Die Fünfte Freiheit. - Bedingungsloses Grundeinkommen

Die Fünfte Freiheit.
Der Kampf um das Letzte Freiheitsrecht in der Schweiz. Warum wir um das bedingungslose
Grundeinkommen nicht herumkommen werden. Eine historisch-soziologische Perspektive aus
Graubünden.
Von Gian L. Nicolay, Ardez (Dezember 2014)
Bedingungsloses Einkommen. Die Jahrhunderte alte Idee ist überreif geworden
Die Idee, dass alle Menschen innerhalb einer Gemeinschaft ein Anrecht auf ein würdiges Leben und
die nötige Sicherheit verfügen sollten, wurde erstmals in konkreter Form 1797 von Thomas Paine in
Form eines Pamphletes publiziert und für die britische Gesellschaft durchgerechnet (Paine 1797). Die
einsetzende Industrialisierung hatte bereits eine Armee von Armen geschaffen, und die daraus
resultierenden Ungerechtigkeiten standen in krassem Widerspruch zu den eben proklamierten
Rechten der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Bürgerrechte sowie die
Ideen von Solidarität und Freiheit waren zu anerkannten Werten der aufstrebenden bürgerlichen
Gesellschaft geworden. Zweihundert Jahre später taucht die Forderung nach einem bedingungslosen
Einkommen wieder auf, diesmal weltweit als Netzwerk (BIEN; mehr unter
http://www.basicincome.org/bien/) unter den verschärften Bedingungen aus ökologischen, sozialen,
politischen und kulturellen Krisen - also in einer Phase grosser Transformation.
Einkommen wird meist mit Wirtschaft und Erwerbsarbeit in Verbindung gebracht, denn es ist stets
Geld mit im Spiel, das gebräuchlichste Tauschmedium. Vor 200 Jahren war Geld noch knapp, und die
Subsistenzwirtschaft war die häufigste Form der häuslichen Reproduktion. Viele Menschen führten
ein bäuerliches Leben. Die grosse Mehrheit lebte auf dem Land, wo die Existenz auch ohne oder mit
wenig Geld machbar war. Heute ist dies anders. Die meisten Menschen leben in urbanen
Verhältnissen, und ohne Geld ist ein soziales und würdiges Leben selbst auf dem Land kaum mehr
möglich. Nebst der Erwerbsarbeit wird nach wie vor anderweitig gearbeitet, da der Mensch ja meist
in Familien-und Nachbarschaftsverhältnissen lebt, wo Tätigkeiten für die tägliche Reproduktion
(Haushalt, Gemeinschaft etc.) erforderlich sind und viele neue Möglichkeiten der Freizeitgesellschaft
dazugekommen sind. Dies zu betonen ist wichtig, da im modernen zeitgenössischen Sprachgebrauch
Arbeit meist mit Erwerbsarbeit gleichgestellt wird.
Die seit Thomas Paines Zeiten gewaltige Entwicklung der Industrie, angetrieben durch die
säkularisierte Wissenschaft und Technik, hat enorme Fortschritte bezüglich materiellen Wohlstands
als auch an Freiheiten gebracht. Armut ist insbesondere bis vor kurzem in Europa einschliesslich
Schweiz ein Randphänomen geworden, und wo die Individuen davon betroffen waren, hat der
Sozialstaat ausgeholfen. Dies dank dem kollektiv erarbeitetem Reichtum. Es ist lohnenswert, die
historische Entwicklung kurz anzuschauen, unter welchen sich die Menschen und ihre Gesellschaften
in Europa - einschliesslich der Schweiz - über die letzten Jahrhunderte Sicherheit, Freiheit und
Wohlstand geschaffen haben. Dies allein erlaubt es, die Neue Armut besser zu verstehen und
nachhaltige Konzepte und Modelle für die Zukunft zu entwickeln.
