Miguel de Torres Das Geheimnis der schwarzen Zitadelle Fantasy-Abenteuer 1 Du-Lac-Verlag Miguel de Torres Das Geheimnis der schwarzen Zitadelle – Fantasy-Abenteuer – Du-Lac-Verlag Verlagsbuchhandlung Impressum Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © Du-Lac-Verlag, Kassel, 2015, 1. Auflage Titelmotiv (umlaufend): Stefan Böttcher, Gerlingen Landkarte: Stefan Böttcher, Gerlingen Typografie, Gestaltung und Cover: Klaus-Peter Hünnerscheidt, Kassel Made in Germany / CPI books GmbH, Leck Internationale Standardbuchnummer: ISBN 978-3-9816543-0-1 Inet: www.du-lac-verlag.de Für Richard Schöllhorn-Gaar 1957 – 2008 Freundschaft endet nicht mit dem Tod. Inhalt Erster Teil Raubmenschen 9 Zwischenspiel Cronn 141 Zweiter Teil Die schwarze Zitadelle 151 Zwischenspiel Thrakon 341 Dritter Teil Der Weg der Könige 347 Vita Miguel de Torres 431 Erster Teil Raubmenschen 1. D ie dolchartigen Schatten der Felsentürme zerrissen das in der Abendsonne glühende Kalksteinmassiv und ließen die verstreuten Flecken von Grün dunkel und leblos erscheinen. Ein böiger, von Norden kommender Wind trug Rauch und den Geruch von Hasenbraten mit sich. Die Männer des Bautrupps und der Bedeckungsmannschaft hatten sich bis auf zwei Torwachen um die Lagerfeuer versammelt. Reinald beugte sich zum wiederholten Mal über das Visier des Vermessungsgeräts, als ihn ein Glitzern im Süden, weit jenseits des Barbarenwalls, ablenkte. Er reckte sich und blinzelte die Müdigkeit aus den Augen. Da war es wieder: ein metallisches Blinken zwischen zwei Felsen, auf dem Pfad, der sich zum Pass heraufwand. Zaumzeug oder ein Helm. »Aufgepasst!«, rief er. »Jemand kommt!« Dank seiner erhöhten Position konnte er weiter sehen als die Wachen, die sofort ihre Schwerter zogen und sich bereit machten, das Tor zu schließen. Die Männer an den Feuern sprangen auf. Hier an der Grenze musste man stets gegen einen Angriff der Südvölker gewappnet sein. Reinald heftete seinen Blick auf eine Wegbiegung, etwa zweihundert Meter entfernt. Es dauerte nicht lange, bis der erste Reiter erschien: eine zusammengesunkene Gestalt auf einem braunen Pferd, eingehüllt in einen dunklen Reisemantel. Ihm folgte ein Kahlkopf mit wallendem grauem Bart auf einem Schimmel. Dann kamen zwei reiterlose Pferde, die eine Sänfte zwischen sich trugen, eine weitere Sänfte und zwei Reiter, schließlich einige Packpferde. Der Weg war so schmal, dass jeweils nur ein Pferd darauf Platz fand. Reinald gab Entwarnung. »Nur eine kleine Karawane, nicht mehr als sechs Leute. Wahrscheinlich Flüchtlinge.« »Entweder sind sie sehr mutig oder sehr dumm.« Der Hauptmann der Bedeckungsmannschaft, ein im Dienst ergrauter Soldat mit einem steifen Fuß und nur einem Arm, war heraufgehinkt. 9 »Wenn die Dunkelheit sie auf dem Weg überrascht hätte ...« Reinald nickte, ohne den Blick von den Reitern zu wenden. Das Grenzgebiet galt als besonders unsicher, trotz der »Barbarenwall« genannten Mauer, die dem ständigen Ansturm der Südvölker Einhalt gebieten sollte. Doch an vielen Abschnitten wurde noch gebaut, wie hier auf dem Wolfspass, und die Angriffe wurden täglich wütender. Vor allem in den unübersichtlichen Bergregionen. »Das sind die Ersten heute«, sagte der Hauptmann. »Kaum jemand wagt sich noch über die Pässe.« Ein ferner Ruf ertönte. Der zweite Reiter, der Kahlkopf mit dem grauen Bart, musste ihn ausgestoßen haben, denn er deutete nach links oben, an eine Stelle, die Reinald nicht einsehen konnte. Im nächsten Moment schlugen die beiden Voranreitenden die Hacken in die Flanken ihrer Tiere. Tief über deren Hälse gebückt, preschten sie den Pfad herauf. Die Pferde mit den Sänften und die Nachzügler folgten. »Da!« Reinald riss den Arm hoch. »Sie werden angegriffen!« Aus der Deckung eines Felsvorsprungs lösten sich etwa ein Dutzend Reiter, wilde Gesellen, deren Bewaffnung so unterschiedlich war wie ihre Kleidung. Sie schwenkten Lanzen, Bogen, Schwerter und Streitäxte, und die Schreie, mit denen sie ihre Pferde antrieben, hallten von den Felswänden wider. »Sie wollen der Karawane den Weg abschneiden!«, rief der Hauptmann. Reinald sprang bereits in weiten Sätzen zum Lager hinunter. Bevor die Oberkante der Mauer ihm die Sicht raubte, sah er noch, wie das zweite Pferd der Karawane stürzte und seinen Reiter abwarf. Die Pferde mit den Sänften stolperten über den Schimmel. Vielleicht hundertfünfzig Meter trennten die Barbaren noch von der Gruppe. Die Soldaten der Wachmannschaft und auch die Bauarbeiter hielten bereits die Waffen in den Händen, insgesamt drei Dutzend Männer. Wenn die Angreifer keine Verstärkung erhielten, würde man sie leicht zurückschlagen. Die Frage war nur, ob die Hilfe für die Reisenden rechtzeitig kam. Reinald packte im Laufen das Schwert, das ihm einer der Sol10 daten reichte. Ein kurzer Blick zurück: Der Hauptmann hatte aufgrund seines steifen Beins erst die Hälfte des Weges zum Lager zurückgelegt. Reinald rannte in Richtung des offenen Tores und schrie: »Mir nach!« Die Männer folgten ihm zu Fuß; es hätte viel zu lange gedauert, die Pferde zu holen und zu satteln. Sie hatten die Öffnung in der Mauer gerade erreicht, als der erste Reiter hereinpreschte, wohl der Führer der Karawane. »Das Tor zu! Rasch!