattfindet, entspricht einer
Vermenschlichung der Zeit. In dem
­geschichtlichen Bewusstsein äußert
sich die bewusstlose Bewegung der
Zeit und wird wahr.
Guy Debord, „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967)
26
„The Long Now“ macht aus dem Kraftwerk Berlin einen Raum, in dem unser Zeitgefühl unbekannte Wege
gehen und sich verlieren kann.
DER U N E N D L I C H L A N G E M OME NT
Von
Carsten Fastner
Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin
F
lirren bis zum Stillstand, es
ist, als wäre die Zeit angehalten worden. Aus einer Mauer
von gleißendem ­Geigenklang
zischt endlos scheinende
Sekunden lang ein scharfer
F-Laut in den Raum, ehe er
allmählich in ein kehliges Knattern umschlägt:
rrrrrr… Es dauert lange, bis sich aus der surrealen Geräuschkulisse die berühmten Worte
„Freude, schöner Götterfunken“ geformt
haben. Im Zusammenhang verständlich
werden sie freilich nie; es ist kaum zu
­erahnen, dass hier Beethovens „Neunte“
gespielt wird. In maßloser Vergrößerung.
Für seine Klanginstallation „9 Beet Stretch“
hat der norwegische Künstler Leif Inge den
siebzigminütigen Klassiker auf exakt 24 Stunden gestreckt, in unveränderter Tonhöhe. Der
Gedanke, der einem beim Hören dieser
irisierenden Klangwand unwillkürlich
kommt, mag spekulativ sein und vielleicht
auch ein bisschen zu romantisch, aber er
ist bestechend: So ungefähr muss es im
tauben Kopf des Komponisten bei der Arbeit
zugegangen sein. Die Musik will vor dem inneren Ohr des Genies dahinrauschen – und
muss doch mit aller Gewalt aufgehalten
werden, um sie festzuhalten im quälend
langwierigen Prozess des Notenschreibens.
Eine faszinierende Vorstellung, spinnen wir
sie ein bisschen weiter. Wie wäre es, wenn ­
für viele Menschen auf einmal die Zeit angehalten würde? Oder zumindest: Wenn sich
­diese vielen Menschen für einen Tag lang
gemeinsam in der Zeit verlieren könnten?
Es ist eine sehr spezielle Zeitfrage, die sich
das Festival MaerzMusik da stellt – und die
es mit einem groß, nein, sehr groß angelegten Projekt in der Praxis beantworten möchte:
27
Unter dem Titel „The Long Now“ hat Berno
Odo Polzer, der künstlerische Leiter des Festivals, in Zusammenarbeit mit den Machern
von Berlin Atonal, Laurens von Oswald und
Harry Glass, so etwas wie eine Zeitblase
konzipiert, einen Raum, in dem sich Zeit selbst
entfalten und das Zeitgefühl unbekannte
Wege gehen und sich verlieren kann.
Das monumentale, 30-stündige Projekt bietet
zum Abschluss der MaerzMusik die Möglichkeit, sich von der getakteten Chronometrie
der Großstadt für einen unendlich langen
Moment abzugrenzen, um all jenen Eigenzeiten Platz zu machen, die für gewöhnlich dem
Tag und der Nacht zum Opfer fallen. Es versammelt künstlerische Arbeiten − Konzerte,
Performances, Klanginstallationen, Filme
und elektronische Live-Acts − zu einer großformatigen Komposition in Raum und Zeit.
Die Besucher sind eingeladen, sich dieser
reduzierten Werke gab er den Klängen nicht
nur allen Raum, den sie brauchen, um die
Stille beleben zu können; nicht weniger großzügig, ja verschwenderisch verfuhr Feldman
auch mit der Zeit, die er seinen Klängen lässt.
„Ich bin an Zeit in ihrem unstrukturierten
Zustand interessiert“, sagte er einmal.
