Vielleicht Meer - zurück zur Startseite von CBO Entertainment

ISBN 978-3-7386-6783-7
www.bod.de
Vielleicht am Meer
Claudia Bose
Was ist Liebe? Mariana von Weiden, Geschäftsführerin der Weidenhof Frucht GmbH, liebt den Hof ihrer Familie in der niedersächsischen Heide, die Erdbeerfelder, die Weite und den Rhythmus der
Natur. Hier fühlt sie sich sicher und zu Hause. In ihren Liebesbeziehungen hingegen ist sie sich in gar nichts sicher.
Die erste Beziehung, die so überhaupt nicht in ihr geordnetes Leben
zu passen scheint, erlebt sie mit dem Berliner Musiker Paul, der mit
voller Wucht einiges in ihrer Welt durcheinanderwirbelt – und dann
sang- und klanglos wieder daraus verschwindet. Dieses Ende noch
nicht verarbeitet, trifft sie bereits den nächsten charismatischen
Musiker: Daniel. Zwischen ihnen baut sich eine besondere Verbindung auf, der sie beide nicht recht vertrauen können. Zu prägend
sind vergangene Erinnerungen.
Wie viel Mut braucht es, sich auf das große Abenteuer Liebe einzulassen? Mariana, Daniel und die Menschen um sie herum loten jeder
auf seine Art die Untiefen dieser Frage aus. Dabei kommt sich Mariana langsam selbst auf die Spur und begreift: Sie muss aus ihrem
Schneckenhaus raus, wenn aus dieser besonderen Verbindung zwischen ihr und Daniel mehr werden soll. Doch sie ist nicht die Einzige,
der Daniel begegnet ist.
„Vielleicht am Meer“ ist eine Spurensuche, auf der Bühne und Backstage, zwischen der niedersächsischen Heide und der internationalen Musik-Szene – und irgendwo zwischen Herz und leider auch
Schmerz, ohne rührselig zu werden.
Claudia Bose
Vielleicht
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Meer
Claudia Bose
Vielleicht
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Meer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Claudia Bose
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand
ISBN: 978-3-7386-6783-7
Vielleicht am Meer
if not with you
how can I find the ocean floor
if not for you
what do I need this body for
(Diorama, »Truth and Movement«)
Vielleicht am Meer
Prolog
Mariana blickte sich um. Der Raum strahlte geschäftsmäßige
Hochwertigkeit aus: weiße Wände, ein heller Besprechungstisch, Echtholzstühle mit beiger Polsterung, Sideboards aus
demselben Holz. An den Wänden hingen Reproduktionen,
Grünpflanzen standen in allen Ecken des Raumes. Die Herren waren bereits anwesend, zwei Vertreter der Bank und der
Vorsitzende des Landesbauernverbandes. Dieser vertrat die
Bauern, von denen die Weidenhof Frucht GmbH zusätzlich
zu ihrer eigenen Produktion die Beeren für ihre Fruchtaufstriche bezog.
Nach dem Händeschütteln und dem Austausch von Belanglosigkeiten setzten sich alle und kamen zügig zum Grund ihrer
Zusammenkunft. Der Herr, der Mariana als Abteilungsleiter für Investitionsvorhaben bereits aus früheren Gesprächen
mit der Bank bekannt war, sprach Marianas Vater an und
bat ihn um den Vortrag seines Anliegens. Hans von Weiden
erklärte: »Kaufmännische Geschäftsführerin der Weidenhof
Frucht GmbH ist meine Tochter, Mariana von Weiden. Sie
übernimmt die Präsentation.« Damit lehnte er sich in seinem
Stuhl zurück und nickte Mariana zu.
