Prof. Dr. Christoph Dinkel Strategisch evangelisch?! Vortrag vor der Jahreskonferenz 2015 der landeskirchlichen Bildungseinrichtungen Herrenberg, 18. März 2015 Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren! Ganz herzlich danke ich für die Einladung zu Ihrer Konferenz! „Strategisch evangelisch?!“ soll der Titel meines Vortrags heißen, so haben Sie sich das gewünscht. Markiert ist der Titel mit einem Frage- und einem Ausrufezeichen. Ich lese daraus zum einen die Frage: Gibt es das überhaupt, eine evangelische Strategie? Und ich lese daraus zum anderen die Feststellung: Klar braucht eine evangelische Kirche auch eine evangelische Strategie, was denn sonst! Zweifel und Mut lese ich also aus dieser Aufgabenstellung. Erwarten Sie bitte nicht, dass ich durch meinen Vortrag alle Zweifel zerstreue. Und ob ich Ihnen Mut machen kann für Ihre Arbeit, kann ich so rundheraus auch nicht versprechen. Eher geht es mir um eine Klärung und vielleicht erwächst daraus ja eine entspannte Zuversicht. Mein 1. Punkt: 1. Marginalisierungssorgen Seit Ende des 18. Jahrhunderts wird die evangelische Kirche von Marginalisierungssorgen geplagt. Der von den Umbrüchen der Aufklärung ausgelöste gesellschaftliche und wissenschaftliche Modernisierungsschub ist bis heute nicht gut verarbeitet. Schon in seinen Reden „Über die Religion“ aus dem Jahr 1799 konstatiert Friedrich Schleiermacher, dass sich insbesondere die gebildeten Kreise ihr Leben ohne Religion eingerichtet haben. „Es ist Euch gelungen,“ schreibt Schleiermacher an die Religionsverächter seiner Zeit, „das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an dasjenige zu denken, welches Euch schuf.“1 Schleiermacher motiviert diese Marginalisierungserfahrung dazu, ein Konzept für ein erneuertes und durch die Krise der Aufklärung hindurchgegangenes Christentum zu entwickeln. Konkret sucht er nach einem Modell für ein den modernen Bedingungen angepasstes Kirchenwesen. Er entwirft ein Kirchenreformprogramm und fordert ein Ende des 1 Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Ve rächtern, 1. Aufl., Berlin 1799, in: Ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, KGA I, 2, (Hg.) Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185-326, hier: 189. 1 landesherrlichen Kirchenregiments sowie die Etablierung einer demokratisch, „von unten“ aufgebauten Kirche. Diese soll sich allein nach ihren eigenen, protestantischen Prinzipien selbst steuern. Er verlangt eine Überwindung der innerprotestantischen Spaltungen sowie eine bessere Ausbildung und eine angemessenere Bezahlung der Geistlichen.2 Zweihundert Jahre später sind die Forderungen Schleiermachers weitgehend umgesetzt. Lutheraner und Reformierte sind unter dem Leuenberger Dach und in der EKD vereint. Die evangelische Kirche ist demokratisch verfasst. Sie steuert sich selbst nach protestantischen Prinzipien. Finanziell geht es ihr so gut wie lange nicht. Und dennoch herrscht in der evangelischen Kirche erneut die Angst vor Marginalisierung. Und wieder regt die Marginalisierungsangst zu Kirchenreformbemühungen an. In einer Vergleichsstudie zu den Reformprozessen der vergangenen Jahre in den drei Landeskirchen Mitteldeutschland, Nordelbien – jetzt Nordkirche – und Württemberg kommt Stefanie Brauer-Noss zu folgendem Resümee: „Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit ist der stärkste [Reform-]Motor in allen drei Landeskirchen.“3 Obwohl die Lage in Württemberg als vergleichsweise am besten eingeschätzt wird, konstatiert Brauer-Noss mit leichter Verwunderung: „Vor allem in Württemberg ist die Angst groß, an Bedeutung zu verlieren.“4 Die Gründe für die Angst der Kirchenleitenden sind bekannt: Der demographische Wandel lässt einen erheblichen Mitgliederschwund erwarten. Verschärfend wirkt, dass man Mühe hat, die Jugend unter den Kirchenmitgliedern zu erreichen. Dazu kommen verschieden motivierte Kirchenaustrittswellen, denen man sich hilflos ausgesetzt fühlt. Die Konkurrenz auf dem religiösen Markt nimmt zu. Vertreter des Islam oder der Humanisten beanspruchen ebenfalls gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Im Ergebnis all dieser Entwicklungen haben viele Kirchenleitende in der evangelischen Kirche Angst vor Marginalisierung. 2. Religiöse Indifferenz Wenig Trost bietet da die fünfte Mitgliederbefragung der evangelischen Kirche, von der erste Ergebnisse vorliegen.5 Insbesondere die von Gerhard Wegner und Detlef Pollack in der KMU 2 Vgl. Christoph Dinkel, Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, SchlAr 17, Berlin/New York 1996, 9-15.95. 3 Stefanie Brauer-Noss, Reformprozesse der Evangelischen Landeskirchen in Mitteldeutschland, Nordelbien und Württemberg im Vergleich, unveröffentlichtes Manuskript, 9. 4 Ebd. 5 Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, abgekürzt: KMU. 2 vertretene Indifferenzthese ist geeignet, den Ängsten weiter Nahrung zu geben. Nach der Indifferenzthese spaltet sich die Gesellschaft tendenziell in solche, die religiös besonders engagiert sind und solche, denen Religion komplett gleichgültig ist, die also religiös indifferent sind. Pollack stellt fest: „Religiöse Indifferenz ist ein wichtigerer Austrittsgrund als Unzufriedenheit mit der Kirche oder die Kritik an ihr. Der Aussage „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich in meinem Leben keine Religion brauche“, „weil ich mit dem Glauben nichts mehr anfangen kann“, „weil mir die Kirche gleichgültig ist“, stimmt eine klare Mehrheit der Ausgetretenen zu.