„Mich interessiert, wie dieses wilde Tier im
Dschungel lebt, nicht im Zoo. Wie Zeit existiert, bevor wir unsere Klauen hineinschlagen, unsere Ideen und Vorstellungen.“
W
ichtige Anregungen für seine
Musik erfuhr Feldman nicht
zuletzt von Malern aus seinem persönlichen Umfeld,
von Mitgliedern der New York School des
Abstrakten Expressionismus wie Philip Guston,
Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Mark
Rothko und Willem de Kooning. Deren glühende Farbspiele, monochromen Bildflächen,
glänzende Linien brachten ihn dazu, nach
einer Musik zu suchen, „die direkter, unmittelbarer, körperlicher war als alles, was bis
dahin existiert hatte“.
Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin
Zeitblase einzuverleiben und, schlafend oder
nicht, über Nacht zu bleiben, sich dieser
künstlerischen Grenzerfahrung hinzugeben.
Der Ort dieser andauernden Gegenwart ist das
Kraftwerk Berlin, einer der beeindruckendsten
Räume der Stadt. 1961, praktisch zeitgleich
mit dem Bau der Berliner Mauer, wurde ­
der gigantische Komplex an der Köpenicker
Straße errichtet, als zentrales Heizkraftwerk für Ost-Berlin. Sein nördlicher Teil steht
bis heute für die Energiegewinnung in Betrieb; der südliche Trakt aber wurde 1997
stillgelegt und 2006 zur neuen Heimat für
den Technoclub Tresor. Seit 2010 dient das
Kraftwerk Berlin als riesiger Veranstaltungsund Ausstellungsraum.
„Man könnte
meine Komposi­
tionen mit einer
Zeit-Leinwand
vergleichen.
Ich bemale diese
Zeit-Leinwand
mit Musikfarbe.“
Morton Feldman
K
reuz und quer durch die Ebenen
dieses grenzenlos wirkenden
Labyrinths aus Beton und Stahl,
aus haushohen Hallen und kargen Kammern wird sich am 28. und 29. März
die Zeitblase von „The Long Now“ ausdehnen. 30 Stunden lang können sich ihre Besucher frei durch Zeit und Raum bewegen und
(nicht nur) musikalische Grenzerfahrungen
sammeln. Etwa in Leif Inges „9 Beet Stretch“,
für das die ehemalige, retro-futuristisch
anmutende Schaltzentrale des Kraftwerks
über die volle Länge von 24 Stunden zur
Kulisse wird. Oder in einer siebenstündigen
Konzert-Performance und Film-Installation
von und mit dem US-amerikanischen Experimental-Komponisten und Filmemacher
Phill Niblock. Bei Live-Elektronik von Mix
Mup & Kassem Mosse, Thomas Köner, Eric
Holm, Mika Vainio und Actress ebenso wie
bei einem Bier an der Bar oder bei Speisen
von Big Stuff Smoked BBQ. Bei einem P
­ ower-­
Nap auf dem Matratzenlager ebenso wie bei
zwei fragmentarisierten Gitarren-Soli des
Komponisten Pierluigi Billone oder beim
16-Stunden-Screening von Burkhard von
Harders Single-Shot-Dokumentarfilm „Narbe
Deutschland“, einem Echtzeitflug über die
ehemalige deutsch-deutsche Grenze.