Mariana verteilte Unterlagen und sprach von dem Wandel,
den sie mit der Weidenhof Frucht GmbH anstrebten. Die Auslastung der neuen Fertigungs- und Abfüllanlage sollte nicht
mehr mit Fremdprodukten sichergestellt werden. Die eigene
Produktpalette des Weidenhofes sollte deutlich ausgebaut, die
produzierte Menge immens erhöht werden. Dafür waren die
Verträge zur Produktion von Fremderzeugnissen zu kündigen,
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der Zukauf von Obst aus der Region war enorm zu erhöhen
und vor allem musste eine neue Tiefkühlhalle gebaut werden,
um die Früchte lagern und somit das ganze Jahr über frisch
produzieren zu können.
Noch während Mariana sprach, baute sich eine Mauer vor
ihr auf. Die Herren stellten keine sachlichen Fragen, sondern
blätterten nur unbestimmt in den vor ihnen liegenden Unterlagen. Mit jedem Satz wurden sie unruhiger.
Nachdem sie ihre Präsentation beendet hatte, wandte sich
der Abteilungsleiter der Bank direkt an ihren Vater: »Herr
von Weiden, wir haben Ihr Konzept bereits vorab diskutiert
und sind uns einig: Die Vergrößerung der Produktionsanlage
haben wir noch mitgetragen, Sie sind durch Fremdproduzenten sehr gut ausgelastet. Das ist jetzt noch nicht einmal zwei
Jahre her, die Anlage hat sich längst noch nicht amortisiert.
Wir haben Bedenken, dass Ihr Ruf als Familienbetrieb und
Qualitätsproduzent durch diese Vergrößerung bereits in Mitleidenschaft gezogen wurde.«
Der Vorsitzende des Landesbauernverbandes ergänzte:
»Hans, du bist doch einer von uns. Du weißt, wie wir alle zu
kämpfen haben, auch wenn regionale Produkte wieder mehr
an Bedeutung gewinnen. Die ansässigen Obsthöfe würden dir
gerne ihre Ernten verkaufen, allerdings stellst du fast überzogene Qualitätsansprüche, die sehr hohe Kosten verursachen.
Meinst du wirklich, es sei möglich, die Produktion auf solch
große Mengen auszudehnen, wie ihr sie für eure Pläne benötigt? Es tut mir leid, das so direkt sagen zu müssen, aber du bist
doch selbst Obstbauer und vielleicht solltest du dich auch wieder darauf besinnen. Darin bist du einer der Besten von uns.«
Keiner hatte bisher das Wort direkt an Mariana gerichtet.
Oder eine Frage gestellt. Mariana stand nun auf. »Meine Herren, ich weiß, Sie schätzen alle meinen Vater sehr. Er hat unser
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Unternehmen zu dem gemacht, was es heute ist. Und er hat
erkannt, dass es Stillstand ist, der uns jedes Jahr um unser
Überleben kämpfen lässt. Ja, wir sind Kämpfer. Aber lieber
kämpfen wir uns nach vorn als gegen Windmühlen. Keiner
kann heute mehr Bauer bleiben, ohne auch Ingenieur und
Ökonom zu sein. Mein Vater hat das erkannt. Deshalb hat er
gute Ingenieure in sein Unternehmen geholt. Und er hat gesehen, was meine Ausbildung aus mir gemacht hat. Deshalb hat
er mich als kaufmännische Geschäftsführerin aufgenommen
und die Weidenhof Frucht GmbH zu unserem gemeinsamen
Unternehmen gemacht. Lassen Sie uns zusammen unser Konzept auf Herz und Nieren prüfen. Gerne beantworte ich Ihnen
alle Ihre Fragen. Sollten Sie dazu nicht bereit sein, suchen
wir uns andere Gesprächspartner. Und glauben Sie mir, diese
werden wir finden.« Mariana setzte sich wieder und sah kurz
ihren Vater an. Er lächelte und nickte ihr erneut zu. Mariana
atmete tief durch und fügte ihrer Rede hinzu: »Und noch
einen Hinweis, meine Herren, die Verhandlungen über dieses
Konzept führen Sie mit mir.«
1. Kapitel
Bereits früh in diesem Jahr hatte Mariana das Gefühl verspürt,
dass auf ein Ende ein neuer Anfang folgen musste. Also ritt
sie, sobald der verschwindende Frost den Boden wieder atmen
ließ, mit ihrem Pferd Amon aus, den Frühling zu suchen.