«, rief er, ohne anzuhalten. Niemand beachtete ihn. An der Spitze der Männer stürmte Reinald an ihm vorbei den Pass hinab. Die Karawane war von hier aus nicht zu sehen, aber man hörte Schreie und das jämmerliche Wiehern verletzter Pferde. Aufgeschreckte Vögel kreisten in der Luft, hauptsächlich Mauersegler, aber auch ein paar Raubvögel. Die Geier würden erst später eintreffen, wenn alles vorbei war. Der Pfad führte zwischen hoch aufragenden Kalksteinfelsen hindurch, dann um eine Biegung – und der Schauplatz des Überfalls lag vor Reinald und den Soldaten. Zwei Pferde wälzten am Boden, ein drittes torkelte reiterlos und mit einem Pfeil im Hals den Pfad herauf. Die beiden Sänften waren herabgefallen und zerbrochen. Die Barbaren, die in dem unwegsamen Gelände zu Pferd nicht schneller vorankamen als die Soldaten zu Fuß, hatten die Karawane soeben erst erreicht. Reinald entdeckte den alten Mann mit Kahlkopf und Bart, den ein Muskelpaket in Schaffelljacke zu Boden geworfen hatte. Einige Meter weiter wehrte sich, mit dem Rücken zu Reinald, ein zierlicher Mann im weißen Reisemantel mit einem Dolch gegen einen Angreifer, der ihn lachend mit gezücktem Schwert umtänzelte. Als er Reinald und seine Begleiter sah, ließ er von dem Reisenden ab und stürzte sich auf sie. Reinald ahnte, dass der Barbar ihn wegen seiner Jugend ebenso wenig ernst nehmen würde wie den Reisenden im weißen Mantel, und er hatte keine Skrupel, sich das zunutze zu machen. Er duckte sich unter dem lässigen Hieb des anderen hinweg, sprang vor und stieß ihm das Schwert durch das Lederwams in die Brust. Der Barbar riss die Augen auf und hielt mitten im Lauf inne. Reinald zog das Schwert wieder heraus und überließ ihn den Soldaten. 11 Ein kurzer Blick zur Orientierung: Der Mann in der Schaffelljacke hatte von dem bärtigen Alten abgelassen und bedrängte nun mit gezücktem Säbel Orr, den Vorarbeiter. Dieser hatte in der Eile keine andere Waffe gefunden als eine der Eisenstangen, an denen die Töpfe über das Feuer gehängt wurden. Obwohl sie länger war als der Säbel seines Gegners, prellte dieser sie ihm beim ersten Ansturm aus der Hand. Reinald stieß einen Kampfschrei aus, um den Barbaren von seinem nun wehrlosen Opfer abzulenken, schlitterte einige Meter den Geröllhang hinab und stürzte sich auf ihn. Beide gingen zu Boden und rutschten weiter abwärts, bis eine Felsnadel sie stoppte. Der Barbar kam auf Reinald zu liegen, und der Junge glaubte, jeder einzelne seiner Knochen müsse unter dem Gewicht des Kriegers bersten. Eine Wolke aus Fäulnis- und Knoblauchgeruch hüllte ihn ein, als sein Gegner ihm die schwarzen Stümpfe zeigte, die einst Zähne gewesen waren. Das Schwert hatte Reinald beim Sturz verloren, und so versuchte er mit bloßen Händen, den Mann von sich herunterzustoßen, fand jedoch am schmierigen Fell der Jacke keinen Halt. Er spürte etwas Hartes an seinem Oberschenkel und griff danach, aber zu spät. Der Barbar, dem der Säbel ebenfalls entfallen war, hatte seinen Dolch bereits aus der Scheide gerissen. Er hob den Arm und ließ ihn auf Reinalds Gesicht niedersausen. Der Junge warf den Kopf zur Seite. Ein Blitz aus Schmerz fuhr an seinem rechten Ohr entlang, Stein splitterte unter gehärtetem Stahl. Reinald holte tief Atem und legte alle Kraft in einen Faustschlag gegen die linke Schläfe seines Gegners. Für einen Moment schien es, als zeige der Schlag Wirkung, Verständnislosigkeit trübte den Blick des Barbaren. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er eine Fliege vertreiben, und hob den Dolch erneut. Im Rausch des Kampfes schien die Zeit viel langsamer abzulaufen. Während Reinald auf der Suche nach einer Waffe mit den Händen um sich griff, sah er, wie sich zunächst die Mundwinkel und dann das ganze von einem struppigen Bart beherrschte Gesicht des Barbaren in die Breite zogen. Abermals zeigte er Reinald 12 die Zahnstummel, und der Gestank betäubte den Jungen beinahe. Dann ein stechender Schmerz: Reinalds Finger hatten einen scharfkantigen Steinsplitter ertastet. Er riss ihn hoch und stieß ihn dem Barbaren entgegen, gerade als dieser sich über ihn beugte, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Der lange Splitter drang dem Angreifer tief ins rechte Auge. Leblos sackte er über Reinald zusammen. Das Blut toste in den Ohren des Jungen, und sein Atem kam stoßweise. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, den Körper des Barbaren so weit beiseitezuschieben, dass er darunter hervorkriechen konnte. Eine Hand griff nach der seinen und zog ihn auf die Füße. Reinald blickte in ein von Falten durchzogenes Gesicht mit ausgeprägten Tränensäcken und buschigen Augenbrauen, die von dem gleichen hellen Grau waren wie der bis auf die Brust reichende Bart. Im Gegensatz dazu war das Haupt des Mannes völlig kahl und die Kopfhaut von Altersflecken gezeichnet. Ein langer Blick aus blauen Augen traf Reinald, so hell und klar wie der eines jungen Mannes. »Mein Name ist Elder.« Seine Stimme war ebenso fest wie sein Händedruck. »Du bist verletzt.« Reinald tastete nach seinem Ohr. »Nur ein Kratzer.« Er sah sich um. Der Kampf war vorbei. Die Angreifer waren geflohen und hatten zwei Tote zurückgelassen, dazu kam der Mann in der Schaffelljacke. Ein Soldat lag verkrümmt am Boden. Als Reinald zusammen mit Elder zum Pfad hinaufstieg, sah er zwei weitere Tote, wohl die beiden Reiter, die den Abschluss der Karawane gebildet hatten. Pfeile hatten sie durchbohrt. Der zierliche Reisende mit dem weißen Mantel versuchte, ein sich aufbäumendes Packpferd zu beruhigen. Nein, erkannte Reinald verblüfft, es musste sich um eine Frau handeln, denn ihre Kappe hatte sich verschoben. Darunter drang blondes Haar hervor, das ihr weit über die Schultern hinabfiel. Ein Stöhnen lenkte Reinalds Aufmerksamkeit auf die Trümmer der ersten Sänfte. Der Vorhang aus rotem Samt teilte sich und der kugelrunde Kopf eines Mannes wurde sichtbar. Er drehte sich von links nach rechts und wieder zurück. »Sind sie weg?