Natürlich ist bei „The Long Now“ auch Morton
Feldman (1926–1987) prominent vertreten:
Das Minguet Quartett spielt gleich zu Beginn
dessen fünfstündiges 2. Streichquartett
(1983). Der New Yorker Komponist gilt mit
Recht als Meister der Musik als Zeitkunst im
Wortsinne. Denn in den meisten seiner radikal
28
So wie die Abstrakten Expressionisten die
Konzentration des Betrachters auf die Farbe
selbst, auf Pigment und Textur lenken wollten, so strebte Feldman danach, dem Hörer
ein Gefühl für die Plastizität, das dynamische Eigenleben der Klänge zu vermitteln,
den Vorgang ihrer Erzeugung, ihr Aufblühen
und Verklingen: „Eine Musik, die eine Oberfläche hat, konstruiert die Zeit. Mein Interesse an der Oberfläche ist das Thema meiner
Musik. In diesem Sinne könnte man meine
Kompositionen mit einer Zeit-Leinwand vergleichen. Ich bemale diese Zeit-Leinwand
mit Musikfarbe.“
Welche Wirkung diese Zeit-Leinwand mit
Musikfarbe auf ihre Hörer haben kann, das
beschrieb niemand plastischer als der
­Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius: Wer
sich nur immer tiefer in Feldmans Musik
verwickeln lasse, dem schenke sie „ein
­Erlebnis von Freiheit, Schwerelosigkeit,
­Gegenwartserfahrung, das – ähnlich wie ­die
Euphorie über den nicht enden wollenden
Tag in Gebieten der Mitternachtssonne –
­einen neuen Raum des eigenen Daseinsgefühls zu erschließen scheint. Die Wahrnehmung wird wichtiger als das Wahrgenommene,
die Phänomene verselbständigen sich, denn
Zeit entfaltet einen Aspekt von Zeitlosigkeit.“
The Long Now: 28. März., 18:00 Uhr ,
bis 29. März, 24:00 Uhr, Kraftwerk Berlin.
Zwischen
Ausstellung und
Aufführung
Rainer Werner
Fassbinder
Mit einem Fassbinder-Special
im Mai 2015 beim Theatertreffen
Mit der Ausstellung
„Fassbinder – JETZT“
zeitgleich im
Martin-Gropius-Bau
© Peter Gauhe
Tacita Dean
Mit „Event for a Stage“
im Mai 2015 beim Theatertreffen
Susanne Kennedy
Mit „Warum läuft Herr R. Amok?“
aus den Münchner Kammerspielen
eingeladen zum Theatertreffen 2015
Mit „Orfeo“ im September 2015
Musiktheater im
Martin-Gropius-Bau
® Jan Versweyveld
Tino Sehgal
Mit einer Arbeit im Juni / Juli 2015 bei Foreign Affairs
Mit einer Ausstellung
im Martin-Gropius-Bau
Weitere Veranstaltungen
und alle aktuellen Termine auf
www.berlinerfestspiele.de
Kraftwerk Berlin. Foto: Fineartberlin
MM15_Anz._taz-Beilage_97,5x270mm_isoNewspaper__RZ.indd 1
29
10.03.2015 17:06:11
Alle Termine, Tag für Tag
Freitag, 20. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate in
­einer neuntägigen transdisziplinären
Plattform, die dem gemeinsamen
Nachdenken über unser Verhältnis
zur Zeit gewidmet ist. Das Format
besteht aus frei zugänglichen Seminaren, Lecture-Performances, Diskussionen, Filmvorführungen, gemeinsamem Musikhören und experimentellen
Diskursformaten. Zur Eröffnung lädt
Thinking Together zum gemeinsamen
Betrachten der partiellen Sonnenfinsternis ein (Beginn um 9:42 Uhr,
Höhepunkt um 10:47 Uhr).
­Anschließend beginnt die Konferenz.
Siehe auch S. 4 und S. 9.
„The Politics of Time“. Vorträge von
Aleida Assmann, Maurizio Lazzarato
und Rolando Vázquez.
Haus der Berliner Festspiele,
ab 9:42 bzw. 13:00
Liquid Room
Musik von Peter Ablinger, Pierluigi
­Billone, Marko Ciciliani, Cédric Dambrain, Jürg Frey, Bernhard Gander,
Michael Gordon, Clara Ianotta, Alvin
Lucier, Enno Poppe, Eliane Radigue,
Eva Reiter, François Sarhan u. a.
Ictus Ensemble, ensemble mosaik.