Und sie fühlte, wie sich endlich wieder eine fast unbeschwerte
Fröhlichkeit in ihr ausbreitete. Jeder Frühling brachte neues
Leben. Es wurde Zeit, dass sie diesen dicken Trauerklos in
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ihrem Bauch endlich loswurde. Nur ihre Schwester Katrina
wollte den Winter festhalten und knallte mit der Tür zum
Schweinestall, bis sie schief in den Angeln hing.
So manches Wochenende dieses Frühjahres verbrachte Mariana bei ihrem Bruder Alex in Hamburg. Anja, seine Freundin,
absolvierte gerade ein Auslandssemester in Oslo. Und Alex
mochte das Alleinsein überhaupt nicht. So manchen Nachmittag saßen Mariana und ihr Bruder in dicken Daunenjacken auf
dem kleinen Eisenbalkon von Alex’ Wohnung und angelten
die Bierflaschen direkt aus dem Kasten.
Es war ein verregneter und windiger Abend im April, als
Sascha, Marianas vielleicht engster Freund, sich in ihr Hamburger Balkonidyll klingelte. Er versuchte Mariana mit vielen
Worten und fuchtelnden Armen zu einem Konzert zu überreden. Sie verstand ihn nicht genau. Irgendeine seiner Bands, die
er betreute und zu der er Mariana schon ab und zu geschleppt
hatte, hielt mit ihrem Tour-Tross inklusive Support-Band in
der Stadt. Mariana gab ihre angesäuselte Bierseligkeit nur widerwillig auf.
Alex und Sascha, deren Beziehung bisher von respektvollem
Desinteresse geprägt war, verbündeten sich an diesem Abend
allerdings schon am Eingang der Hamburger Konzerthalle
miteinander. Sascha bekämpfte die Trennung von seiner großen Liebe Ulrike seit einigen Monaten mit einer DJane aus
Heidelberg und so überließ Mariana die beiden Männer ihrem
schnell im Bier erkannten Fernbeziehungsschmerz. Sie streifte
durch die Halle und traf schließlich eine ehemalige Kommilitonin, mit der sie die Minuten durchbrachte, während sie
misstrauisch Alex und Sascha in ihrer neu gefundenen Männerfreundschaft beobachtete. Ab und zu tauchten sie aus den
Nebelschwaden ihrer innigen Diskussion auf, um Mariana
dann schief von der Bar aus zuzuwinken. Das hieß, Sascha
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grinste schief und Alex ruderte mit beiden Armen, als wollte
er ein Flugzeug einweisen.
Die Vorgruppe, deren Namen Mariana schon wieder vergessen hatte, startete ihr Programm. Wilde Klavierkaskaden und
eine Stimme mit einem Timbre wie aus weichem, abgewetztem Samt trafen Mariana mitten in ihren Grübeleien über
die seltsame Aufgedrehtheit ihres Bruders. Sie war fasziniert.
Irgendetwas in dieser Stimme traf einen tief in ihr liegenden Nerv. Neugierig schob sie sich zwischen den sich mehr
und mehr zum Takt der Musik wippenden Menschen einige
Reihen nach vorn und lauschte den melodiösen, aufwendigen Klanglinien, die immer wieder von aggressiven Schüben
durchbrochen wurden: »I swam through the deep valley of tears
and finally, finally reached the shore. I crossed rapids and met
all my fears, looked up at the stars at night for years. But I made
it to the shore.«
Mariana war durchaus ein musikinteressierter Mensch, auch
wenn sie Saschas Leidenschaften und seinem Musikverständnis nie so ganz folgen konnte. Die Musik dieser dunklen Szene
war ihrer Meinung nach größtenteils geprägt von stereotyper
Langeweile. Hin und wieder fanden sich Perlen, deren Glanz
in Marianas Augen vor allem durch warme Stimmen und intelligente Songgeschichten erstrahlte. Sie hörte den Diskussionen über Entwicklungen in der elektronischen Musik der
Dark-Wave-Szene und den Lobpreisungen auf diese oder jene
Band immer aufmerksam zu. Die Musik dazu schallte durch
ihr Auto und ihr Wohnzimmer, aber kaum je erkannte sie
darin die bejubelte Innovation oder Genialität.