“6 Weiter führt er aus: „Fast drei Viertel der Konfessionslosen sehen ihre religiöse Haltung zutreffend wiedergegeben, wann man sagt: „Ich habe nichts gegen Religion, sie ist mir einfach egal.““7 Bemerkenswert ist wie sich die Situation der von Schleiermacher im Jahr 1799 beschriebenen ähnelt. Immerhin hat aber zugleich mit der Zunahme des Anteils der religiös Indifferenten auch der Anteil der mit der Kirche Hochverbundenen zugenommen. Die früher einmal breite Mitte der mäßig auf Religion Ansprechbaren schrumpft. Als Ursache dieser Entwicklung wird der gesellschaftliche Megatrend der Säkularisierung angesehen. Stand die Religion einst mit an der Spitze der vormodernen, stratifizierten Gesellschaft, so wird im Zuge der Entwicklung der modernen Gesellschaft die Religion zu einem Funktionssystem neben anderen. Sie reiht sich ein neben die Systeme Macht, Recht, Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Kunst. Der Einfluss der Kirche geht zurück, die „soziale Signifikanz von Religion“ wird schwächer.8 Es kommt zu einer „Relevanzdiffusion“ des Religiösen (KMU 19). In der Folge wird die Kirchenmitgliedschaft für die gesellschaftliche Teilhabe immer unwichtiger. War es in den 70er Jahren für einen Handwerker im Blick auf kirchliche Aufträge oder Kundschaft undenkbar aus der Kirche auszutreten, so bleibt heute ein Austritt meist folgenlos. In hohen politischen Ämtern sind Kirchenmitglieder zwar noch überrepräsentiert, aber zunehmend sind auch höchste Staatsämter ohne Kirchenmitgliedschaft erreichbar. Die Wiedervereinigung hat diesen Trend noch einmal deutlich verstärkt. 6 Detlev Pollack, Zur Differenz und zum Zusammenhang von Kirchlichkeit und Religiosität, unveröffentlichtes Manuskript, erscheint in: Evangelische Theologie 2015, Seite nzahlen noch nicht bekannt. Zum zitierten Satz wird folgende Anmerkung von Pollack notiert: „In der Broschüre ‚Engagement und Indifferenz: Kirchenmitgliedschaft als soz iale Praxis‘ (hg. von der EKD) ist die Skalierung auf S. 81 verrutscht. Alle angegebenen Mittelwerte sind um einen Skalenpunkt zu hoch angegeben. Ärger über den Pastor als Austrittsgrund liegt also nicht bei einem Mittelwert von etwa 4,3, sondern bei 3,3. Damit wird Ärger über den Pastor als Austrittsgrund mehrheitlich abgelehnt. So richtig auf S. 91 der Broschüre.“ 7 Pollack, Zur Differenz. 8 Pollack, Zur Differenz. 3 Zusätzlich zu diesem Trend der Säkularisierung hat sich das Religionssystem intern stark pluralisiert. Die ehemals konfessionell geschlossenen Gebiete sind Geschichte. War Stuttgart bis zur Zeit Napoleons eine rein evangelische Stadt, so lag der Anteil 1950 bei 71 %. Im Jahr 2011 lag er bei knapp 29 %, katholisch sind in Stuttgart 25 % der Bevölkerung. Der Anteil jener, die ohne oder mit anderer Religion oder Konfession sind, beträgt 46 %.9 Der „religiöse Markt“ ist plural geworden. Freikirchen, Buddhisten, Muslime und Humanisten sind präsent und machen das Feld unübersichtlicher oder – je nach Geschmack – auch bunter. Die ehemals enge Koppelung kirchlicher Institutionen mit staatlichen und kommunalen Einrichtungen besteht zwar weiter. Aber sie ist weniger selbstverständlich als früher. Der konfessionelle Charakter kirchlicher Kindergärten wird teilweise kritisch betrachtet. Wo die Mehrzahl der Kindergartenkinder muslimischen Glaubens ist, nimmt die Plausibilität einer christlichen Weihnachtsfeier in der Kita ab. Und zu Recht darf von Seiten der Städte und Gemeinden die Frage gestellt werden, ob nicht andere Träger als christliche bei mehrheitlich muslimischen Kindern die bessere Option sind. Die für die Kirche angenehme Seite der Indifferenzthese ist, dass wer heute Mitglied der evangelischen Kirche ist, es im Durchschnitt bewusster ist als früher. Eine Kirchenmitgliedschaft aus purer Konvention wird seltener. Die Zahl der hochverbundenen Mitglieder ist in den letzten zwanzig Jahren von 11 auf 15 Prozent gestiegen (KMU 85). Die Zahl derer, für die ein Kirchenaustritt nicht in Frage kommt, ist im selben Zeitraum von 55 auf 73 Prozent gestiegen (KMU 87). Das ist ein erfreuliches Ergebnis. Die Kirche hat zwar weniger Mitglieder, aber die sind dafür stärker identifiziert als in früheren Jahren. Und immerhin kann man feststellen, dass die für die Kirche schlimmsten Säkularisierungsprognosen keinesfalls eingetroffen sind. Die von Kommunisten, Humanisten und anderen gehegte Erwartung, das Christentum oder die Religion überhaupt werde im Zug der Modernisierung aussterben, hat sich in keiner Weise bewahrheitet. Religionen sind nach wie vor mächtige gesellschaftliche Faktoren – und daran wird sich auch in der Zukunft nichts ändern. Für die Frage einer evangelischen Strategie ist jedoch ein anderer Befund entscheidend: Säkularisierung ist ein gesellschaftlicher Megatrend. Er lässt sich durch kirchliches Handeln prak- 9 Zahlen aus: http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Stuttgart_Bevoelkerung_ 1950_2011.pdf 4 tisch nicht beeinflussen. Auf Säkularisierungstendenzen kann sich die Kirche nur einstellen, sie kann sie nicht umkehren. „Wachsen gegen den Trend“ wie es das Reformpapier „Kirche der Freiheit“ propagierte, ist ein illusionäres Unterfangen. Das haben die meisten inzwischen gemerkt. Welche gesellschaftliche Rolle die Religion einnimmt, klärt sich durch evolutionäre Prozesse. Im Blick auf die Gesellschaft und ihre Megatrends gibt es keinen Raum für Planung oder Strategien. 