„Liquid Room“ ist ein Konzertformat
der besonderen Art, das die Konventionen des Konzerts aufbricht und
eine Art Live-Streaming von Musik in
Gang setzt: ein Projekt zwischen
­Installation und Performance, eine
Komposition in Raum und Zeit, innerhalb derer sich die Besucher frei bewegen können. Siehe auch S. 18.
Haus der Berliner Festspiele, 20:00
Samstag, 21. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate
(siehe 20. März).
„Politico-temporal Strategies“. Vor­
träge von Pascal Michon, Nick Srnicek,
­Daniel Blanga-Gubbay, Rene Gabri,
Ayreen Anastas, Victoria Browne,
Julian Pörksen und Ranabir Samaddar.
Haus der Berliner Festspiele, ­
12:00 – 18:00
Time has fallen asleep in the afternoon sunshine
Eine Bibliothek der lebendigen Bücher:
Sechs Performer haben jeweils ein
Buch ihrer Wahl auswendig gelernt
(von Goethe, Melville, Eliot, Natsume,
Özdamar, Goetz). Gemeinsam warten
sie darauf, abgeholt zu werden, um
Teile der Bücher für einzelne „Leser“
zu rezitieren. Das Projekt der norwegischen Künstlerin Mette Edvardsen
schafft einzigartige, intime und zeitlose Situationen.
Haus der Berliner Festspiele,
16:00 – 22:00
Time stands still
Musik von Thomas Campian, John
Dowland, Francesco Filidei, Bernhard
Gander, Tobias Hume, Peter Jakober,
Burkhard Stangl u. a.
Ensemble Unidas.
Was passiert, wenn die Zeit still steht?
Was lässt sich alles denken, wenn die
Zeit keine Rolle mehr spielt? Dann
bräuchten wir uns, wie in diesem
Konzert für Sopran, Viola da Gamba
und Laute, um Zeitsprünge zwischen
Renaissance und Gegenwart keine
Gedanken mehr zu machen.
Haus der Berliner Festspiele, 18:00
Ciaccona
J. S. Bach: Ciaccona für Violine solo
aus BWV 1004 (1723); Ole-Henrik
Moe: Ciaccona für Violine solo (2002).
Kari Rønnekleiv (Violine).
Ole­-Henrik Moe, Grenzgänger zwischen
Violine, Komposition und Experimentalmusik, schuf mit seiner 40-minütigen „Ciaccona“ ein filigranes Monument des schillernden Minimalismus.
Haus der Berliner Festspiele, 19:30
In iij Noct.
Georg Friedrich Haas:
„In iij Noct.“ (2001).
Ensemble KNM Berlin.
Eine Extremerfahrung für Musiker
und Publikum gleichermaßen: In seinem 3. Streichquartett „In iij Noct.“
erkundet Georg Friedrich Haas die
Möglichkeiten des Musizierens im
Dunkeln. Das Stück wird in völliger
Finsternis gespielt – und eröffnet so
dem Hören völlig neue Perspektiven.
Haus der Berliner Festspiele, 21:00
Gordon: Timber
Michael Gordon: „Timber“ für sechs
Schlagwerker (2009).
Ictus Ensemble.
Michael Gordon gehört zu den Pionieren des Post-­Minimalismus. Sein
Schaffen ist geprägt vom New Yorker
Underground­-Rock ebenso wie von
avantgardistischen Kompositionsstudien. In „Timber“ wird der obertonreiche Klang roher Hartholzbalken voll
zur Entfaltung gebracht. Dabei entsteht eine ans Magische grenzende
Klangmeditation, die sich über eine
Stunde hinweg dreidimensional im
Raum bewegt.
Haus der Berliner Festspiele, 22:30
Sonntag, 22. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate
(siehe 20. März).
„Time and the Arts “. Vorträge von
Amelia Groom, Maurizio Lazzarato,
Sven Lütticken, Lutz Henke, Pascal
Michon, Helga de la Motte-Haber
und Gregor Herzfeld.