1
Die Errungenschaften der letzten 800 Jahre
Ab dem 13. Jahrhundert, also vor gut 800 Jahren, begannen sich in Mitteleuropa bürgerliche
politische Freiheiten gegenüber kirchlichen und feudalen Vorrechten durchzusetzen. Ausgehend von
Städten entwickelte sich eine neue Form von Zivilisation, welche auf Initiative, Kreativität,
Erfindungsgabe und Mobilität aufbaute. Das Mittelalter wird hier durch die Neuzeit abgelöst. Aber
auch auf dem Land wurden die Menschen politisch aktiv. Insbesondere im rhätischen Raum, dem
heutigen Graubünden, verband sich der Kleinadel mit den Bauern und bildete Bünde, um sich gegen
die fernen Herren und Mächte der umliegenden Städte zu behaupten (O.P. Clavadetscher 1967).
Daraus entstand über die Jahrhunderte ein Staatswesen, das als die demokratisch begründete
Eidgenossenschaft bekannt geworden ist und seit 1848 im modernen Bundestaat der Schweiz seine
noch heute gültige Form fand. Das Streben nach Freiheit und Sicherheit waren treibende Motive, und
die kleinen Gemeinschaften, insbesondere in Graubünden in Form der (52) Gemeinden, waren
wichtige Akteure. Der 30-jährige Krieg in Europa (1618-1648) führte zu Nationalstaaten, in welchen
die Bürger und Völker erstmals zivile Rechte beanspruchen konnten (u.a. Glaubensfreiheit,
Selbstbestimmung). Die Naturwissenschaften begannen dank ihrer zunehmenden Unabhängigkeit
von der Kirche in bahnbrechenden Entdeckungen neues Wissen zu generieren und dieses für
technologische Erfindungen fruchtbar machen. Die Reformation förderte weiter die Trennung von
Staat und Kirche und brachte einen neuen Schub an religiösen und kulturellen Freiheiten. Immer
mehr Menschen rsp. patri-lineare Familien, jedoch meist nur Bürger und Bauern, schafften den
sozialen und ökonomischen Aufstieg. Europa war immer noch arm, und wohl weniger als 5% der
Menschen waren beim Ausbruch der französischen Revolution (1789) wohlhabend. Die neue
Verfassung der Schweiz von 1848 sowie die darauffolgenden Jahrzehnte brachten mittels der
beschleunigten Industrialisierung und dem weiter wachsenden Handel grosse Fortschritte und
zunehmenden Wohlstand für immer grössere Schichten der Gesellschaft. Kulturelle, soziale und
politische Rechte1 wurden über kollektive Kämpfe und neu geschaffene Institutionen der
Zivilgesellschaft errungen. Im letzten Jahrhundert bekamen endlich auch die Frauen in der Schweiz
das Stimm- und Wahlrecht (1972). Im Jahre 1991 unterzeichnete die Schweiz den Internationalen
Pakt über die wirtschaftlichen sozialen und kulturellen Rechte (wsk-Rechte), welcher 1966 auf
internationaler Ebene verabschiedet worden war.
Immer mehr übernahmen Maschinen und Roboter die Handarbeit der Arbeiter, die Wirtschaft
differenzierte sich zu einem höchst komplexen Gebilde und schuf immer mehr Reichtum. Die
Interdependenzen zwischen Staaten wuchsen, ebenso differenzierten sich die funktionalen Systeme
wie Recht, Bildung, Medien, Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft immer mehr aus,
um nur einige hier zentrale Sphären zu nennen, und konstituierten neu die Weltgesellschaft.
Schwellenländer konnten günstiger produzieren als die klassischen Industrieländer2. Am Ende des 20.
Jahrhunderts dominierte der Dienstleistungssektor die Schweizer Wirtschaft. Weniger als 3% der
Bevölkerung sind noch in der Landwirtschaft tätig, und das bäuerliche Leben ist in der Schweiz
faktisch verschwunden3. Widersprüche mit den aus der Kolonisierung in die Unabhängigkeit
entlassenen Staaten des Globalen Südens4 wurden immer sichtbarer, ebenso die durch die
Industrialisierung angerichteten Schäden an der natürlichen Umwelt. Den Einwohnern und Bürgern
im reichen Norden wurde das Ende der Geschichte suggeriert, und ebenso die Vorstellung, dass nun
1
Kulturelle Rechte wie Sprachen- und Minderheitenschutz; soziale Rechte wie Arbeitszeitbeschränkung und
Abschaffung der Kinderarbeit; politische Rechte wie Vereinsfreiheit und Wahlrecht für alle Männer.