3. Distanzierte Kirchlichkeit Die von Wegner und Pollack in der KMU vertretene Säkularisierungs- und Indifferenzthese wird nicht von allen geteilt. Energischen Widerspruch hat u.a. Georg Raatz 10 im Deutschen Pfarrerblatt eingelegt. Raatz vertritt die sogenannte Individualisierungsthese, nach der die Religion in der Moderne nicht schrumpft, sondern nur andere Formen annimmt. Religion sei deshalb auch außerhalb der Kirche anzutreffen und die Kirche müsse versuchen, besser als bislang diese Religiosität zu berücksichtigen. Raatz plädiert für eine liberalere kirchliche Theologie und meint damit die Volkskirche im Anschluss an Volker Drehsen religionsfähiger machen zu können. Die Debatte kann hier im Einzelnen nicht geführt werden, aus meiner Sicht unterschätzt Raatz jedoch den gesellschaftlichen Megatrend der Säkularisierung und er überschätzt den Charme der liberalen Theologie und die Reichweite der kirchlichen Handlungsmöglichkeiten. Auch der künftig in Tübingen lehrende Praktische Theologe Gerald Kretzschmar nimmt die Indifferenzthese der 5. KMU kritisch in den Blick. Das Phänomen der distanzierten Kirchlichkeit hält er in der KMU für nicht ausreichend gewürdigt.11 Zu viel werde auf die Extreme geschaut, dabei sei doch die mitteltemperierte Kirchenmitgliedschaft weiterhin der Normalfall. Kretzschmar sieht Differenzierungsbedarf, weil Distanz nicht mit Indifferenz verwechselt werden dürfe. Schon früher hat Kretzschmar darauf verwiesen, dass auch unter den der Kirche hochverbundenen Mitgliedern nicht alle an den kirchlichen Veranstaltungen partizipieren möchten. Ein Merkmal der modernen Gesellschaft sei es, dass Kommunikation häufig mediatisiert, also mittelbar, mit geringer wechselseitiger Rückkopplung, anonym, distanziert, hoch- 10 Georg Raatz, Zwischen Entdifferenzierung und Selbstimmunisierung. Eine kritische Analyse der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, in: Deutsches Pfarrerblatt 10, 2014, 552-557 11 Gerald Kretzschmar, Im Schatten des Indifferenztheorems. Die Wahrnehmung distanzierter Kirchlichkeit durch die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, unveröffentlichtes Manuskript, erscheint in: Evangelische Theologie 2015. 5 gradig selektiv und von den Individuen sehr gezielt gesteuert erfolgt.12 Die Distanz als Grundmodus der Kommunikation sei geradezu die Voraussetzung für den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft mit den häufig unvereinbaren Interessen ihrer Mitglieder.13 Auch für die Kirche sei der Grundmodus der Distanz prägend. Die meisten Kirchenmitglieder schalten nur zeitweilig und nur bei bestimmten Themen von Distanz auf Nähe: Der typische Fall dafür sind die Kasualien oder der Weihnachtsgottesdienst. Kretschmars These lautet: „Die Kirchenbindungsformen, die unter der Chiffre distanzierte Kirchlichkeit subsumiert werden, sind der Normaltypus protestantischer Frömmigkeit und bilden die ökonomische wie auch die geistige Basis des gegenwärtigen kirchlichen Lebens.“14 Ergänzend stellt Kretzschmar fest: „Die Gestalter der Kirchenbindung sind die Mitglieder“15. Damit wird die Kirchenbindung „von Faktoren bestimmt, die sich kirchlicher Beeinflussbarkeit weitgehend entziehen.“16 Nicht nur die Säkularisierung, auch die Kirchenbindung lässt sich demnach durch kirchliche Strategien kaum steuern. 4. Protestantisches und katholisches Kirchenverständnis Fragt man den eingangs schon beanspruchten Friedrich Schleiermacher, was den Kern der protestantischen Lehre ausmache, so nennt er zum einen die reformatorische Rechtfertigungslehre und zum anderen das allgemeine Priestertum. Beides zusammen bildet die differentia specifica der evangelischen Kirche gegenüber der katholischen. Bei der Rechtfertigungslehre gab es Ende der 90er Jahre gewisse Annäherungen und Verständigungen. Doch beim allgemeinen Priestertum bleiben die Differenzen bis heute unüberbrückbar. Die katholische Kirche kennt zwar auch ein allgemeines Priestertum. Es ist aber dem Weihepriestertum gerade entgegengesetzt, während im Protestantismus auch das Amt der ordinierten Geistlichen nur eine Spezialform des allgemeinen Priestertums darstellt. Außenstehenden ist dieser Unterschied nicht leicht zu vermitteln, die Konsequenzen für das Amts- und Kirchenverständnis sind aber weitreichend. Die Katholische Kirche sieht im Zentrum der Kirche den Papst und die Kardinäle als Nachfolger Jesu und des Apostelkreises. Um diesen engsten Kreis lagert sich immer weitere Krei12 Vgl. Geralde Kretzschmar, Mitgliederorientierung und Kirchenreform. Die Empirie der Kirchenbindung als Orientierungsgröße für kirchliche Strukturreform, in: Pastoralthe ologie 101/4 (2012), 152-168, hier 158. 13 Ebd. 14 Kretzschmar, Im Schatten des Indifferenztheorems. 