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
Soda Jerk: „The Carousel“.
2-channel video lecture performance
(2011).
Haus der Berliner Festspiele, 19:00
Time has fallen asleep in the
­afternoon sunshine
Eine Bibliothek der lebendigen
Bücher (siehe 21. März).
Haus der Berliner Festspiele,
16:00 – 22:00
Zeena Parkins
Zeena Parkins: „J’ai plus de souvenirs
que“ (2014) UA.
Laurent Bruttin (Klarinette), Tony
Buck (Perkussion), Magda Mayas
(Klavier und Keyboard), Sébastien
Roux (Elektronik), Zeena Parkins
(Harfe), Matthew Ostrowski
­(Klangregie / Elektronik).
Zeena Parkins bewegt sich mühelos
zwischen freier Improvisation und zeitgenössischer Komposition, Noise Music
und avanciertem Pop, Musik für Film
und Tanz-Performances. Hier realisiert
die US-­Amerikanerin, die u. a. mit Björk
und Yoko Ono zusammengearbeitet
hat, eine neue Arbeit, der Walter
­Benjamins archivalische Hinterlassenschaft zugrunde liegt.
Haus der Berliner Festspiele,
19:00 und 21:00
Montag, 23. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate (siehe
20. März). Sessions, Work Groups &
Projects. Detailinformationen:
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
John Cage: Diary
John Cage: „Diary: How To Improve
The World (You Will Only Make
­Matters Worse)“ (1965–1991).
John Cages „Diary” gehört zu den
großen unvollendeten Projekten des
legendären Künstlers, Denkers und
Komponisten. Ein Mosaik von Ideen,
Beobachtungen, Statements und
kurzen Erzählungen lässt die sechsstündige, von Cage selbst gesprochene Text-­Komposition drei Jahrzehnte
Zeitgeschichte Revue passieren.
Liquidrom, 15:30 – 23:30
QuerKlang
QuerKlang bringt fünf Kollektiv­
Kompositionen von Berliner Schülerinnen und Schülern zur Uraufführung.
Haus der Berliner Festspiele, 18:00
Aperghis I: Récitations
Georges Aperghis: „Récitations“ ­
für Stimme solo (1978).
Donatienne Michel­-Dansac (Stimme).
Über 35 Jahre nach ihrem Entstehen
werden Georges Aperghis’ „Récitations“ erstmals in der maßgebenden
Interpretation von Donatienne
­Michel-­Dansac in Berlin zu hören sein
– ein atemberaubendes Erlebnis
­vokaler Kunst, das kompositorische
Präzision und interpretatorische
Virtuosität Stück vereint.
Siehe auch S. 24.
Haus der Berliner Festspiele, 19:30
30
Prototypes
Musik von Fausto Romitelli, Eva Reiter,
Mario Garuti und Cédric Dambrain.
Eva Reiter (Viola da Gamba, Paetzold-­
Kontrabassblockflöte), Susanne
Fröhlich (Paetzold-Kontrabassblockflöte), Michael Schmid (Kontrabassflöte), Cédric Dambrain (Elektronik).
„Prototypes” ist ein Doppel-­Porträt
zweier außergewöhnlicher junger
Musikerpersönlichkeiten – Eva Reiter
und Cédric Dambrain –, die an den
Grenzen zwischen akustischer und
elektronischer Klangforschung,
­Komposition und Instrumentenbau,
Konzert und Performance agieren.
Haus der Berliner Festspiele, 21:00
Dienstag, 24. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate (siehe
20. März). Sessions, Work Groups &
Projects. Detailinformationen:
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
Aperghis II: Film
Georges Aperghis und Hugo Santiago:
„Énumérations“ Musikfilm (F 1990,
60 Min., A.T.E.M., La SEPT, INA).
1976 gründete Georges Aperghis im
Pariser Banlieue die Theatergruppe
„Atelier Théâtre et Musique“
(A.T.E.M.), die vom Alltagsleben, von
politischen und sozialen Problemen
inspiriert war und diese häufig absurd,
satirisch oder poetisch überhöhte.