Gefesselt verfiel Mariana hier nun dieser Musik. Ihr gefiel
nicht alles, manche Stellen legten sich ihr regelrecht quer in den
Magen, aber die Intensität dieses Sounds nahm sie komplett
gefangen. Die zwei Jungs an den Instrumenten verblassten auf
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der Bühne hinter ihrem Frontmann. Offensichtlich lebte er
seine Musik, teilweise wirkte es so, als würde er sein Publikum
gar nicht wahrnehmen. Dann wieder stand er am Rand der
Bühne und schaffte es, dass Mariana auf ein Meer aus zuckenden Armen schaute. Das gelang nicht vielen Support-Bands,
die noch vor den eigentlichen Stars des Abends auftraten. Sie
würde Sascha nach dem Konzert fragen, er konnte ihr sicher
mehr über diese Band und ihre Musik erzählen.
Den Großteil des Hauptkonzertes ließ Mariana mehr oder
weniger über sich ergehen. Alex und Sascha klebten immer
noch an der Bar und hatten mittlerweile ein Level erreicht,
auf dem sie zur nicht immer schmeichelhaften Analyse des
Publikums übergangen waren.
Nach dem Konzert hatte Mariana genug vom Bier. Ihr war
klar, dass dies eine lange Nacht werden würde. Sie grübelte
darüber nach, ob sie Alex überreden könnte, ihr den Wohnungsschlüssel zu überlassen. Die Jungs umklammerten nach
wie vor ihre Bierflaschen. Irgendwann umklammerten sie
auch Mariana. Der Kreis wurde größer, als ein Teil der von
Sascha betreuten Musiker in den Bierreigen einstimmte, um
ihren Erfolg zu feiern. Da half nur Flucht. Mariana schnappte
sich einen Arm voll leerer Bierflaschen und drängelte sich in
Richtung Bar. Das Leergut musste dringend in Nachschub
verwandelt werden. Sie lehnte sich weit über den Tresen und
versuchte, die etwas überforderte Bedienung auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte eine Weile. Und nur unter der
Zuhilfenahme ihrer Ellenbogen gelang es ihr, ihren Platz an
der Getränkequelle erfolgreich zu verteidigen. Während die
leeren Flaschen sich klirrend in einen halbvollen Kasten unter der Theke einreihten und dieser dann seinen Platz in der
Mauer aus Getränkekisten an der seitlichen Wand der Bar
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fand, spürte Mariana ganz deutlich Blicke in ihrem Rücken.
Offensichtlich hatte jemand großen Spaß daran, wie ihr Oberkörper sich immer weiter über die hohe Theke schob und ihr
Po in Richtung Barbesucher gereckt wurde. Auf einer angenehmen Welle aus Bier-Endorphinen schwebend, war ihr das
nicht einmal unangenehm. Den Arm voller frischer Flaschen,
deren kalte Kühlschrankperlen ihr T-Shirt durchnässten und
Gänsehaut auf Armen und Brust erzeugten, warf sie ihrem
amüsierten Gegenüber ein herausforderndes »Was guckst du
denn so?« mitten ins Gesicht.
»Na, ich guck’ halt.« Er schien nicht gewillt, den hingeworfenen Handschuh aufzuheben. Sein Lächeln wirkte fast
ein wenig arrogant. Mariana drückte ihrem keinen Schritt
zurückweichenden Herausforderer bereits die Bierflaschen in
den Bauch, um sich mit unbeeindrucktem Hüftschwung an
ihm vorbeizudrängeln, als sie mitten in der Bewegung stockte.