15 Kretzschmar, Mitgliederorientierung und Kirchenreform, 160 16 Ebd. 6 se, die ihr Kirchesein vom engeren Kreis ableiten. Der nächste Kreis ist der Kreis der Bischöfe, darum herum ist der Kreis der Priester und Ordensleute. Außen um diesen Kreis lagert sich schließlich das Gottesvolk. Das Modell spiegelt sich in der klaren Hierarchie der katholischen Kirche. Diejenigen im engsten Kreis stehen der Tradition der Apostel am nächsten. Ihre Auslegung ist maßgeblich für alle anderen. Die Ämterweitergabe ist klar an das direkte und persönliche Vertrauensverhältnis gebunden, ausgedrückt im Institut der apostolischen Sukzession und in der Gehorsamspflicht des Priesters gegenüber dem Bischof. Man mag dieses Modell mögen oder nicht – es hat sich jedenfalls als enorm stabil erwiesen. Die katholische Kirche ist die älteste kontinuierlich bestehende Institution überhaupt auf der Erde. Sie hat den größten Mitgliederbestand und vermutlich wird es sie auch noch in 500 Jahren geben. Ob man letzteres auch von der württembergischen Landeskirche so leichthin behaupten könnte? Die evangelische Kirche verfolgt ein ganz anderes Kirchenmodell. Entscheidend dafür ist die Formulierung Philip Melanchthons in CA VII: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.17 Die Kirche ist eine Versammlung der Gläubigen, in der das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente evangeliumsgemäß verwaltet werden. Ergänzend wird festgehalten, dass für die wahre Einheit der Kirche nicht mehr erforderlich ist als diese beiden Punkte, dass alle anderen Regelungen in der Kirche also frei verhandelbar sind. Insbesondere sei keine einheitliche Kirchenorganisation erforderlich.18 Aus reformatorischer Sicht entsteht damit Kirche überall dort, wo das Evangelium richtig gelehrt wird, ganz unabhängig von Sukzession und institutionellen Zusammenhängen. Kirche kann jederzeit und überall neu entstehen mit aller Autorität, Kirche Jesus Christi zu sein. Auf bemerkenswerte Weise geschieht das derzeit in China, wo täglich neue Hausgemeinden entstehen. Sie kommen ganz ohne personale oder liturgische Sukzession aus und sind doch aus reformatorischer Sicht Kirche mit vollem Recht und mit aller Autorität. Zum Protestantismus gehören große personelle, institutionelle und liturgische Freiheiten. Was dem Protestantismus an Stabilität durch eine mächtige Tradition fehlt, kann er durch seine enorme Spontaneität und Lebendigkeit wettmachen – jedenfalls war es in der Vergangenheit so und ist es derzeit in weiten Teilen der Welt immer noch. In Deutschland haben sich in fast 500 Jahren evangelischer Kirche nun aber doch eine ganze Menge an Traditionen gebildet. Die evangelische Kirche ist längst eine mächtige Institution mit gut etablierten Strukturen. Sie 17 18 CA VII, BSLK 61. Vgl. CA VII, BSLK 61. Vgl. auch: Rössler, Dietrich: Der Kirchenbegriff der Praktischen Theologie. Anmerkungen zu CA VII, in: Kirche, FS Günther Bornkamm, (Hg.) Dieter Lührmann; Georg Strecker, Tübingen 1980, 465-470. 7 ist eine moderne Organisation, ist vernetzt mit anderen Organisationen und wie all diese anderen Organisationen stellt sich auch die Kirche die Frage nach der richtigen Strategie: Strategisch evangelisch?! 5. Die Organisation des Unorganisierbaren Die Überschrift zu diesem Abschnitt verdanke ich einem Aufsatz des Münchner Soziologen Armin Nassehi.19 Im Anschluss an Niklas Luhmann hält er Religion für ein essentielles, nicht ersetzbares Funktionssystem der modernen Gesellschaft. Er schreibt: „Auf Religiöses wird offensichtlich Bezug genommen, wenn so etwas wie ein Gesamtzusammenhang in den Blick gerät.“20 Religiöse Kommunikation in diesem Sinne ist in der Gesellschaft konkurrenzlos und empirisch erwiesen anschlussfähig.21 Es wird also immer Religion geben, allerdings bleibt offen, welche Organisationsgestalt Religion haben wird. Sie muss nicht evangelischlandeskirchlich sein. Kirchen als Organisationen bieten „Zonen dichter gekoppelter Kommunikation“22 an. Damit sorgen sie dafür, ich zitiere Nassehi, „dass religiöse Inhalte, Traditionen und Sinngehalte in einer systematischen, wiederholbaren, ritualisierbaren, auch domestizierbaren Form möglich sind.“23 Religion, das wird an Nassehis Formulierung deutlich, hat immer wilde Züge mit dem Potential zur Grenzüberschreitung. Wir sehen es an den Aktionen des IS. Wenn man so etwas nicht will, dann bedarf es einer gut funktionierenden Organisation, die nicht zuletzt auch für eine Abstimmung der Religion mit anderen Funktionssystemen der Gesellschaft sorgt. Das zentrale Paradox einer kirchlichen Organisation ist nach Nassehi, „dass Glaubensinhalte, ihr Tradierung, ihre Bereitstellung für kollektives Erleben von Organisationsentscheidungen abhängig ist, dass das Glaubenserleben“24 aber im Grunde unorganisierbar ist. Die Kirche als Organisation muss also das Unorganisierbare organisieren.25 Das worauf es ankäme, ist dem Zugriff entzogen. Beeinflussen lassen sich nur die äußeren Umstände. Auch eine echte Evaluation der Arbeit der Kirchenorganisation ist kaum möglich, jedenfalls dann nicht, wenn man 19 Armin Nassehi, Die Organisation des Unorganisierbaren. Warum sich Kirche so leicht, religiöse Praxis aber so schwer verändern lässt, in: Isolde Karle (Hg.), Kirchenreforn. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009, 199-218. 20 A.a.O., 204. 21 Vgl. ebd. 22 Ebd. 23 A.a.O. 205. 24 A.a.O, 208. 25 A.a.O., 208. 8 die Menge religiöser Kommunikation messen wollte, von einer Messung des Glaubens ganz zu schweigen. Die Weisheit der Kirchenorganisation liegt nach Nassehi darin, „das NichtOrganisierbare nach eigenen Regeln geschehen zu lassen.