Der Musikfilm „Énumérations“ ist ein
Dokument dieses wegweisenden künstlerischen Experiments. Siehe auch S. 24.
Haus der Berliner Festspiele, 18:00
Aperghis III: A.T.E.M.
Solowerke von Georges Aperghis.
Geneviève Strosser (Viola), Ernesto
Molinari (Kontrabassklarinette), ­
Uli Fussenegger (Kontrabass),
Christian Dierstein (Schlagzeug).
Georges Aperghis‘ künstlerische Imagination hat sich seit jeher am Konkreten, Materiellen und Körperlichen
geschärft, hat sich die Zeit genommen,
das Spezifische des Instruments und
des Instrumentalisten zu verstehen.
Selten wird dies so deutlich wie in
­seinen Solowerken, die der Komponist
häufig in enger Zusammenarbeit mit
ihren Interpreten entwickelt.
Siehe auch S. 24.
Haus der Berliner Festspiele, 19:30
Czernowin: HIDDEN
Chelsea Leventhal: „An immense
world still heard it“ Klanginstallation
(2015) UA; Chaya Czernowin:
­„HIDDEN“ für Streichquartett und
Elektronik (2014).
JACK Quartet.
Chaya Czernowins neues Streichquartett ist eine 45-minütige Hörerfahrung, die neueste elektroakustische
Technologien aus dem Pariser IRCAM
mit dem Klang des Streichquartetts
verbindet – eine imaginäre Reise in
felsige Unterwasserlandschaften.
Heimathafen Neukölln, 22:00
Mittwoch, 25. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate
(siehe 20. März). Sessions, Work Groups
& Projects. Detailinformationen:
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
QuerKlang
Uraufführungen von Gruppen­
Kompositionen durch Berliner Schülerinnen und Schüler (siehe 23. März).
Kammermusiksaal der Philharmonie /
Foyer, 18:00
Handelns beschäftigen. Im Kern
steht dabei die Frage, wie sich Raum­
und Rechtsordnung gegenseitig
­bedingen. Experimenteller Dokumentarfilm und Live­-Konzert rücken in dieser neuen Produktion eng zusammen
zu einer Reflexion über das komplexe
Phänomen des Rechts. Siehe auch S. 21.
HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 21:00
von Anna­-Célia Kendall beeindruckend in eine filmische Version
­überführt wurde. Siehe auch S. 24.
Hermann-Wolff-Saal ­
der ­Philharmonie, 21:00
Donnerstag, 26. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate (siehe
20. März). Sessions, Work Groups &
Projects. Detailinformationen:
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
Aperghis IV: Situations
Georges Aperghis: „Situations“ ­
für 23 Solisten (2013).
Klangforum Wien, Emilio Pomàrico
(Leitung).
Den Höhepunkt der Hommage à
­Georges Aperghis bildet das groß
­angelegte Instrumentalwerk „Situations“, das der Komponist 2013 für
das Klangforum Wien schrieb. In der
gut einstündigen Komposition charakterisiert Aperghis die einzelnen
Musikerpersönlichkeiten des Ensembles
– so sind 23 Einzelporträts entstanden,
die sich zu einer musikalischen Großform von seltener Kraft verbinden.
Siehe auch S. 24.
Kammermusiksaal der Philharmonie,
19:30
Ökonomien des Handelns 1: KREDIT
Daniel Kötter / Hannes Seidl: „Ökonomien des Handelns: I. KREDIT. ­
Von ­der ­Erwartbarkeit zukünftiger
Gegen­warten“ Musiktheater (2013).
Chor der Deutschen Bundesbank,
Rochus Paul (Leitung).