2
Bereits im 18.Jht waren viele Bergbaubetriebe in der Schweiz nicht mehr konkurrenzfähig.
3
Demgegenüber boomt die bäuerlich-inspirierte Folklore proportional zum Verschwinden der Bauernkultur.
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Wo meist noch weit über 50% bäuerlich ist. Von den rund 6 Milliarden Menschen des Globalen Südens sind
über die Hälfte in den etwa 700-800 Mio. bäuerlichen Betrieben in Dörfern organisiert.
2
jedermann seines Glückes Schmied und Wohlergehen nur von individueller Tüchtigkeit abhängig sei.
Seit den 1980er Jahren verschärfen sich die Widersprüche jedoch zunehmend, und die Spannungen
und Spaltungen innerhalb der Gesellschaften wachsen. Armut ist auch in reichen Gesellschaften ein
Dauerthema, Umweltkrisen wie Klimawandel, Wasserknappheit, Wüstenbildung, Artensterben und
Giftskandale prägen seither die täglichen Nachrichten der Medien. Die Angst ist zu einer neuen
Konstante geworden und soziologisch gesprochen zu einem funktionalen Äquivalent von Sinngebung
(Luhmann 1989)5.
Trotz der gewaltigen Errungenschaften der letzten 800 Jahre scheint ein wichtiges Element im Puzzle
der hochmodernen Gesellschaften zu fehlen. Vielleicht ein lebensnotwendiges Recht, das uns in der
Hektik der Modernisierung und industriellen Betriebsamkeit zu lange aus dem Blickfeld geraten ist?
Mit der Globalisierung wurden auch die Menschenrechte, meist über die Vereinigten Nationen,
universalisiert. Die Sozialwissenschaften verstehen immer besser die Mechanismen von sozialer
Mobilität, Konfliktentstehung, Ungleichheit, Wirtschaftswachstum und Kommunikationsproblemen
zwischen den verschiedenen sozialen Systemen einschliesslich Nationen; die Messung von Armut
und sozialen Problemen gehört zum täglichen Brot der Massenmedien und der Politikplanung. Dies
sind gute Voraussetzungen, wenn es darum geht, aus Diagnosen Therapien zu entwickeln.
Die zwei grossen Probleme heute: Die soziale Ungleichheit und die bedrängte Natur. Die
Landwirtschaft steht im Zentrum
In der Nachkriegszeit (1945-1980) hatte die Ungleichheit abgenommen. Wohl auch deswegen, weil
viele reiche Bürger in den zwei Weltkriegen viel Geld verloren hatten. Die neoliberale Politik, die seit
1980 zur dominanten Politikform weltweit avanciert ist, hat diesen Trend jedoch gebrochen. Seither
nimmt die Armut auch in reichen Staaten wieder zu, die Einkommens-und Vermögensschere geht
auseinander. Die Schweiz ist eher ein positives Beispiel mit einer relativ „moderaten“ Schere resp.
relativ tiefem Gini-Koeffizienten als Indikator für Gleichheit. Wichtig ist zu verstehen, dass diese
Phänomene heute nicht mehr durch nationale Faktoren bestimmt sind, sondern durch die
globalisierte Wirtschaft und die Institutionen der neu entstandenen Weltgesellschaft. Wir befinden
uns in einer Transformationsphase ähnlich wie im 16. Jhd., als die Nationalstaaten aus kleinen
Verbänden oder feudalen Strukturen hervorgingen; nur dass heute die früher souveränen
Nationalstaaten immer mehr durch regionale Netzstrukturen - man denke an die Europäische Union oder eben globale Strukturen (UNO, WTO, etc.) und Institutionen wie die universellen
Menschenrechte, in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt werden. Wenn wir Luhmann folgen wollen
(Luhmann 1998), stellen Nationen heute nur noch Teilsysteme hochkomplexer, ausdifferenzierter
und nicht-hierarchischer Funktionssysteme dar.