“26 Sie sollte für „den Rahmen und die ökologischen Nischen“27 sorgen, in denen Religion sich ereignen kann. Tatsächlich ereignet sich die größte Menge religiöser Kommunikation gerade nicht im kirchlichen Kontext. Die Familie ist der eigentlich Ort, an dem Religion virulent wird. Dort finden die entscheidenden Prägungen statt.28 (KMU 27: Austausch über Sinn des Lebens: 79% Ehepartner, 58% Freunde, 53% Familie, 21% andere Gemeindeglieder, 21% kirchliche Mitarbeiter.) Die Kirche kann über Gottesdienste, Religions- und Konfirmandenunterricht, über Jugendarbeit und musikalische Angebote zwar zur Religionsformung Beiträge leisten, aber sie muss wissen, dass sehr viel Relevantes außerhalb ihrer Zugriffsmöglichkeiten geschieht. Für die evangelische Kirche ist dieser Befund keineswegs bedrohlich. Martin Luther hat schon immer auf die Hausmütter und Hausväter und auf die Schulen gesetzt, wenn es um religiöse Bildung geht. Die Kirche als Heilsvermittlungsinstanz ist aus protestantischer Sicht entbehrlich. Die Aufgabe der Kirche ist allein auf die Organisation der religiösen Kommunikation ausgerichtet. Auf diese Grundaufgabe muss alles, was in der evangelischen Kirche als Organisation geschieht, zurückzuführen sein. Die kirchliche Organisation muss damit leben, dass sie nicht selbst religiös kommuniziert, sondern nur die religiöse Kommunikation anderer ermöglicht. Der religiöse Charakter der Kirche wird also vor allem daran sichtbar, was sie organisiert: die Kommunikation des Evangeliums. Aus dem Prinzip des allgemeinen Priestertums folgen einige weitere Vorgaben für die Organisation: Sie muss demokratischen Ansprüchen genügen, sie muss hinreichend transparent sein, genügend Partizipationsmöglichkeiten bieten und die Glaubensfreiheit aller Kirchenglieder respektieren. Ansonsten gelten für die Kirche als Organisation die gleichen Qualitätskriterien wie für jede Organisation. Sie sollte effektiv und geräuscharm ihre Arbeit tun. 26 A.a.O., 216. A.a.O., 217. 28 Vgl. KMU 27: Austausch über Sinn des Lebens: 79% Ehepartner, 58% Freunde, 53% Familie, 21% andere Gemeindeglieder, 21% kirchliche Mitarbeiter. 27 9 Folgt man Friedrich Schleiermacher so hat die ganze christliche Kirche eine, so formuliert er es in seiner Sittenlehre, „demokratische Tendenz“29. Konkret bedeutet das für ihn, dass die Kirchenleitung von Anfang an berücksichtigen muss, dass sie nur das anordnen kann, was auch Akzeptanz finden wird. Schleiermacher fasst diese Erkenntnis lapidar so zusammen: „Es ist also auch gar nicht so schwer die Kirche zu regieren, wenn man nur nicht zu viel regieren will“30. Allzu rigide Vorgaben werden ohnedies nicht befolgt. Man sollte sie sich daher gleich sparen, um unnötige Unruhe und Verwerfungen zu vermeiden. Schleiermacher hatte bei diesen Gedanken die Auseinandersetzungen um die preußische Agende vor Augen. Rebellische Geistliche, zu denen Schleiermacher selbst gehörte, hatten die kirchenleitenden Vorgaben schlicht ignoriert und die Legitimität der Vorgaben in Frage gestellt. Ein solch rigides, landesherrliches Regiment wie zu Schleiermachers Zeit gibt es nun in Württemberg Gott sei Dank nicht mehr. Aber mit dem Rebellentum der Basis muss auch die Württembergische Kirchenleitung rechnen, sei es fundamentalistischer, antiinstitutioneller oder liberaler Natur. Rebellentum gehört wesentlich zur Religion, so lange eine religiöse Tradition wirklich lebendig ist. Strategisch evangelisch heißt aus dieser Perspektive: Mit dem Rebellentum der Basis rechnen und leben lernen. 6. Pfarrberuf Die allermeiste religiöse Kommunikation findet in Familien statt. Diese Kommunikation entzieht sich der kirchlichen Steuerung – und das ist ja auch gut so. Gewisse Steuerungsmöglichkeiten hat die Kirchenleitung jedoch bei den von kirchlichen Mitarbeitern ausgehenden Kommunikationsprozessen. Die wichtigste Mitarbeitergruppe sind dabei die Pfarrerinnen und Pfarrer, denn der Pfarrberuf ist der kirchliche Schlüsselberuf. Die Position der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Kirche wurde lange Zeit eher geschwächt: Es gab zu viele von ihnen und sie erschienen als zu teuer. Zudem wurde das Prinzip des allgemeinen Priestertums häufig pfarrerkritisch interpretiert. Man tat deshalb viel, um den Anschein einer Pastorenkirche zurückzudrängen. Isolde Karle hat mit ihrer Studie „Der Pfarrberuf als Profession“31 im Jahr 29 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Dr. Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. L. J onas, SW I, 12 (1843), 2. Aufl., Berlin 1884, Beil. A, § 77, 25. 30 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, (Hg.) Jacob Frerichs, SW I, 13, Berlin 1850, Nachdruck Berlin/New York 1983, 636. 31 Isolde Karle, Der Pfarrberuf als Profession, 3. Aufl., Gütersloh 2011. 