« 13 Elder zwinkerte Reinald zu, als sei dieser ein alter Bekannter. »Ihr könnt herauskommen, Fausto. Dieser junge Mann hier und seine Begleiter haben uns gerettet.« Auf Händen und Füßen kroch Fausto aus den Trümmern der Sänfte, richtete sich mit immer noch eingezogenem Kopf auf und spähte um sich. Er war ein kleiner Mann mit einem Bauchansatz, dessen glänzendes schwarzes Haar in der Form eines Pagenschnitts an seinem Kopf klebte, nach der Mode der Städter in den südlichen Provinzen. Faustos breites Gesicht entspannte sich, doch dann zuckte Erschrecken darüber. Seine Hände fuhren an den Gürtel, der sich unter seinem gefütterten Wams abzeichnete, und er atmete auf. Im nächsten Moment wirbelte er herum und starrte Reinald und den alten Mann feindselig an. »Mein Gepäck! Wo ist mein Gepäck?« »Zwei Eurer Packpferde haben die Barbaren auf ihrer Flucht mitgenommen«, antwortete Elder ruhig. »Um das dritte kümmert sich Eure Tochter, die im Übrigen unverletzt zu sein scheint.« »Ah! Gut, gut.« Das mit Säcken und zwei Kisten schwer beladene Pferd hatte sein Sträuben aufgegeben und ließ sich am Zaumzeug herbeiführen, und zum ersten Mal sah Reinald Faustos Tochter von vorn. Es war ein Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren, mit Zügen von einer Weichheit, als läge sein Gesicht hinter einem Gazeschleier. Es tätschelte den Kopf des Pferdes und redete ihm beruhigend zu. Dann sah es auf, und seine und Reinalds Blicke kreuzten sich. Und die Welt stand still. 14 Zwischenspiel Cronn 141 Die Puppe hatte alles verändert. Die Puppe und ihr Name. Delli war der Kosename von Cronns kleiner Tochter gewesen, nach Della, seiner Frau. Der Junge hatte Galeb geheißen. Mittlerweile wäre er ein Krieger wie Cronn, und Delli wäre wohl bereits verheiratet und hätte selbst Kinder. Mit einem Mal war alles wieder gegenwärtig. Nicht, dass Cronn es jemals hätte vergessen können. Welcher Mann könnte wohl die Auslöschung seiner Familie vergessen, den Unglauben beim Anblick der verstümmelten Leichen, die unfassbare Leere nach dem Begräbnis? Aber das Zusammensein mit Elder und den anderen hatte alles für kurze Zeit zurückgedrängt. Nur wenige Tage vor ihrem Tod hatte Cronn für Delli eine ähnliche Puppe angefertigt wie jene, die er für das kleine Mädchen aus den Trümmern ihres Heims geholt hatte: mit Stroh ausgestopfte Stoffreste, die Haare aus einer in enge Schlaufen gelegten Schnur, das Gesicht aufgemalt. Della hatte ein Kleidchen für die Puppe genäht. Cronn sah es immer noch vor sich, aus grünem Taft, bestickt mit winzigen Mustern aus bunten Fäden. Es war eine verkleinerte Ausgabe jenes Kleides, das Della für sich selbst geschneidert hatte, aus dem von Cronn mitgebrachten Stoff. Am Tag darauf hatte Cronn die Hütte in den südlichen Bergen verlassen, um die Fallen zu kontrollieren, den getöteten Tieren die Felle abzuziehen und neue Fallen aufzustellen. Die Städter bezahlten gute Preise für die Felle von Bären, Biber und anderem Wild. Und als er zurückgekommen war ... Die Leere in seinem Herzen und in seinem Geist hatte Cronn bis zum letzten Winkel erfüllt mit dem Streben nach Rache. Ein mehrere Kilometer entfernt lebender Nachbar hatte am Tag vor Cronns Rückkehr vier Männer gesehen, und da die Bergbewohner in der Regel gute Beobachter waren, deren Leben von ihrer Wachsamkeit abhing, lieferte er eine Beschreibung jedes Einzelnen. Zwölf Jahre hatte Cronn damit verbracht, die Mörder seiner Familie zur Strecke zu bringen, einen nach dem anderen. Zwölf Jahre, die ihm einst so lang wie ein Leben erschienen waren, die in der Erinnerung jedoch auf wenige dramatische Augenblicke zusammenschrumpften. Dann war seine Rache vollendet und sein Herz wieder so leer wie zu Beginn der Jagd. Es war, als ob seine Seele 143 in diesen zwölf Jahren ausgebrannt wäre, jeden Tag ein Stückchen mehr, bis nur noch Asche übrig geblieben war. Seelenasche. Unfähig, die Leere in seinem Herzen wieder zu füllen, zog er seitdem ruhelos umher. Er wusste, was man sich über ihn erzählte. Es stimmte, er folgte den Schlachtfeldern wie ein Geist, doch nicht um sich von den Seelen der Toten zu ernähren, sondern um das Licht der Erkenntnis in den Augen der Sterbenden zu finden – jenes Licht, das ihn den Sinn des Lebens erkennen lassen würde. Denn der Blick der Sterbenden, so sagte man seit alters, erfasse die Welt der Götter. Aber kein Sterbender war je in der Lage gewesen, Cronn von dem zu berichten, was er sah, und so nahm die Suche des Kriegers kein Ende. Als er Sumru und seine Soldaten an der Mühle vorbeiziehen sah, erinnerte Cronn sich wieder an Reinalds Erzählung von Thrakons »Geisterheer« und ihm wurde klar, dass eine Schlacht bevorstand – eine große Schlacht mit vielen Toten und Schwerverwundeten. Reinald und die anderen würden auch ohne ihn nach Tahat gelangen, und so machte Cronn sich auf den Weg und folgte Sumru zu Fuß. Für jemanden von seiner Schrittweite und Ausdauer war es kein Problem, mit dem vergleichsweise langsamen Zug mitzuhalten, wobei er darauf achtete, unentdeckt zu bleiben. Das Heer überquerte den Fluss an einer Furt, aber zur Überraschung Cronns machte Sumru nicht Halt, als die Nacht hereinbrach, sondern trieb sein Heer weiter nach Süden. Als es die Trümmer der Fähre erreichte, wandte es sich nach Osten, stets am hohen Nordufer des Oront entlang. Die ersten der jungen Soldaten fielen vor Schwäche von ihren Pferden, doch Sumru ließ nicht anhalten. Auch einige der Pferde brachen zusammen und starben, ehe der letzte Wagen des Trosses sie passiert hatte. Cronn folgte dem Heer unbeirrt und unermüdlich, denn ein Hauch jener Erregung hatte ihn gepackt, die er bei der Jagd nach den Mördern seiner Familie verspürt hatte. Ein Geheimnis musste hinter Sumrus ungewöhnlichem Vorgehen stecken, und Cronn beschloss, es zu ergründen. 