Individuelle und familiäre Armut in Wohlstandsgesellschaften ist eine Anomalie. Tritt das Phänomen
selten auf, kann es auf individuelle Defizite, Unvermögen, Unglück oder eben Unwille zur Arbeit als
Ursachen zurückgeführt und erklärt werden. Wenn jedoch über 10%, und in einigen
Wohlstandsgesellschaften6 sogar über 20% zunehmend von Armut getroffen werden, dann muss die
Öffentlichkeit besser verstehen, was die tiefen Ursachen davon sind. Die Wissenschaft, oder vielmehr
ihre verschiedenen zuständigen Disziplinen und Vertreter, erbringen dazu keine übereinstimmenden
Erklärungen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass je nach politischem und ideologischen
5
Gemäss Luhmann widersteht die Angst jeder Kritik der reinen Vernunft, sie bleibe daher ein Störfaktor im
sozialen System.
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Zu den sogenannten Entwicklungsländen scheint sich die Öffentlichkeit der Wohlstandsgesellschaften bereits
daran gewöhnt zu haben, dass dort die Armut über 80% der Bevölkerung trifft.
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Standpunkt unterschiedliche Theorien und Methoden angewandt werden. Ich persönlich gehe von
folgenden Kausalfaktoren für die Neue Armut aus: (l) die neoliberale Ideologie in Wirtschaft und
Politik klammert kollektive Interessen aus und legt das volle Gewicht auf Märkte und
Individualverhalten; (ll) Die Maschinen und Automaten übernehmen immer mehr Arbeitsprozesse
(wo diese nicht schon in Billiglohnländer ausgegliedert wurden); (lll) die globale Konkurrenz um
Firmen-Standorte führt zu einem Steuerdumping, was für die Öffentlichkeit zu substantiellen
Einnahmeverlusten führt und in der Folge zu Kürzungen in den Sozialausgaben. Die Armut wird somit
privatisiert. Die realen Einkommen stagnieren oder sind seit rund 30 Jahren rückläufig. Dieses
Phänomen ist global. Die Schweiz ist jedoch in mehreren Bereichen eine (positive) Ausnahme.
Zunächst hat sie eine relativ tiefe Arbeitslosigkeit, eine starke Einwanderung von Arbeitskräften dank
Nachfrage und attraktiven Arbeits-und Lebensbedingungen, sowie eine hochstehende Infrastruktur.
Was jedoch in der Schweiz zu Beunruhigung Anlass geben sollte, ist der stark erhöhte Stress am
Arbeitsplatz- mit dem Krankheitssymptom Burn-Out als bekanntestem Indiz. Zudem sind besonders
Frauen mit Kindern wie auch Migranten zunehmend von Armut getroffen. Die Schweizer Wirtschaft
hängt grösstenteils von der europäischen- und der Weltwirtschaft ab. Zu glauben, dass der Schweizer
Wohlstand hausgemacht und autark sei, wäre irrig. Deshalb hängt das Wohlergehen auch in der
Schweiz von morgen zunehmend vom Wohlergehen der Welt und ihren Wirtschaften und Völkern
ab.
Dieses Wohlergehen ist zunehmend auch durch sogenannte Umweltkatastrophen bedroht. Der
Klimawandel verursacht bereits heute jährliche Kosten von mehreren Hundert Milliarden $; dabei
sind all die nicht-monetären Schäden an Mensch und Natur nicht mitgerechnet (s. mehr im IPCC
Bericht 2014). Nebst den Schwierigkeiten für die Landwirtschaft, bedingt durch die steigenden
Temperaturen und die schwankenden Niederschlagsmuster, fallen insbesondere die
Infrastrukturkosten nach Überschwemmungen und wegen des steigenden Meeresspiegels ins
Gewicht. Über die Hälfte der Ackerböden weltweit sind degradiert und wegen schlechter oder zu
intensiver Nutzung geschädigt. Über 1 Million verschiedener chemischer Substanzen, die oft nicht
oder zu langsam über natürliche oder zivile Prozesse abgebaut werden, bedrohen das Leben und
tragen mit der wachsenden Weltbevölkerung und der Urbanisierung zur Bedrohung nichtmenschlichen Lebens bei. Doch der Mensch hängt von der Natur ab, von ihrer Luft, dem fruchtbaren,
über Jahrmillionen entstandenen Boden und dem Süsswasser, um welches immer mehr Kriege
geführt werden.
