Die Grenz-Verschieberin

29. März 2015 / Nr. 13Zeugnis
Glaube 29
Die Grenz-Verschieberin
Trotz ihrer Behinderung steckt sich die ehemalige Weltklasse-Biathletin Verena Bentele hohe Ziele
I
ch hadere nicht mit Gott, weil ich
nicht finde, dass Gott es mir nur
schwer macht. Gott hat es mir in
vielen Dingen auch gut und toll und
leicht gemacht“, sagt Verena Bentele
lachend. „Ich bin mir sogar sehr sicher, dass Gott es gut mit mir meint.
Natürlich gibt es auch Momente, in
denen ich denke: Warum muss das
jetzt gerade so sein, könnte das nicht
mal leichter sein? Aber ich glaube immer, dass es eher die Menschen sind,
die’s mir schwer machen. Gott ist ’n
Guter, wie das Wort schon sagt.“
Die wohl schnellste blinde Langläuferin und Biathletin aller Zeiten hat es
mal wieder eilig. Die Zeit für das Interview ist ganz genau kalkuliert. Aber
sie ist hochkonzentriert. Und sie ist
vor allem eines, nämlich schnell. Sogar
beim Sprechen: „Ja, mein Vater hat
mir auch schon mal gesagt, ich sollte
ein bisschen langsamer reden – das
wäre ja kaum zu verstehen“, grinst sie.
Verena Bentele kennt das Wort
„langsam“ scheinbar wirklich nur vom
Hörensagen. Sie packt sich den Tag voll
mit Terminen, hetzt auch schon mal
zur U-Bahn, stößt dabei irgendwo an
und hat – mal wieder – irgendeine
Beule. „Irgendwie habe ich immer das
Gefühl, dass der Tag viel zu kurz ist für
all das, was ich gerne machen möchte“,
erzählt die 32-Jährige lächelnd. Als Behindertenbeauftragte der Bundesregierung arbeitet sie etwa sechzig Stunden
die Woche. Und in ihrer Freizeit hat
sie neue Sportarten für sich entdeckt.
So hat sie zum Beispiel einen Tandem-Marathon absolviert: in knapp
23 Stunden von Trondheim nach Oslo,
540 Kilometer kreuz und quer und
vor allem auch 3.400 Höhenmeter rauf
und runter, ohne zu schlafen, und 19
Stunden davon im strömenden Regen.
Ein echter Spaß – „wenn man es geschafft hat und unter der Dusche steht“.
Ein anderes Abenteuer hat sie auf
den höchsten Berg Afrikas, den Kilimandscharo, geführt. Das ist sportlich leicht machbar für eine zwölffache
Goldmedaillengewinnerin. Aber mehrere Tage am Stück von jemandem abhängig zu sein, der ihr genau sagt, wohin sie treten muss – das ist die wahre
Fastenzeit-Serie
Unter dem Motto „Fülle im Mangel“ stellen wir Menschen vor,
die trotz Verzichts ein erfülltes
Leben aus dem Glauben führen.
Herausforderung. Da ist Vertrauen
überlebenswichtig.
Andere
neue
Hobbys
sind
House-Running – also Hochhäuser herunterrennen – oder Vom-Fernsehturmin-Hamburg-Springen – am Seil, versteht sich. „Es ist nicht so, dass ich da
keine Angst hätte – aber das macht
ja gerade den Reiz aus.“
Grenzen verschieben – das ist es, was
Verena Bentele mit all diesen Herausforderungen erreichen will. Denn an solche ist sie als Blinde immer wieder gestoßen. Aber schon ihre Eltern haben
Hof war das auch kein Problem, denn
da kannten sie sich aus. Und wenn dort
ein Auto parkte, dass sonst nicht dastand, hat die Mutter das den Kindern
gesagt, bevor sie auf’s Fahrrad durften.
Blessuren gab’s dennoch einige.
Denn alle drei Kinder waren wilde Feger mit sehr „kreativen“ Ideen. Lachend
erzählt Verena Bentele, wie sie, ihr
blinder Bruder und ihre sehende beste
Freundin mit dem Tandem losgefahren
sind, weil sie sich ein Eis auf dem Campingplatz im Nachbarort kaufen wollten. Die Jüngste – das war die sehende
Verena Bentele will hoch hinaus – beim Sport wie auch sonst im Leben.
ihr ein gesundes Selbstvertrauen beigebracht und versucht, alles möglich zu
machen, was sehende Kinder auch tun
dürfen und können. Aufgewachsen sind
Verena Bentele und ihre beiden Brüder
– einer sehend, einer ebenfalls blind –
auf einem Bauernhof am Bodensee.