Der Experimentalfilmer Daniel Kötter
und der Komponist Hannes Seidl
­erproben Formen dokumentarischen
Erzählens in den Medien Film und
Musik. Für „KREDIT“, Teil 1 der Trilogie
„Ökonomien des Handelns“, haben
sie Banker mit der Kamera begleitet,
um den systemischen Abgründen des
Finanzkapitalismus nachzuspüren.
Die Tonspur des Films wird Abend für
Abend live auf der Bühne realisiert:
ein Hybrid aus Konzert, Performance
und Filmerlebnis. Siehe auch S. 21.
HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 19:00
Aperghis V: Film und Gespräch
Georges Aperghis: „Machinations“, ein
Film von Anna-­Célia Kendall (F 2012, 54
Min., Idéale audience, IRCAM).
„Machinations“, im Jahr 2000 uraufgeführt, ist eines von Georges Aperghis’
kraftvollsten Werken, ein fesselndes
Stück zwischen Archaik und Hypermoderne, Mensch und Maschine, das
Ökonomien des Handelns 2: RECHT
Daniel Kötter / Hannes Seidl:
­„Ökonomien des Handelns: II.
RECHT“ Musiktheater (2015).
Ensemble Nadar.
„RECHT“ ist Teil 2 der Trilogie „Ökonomien des Handelns“, in der sich Daniel
Kötter und Hannes Seidl mit den Rahmenbedingungen gesellschaftlichen
Haus der Berliner Festspiele
20.3. € 25
21./22.3. € 15
21.3. Kombi-Ticket für alle 4 Konzerte € 40
23./24.3. € 15
Kammermusiksaal der Philharmonie
25.3. € 20 / 15 / 10
Heimathafen Neukölln
24.3. € 15
ExRotaprint
27.3. € 15
HAU Hebbel am Ufer
26./27.3. € 15
KREDIT & RECHT Kombi-Ticket € 20 (26. oder 27.3.)
Kraftwerk Mitte
28./29.3. Single Entry € 20
(gültig für einen Eintritt)
28./29.3. Re-Entry € 30
(gültig für mehrere Eintritte)
Liquidrom
23.3. Cage-Special € 24,50 (für 8 Stunden)
Bitte an der Kasse des Liquidroms das Passwort
„Zeitfragen“ angeben.
Freitag, 27. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate (siehe
20. März). Sessions, Work Groups &
Projects. Detailinformationen: ­
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
Ökonomien des Handelns 1: KREDIT
Daniel Kötter / Hannes Seidl:
„Ökonomien des Handelns: I. KREDIT.
Von der Erwartbarkeit zukünftiger
Gegenwarten“ Musiktheater (2013).
Siehe 26. März.
HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 19:00
Longitude
Davið Brynar Franzson: „Longitude“
für Flöte, Kontrabassklarinette,
­Violoncello, Klavier, Schlagzeug und
Elektronik (2014),
UA der konzertanten Fassung.
Ensemble Adapter.
„Longitude” ist gleichzeitig Bühnenkomposition und Installation, inspiriert
durch die schillernde Figur des dänischen Abenteurers Jørgen Jørgensen.
In der ursprünglichen Fassung als
Bühnenmusik konzipiert, lassen sich
Franzson und die Musiker des Ensembles
Adapter für MaerzMusik auf eine rein
akustische Version von „Longitude“ ein.
ExRotaprint, 20:30 und 22:00
Tickets
Ökonomien des Handelns 2: RECHT
Daniel Kötter / Hannes Seidl: „Ökonomien des Handelns: II. RECHT“
Musiktheater (2015). Siehe 26. März.