Dieser herausfordernde Blick ... Noch vor wenigen Stunden
war genau dieser Blick über die Menge geschweift, selbstbewusst, aber dennoch voller kindlichem Staunen über den Respekt und die Wogen aus Applaus, die ihm entgegenbrandeten.
Beinahe hätte Mariana ihn nicht erkannt. Vor ihr stand der
charismatische Frontmann der Vorgruppe, der mit seiner etwas unnahbaren Ausstrahlung sein Publikum sofort in seinen
Bann gezogen hatte. Er lachte ihr immer noch mitten ins Gesicht. Entspannt lehnte er an einer Säule, zwei Meter vor der
Bar, umgeben von den Jungs seiner Band. Sie hielten sich an
großen Gläsern mit klarer Flüssigkeit fest, in der die Eiswürfel klirrten. Jeder von ihnen hatte ein noch volles Glas in der
Hand und vereint in adrenalinlastiger Nach-Konzert-Euphorie
unterzogen sie das Hamburger Publikum einer ausführlichen
Musterung. Dabei geriet ihnen nun ausgerechnet Mariana vor
die Flinte. Sofort umschloss sie der Ring aus schwitzenden
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Gin-Tonic-Gläsern und Mariana kam sich vor wie ein Kaninchen in der Schlinge.
Bis zu diesem Punkt konnte sie den Abend detailliert nacherzählen. Der Rest verlor sich in einem großen Rausch. Genau
beschreiben konnte sie danach einzig das unglaubliche Gefühl,
in dieser Nacht etwas ganz Besonderes erlebt zu haben und
Teil von etwas Größerem gewesen zu sein. Es begann mit noch
mehr Getränken und vielen lauten, in Ohren geschrienen,
sinnlosen, philosophischen und belanglosen, genuschelten und
erneut gesagten Worten. Sascha und Alex wurden schnell Teil
der Party, die sich später auch noch auf die Tanzfläche verlagerte. Mit knurrendem Magen und dem unstillbaren Hunger nach mehr und Abenteuer fand sich Mariana, eingekeilt
zwischen Till, dem Keyboarder der Band, und Daniel, dem
charismatischen Leadsänger, irgendwann auf der Rückbank
eines Taxis wieder. Neben dem Fahrer saß Sascha und sie fuhren hinter einem anderen Taxi, in dem Alex mit Frank, dem
Bassisten, und Bastian, dem Tontechniker, die Richtung zu
seiner Wohnung eingeschlagen hatte.
Dann, in Alex’ kleiner Küche, bearbeitete Daniel mit dem
riesigen Fleischmesser einige Zwiebeln. Mariana stand neben
ihm und rührte abwechselnd mit dem angespitzten Kochlöffel, mit dem ihnen früher einmal ihre Mutter grobmaschige
Wollmützen gestrickt hatte, in den kochenden Nudeln und in
der auf dem Herd blubbernden Tomatensoße. Während sich
die Zwiebeln ihrem Schicksal ergaben, erzählte Daniel Mariana vom Tour-Alltag. Sie sah dabei seinen großen, kräftigen
Händen bei der Arbeit zu. Dann wieder starrte sie auf ihre
eigenen kleinen, runden Hände, mit denen sie mit aller Kraft
den Kochlöffel umklammerte, um ihre kurzen, ungeduldigen
Finger daran zu hindern, nach diesen Händen zu greifen, die
alles zu können schienen. Mariana schob diese ungewohnten
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Empfindungen gegenüber einem völlig Fremden auf die reichlichen Mengen Alkohol, die an diesem Abend bereits geflossen waren. Eine unglaubliche Leichtigkeit hatte sie gepackt,
während sie mit diesem Mann, ganz aus Samt, in Alex’ Küche
stand und Nudeln kochte.