In diesem Weltkontext fällt auf, dass die Landwirtschaft auch für die Schweiz in Zukunft eine wieder
wichtigere Rolle einnehmen dürfte, und zwar wegen ihrer Funktionen und Bedeutung für Boden,
Wasser, Klimawandel, Ernährungssicherheit, Arbeit, Gesundheit und Kultur. Liegt es nicht auf der
Hand, dass für immer mehr Menschen in post-industriellen Wohlstandgesellschaften als auch im
Globalen Süden (wo Potential und Kapital für Industrialisierung limitiert sind), die Arbeit mit Boden,
Pflanzen und Haustieren einen neuen Wert erhalten könnte? Könnte es über ein neues Verständnis
von Arbeit und mittels eines sorgfältigeren Umganges mit der Natur gelingen, die grossen Krisen der
Postmoderne zu lösen: soziale Ungleichheit und Naturzerstörung sowie die damit verbundenen
Ängste? Wird die Landwirtschaft oder Agri-Kultur auch in der post-industriellen Gesellschaft eine
neue Wertschätzung gewinnen, wenn sie wieder natürlicher und menschlicher und damit
kleinräumiger organisiert wird? Können wir die hochkomplexen und global organisierten Prozesse
und Systeme, welche die Ernährungswirtschaft wie auch weite Teile der Naturgestaltung regeln,
vereinfachen und nachhaltiger gestalten, so dass die Menschen ihre Lebenswelt wieder verstehen
und entsprechend verantwortlich handeln können?
4
Komplexität erfordert systemische Lösungen. Die Einlösung des fünften Rechtes: das
bedingungslose Grundeinkommen
Zivilisation ist ein Prozess, bei welchem Rechte und andere Errungenschaften für immer mehr
Menschen, Gruppen, soziale Schichten und Klassen sowie Völker erkämpft und verankert werden
(Elias 1994). Wir haben gesehen, dass in Europa dieser Kampf für zivile, kulturelle, politische und
soziale Rechte rund 800 Jahre dauerte. Auf Weltebene wurden 1948 die Allgemeinen
Menschenrechte proklamiert. Dies erfolgte vor dem Hintergrund der Katastrophe der zwei
Weltkriege, jedoch ohne direkten Kampf der Zivilgesellschaft. Die Wirtschaftsrechte dort beziehen
sich v.a. auf die Arbeit (Recht auf Arbeit). Man konnte damals noch davon ausgehen, dass die
Erwerbsarbeit nicht knapp werde. Im Globalen Süden werden die Rechte oft noch durch
internationale Institutionen gefördert, da weder die Individuen noch die Zivilgesellschaft noch die
Staaten mit der Implementierung schnell genug vorwärts kämen. Doch ein vielleicht letztes Recht ist
noch nicht erkämpft, geschweige denn angestrebt worden, und zwar auch im reichen Norden: das
Recht auf ökonomische Sicherheit7 (Marshall 1950). Warum eigentlich? Nun, die Erklärung, dass
bisher das Individuum und seine Gruppen stets die Mittel wie Boden, Beschäftigung oder eben den
Sozialstaat hatten, ist plausibel genug. Es war kein Bedarf, dieses Recht einzufordern, da andere
Rechte und Institutionen sowie die ökonomischen Verhältnisse es nicht erforderten, respektive die
Menschen- ausser Thomas Paine und wenige Andere- es nicht für erstrebenswert hielten. Erich
Fromm (1986) hielt in seinem Aufsatz von 1966 fest, dass ein garantiertes Einkommen im Zeitalter
des Überflusses möglich wird und die Chance eröffnen würde, den Begriff der Freiheit neu zu
denken: weg vom dominanten Paradigma der Eigentums- und Konsumfreiheit zur Form der Freiheit
auf eine produktiv-tätige Persönlichkeit. Fromm hielt das bedingungslose Einkommen jedoch nur
dann für sinnvoll, wenn sich die Gesellschaft aus dem Konsumzwang verabschiede, ein neuer Geist
des Humanismus sich herausbilde sowie eine Renaissance der Demokratie zustande komme8. Es ist
auffallend, dass sich die Schichten, welche das bedingungslose Einkommen heute befürworten,
ebenso kritisch einstellen gegenüber Konsumismus, Ökonomisierung der Gesellschaft,
Entsolidarisierung gegenüber Schwächeren sowie Abbau demokratischer Rechte im Staat und
Betrieb. Das bedingungslose Grundeinkommen muss deshalb in seiner ganzen Tragweite gedacht
werden können und als kulturelle Errungenschaft begriffen werden, welche weit über eine einfache
Verfassungs- und Gesetzesänderung hinausgeht.