Das Skifahren haben sie von den Eltern
gelernt. Die haben ihre beiden blinden
Kinder zuerst zwischen die eigenen
Beine genommen. Dann haben sie sich
bestimmte Befehle überlegt, damit die
Kinder wissen, wann sie einen Bogen
fahren müssen oder wann sie sich auch
einfach mal fallen lassen müssen, weil
gerade auf der Piste sehr viel los ist und
sie anderen Fahrern nicht ausweichen
können – weil sie die ja nicht sehen.
Auch Fahrrad fahren haben die
Kinder gelernt. Auf dem elterlichen
Foto: imago
Freundin – saß vorne am Lenkrad. In
der Mitte der Bruder und auf dem
Gepäckträger Verena. Und dann sind
sie eine Straße mit zwölf Prozent
Gefälle hinuntergefahren. „Die Sache
ging gründlich schief“, erinnert sich
Bentele, „meine Freundin ist auf dem
Misthaufen gelandet, mein Bruder
halb im Stacheldraht und ich auf der
Straße. Wir hatten alle Schürfwunden
und das Tandem war nicht mehr zu
reparieren. Das gab richtig Ärger.“
Auch die Idee, nicht die Treppe zu
benutzen, um vom Dachboden wieder
nach unten zu kommen, sondern aus
dem Fenster zu springen, war nicht so
wirklich gut. „Aber es ist nichts passiert. Wir haben so ein Glück gehabt.“
So ist Verena Bentele sehr unerschrocken durchs Leben gegangen und hat
bald die ersten großen sportlichen Erfolge gefeiert. Mit 15 war sie Europameisterin, mit 16 gewann sie ihre erste
Goldmedaille bei den Paralympics.
Dann kam 2009 ein schwerer Unfall
beim Warmlaufen für die deutschen
Meisterschaften im Langlauf. Damals
hatte ihr Begleitläufer die falsche Richtung angegeben. Statt die Loipe zu
erreichen, war Verena Bentele in ein
Bachbett gestürzt. Verletzungen an beiden Armen, an Leber und Niere sowie
ein Kreuzbandriss im Knie waren das
Ergebnis. Monatelang war sie außer
Gefecht gesetzt. Das hätte das Karriereende sein können. Doch Verena Bentele wollte nicht mit einem Unfall aufhören. Sie hat alles dafür getan, die
Angst zu verlieren und wieder Vertrauen zu gewinnen – zu sich selbst, aber
auch zu einem neuen Begleitläufer.
Sie ist zum Beispiel wieder auf ein
Tandem gestiegen – diesmal mit einem
erwachsenen Mann, einem echten
Sportler. „Da bin ich durch eine
Stange fest mit dem anderen verbunden. Das gibt Sicherheit. Denn auch
der Fahrer möchte ja nicht stürzen.“
Aber bei der ersten Abfahrt mit Tempo 70 hatte sie doch Angst. Als alles
gut gegangen war, konnte sie die Geschwindigkeit wieder genießen. Dann
folgte viel hartes Training und nur ein
Jahr später hat ein Reporter die Paralympics in Vancouver in „Bentelympics“ umbenannt. Denn dort hat sie
fünf Goldmedaillen abgeräumt.
Heute arbeitet Verena Bentele auch
als systemischer Coach und geht
in Schulklassen, um benachteiligte Jugendliche zu motivieren und Zukunftsperspektiven mit ihnen zu erarbeiten.
Wenn dann eine 16-Jährige über
schreckliche Kopfschmerzen klagt,
weil es so warm ist, „dann denke ich
mir schon mal: Können die sich nicht
zusammenreißen?“ Meistens erzählt
Verena Bentele dann, wie sie es an dem
Tag geschafft hat, in die Schule zu finden, welche Verkehrsmittel sie benutzt,
wie viel Zeit sie dazu gebraucht und
welche Schwierigkeiten sie überwunden hat. „Aber ich weiß auch, dass
diese Jugendlichen es schwer haben.
Auch, weil ihre Eltern ihnen nicht gesagt haben, dass sie etwas können und
gut machen. In solchen Momenten versuche ich dann, auf dem aufzubauen,
was die Jugendlichen schon erreicht
haben – statt ihnen nur vorzuhalten,
was sie alles nicht können.“ So wie Benteles Eltern sie selbst motiviert haben,
ihre Talente zu nutzen und Grenzen
zu verschieben.Brigitte Strauß-Richters