144 Endlich, kurz vor der Mitte der immer noch mondlosen Nacht, ließ Sumru anhalten und das Lager aufschlagen. Der Weg führte hier durch einen Talkessel, der sich zum Fluss hin öffnete. Der Lagerplatz war somit entgegen allen strategischen Erkenntnissen gewählt worden, denn ein möglicher Feind brauchte lediglich Einund Ausgang des Kessels zu blockieren, um das komplette Heer einzuschließen. Das überraschte Cronn erneut, denn Sumrus Ruf als Heerführer war kein schlechter. Überdies ließ Sumru sein Stabszelt nicht im Zentrum des Heeres aufschlagen, wie es üblich war, sondern am jenseitigen Rand des Kessels, in unmittelbarer Nähe des Ausgangs. Im Laufschritt umrundete Cronn den Kessel an dessen Nordrand, unsichtbar für die Soldaten. Als er den jenseitigen Ausgang erreichte, hatte sich der Halbmond bereits über die Landschaft erhoben. In seinem Licht beobachtete Cronn, wie Sumru sein Zelt verließ, seinen Rappen bestieg und den Kessel auf dem nach Osten führenden Weg verließ. Die Worte, die er mit den dort aufgestellten Wachen wechselte, konnte Cronn nicht hören. Dann gab Sumru dem Rappen die Sporen und preschte davon. Da anzunehmen war, dass er sich um diese Zeit und ohne Geleit nicht allzu weit vom Lager entfernen würde, folgte Cronn ihm, so schnell seine Beine es zuließen. Aber der Heerführer kam rasch außer Hörweite. Wie erwartet, musste Cronn nicht allzu weit laufen. Als er die Kuppe eines langgestreckten Hügels erstiegen hatte, bemerkte er auf der anderen Seite ein niedrig brennendes Feuer. Sofort warf er sich zu Boden, um gegen den Mond nicht gesehen zu werden. Dafür sah er selbst umso besser: Inmitten einer Ebene, die mit mannshohen Erdhügeln übersät war, erhellten das Feuer und der Mond ein monströses Gestell, vor das acht Pferde gespannt waren, reglos wie Statuen. Cronn kannte es aus Erzählungen. Thrakons Knochenthron! Sumru war abgestiegen und hielt sein Pferd am Zügel. Er gestikulierte, schien sich also mit Thrakon zu unterhalten, doch bedingt durch die Entfernung von mehr als hundert Metern hörte 145 Cronn nichts. Thrakon selbst saß auf dem Thron, die Arme auf die Knie gestützt, den massigen Oberkörper zu Sumru hinabgebeugt. Der »Hass der Götter« entsprach den Beschreibungen, die Cronn allerorten gehört hatte: die auch im Sitzen mächtige Gestalt, die Kleidung aus Fellen, die Schädelmaske. Aber da war noch mehr. Eine fieberhafte Erregung erfasste Cronn, deren Ursache er nicht ergründen konnte. Zweifelsohne hing sie mit Thrakon zusammen – irgendetwas an seiner Erscheinung, an der Art, wie er sich beim Sprechen bewegte ... War er ihm vielleicht schon einmal begegnet, vor langer Zeit, in anderer Aufmachung? Vielleicht in einem der Länder, die er auf der Suche nach den Mördern seiner Familie durchstreift hatte? Atemlos betrachtete er die Szenerie am Fuß des Hügels. Sie hatte etwas Irreales an sich. Der Sohn und oberste Heerführer des Königs allein mit dem obersten Heerführer der Barbaren. Eine Geheimverhandlung? Schließlich richtete Thrakon sich auf und ergriff einen Gegenstand zu seinen Füßen, den Cronn nicht erkennen konnte. Im nächsten Moment zerriss ein Gongschlag die Stille der Nacht, und die ganze Ebene geriet in Bewegung. Was Cronn für Erdhügel gehalten hatte, waren durch schwarze Decken oder Umhänge getarnte Krieger mit ihren Pferden gewesen, die sich nun geräuschlos erhoben. Es mussten Tausende sein; weit mehr jedenfalls als die Zahl der Soldaten, die Sumru mit sich führte. Eine Falle für den Sohn des Königs? Wollte Thrakon den Krieg auf diese Weise beenden? Doch Sumru zeigte keinerlei Anzeichen von Unruhe. Er stieg auf sein Pferd, versuchte aber nicht davonzureiten. Cronn schien, dass Sumru das gleichsam aus dem Boden gewachsene Geisterheer mit dem gleichen kalten Interesse betrachtete wie er selbst. Die Barbarenkrieger formierten sich. Über ihr Ziel konnte kein Zweifel aufkommen, denn die Köpfe ihrer Pferde zeigten in jene Richtung, wo Sumrus Heer lagerte. Und das konnte nur eines bedeuten. Cronn kroch rückwärts, bis die Hügelkuppe den Blick auf das 146 Geisterheer versperrte. Dann richtete er sich auf, nahm seine hier abgelegte Streitaxt und rannte in Richtung Fluss. Vielleicht schon in wenigen Sekunden würde das Heer über den Hügel preschen. Am Ufer fiel der Hügel senkrecht ab, und in den Felsen fand Cronn mühelos ein Versteck, von dem aus er beobachtete, wie Thrakons Heer den Hügel überquerte. Nur das Stampfen der Hufe war zu hören, kein Ruf, kein Klirren von Waffen oder Schilden. Thrakons von acht Rappen gezogener Knochenthron folgte langsamer, gemeinsam mit Sumru und einer Leibwache von etwa zwanzig Kriegern. Cronn hatte den richtigen Schluss gezogen an diesem Nachmittag, als er sich von Elder und den anderen getrennt hatte: Es würde eine Schlacht geben, mit vielen Toten. Die