Der Raum nebenan breitete sich friedvoll vor Mariana aus,
als sie mit Tellern voller Pasta die Küchentür aufstieß. Alex
und Till lagen nebeneinander auf dem Fußboden. Sie starrten
gezielt Löcher in die Zimmerdecke und philosophierten über
die pädagogischen Tiefen der »Drei ???«. Sascha saß in der
anderen Ecke des Zimmers in Alex’ altem Ohrensessel. Seine
riesigen Füße lagen besitzergreifend auf dem Schreibtisch und
erdrückten Alex’ aufgeschlagenes Chemiebuch. Mit Bastian
und Frank war er in eine intensive Diskussion über die Entwicklung der elektronischen Musik versunken. Daniel und
Mariana wählten einen Platz auf dem Fußboden an der Küchenwand, wo sie mit gekreuzten Beinen und Nudeln essend
ihr Gespräch wiederaufnahmen. »Ich wusste schon immer,
dass die Musik mein Leben ist«, antwortete Daniel gerade auf
Marianas Frage, wann er sich entschlossen hatte, die Musik
zu seinem Beruf zu machen.
»Ich finde das bewundernswert.«
»Findest du?« Daniel sah Mariana ehrlich interessiert an. »Ist
es so bewundernswert, dem zu folgen, was einem selbst schon
immer völlig klar war?«
Nachdenklich legte Mariana die Gabel auf ihrem Teller ab.
»Vielleicht hast du Recht. Mein Weg war ja auch schon immer
so vorgezeichnet. Also bin ich einfach immer weiter geradeaus
gegangen, weil ich auch nie wirklich wusste, an welcher Stelle
ich am besten abbiegen sollte. Ich habe eigentlich erst seit ein,
zwei Jahren das Gefühl, endlich zu wissen, was ich persönlich
von meinem Leben für mich erwarte und dass mein Weg nicht
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zwingend der Weg meiner Familie, sondern tatsächlich mein
ganz eigener ist.«
»Diese Sinnsuchen und Grübeleien hatte ich nie. Für mich
gab es keinen Zweifel, was ich will. Ich will Musik machen,
meine Musik, und davon leben können. In der Musik werde
ich niemals Kompromisse eingehen, also arrangiere ich mich
eben an anderer Stelle.«
Sie schwiegen eine Weile. Mariana hörte das Kratzen des
Besteckes auf den mit lilafarbenen Stiefmütterchen bemalten
Tellern, die Alex von ihrer Oma zum Einzug geschenkt bekommen hatte. Sie würde so gern mehr von Daniel erfahren,
über sein Leben und dieses Selbstbewusstsein, das er mit jedem
Atemzug ausströmte. Aber sie wusste nicht, wo sie mit ihren
Fragen beginnen sollte. Und so stand sie auf und brachte ihren
Teller zurück in die Küche. Sie begann das Geschirr in die
Spüle zu räumen und die Überreste der geopferten Zwiebeln zu
beseitigen. Es schien, als hätten alle in diesem Raum nebenan
ein Ziel. Einen großen Plan, an den sie fest glaubten. Sie hatten sich ihr Leben erobert und waren fest gewillt, sich alles zu
nehmen, was ihnen zustand. Selbst Sascha, dessen erklärtes Ziel
es war, jeden Tag so viel Spaß wie möglich zu haben. Mariana
war müde. Sie wollte nach Hause und ihr Gesicht in das Fell
ihres Pferdes Amon vergraben. Sie hatte Angst vor den Fragen.
Plötzlich stand Daniel hinter ihr. Er hatte noch eine Flasche
Wein gefunden und suchte jetzt einen Korkenzieher. »Hey,
nebenan sind sie bei ›Al Bundy‹ und ›Beavis & Butthead‹ gelandet. Da habe ich keine Chance.« Er lachte, entkorkte den
Wein und suchte im Küchenschrank nach Gläsern.