10 2001 einen deutlichen Gegenimpuls gesetzt und die These vom Pfarrberuf als kirchlichem Schlüsselberuf stark gemacht. Die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat Karles These empirisch bestätigt und untermauert.32 Pastorinnen und Pastoren stehen für das religiöse Profil der Kirche, sie sind ihr Gesicht.33 Bei ihnen laufen die Fäden in der Gemeinde zusammen. Ihre öffentlichen Aufritte sind wichtige Signale für die Präsenz der Kirche in der Stadt oder im Dorf. (Ein interessantes Ergebnis: weniger die Seelsorgegespräche zählen, eher die öffentlichen Auftritte und das Erleben bei Kasualien.) Wer die Pfarrerin oder den Pfarrer auch nur lose kennt, wird kaum aus der Kirche austreten. Ein Blick in die Gemeinden zeigt überdies: Zu starken Pfarrerinnen gehören meist auch starke Teams von Ehrenamtlichen und kirchlichen Mitarbeitern. Von starken Pfarrern profitieren auch alle anderen, die in der Kirche aktiv sind: Kirchenmusikerinnen, Diakoninnen, Fachleute für Verwaltung. Es handelt sich nicht um ein Nullsummenspiel: Was die einen mehr haben, haben die anderen weniger. Vielmehr gewinnen oder verlieren alle zusammen. Was heißt das für die Strategie einer evangelischen Kirche? Gerald Kretzschmar stellt am Ende einer Studie zu „Mitgliederorientierung und Kirchenreform“ fest: „Wo kirchliche Strukturreformen auf die Gewährleistung einer starken Position der Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer zielen, wird man sowohl in Bezug auf die Empirie der Kirchenbindung als auch in Bezug auf den Auftrag der Kirche nichts falsch machen.“34 – Sie merken, Kretzschmar vermeidet konkrete Festlegungen. Die Wissenschaft tut sich schwer mit allzu detaillierter Beratung. Für strategische Entscheidungen bedarf es einer Fülle von Spezialkenntnissen, die nur an der zuständigen Entscheidungsposition wirklich vorhanden sind. Auch ich werde im Folgenden daher nicht allzuweit ins Detail gehen. Folgendes aber meine ich sagen zu können: Die Kirche sollte bei der Gewinnung von Pfarrernachwuchs versuchen, die besten Leute zu bekommen. Das darf sie sich auch etwas kosten lassen, was die Gehälter von Anfängerinnen und Anfänger betrifft, aber auch, was den Aufwand für Aus- und Fortbildung angeht. Auch in Zeiten des Pfarrermangels sollte die Kirche nicht jeden nehmen, der sich selbst für glaubensvoll und berufen hält. Die Ablehnung eines Kandidaten empfindet der Kandidat vermutlich als persönliche Katastrophe, aber ungleich schwerer wiegen die Schäden, die schlechte Pfar32 Vgl. auch zu den folgenden Überlegungen: Isolde Karle, Kirche im Reformstress, 2. Aufl., Gütersloh 2010. 33 Vgl. KMU 32f, 43, 96ff. Nennungen, an wen man bei evang. Kirche denkt: 20 % Pfarrer, 4 % andere. Faktor 5:1. 34 Kretzschmar, Mitgliederorientierung und Kirchenreform, 167f. 11 rerinnen und Pfarrer über Jahrzehnte Gemeinden und Kollegen zufügen. In Zeiten des Pfarrermangels sollte man auch nicht die Qualifikationskriterien für den Pfarrberuf senken oder vermehrt auf Geistliche setzen, die über den zweiten Bildungsweg herangezogen werden. Das akademische Studium für evangelische Geistliche ist unerlässlich, wenn die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit auch in Zukunft als Gesprächspartner auf Augenhöhe wahrgenommen werden will. Für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe setzt der Staat die akademische Ausbildung zwingend voraus. Aber meiner Erfahrung nach profitiert man auch schon im Konfirmandenunterricht massiv von einem akademischen Theologiestudium. Die Ansprüche, die an Pfarrerinnen und Pfarrer heute gestellt werden, steigen eher als dass sie sinken. Man merkt das bei den Erwartungen an die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde, man merkt das aber auch bei den Erwartungen an die Kasualien. Für die Vorbereitung einer Trauung genügten früher zwei Telefonate und ein einstündiges Gespräch mit dem Brautpaar. Heute kommt es oft zu zwei Gesprächsterminen und einem Dutzend Telefonaten, außerdem findet die Feier nicht selten in einer besonderen Hochzeitskirche statt, so dass Fahrzeiten dazukommen. Nicht so viel anders verhält es sich bei Taufen und Bestattungen. Moderne Individuen stellen Ansprüche auf sehr individuelle Begleitung. Und da Kasualien nach wie vor die Stützen der Kirchenmitgliedschaft sind, tut man als Pfarrerin gut daran, diesen Ansprüchen einigermaßen gerecht zu werden. Dabei kommt man keinesfalls nur überzogenen Individualitätsansprüchen entgegen. Vielmehr sind die Kasualien für die Kirchenmitgliedschaft deshalb von so hoher Bedeutung, weil hier das individuelle Leben mit der christlichen Botschaft ganz eng und meist sehr plausibel verbunden wird. Was bei der Sonntagspredigt keinesfalls immer gelingt – die Verknüpfung von Botschaft und Situation – gelingt bei den Kasualien in aller Regel gut. Kasualgottesdienste sollten daher auch als kirchliches Gottesdienstangebot sehr ernst genommen werden. Sie sind eine Chance erster Ordnung für die Verkündigung des Evangeliums. Wenn die Ansprüche und der zu treibende Aufwand steigen, stellt sich die Frage wie Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Arbeit zeitlich bewältigen sollen. Schon seit langem wird daher in Württemberg für den Pfarrberuf Konzentration auf die Kernaufgaben gefordert. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen von Verwaltungsaufgaben entlastet werden, um mehr Zeit für den geistlichen Teil ihrer Aufgaben zu bekommen. In einem gewissen Maß ist diese Entlastung von Verwaltungsaufgaben sinnvoll, nur so lässt sich den steigenden Anforderungen gerecht werden. Zudem erfordern eine ganze Reihe Aufgaben heute die Kompetenz von Experten: Perso12 nalangelegenheiten, Bausachen, Finanz- und Verwaltungswesen können auf Kirchenkreisoder Kirchenbezirksebene gut zentral organisiert werden. Anders ist die erforderliche Qualität kaum aufzubringen. Das heißt jedoch nicht, dass Pfarrerinnen und Pfarrer von diesen Aufgaben gänzlich entlastet werden dürften. Man kann auch als Geistlicher nicht den ganzen Tag geistlich kommunizieren. Es tut gut, auch die sehr irdischen Dinge der Verwaltung, des Bauens, des Personals mitbedenken und mitverantworten zu müssen. Das hilft zur Erdung und zur Konkretisierung des Evangeliums. 