Soldaten des Königs würden im Schlaf der Erschöpfung überrascht und getötet werden, wahrscheinlich würde kein Einziger entkommen. Sumru hatte sein Heer und damit seinen Vater verraten; eine Tatsache, die Cronn nicht sonderlich überraschte. Menschliche Niedertracht konnte ihn nicht mehr überraschen. Sumru schien die gleiche jugendliche Ungeduld zu besitzen, die einst seinen Vater dazu getrieben hatte, zunächst König Fulkos Reich und dann die angrenzenden Königreiche und Herzogtümer an sich zu reißen. Er konnte nicht warten, bis ihm, dem einzigen Sohn, alles auf natürliche Weise zufiel. Als Thrakon und Sumru außer Sicht waren, verließ Cronn sein Versteck und folgte ihnen. Es gab keine Möglichkeit, das bedrohte Heer zu warnen, denn er befand sich außer Rufweite. Aber er empfand kein Mitleid mit den Soldaten, die stets darauf gefasst sein mussten zu sterben, zumal in diesen Zeiten. Eine junge Frau mit ihren beiden Kindern hingegen, die in einer abgeschiedenen Hütte in den Bergen wohnte ... Als er den Talkessel erreichte, war schon alles vorbei. Blutgeruch erfüllte die Nachtluft. Die Feuer loderten hoch und beleuchteten ein höllisches Szenario: Die Barbarenkrieger schleiften die Toten ans Ufer und schichteten sie zu einem Hügel auf, nicht ohne ihnen vorher die Taschen zu leeren. Manche schnitten ihnen auch die Ohren ab, um sie als Trophäen mitzunehmen. Die Pferde wurden im 147 Hintergrund des Kessels zusammengetrieben, eine wertvolle Beute für Thrakon. Dann setzte man sich zu einem Festmahl nieder. Mittlerweile hatte der Mond beinahe den Zenit erreicht und der Morgen graute. Der Knochenthron stand verwaist neben Sumrus Stabszelt, das von den Barbaren nicht angetastet worden war. Die Pferde hatte man ausgespannt und zum Fluss getrieben. Thrakon und Sumru mussten sich im Zelt befinden, vor dessen Eingang zwei Wachen standen. Der Zugang zum Kessel hingegen wurde nicht mehr bewacht. Cronn kam ein verwegener Gedanke. Lautlos wie sein eigener Schatten schlich er sich hinab und zur Rückseite des Zeltes. Es handelte sich um ein leicht zu transportierendes Leinwandzelt, wie es auf Kriegszügen üblich war. Cronn legte sich in der Mitte zwischen zwei Pfosten auf den Boden und hob die Plane vorsichtig an. Eine Stimme war zu hören, halblaut und abgehackt. Sumru? Cronn schob sich weiter vor, bis er etwas erkennen konnte. Das Innere wurde erhellt durch eine in der Nähe des Eingangs aufgestellte Feuerpfanne. Cronn hatte Glück: Ein zusammenlegbarer Tisch warf einen Schatten auf die Stelle, wo er sich befand. Sumru und Thrakon standen in der Mitte des Zelts, ins Gespräch vertieft. Letzterer trug sogar hier seine Raubtiermaske. Als er Sumru antwortete, drang seine Stimme dumpf und raspelnd darunter hervor. »Ich habe einen passenden Mann«, sagte er in diesem Moment. »Er stammt aus Grendor, wie viele Soldaten Eures Vaters. Er ist ein Frettchen, der Verrat ist seine Natur.« »Gut«, antwortete Sumru. »Er soll meinem Vater nicht nur die Vernichtung des Heeres, sondern auch meinen Tod melden.« Er hob die geöffnete Rechte. »Das ist wichtig!« Der Raubtierschädel senkte sich leicht. »Wann brechen wir nach Khorat auf?«, fragte Sumru. Thrakon lachte heiser. »Ihr könnt es wohl kaum erwarten, Euren Vater zu beerben? Einen Tag müsst Ihr Euch schon noch gedulden. Wir reiten zunächst ein Stück nach Osten, wo wir auf Turnu und sein Heer treffen. Vereint werden wir die Mauern Khorats überwinden.« 148 »Dafür wird schon mein Vertrauter in der Zitadelle sorgen. Wann sendet Ihr den Boten ab?« »Bei Sonnenaufgang. Wenn es echt aussehen soll, muss der Überlebende sich bald nach der Schlacht auf den Weg machen.« »Lasst mich mit ihm sprechen. Er soll auch meinem Vertrauten eine Botschaft überbringen.« Beide verließen das Zelt. Cronn robbte zurück. Also doch Khorat! Und der Sohn verriet seinen Vater für ein Königreich, das er wahrscheinlich mit Thrakon teilen wollte. Doch das interessierte Cronn nicht sonderlich. Reiche entstanden und vergingen. Nur die Götter waren ewig. Die Götter und die Bösartigkeit der Menschen. Was ihn viel mehr interessierte, war Thrakon. Welch ein Krieger musste er sein! Eine Herausforderung zum Zweikampf würde er gewiss nicht ablehnen. Wenn Thrakon starb, wäre er bestimmt noch in der Lage zu berichten, was er sah. Natürlich war es auch denkbar, dass Cronn selbst bei diesem Duell starb. Selbst wenn er siegte, würde er den Talkessel kaum lebend verlassen. Doch das beunruhigte ihn nicht weiter. Wenn man keinen Grund mehr hatte zu leben, musste man einen Grund finden zu sterben. Cronn glaubte, diesen Grund nun gefunden zu haben. Hoch aufgerichtet schritt er hinter dem Zelt hervor, die Streitaxt geschultert, das Schwert in der Scheide an seiner linken Seite. Sein Ziel war ein großes Feuer in der Mitte des Talkessels, vor dem sich die raubtierhafte Gestalt Thrakons abzeichnete. Er hatte den Weg zur Hälfte zurückgelegt, bevor man Kenntnis von ihm nahm. Ein Raunen ging durch die Krieger, und Cronn hörte, wie sie sich hinter ihm sammelten und ihm folgten. Doch niemand unternahm den Versuch, ihn aufzuhalten. Unbeirrt schritt er weiter. Thrakon wurde aufmerksam; er und Sumru wandten sich ihm zu. Zehn Meter vor den beiden hielt Cronn an. Obwohl die Augen des Barbarenführers unter der Maske nicht zu sehen waren, fühlte Cronn dessen Blicke über seinen vom Feuer beleuchteten Körper gleiten und auf der großflächigen Narbe an seiner linken Seite zur Ruhe kommen. 