In der Schweiz ist seit 2001 Bewegung in diese Frage gekommen mit der Gründung des Vereins BIENSuisse in Genf. Dieses Basic Income Earth Network (BIEN) wurde zuerst (1986) als europäisches
Netzwerk lanciert, und operiert seit 2011 auf globaler Ebene. In zahlreichen Ländern wird
unconditional basic income diskutiert, Gruppen und Vereine gegründet und vernetzt. Man kann
bereits von einer sozialen Bewegung sprechen, die die ganze Welt erfasst hat9. Im Jahre 2006 wurde
die Initiative Grundeinkommen in Basel lanciert; 6 Jahre später wurde die Unterschriftensammlung
aufgenommen. Der Rest ist bekannt: 2013 wurde mit über 126‘000 beglaubigten Unterschriften die
Initiative zum „bedingungslosen Grundeinkommen“ beim Bund eingereicht. Diese wird wohl noch
vor 2017 zur nationalen Abstimmung kommen, mit der Frage, ob die Schweiz dieses ökonomische
Recht als erste Nation in ihrer Verfassung aufnehmen und somit sowohl die Freiheit als auch die
Sicherheit ihrer Bürger verbessern soll. Nun ist klar, dass ausgerechnet das Land auf der Welt mit den
7
Guy Standing (op.cit) erwähnt Marshall’s Feststellung, dass die zivilen Rechte im 17., die Kulturellen im 18.,
die Politischen im 19. und die sozialen Rechte im 20. Jhd. errungen wurden. Er erwähnt dann, dass im 21. Jhd.
dann wohl das (letzte) Recht, das ökonomische Recht, fällig sei (p5).
8
Weitere Erfordernisse zur Durchsetzung dieses Rechtes seien: weniger Rüstungsausgaben, mehr EZA um die
Armutsspiralen im Globalen Süden rückgängig zu machen, sowie die Demographie zu kontrollieren.
9
Nebst den reicheren OEZD Ländern ist das bGE (bedingungslose Grundeinkommen) auch in Brasilien und
Südafrika, Indien und Namibia eine öffentliche Angelegenheit.
5
wohl geringsten Existenzproblemen und einer der tiefsten Arbeitslosenraten der Welt
Schwierigkeiten haben wird, dieses Projekt auf Anhieb zu verstehen. Denn wie so oft liegen die
Wahrheiten tiefer verborgen und nicht an der Oberfläche. Es wäre denn auch falsch, das
bedingungslose Grundeinkommen (bGE) rein nur über die Kriterien Arbeit, Geld und Recht zu
vermitteln und zu begründen. Nein, das grosse Prinzip der Freiheit steht im Herzen der Begründung
und Forderung. Es ist die Freiheit für alle Bürger einer Gemeinschaft, ökonomisch eine minimale
Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Zwängen zu erlangen, um in Würde leben zu können und die
Gemeinschaft auch real zu leben. Dieses zutiefst schweizerische Bedürfnis gilt es zu befriedigen.
Natürlich haben nicht nur die SchweizerInnen dieses Bedürfnis, aber die Schweiz hat durch die
glückliche historische (und geologische) Konstellation einen Sonderweg der Freiheitskämpfe erlebt
und kann dank der direkten Demokratie als wohl einziges Land der Welt über dieses ökonomische
Recht abstimmen. Die Freiheit wird heute aber eine neue Dimension erhalten, nämlich die der
Solidarität. Diese Freiheit wird die Solidarität im Inneren der Gesellschaft stärken, da wir gezwungen
sein werden, die Mitglieder dieser Gesellschaft respektive ihre Bürger im Sinne von citizen zu
definieren10. Die vom ökonomischen Recht betroffene Bevölkerung bildet demnach eine Art
Schicksalsgemeinschaft. Zudem kann dieses Recht gleichzeitig zur Lösung der ökologischen Probleme
beitragen, wenn die Finanzierung wenigstens teilweise über die Steuern11 und Abgaben auf
verursachte Umweltschäden finanziert wird. Zu denken ist an Kompensationen für angerichtete
Schäden am Grundwasser, am Boden, an der Luft, der Landschaft und dem Klima12 (Klein 2014). Aber
auch Folgekosten von Schäden an der menschlichen Gesundheit (ebenfalls Bestandteil der Natur!)
sollten durch die Verursacher getragen werden.