7. Gottesdienst Als ein Ergebnis der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung rückt der Gottesdienst als Zentrum des Gemeindelebens und als Kernveranstaltung der Kirche neu in den Focus. Detlev Pollack stellt fest: „Der Gottesdienst ist kirchensoziologisch das Schlüsselereignis des kirchlichen Handelns.“35 Er ist nicht nur Selbstvollzug der christlichen Kirche, er ist zugleich der entscheidende Treffpunkt für die große Mehrzahl der kirchlich identifizierten. Pollack führt aus: „Der Kreis derer, die sich in der Gemeinde engagieren, aber mit dem Gottesdienst nicht viel im Sinn haben, ist relativ klein. Von denen, die monatlich zur Kirche gehen, engagieren sich etwa drei Fünftel auch sonst in der Gemeinde; von denen die weniger am Gottesdienst teilnehmen, gerade einmal 5 %.“36 Lange Zeit setzte die Kirche auf alle möglichen anderen Veranstaltungen, in der Annahme, dass sie für die Kirchenmitglieder wichtiger sind als der Gottesdienst. Doch die Menschen haben ein klares Bewusstsein davon, dass der Gottesdienst der Mittelpunkt ist, um den sich alles dreht. Man wird sich, so schreibt Pollack, „von einer lieb gewordenen Vorstellung verabschieden müssen: dass dem Gottesdienst nur eine Nebenrolle zukommt und die gemeindliche Arbeit, das Ehrenamt, die Mitarbeit in kirchlichen Kreisen, in Bibel- und Gebetskreisen, Jugend- oder Gesprächsgruppen oder auch in Projektgruppen, die Mitwirkung in Chören oder Musikensembles usw. für viele weitaus entscheidender seien als der Gottesdienstbesuch.“37 Es kommt auf den Gottesdienst an38 – aber nicht auf jeden. Die landeskirchlichen Ordnungen sehen als Normalfall vor, dass an allen Sonn- und Feiertagen das volle Gottesdienstprogramm gefahren wird. Viel zu häufig finden daher Gottesdienste mit nur sehr wenigen Besuchern 35 Pollack, Zur Differenz. Pollack, Zur Differenz. 37 Pollack, Zur Differenz. 38 Vgl. Christoph Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des eva ngelischen Gottesdienstes, 2., durchges. Aufl., Gütersloh 2002 13 36 statt. Stellt man ihren Sinn in Frage, so folgt unmittelbar der Konter mit Matthäus 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Gewiss: Kleine Gottesdienste können ihren eigenen Charme haben – sind Gottesdienstgemeinden aber regelmäßig sehr klein, dann sollte gehandelt werden. Denn wo zwei oder drei versammelt sind, bedarf es keiner theologisch hochgerüsteten Pfarrerin und auch keines Kirchenmusikers und keiner Mesnerin. Mit der Zeit und der Kraft kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter muss sorgfältig umgegangen werden. Dauerhaft leere Gottesdienste zerstören den Glauben und die Motivation derer, die sie halten, und derer, die daran teilnehmen. Das Gottesdienstangebot der evangelischen Kirche sollte deshalb, so meine ich, ausgedünnt werden. Wo Gottesdienste an zweiten Feiertagen oder unbeliebten Feiertagen wie Buß- und Bettag schlecht besucht sind, müssen sie distrikts- oder bezirksweise gefeiert werden. Im Gegenzug können die gut besuchten Gottesdienste und Kasualgottesdienste sorgfältiger vorbereitet und aufwändiger inszeniert werden. Im Ergebnis dürfte die Zufriedenheit sowohl bei den Mitwirkenden als auch bei den Gottesdienstbesuchern zunehmen – und das wäre ein Gewinn gerade auch für die Verkündigung des Evangeliums. 8. Kinder- und Jugendarbeit Dass die Kinder- und Jugendarbeit von elementarer Bedeutung für die Zukunft der evangelischen Kirche ist, liegt auf der Hand. Detlef Pollack stellt fest: „wer als Kind nicht religiös sozialisiert worden ist, weist nur eine geringe Wahrscheinlichkeit auf, als Erwachsener zum Glauben zu finden und sich religiös zu öffnen. Das aber heißt zugleich auch, dass der Zusammenhang zwischen Familie und Kirche einer besonders sorgfältigen Beachtung bedarf.“39 Den evangelischen Kindergärten kommt hier eine besondere Bedeutung zu, aber auch dem Religions- und Konfirmandenunterricht. An diesen Punkten scheint mir die Kirche gut aufgestellt zu sein. Schwieriger verhält es sich meiner Beobachtung nach mit der Jugendarbeit. Die klassische evangelische Jugendarbeit funktioniert an manchen Orten wie ehedem –darüber kann man sich freuen. Andernorts ist sie völlig in sich zusammengebrochen und man tut sich schwer, etwas Neues an ihrer Stelle zu platzieren. Die Einführung von G8 hat hier eine ohnedies laufende Entwicklung beschleunigt. Man versucht es inzwischen damit, die Jugendarbeit an den Schulen anzudocken – aber ob dabei ein evangelisches Profil möglich ist, wird zu klären sein. Man setzt vermehrt auf Kinderchöre und die musikalische Arbeit in Kindergärten – und scheint damit Erfolg zu haben. In manchen Landeskirchen macht man gute Erfahrungen mit Jugendkirchen. Ob dieses Konzept in Württemberg funktionieren kann, wird sich zeigen. 39 Pollack, Zur Differenz. 14 Inzwischen liegt die Studie „Jugend zählt“ vor. Warten wir ab, ob sich daraus dann auch Antworten für eine Strategie für die evangelische Jugendarbeit ergeben werden. 