149 »Du«, sagte Thrakon. Ein Schauer durchlief Cronn. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. »Du kennst mich?«, fragte er. »Ich weiß, was du suchst.« Cronn nahm die Axt von der Schulter und stellte sie mit dem Stiel auf den Boden. »Dann lass uns beginnen.« Der Barbarenführer bewegte sich nicht. »Noch ist es nicht an der Zeit.« »Bist du nicht bereit?« »Du bist es, der nicht bereit ist.« Thrakon machte eine behutsame Geste mit der linken Hand, und Cronn durchzuckte die Ahnung nahender Gefahr. Er wirbelte herum, doch es war bereits zu spät. Ein Barbarenkrieger, einen Kopf kleiner als Cronn, aber stämmig wie ein Bär aus den Bergen von Morr, hatte sich angeschlichen und die eiserne Kriegskeule zum Schlag erhoben. Bevor der von dieser Heimtücke Überraschte eine Bewegung zur Abwehr machen konnte, krachte die Breitseite der Keule auf ihn nieder, mit einer Wucht, die den Schädel eines jeden anderen Menschen, vielleicht mit Ausnahme Thrakons, hätte bersten lassen. Als Cronn erwachte, brannte die Sonne vom Himmel und der Talkessel war leer bis auf den Leichenberg am Ufer. Er betastete eine taubeneigroße Beule an seinem Hinterkopf, die Wellen des Schmerzes ausstrahlte. Langsam richtete er sich auf und ergriff seine Axt, die man ihm ebenso gelassen hatte wie das Schwert. Er verstand nichts. Du bist es, der nicht bereit ist, hatte Thrakon gesagt. Was hatte er damit gemeint? Wann würde er »bereit« sein? Cronn schulterte die Axt und setzte sich in Bewegung. Zumindest kannte er das nächste Ziel Thrakons. Es war nun auch sein eigenes. Khorat die Prächtige, die Hauptstadt von König Hark. 150 Zweiter Teil Die schwarze Zitadelle 151 25. D ie beschlagenen Hufe von Reinalds und Elders Pferden klapperten über das Kopfsteinpflaster der breiten Hauptstraße, die sich hinter dem Tor nach links wandte und dann in leichter Steigung dem Rand des Abhangs folgte. Der Klang der Hufe wurde auf der einen Seite von der hoch aufragenden Stadtmauer zurückgeworfen, auf der anderen von schmalen, drei- bis vierstöckigen Häusern, teils aus Ziegeln, teils aus Bruchsteinen errichtet. Zwischen diese zwängten sich steile Gassen. Sogar Straßenlaternen gab es, doch sie waren noch nicht entzündet. Draußen berührte die Sonne gerade den Horizont, aber hier, im Schatten der Mauer, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt und ließ die bunten Farben der Häuser verblassen. Auf der Straße herrschte reger Betrieb. Einige Eselskarren standen an den Seiten, um be- oder entladen zu werden, Fußgänger bewegten sich dazwischen oder standen in Gruppen zusammen. Ein Wagen mit Fässern verschwand gerade um die nächste Biegung. Neugierige Blicke trafen die beiden Ankömmlinge aus allen Richtungen; besonders Elder mit seinem prächtigen Mantel erregte eine Aufmerksamkeit, die ihm unangenehm zu sein schien. Etwa hundert Meter vom Stadttor entfernt machte die Straße eine Haarnadelkurve nach rechts, um sich weiter den Hang emporzuwinden. In der Biegung erhob sich die rot-weiße Fassade der »Herberge zum alten Schloss«. Reinald sah Fausto, der die Pferde mit den beiden Sänften durch das von einem Rundbogen überwölbte Tor in den Innenhof führte. Mit ihren das Tor flankierenden Marmorsäulen, den breiten, von geschwungenen Dächern beschützten Balkonen, den geschnitzten Giebeln und den beiden sich darüber erhebenden Türmchen sah die Herberge teuer aus – viel teurer, als Reinald und Elder sich leisten konnten. Sie besaß sogar Glasfenster. »Wo sollen wir eigentlich wohnen?«, fragte Reinald. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich habe einen Freund, bei dem wir billig unterkommen werden.« »Derselbe, mit dem du korrespondiert hast? Wegen der Verlorenen Bücher?« 153 Elder schüttelte den Kopf. »Den werde ich morgen aufsuchen. Aber zunächst müssen wir die Pferde abgeben.« Sie folgten der Spitzkehre. Reinalds Blicke suchten Mogador, die schwarze Zitadelle, doch die Häuser ragten hier so hoch empor, dass sie den Blick darauf verwehrten. Dabei waren sie mit wenigen Ausnahmen erstaunlich schmal und drängten sich aneinander wie die Tiere einer Herde bei einem Gewitter. Die engen Gassen dazwischen waren steil und verwinkelt. Nach wenigen hundert Metern erreichten Reinald und Elder die örtliche Niederlassung des Handelshauses, dem der Kaufmann aus der Karawane angehörte, und lieferten die Pferde ab. Zu Fuß, das wenige Gepäck geschultert, betraten sie das Gewirr der Gassen. In den Schluchten zwischen den Häusern brach die Nacht bereits herein, und hier gab es natürlich keine Laternen. Im Halbdunkel bemerkte Reinald mehrere nur meterhohe Türen, entweder ebenerdig oder am Ende einiger nach unten führender Stufen. »Wohnraum ist knapp in Khorat«, antwortete Elder auf eine entsprechende Frage, »und wie stets macht die Not erfinderisch. Zunächst stockte man die Häuser so weit auf, wie es die Gesetze der Statik erlaubten, in einigen tragischen Fällen auch darüber hinaus. Dann grub man sich in den Hügel und schaffte auf diese Weise zusätzliche Wohnungen – wenn man diese fensterlosen Kellerlöcher so nennen will. Und schließlich«, er deutete nach oben, »schuf man Altane oder sogar überdachte Brücken zwischen den Häusern, die ebenfalls bewohnt werden.