Die Initianten der Schweizer bGE Initiative sehen vor allem eine Teilfinanzierung über die
Mehrwertsteuer als Lösungsweg. Doch die konkrete Ausgestaltung liegt in der Hand der Gesetzgeber,
wenn die Initiative (einmal) vom Schweizer Souverän angenommen wird. Es ist jedoch wichtig,
bereits jetzt sich vermehrt Gedanken zu machen, wie der Fonds aufgestockt werden kann, mit dem
das garantierte Grundeinkommen ausbezahlt werden soll. Es kann von einer Grössenordnung von
rund 200 bis 250 Milliarden CHF ausgegangen werden, die jährlich eingenommen und verteilt
werden müssen. Bei der Konstruktion der Finanzierungsmodelle müssen und können zwei
normalerweise gesonderte Bereiche verknüpft werden, damit die ganze Kraft und Schönheit des
Prinzips der ökonomischen Freiheit zum Tragen kommen: nämlich die Bereiche Soziales und
Umwelt13. Dies kann es erlauben, einige Ursachen der Neuen Armut an der Wurzel anzupacken, wie
die gesundheitszerstörende Wirtschaft und die dadurch beschleunigte Entsolidarisierung der
Gesellschaft, die entwürdigende Abhängigkeit von paternalistischen staatlichen Bürokratien und die
Sozialisierung von Schäden und Schulden gegenüber der Privatisierung von Profiten. Zudem liesse
sich wie erwähnt die Finanzierung der dringenden Massnahmen zur Entschleunigung des
Klimawandels mit dem Fonds des bGE kombinieren.
10
In der Schweiz dominiert im Sprachgebrauch immer noch der sozio-politische Bürgerbegriff aus dem 19. Jht
(Bourgeois), der sich vom Arbeiter und Aristokraten abhebt. Wir verwenden hier jedoch den Begriff des Bürgers
als citizen im Sinne des gleichberechtigten Mitglieds einer Rechts-und Schicksalsgemeinschaft.
11
Zum Beispiel Steuern auf Transaktionen des Schweizerfrankens, wie von Oswald Sigg vorgeschlagen.
12
Erwähnenswert ist das neuerschienene Buch von Naomi Klein, welches auf den Zusammenhang von
Klimawandel und Kapitalismus hinweist und dies als Chance begreift, die Wirtschaft unter anderem mit dem
Instrument des bedingungslosen Einkommens zu transformieren.
13
Ich verwende diesen Begriff, da er sich umgangssprachlich etabliert hat. Korrekter wäre von „Natur“ oder
zumindest von „natürlicher Umwelt“ zu sprechen.
6
Von der Verfassungsinitiative zur Umsetzung in der Schweiz
Im Herbst 2013 wurde wie erwähnt die Initiative mit über 126‘000 beglaubigten Unterschriften
eingereicht. Die Initianten schreiben dazu: „Wie geht es weiter? Jetzt wird sich der Bundesrat mit
dem Grundeinkommen befassen und einen Bericht dazu verfassen. Dafür hat er ein Jahr Zeit [also bis
Ende 2014]. Anschliessend folgt die Debatte im Parlament. Die Volksabstimmung erfolgt dann in zwei
bis drei Jahren. Die Frage lautet: Soll jeder Mensch in diesem Land die finanzielle Grundlage zum
Leben bedingungslos- und somit in Würde erhalten?“. Was ist das Ziel der Schweizer Initiative? Die
Initianten: „Im Jahr 2050 ist die Existenz von jedem Menschen in der Schweiz bedingungslos
gesichert: Jeder erhält ein Grundeinkommen: Egal ob jemand erwerbstätig ist oder nicht, reich oder
arm, gesund oder krank, allein lebt oder in Gemeinschaft. Für die meisten Personen ist das
Grundeinkommen nicht zusätzliches Geld, sondern ersetzt heutige Einkommen. Neu ist die
Bedingungslosigkeit.“ Um dies zu erreichen wird folgende Verfassungsänderung vorgeschlagen:
„Art. 110a (neu) bedingungsloses Grundeinkommen
1.