9. Zentralisierung Wenn von Seiten der Kirchenleitung dazu aufgerufen wird, über eine Strategie für die evangelische Kirche nachzudenken, überrascht es nicht, dass im Ergebnis die zentralistischen Tendenzen gestärkt werden. Das ist angesichts der Entwicklungen unserer Gesellschaft in gewissem Umfang auch unvermeidlich. Zentralisierung kann Kräfte freisetzen, die an der Basis sinnvoll für die konkrete Arbeit mit Menschen eingesetzt werden können. Zentralisierung ermöglicht in manchen Bereichen eine höhere Qualität und eine bessere Sichtbarkeit der Arbeit. Bedenklich werden Zentralisierungstendenzen dann, wenn sie die Autonomie der Gemeinden und ihrer Pfarrerinnen und Pfarrer beeinträchtigen, wenn also von oben verordnet wird, was zu tun ist, und die Gemeinden zu Filialen der Gesamtkirche und die Pfarrer zu Filialleitern der Kirchenorganisation werden. Ich gestehe, dass ich die zentrale Ausstattung der Pfarrämter mit PCs für einen Schritt in diese Richtung halte. Allein die hohe Bedeutung des Datenschutzes rechtfertigt eine solche Maßnahme. Ansonsten halte ich das für einen massiven Eingriff in die Autonomie einer Körperschaft öffentlichen Rechts wie es die Gemeinden darstellen. Dem Zentralisierungsdruck darf also nur dort nachgegeben werden, wo es absolut unerlässlich ist. Die evangelische Kirche – Schleiermacher wird nicht müde das zu wiederholen – ist von unten aufgebaut. Sie verdankt sich der Kommunikation des Evangeliums an konkreten Orten. Allein von dort her bezieht die Kirchenorganisation ihre Existenzberechtigung. Das Prinzip der Subsidiarität und die interne Pluralität gehören damit zum Wesen protestantischer Kirchentümer. Den Bestrebungen der EKD, sich selbst zur Kirche zu erheben, muss daher deutlich und klar entgegengetreten werden. Die föderale Struktur des Protestantismus ist ein hohes Gut. Das Zentrum und die Spitze wissen keinesfalls alles besser oder sind strategisch kompetenter. Vielmehr hat gerade die Spitze spezifische Blindheiten, denn das Allermeiste, was in der Kirche geschieht, bekommt sie nie in den Blick. Fehler, die in einer föderal aufgestellten Kirche gemacht werden, schlagen auch nicht gleich für alle durch. Fehler sind in einer kleinteilig organisierten Kirche viel besser einzudämmen als in einer zentralistischen Organisation. Föderalismus ist fehlerfreundlich. 15 Vor allem aber sichert die dezentrale und plurale Struktur der evangelischen Kirche ihre finanzielle Basis. Die allermeisten, die Kirchensteuer zahlen, zahlen sie nicht für die Landeskirche oder gar die EKD. Sie zahlen sie für die Gemeinde vor Ort, für das Kirchengebäude in der Nähe, für die Kantorei, den Posaunenchor und die Jugendarbeit, für die diakonische Einrichtung, die Vesperkirche und den diakonischen Pflegedienst in der Nachbarschaft. Kirchensteuer zahlt man für die Pfarrerin, die sichtbar in der Gemeinde präsent ist, die erreichbar ist, wenn ein Kasus anliegt. Religion lebt von der Nähe, von konkreter Hilfe und von konkreten Orten, an denen die Seele erbaut und erhoben wird. Vertrauen wächst durch bekannte Gesichter und Menschen, die als Gesicht der Kirche bekannt sind. Nur auf der Basis dieses Vertrauens sind Menschen bereit, der Kirche ihr Geld zu geben. Gesteigerter Zentralismus widerspricht nicht nur dem Prinzip einer Kirche von unten und den allgemeinen Priestertum, gesteigerter Zentralismus würde auch die finanzielle Basis der Kirche zerstören. 10. Themen statt Selbstbeschäftigung Die Kirchenreform- und Strategiedebatten der letzten Jahre haben sehr viele Ressourcen an Zeit und Kraft verbraucht und gebunden. Die Debatten mögen unvermeidlich gewesen sein, besonders attraktiv machen sie die Kirche nicht. Strategisch evangelisch zu denken würde auch heißen, die Strategiedebatten kurz zu halten. Die Steuerungsmöglichkeiten sind, was das Große und Ganze angeht, ohnedies sehr begrenzt. Vor allem aber ist die kirchliche Bauchnabelschau in keiner Weise anziehend. Viel wichtiger wäre es, wenn die evangelische Kirche gezielt daran ginge, thematisch zu arbeiten, wenn sie versuchen würde, Menschen wieder vermehrt über ihre Botschaft, über ihre Themen und Anliegen zu erreichen. Die Sterbehilfedebatte war dafür schon einmal ein Anfang. Auch die Diskussion um den Umgang mit Flüchtlingen und Kirchenasyl ist in der Hinsicht wichtig. Die Frage nach der bewaffneten Sicherung des Friedens, der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, die Bedeutung von Kindern für eine Gesellschaft oder die ungelösten Probleme der Inklusion von Menschen mit Behinderten sind weitere Bereiche, in denen die evangelische Kirche Debatten anstoßen und führen kann, die für die ganze Gesellschaft relevant sind. Auch das Reformationsgedenken ist ein ertragreiches Thema. In der 5. KMU geben ganz viele an, besonders am Reformationstag in die Kirche zu gehen, obwohl am Reformationstag gar nicht so viele Gottesdienste stattfinden und die stattfindenden Gottesdienst nicht besonders gut besucht sind. Aber das Thema „Reformation“ überzeugt, da will man dabei sein, mit Reformation kann man sich identifizieren. 16 Auf die gefühlte Marginalisierung der Kirche reagiert man jedenfalls besser nicht mit vertiefter Bauchnabelschau und endlosen Strategiedebatten. Die Marginalisierung kontert man besser mit Themen, die für die Menschen relevant sind. Das also zum Schluss: Kümmern wir uns um die relevanten Themen! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Prof. Dr. Christoph Dinkel Pfarrer Gänsheidestraße 29 70184 Stuttgart Mail: [email protected] 17
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