Mariana nahm ihm die Flasche aus der Hand und zwei Wassergläser vom Board über dem Kühlschrank. »Warum machst
du das alles?«, fragte sie. »Was treibt dich an? Der Wunsch
nach Ruhm und Ehre?«
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Daniel sah sie eine Weile nachdenklich an. Schließlich
nahm er ihr die Gläser aus der Hand und hielt sie ihr zum
Einschenken hin. »Hm, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mit fünf Jahren habe ich den ersten Musikunterricht
bekommen, und das war für mich schon damals wie endlich
zu Hause ankommen. Ich habe alles verschlungen, was ich
im Plattenschrank meiner Eltern gefunden habe. Später hat
mich alles andere einfach nur noch genervt. Die Schule, dieser Druck von allen Seiten, die Erwartungen, das, womit wir
jeden Tag zugeschüttet werden. Da habe ich mir meine eigene
Welt gesucht.« Daniel lächelte sie an. »Wenn du nie darüber
nachdenkst, ob du etwas in deinem Leben ändern solltest,
dann scheint doch alles richtig für dich zu sein. Was für ein
Geschenk. Ehrlich gesagt, beneide ich dich fast ein bisschen
um dieses Gefühl.«
Sie verließen gemeinsam die Küche. Daniel setzte sich neben
Bastian und Frank. Er lächelte Mariana an und zeigte auf
den Platz an seiner Seite. Mariana setzte sich und Daniel stieg
nun doch in die mittlerweile reichlich surreale Diskussion der
Jungs über Randfiguren ihrer Comic-Kindheitshelden ein.
Mariana dachte darüber nach, was Daniel zu ihr gesagt
hatte. Gab es etwas, was sie gerne in ihrem Leben ändern
würde? Oder war ihr Leben tatsächlich so beneidenswert? Sie
dachte an Amon und ihre, wie es ihr schien, so kleine Welt.
Die Heide war für sie ihr Zuhause, wie für Daniel die Musik
sein Heim war. Für sie beide war dieses Refugium jeweils ihr
Schutzwall vor den Ansprüchen einer maßlosen Welt. Mariana
musste sich eingestehen, dass es vor allem ein Schutzwall vor
ihren eigenen Fragen war, die sie so wunderbar beiseiteschieben konnte, wenn sie mit Amon in der Heide unterwegs war.
Es gab immer genug zu tun, um nicht zu viel nachdenken zu
müssen. Alex behauptete manchmal, sie würde vor dem Leben
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fliehen. Hatte er Recht? Bisher hatte sie das nie verstanden.
Denn sie war doch mittendrin in ihrem eigenen Leben. Wie
konnte es sein, dass Alex sie anzustacheln versuchte, mehr
unterwegs zu sein, und Daniel wiederum meinte, sie sei um
ihre geordnete Welt zu beneiden?
Als ein Taxi die Jungs um sieben Uhr morgens abholte, um
sie zurück zu ihrem Bus und in ihr Tour-Leben zu bringen,
verabschiedete sich eine Gruppe neuer Freunde mit vielen Umarmungen und Versprechungen voneinander. Daniels Arme
umfingen Mariana und hielten sie einen Moment fest. Dann
sah er sie an. »Auf bald«, sagte er nur. Mariana schlug die
Augen nieder. Das Adrenalin pulsierte durch ihre Adern und
sie konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ein plötzliches Glücksgefühl strömte durch sie hindurch, sie atmete
tief ein und aus. Doch außer den Hamburger Möwen, die auf
Morgenpatrouille waren, schien dies niemand zu bemerken.
Tief und traumlos verschliefen alle drei – Alex und Mariana im Bett und Sascha schnarchend auf dem Sofa – einen
erstaunlich sonnigen Sonntag im April.
2. Kapitel
Nach jener denkwürdigen Nacht ihrer ersten Begegnung vergingen fast vier Monate, bis Mariana Daniel wiedersah. In dieser Zeit gestattete sie ihrer Erinnerung immer wieder Ausflüge.
An langen Nachmittagen auf dem Rücken ihres Pferdes versuchte sie sich jedes gesprochenen Wortes dieses Pasta-Abends
zu entsinnen, aber es gelang ihr nicht. Die genauen Gespräche
verblassten mit der Zeit. Was blieb, war dieses warme Gefühl
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