« Tatsächlich spannten sich über die engen Gassen teils mehrstöckige Brücken, deren Architektur kein großes Vertrauen erweckte. Auf Balken, die beiderseits an den Häusern befestigt waren, hatte man hölzerne Verschläge gesetzt, mit oder ohne Fenster. Ihre Dächer bestanden in der Regel aus Holzschindeln. An manchen Stellen folgten mehrere dieser Wohnbrücken einander, so dass die Gasse darunter zu einem düsteren Tunnel wurde. Und in dieser Düsternis entwickelten die Schatten ein Eigenleben, wie Reinald alsbald feststellte. Begleitet vom Trappeln unsichtbarer Pfoten, vom Schaben winziger Krallen auf Stein und von gelegentlichem Fauchen und Zischen huschten langschwän154 zige, rattenähnliche Tiere mit großen Augen an den Häusern entlang, sprangen aus Rissen im Gemäuer hervor oder verschwanden in Nischen. Doch die geschäftigen Vierbeiner waren nicht die einzigen Bewohner dieser höhlenartigen Gassen. Als Reinald sich einem unförmigen Schemen näherte, den er für einen Felsklotz hielt, geriet dieser plötzlich in Bewegung. Ein dunkler Umhang wurde beiseite gefegt, Stahl blitzte auf. »Eure Beutel, meine Herren!« Reinalds Hand fuhr zum Griff des Dolchs am Gürtel, doch Elder packte seinen Arm. »Wir wollen zu Flor«, sagte er mit gewohnter Ruhe. Die Haltung des Gassenräubers entspannte sich etwas, doch die Spitze des Dolchs bewegte sich nicht. »Ihr kennt den Weg?« »Sein Weg ist unser Weg.« Nun verschwand der Dolch, der Umhang schloss sich wieder. Reinald versuchte, die Züge des Mannes zu erkennen, doch sie lagen im Schatten einer Kapuze. »Wenn ihr euch beeilt, trefft ihr ihn noch zu Hause an.« Im nächsten Moment war der Räuber wieder zu einem Schemen zusammengesunken, der wie ein Stein an der Hauswand lehnte. Sie gingen weiter. Reinald räusperte sich. »Du hast, hm, interessante Freunde.« »Man kann sich auf sie verlassen.« Elder deutete nach vorn. »Wir sind gleich da, am Ende dieser Sackgasse.« Sie bogen um zwei Ecken und stiegen sieben Stufen einer Treppe hinauf, die so schmal war, dass eine Katze sich ernsthaft überlegt hätte, sich ihr anzuvertrauen. Dann standen sie vor einer altersgrauen Holztür, die nicht wesentlich breiter war. Elder betätigte den Türklopfer zweimal und nach einer Pause ein weiteres Mal. Sie warteten. Endlich wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Dahinter war es so dunkel, dass Reinald lediglich eine Hand erkennen konnte, die sich am Rahmen abstützte. Eine männliche Hand, aber überraschend zierlich. 155 »Guten Abend, Flor«, sagte Elder. Die Tür flog zur Gänze auf. »Exzellenz! Kommt herein, herein!« Elder schob sich seitlich durch die Tür, und Reinald folgte dichtauf. Sie passierten einen verwinkelten Gang, dessen eine Seite aus Mauerwerk bestand; die andere Seite wurde von Brettern gebildet. Schließlich erhaschten Reinalds geweitete Pupillen einen Lichtschimmer, und kurz darauf traten alle drei in ein fensterloses Gemach, das von drei Kerzen in einem Holzleuchter notdürftig erhellt wurde. »Flor, darf ich dir meinen jungen Freund Reinald vorstellen?«, sagte Elder. »Er ist Tunnel- und Brunnenbauer und im Auftrag des Königs hier.« Reinald war nicht sicher, aber ihm schien, dass in Elders Stimme ein warnender Unterton mitgeschwungen hatte. Doch Flors Reaktion zerstreute alle Bedenken. Das Männchen, das Reinald nur bis zur Brust reichte, wandte sich ihm mit einer abgehackten Bewegung zu und machte eine tiefe Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, nicht wahr, eine Ehre!« Dann streckte es die Hand aus und Reinald schlug ein. Trotz seiner geringen Größe und eines unübersehbaren Kugelbauchs verfügte Flor über eine stämmige Figur. Seine kurzen, nackten Arme waren muskulös, und als er sich wieder aufrichtete, blickte Reinald in ein breites Gesicht mit dem offenen Lächeln eines Kindes. Eine Kappe aus dunklem Filz verdeckte einen Teil seiner schwarzen Stoppelhaare. Flors Alter war schwer zu schätzen, doch Falten auf der Stirn und unter den Augen deuteten an, dass er schon mindestens vier Jahrzehnte gesehen hatte. »Können wir einige Zeit bei dir bleiben?«, fragte Elder. »Natürlich, natürlich.« Flor nickte heftig, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Ich gebe meiner Paradiesblüte Bescheid, damit sie Euch die Altane herrichtet und etwas zu essen macht. Sie wird sich genauso freuen wie ich.« Elder schmunzelte. »Gewiss wird sie das.« »Im Moment hat sie großen Kummer«, fügte Flor hinzu, »denn Robo, ihr Bruder, ist seit einer Woche verschwunden. Und er ist nicht der Einzige.« Er verschwand durch den zweiten Ausgang des Raums. 156 »Seine Paradiesblüte?«, fragte Reinald. »Er liebt seine Frau über alles.« Elder wies auf zwei Stühle. »Setzen wir uns, es wird einige Zeit dauern.« Reinald stellte den Leinensack in eine Ecke und nahm neben Elder Platz – vor einem überraschend eleganten Schreibtisch aus poliertem Holz, dessen Füße in geschnitzten Löwenpfoten endeten. Er musste hier zusammengesetzt worden sein, denn es wäre unmöglich gewesen, ihn durch die Tür oder den sich daran anschließenden Gang zu transportieren. Der Holzleuchter stand auf der Schreibfläche, die durch ein Stück vergilbtes Papier von herabtropfendem Wachs geschützt wurde. Hundert Fragen lagen Reinald auf der Zunge, doch er schwieg, da er nicht neugierig erscheinen wollte. Flor hatte Elder mit »Exzellenz« angeredet. Eine reine Höflichkeitsfloskel, oder steckte mehr dahinter? Der Raum war klein und bestand aus unzureichend verputztem Mauerwerk, das nur zwei türlose Öffnungen aufwies: die eine, durch die sie gekommen waren, und die andere, durch die Flor den Raum verlassen hatte. Dahinter war der Beginn einer steilen Treppe zu sehen. Elder schien recht zu haben: Wohnraum war knapp in Khorat, und so wurde jeder Winkel ausgenutzt. Als auf der Treppe hastige Schritte zu hören waren, stand Reinald auf in der Erwartung, die Herrin des Hausstands zu Gesicht zu bekommen, doch Flor war allein. Er trug einen Kerzenhalter mit dem Stummel einer gelben Wachskerze, den er an dem Leuchter entzündete. »Folgt mir bitte! Meine Paradiesblüte hat alles vorbereitet. Sie ist fleißig und schnell, nicht wahr?