HAU Hebbel am Ufer / HAU 2, 21:00
Samstag, 28. März
Thinking Together
Konferenz und Diskursformate (siehe
20. März). Sessions, Work Groups &
Projects. Detailinformationen:
www.berlinerferstspiele.de/
thinking-together
Haus der Berliner Festspiele,
12:00 – 18:00
The Long Now
Projekte von Morton Feldman, Phill
Niblock, FM Einheit, Thomas Köner,
Eric Holm, Kassem Mosse + Mix Mup,
Mika Vainio, Actress, Pierluigi Billone,
Burkhard von Harder und Leif Inge.
Minguet Quartett, JeanLuc Fafchamps
(Klavier), Yaron Deutsch (E-Gitarre),
Ivana Neimarevic (Klavier), Thomas
Köner (Live-Elektronik), FM Einheit.
„The Long Now“ ist ein Ort der andauernden Gegenwart, ein Raum, in dem
sich Zeit selbst entfalten und das
Zeitgefühl sich verlieren kann. Eine
Zeitblase, die sich von der getakteten
Chronometrie der Großstadt für einen
langen Moment abgrenzt. Das über
24-stündige Projekt im Kraftwerk
Berlin bildet den Abschluss der MaerzMusik 2015. Es versammelt Konzerte,
Performances, Klanginstallationen,
Filme und elektronische Live­-Acts zu
einer großformatigen Komposition in
Raum und Zeit. Die Besucher sind eingeladen, über Nacht zu bleiben und
sich dieser künstlerischen Grenzerfahrung hinzugeben. Siehe auch S. 27.
Kraftwerk Berlin, 28. März,
18:00 – 29. März, 24:00
Impressum
Kasse: Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin
Mo - Sa 14:00 bis 18:00 Uhr
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
Mi - Mo 10:00 bis 18:30 Uhr
Telefon: +49 30 254 89 100, Mo - Fr 10:00 bis 18:00 Uhr
Gebühr: 3 € pro Bestellvorgang
Online: www.berlinerfestspiele.de, Gebühr 2 € pro Bestellvorgang
Abendkasse: Öffnet jeweils eine Stunde vor Beginn
der Veranstaltungen
Wählen Sie aus dem Festivalprogramm mehrere Konzerte:
9 Tickets mit 35 Prozent / 6 Tickets mit 30 Prozent /
3 Tickets mit 25 Prozent / Ermäßigung auf den Einzelpreis
Die Zahl der verfügbaren Wahl-Abonnements ist begrenzt.
Im Wahl-Abonnement maximal 3 Tickets pro Konzert.
Veranstalter: Berliner Festspiele
Ein Geschäftsbereich der Kulturveranstaltungen des
Bundes in Berlin GmbH
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien
Intendant: Dr. Thomas Oberender
Kaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben
Künstlerischer Leiter MaerzMusik – Festival für Zeitfragen:
Berno Odo Polzer
Organisationsleitung: Ilse Müller
Mitarbeit: Ina Steffan, Magdalena Ritter
Technische Leitung: Matthias Schäfer, Andreas Weidmann
Spielstätten- und Künstlerbetreuung: Karsten Neßler,
Laila Kühle, Katalin Drabant
Organisationsleitung „Thinking Together“: Lydia Rilling
Redaktion: Carsten Fastner
Grafik: Ta-Trung, Berlin
Berliner Festspiele Schaperstraße 24 10719 Berlin
T + 49 30 254 89 0
www.berlinerfestspiele.de / [email protected]
Gefördert
durch
„The Long Now“ im Kraftwerk Berlin ist vom Wahl-Abo ausgeschlossen.
Ihr Abonnement können Sie telefonisch oder an der Kasse buchen.
www.berlinerfestspiele.de/wahlabo
Ermäßigte Karten je nach Verfügbarkeit an den Abendkassen für Schüler,
Studierende bis zum 27. Lebensjahr, Auszubildende, Freiwilligendienstleistende,
Wehr- und Zivildienstleistende und ALG II-Empfänger (gültiger Ausweis erforderlich).
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Gefördert
durch die
Wandgemälde von Blu in der Cuvrystraße, Berlin. Foto: Lutz Henke