« Elder stand auf und nahm sein Gepäck. »Wie stets. Du hättest keine bessere Frau finden können.« Flors Augen glänzten wie die eines Kindes beim Anblick eines überraschenden Geschenks. »Das sage ich ihr auch immer, Exzellenz. Aber sie will keine Komplimente hören, will sie nicht.« »Sie ist nun mal eine außergewöhnliche Frau.« Die beiden folgten ihrem Gastgeber über die enge Treppe nach oben. Nachdem sie mehrere Ecken umrundet und zwei verschlossene Türen passiert hatten, endeten die Stufen vor einer dritten, 157 die Flor ohne Schlüssel öffnete. Sie führte in einen flurähnlichen Raum, etwa zwei Meter breit und fünf oder sechs Meter lang. Wände, Boden und Decke bestanden aus dunklem Holz, und in der Mitte der linken Wand, ziemlich weit oben, gab es ein Fenster, das man öffnen konnte. Wie meist war der Rahmen mit dünn geschabtem Schafsleder bespannt. Die Einrichtung bestand aus zwei Bettstätten mit fadenscheinigen, aber sauberen Decken sowie einem kleinen Tisch mit einer zweischnäbeligen Öllampe, deren Dochte Flor an seiner Kerze entzündete. Sitzmöbel gab es keine. »Nun?«, fragte Flor mit dem Stolz des Hausherrn in der Stimme. »Wunderbar«, versicherte Elder. »Aber wir wissen noch nicht, wie lange wir bleiben werden.« »Das macht nichts, Exzellenz. Bleibt, solange es Euch gefällt.« Flor ging zurück zur einzigen Tür und wandte sich dort noch einmal um. »Ich muss jetzt auf Arbeit, nicht wahr? Meine Paradiesblüte richtet Euch etwas zu essen; wenn Ihr in einer Viertelstunde nach unten kommt, wird es fertig sein. Wasser findet Ihr auch unten. Die meisten Brunnen sind ausgetrocknet, es war ein langer Sommer. Das Wasser muss vom Fluss geholt werden, nicht wahr.« »Wir werden sparsam damit umgehen«, sagte Elder. Flor verbeugte sich, dann stieg er die Treppe hinunter. Da er die Tür hinter sich nicht geschlossen hatte, hörte Reinald ihn rufen: »Amelia, mein Paradiesblütchen, hast du meine Dietriche gesehen? Gerade hatte ich sie noch. Und was soll ich dir heute mitbringen? Vielleicht ein gesticktes Deckchen für dein Nachtkästchen? Oder einen Ring mit einem Stein, der schön funkelt? Ein Bild fürs Wohnzimmer? Etwas Goldgarn?« Seine Stimme verlor sich in den Tiefen des Hauses. Reinald sah Elder verblüfft an. »Bekommen wir die Dame des Hauses nicht zu Gesicht?« Elders Gesicht wurde ernst. Er setzte sich auf eines der Betten. »Ich fürchte, das ist unmöglich.« Reinald nahm sein und Elders Gepäck und stellte es in eine der hinteren Ecken, neben den Tisch. Dann setzte er sich auf das zweite 158 Bett. Das Stroh unter dem Bezug knisterte, es schien frisch zu sein. »Versteckt sie sich? Oder ist sie etwa irgendwie ... entstellt?« »Sie ist tot«, sagte Elder müde. »Schon seit vielen Jahren.« Reinald sah auf. »Ich verstehe nicht ...?« »Sie haben sich sehr geliebt. Selten gab es ein glücklicheres Paar. Und dann, vor etwa sieben Jahren, starb sie an einer dieser Seuchen, die ebenso rasch aufflackern, wie sie wieder verschwinden. Kein Arzt konnte ihr helfen.« Elder hob die offenen Hände und senkte sie wieder. »Das war zu viel für Flor. Er drohte, vor Trauer und Verzweiflung den Verstand zu verlieren. Doch dann ... geschah etwas mit ihm. Von einem Augenblick zum anderen. Ich denke, unbewusst hat er den einzigen Ausweg gefunden, der ihm blieb: Er hat den Tod seiner ›Paradiesblüte‹ ignoriert. Er spricht mit ihr, und er bringt ihr stets etwas mit. Es gibt einen Raum in diesem Haus, der angefüllt ist mit seinen Geschenken. Billige und teure Dinge, nützliche und unsinnige. Und Blumen. Er bringt ihr immer mindestens eine Blume mit.« Reinald schüttelte den Kopf. Bis vor wenigen Tagen hätte er nicht geglaubt, dass es eine solche Liebe geben konnte, doch die Begegnung mit Sharee hatte alles verändert. »Du darfst ihn deshalb aber nicht für verrückt halten«, fuhr Elder fort. »Er ist so normal wie du und ich, bis auf die Tatsache, dass er glaubt, seine Paradiesblüte sei noch am Leben. Und er glaubt es wirklich! Du darfst keinesfalls versuchen, es ihm auszureden.« Er stand auf und nestelte an dem Fensterrahmen herum. Er hatte sich verzogen und es dauerte eine Weile, bis Elder ihn aufbekam. Dann strömte kühle Nachtluft herein. »Was für ein Ausblick! Sieh es dir mal an.« Er machte Reinald Platz, der sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um mehr als Abendhimmel zu sehen. Der Raum befand sich nicht wirklich in einer Altane oder einem überdachten Balkon, wie Flor gesagt hatte, sondern in einer dieser bewohnbaren Brücken zwischen zwei Häusern. Zu beiden Seiten ragte Mauerwerk empor, dazwischen öffnete sich der Blick hügelaufwärts. Hunderte von Fenstern, durch gelbliche Flammen erleuchtet, durchbrachen die Schatten der engen Häuser wie Sterne 159 die Dunkelheit des Firmaments. Und hoch über der Stadt, wie eine Lücke in der Wirklichkeit, thronte der klobige, lichtlose Schatten der schwarzen Zitadelle Mogador. Morgen früh würde Reinald sie betreten, um den König seine Aufwartung zu machen. 160
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