2.
3.
Der Bund sorgt für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung14 ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme
am öffentlichen Leben ermöglichen.
Das Gesetz regelt insbesondere die Finanzierung und die Höhe des Grundeinkommens.“
Die Initianten gehen von einem monatlichen Betrag von 2‘500 FR pro erwachsenen Bürger aus, für
unter 18-jährige ein Viertel oder 625 Fr.15 (). Die Frage nach der Finanzierung und der Modalitäten
der Umverteilung soll im politischen Prozess ausgehandelt werden. Über die AHV, IV, ALV etc.
werden heute bereits 70 Mia umverteilt. Der grosse Teil des Restes, mindestens 100 Mia Fr. könnte
über das bestehende Erwerbseinkommen umverteilt werden, indem die Unternehmen die 2‘500
(resp. das definierte bGE) anstatt an die Angestellten an den Fonds zur Umverteilung weiterleiten. Es
wäre wohl geschickt, den Betrag kantonal gemäss Lebenshaltungskosten zu definieren und zu
verwalten. Dies entspräche der eidgenössischen Praxis und der dezentralen Verwaltung des
Staatswesens. Anstelle einer Erhöhung der Mehrwertsteuer- oder komplementär dazu- könnte wie
oben erwähnt eine Umwelt- und Gesundheitssteuer erhoben werden, welche auf natur- und
gesundheitsschädigende Prozesse erhoben würde. Um zu verhindern, dass dieses neue Recht zu
einer erhöhten Migration von Einwohnern in die Schweiz und damit zu unerwünschten
Nebeneffekten führen würde, müssten Fristen für Neuzuzüger und klare Bestimmungen für das zu
erwerbende Bürgerrecht definiert werden. Dies hätte zusätzlich den Vorteil, eine klare
Unterscheidung zwischen Einwohnern und Bürgern (citizen) zu bringen. Die noch-nicht Bürger
müssten entscheiden, ob sie das Bürgerrecht erwerben wollen oder nicht. Die entsprechenden
Gemeinden und Kantone hätten Rechte und Pflichten zu definieren. Das bGE wird ja als Bürgerrecht
definiert, das jeweils auch Pflichten beinhaltet. Teile dieser Pflicht ist die aktive Teilnahme an der
Gemeinschaft und der politischen Gesellschaft, die in der Schweiz über die Gemeinde und den
entsprechenden Kanton verknüpft sind.
Daraus ist leicht ersichtlich, dass das Projekt bGE kein rein wirtschaftliches Unterfangen ist, bei
welchem Geld von der Wirtschaft automatisch an die Bürger fliesst, sodass diese bloss die hohle
Hand zu machen hätten. Nein, es wird eine aktive Auseinandersetzung auf allen Stufen der
Demokratie (Gemeinde, Kanton, Bund und Öffentlichkeit) wie auch zwischen Wirtschaft, Politik,
Kultur, Wissenschaft, Erziehung, Massenmedien, Zivilgesellschaft und Recht erforderlich sein. Doch
zunächst ist die Zivilgesellschaft gefordert, da hier die Bürger und Menschen am direktesten
Möglichkeiten der Teilnahme haben. Dies wiederum kann nur die Gemeinschaft sowie das
Selbstbewusstsein und die zivile Kompetenz der Bürger und somit deren Sicherheit und Freiheit
14
15
Ein heikler Begriff (ganze Bevölkerung), der einer Klärung bedarf (s.o.) [persönliche Bemerkung].
siehe mehr unter http://bedingungslos.ch/ sowie unter www.grundeinkommen.ch.
7
stärken. Die heutige Loslösung von Wirtschaft und Gesellschaft würde reduziert. Der Staat als
Verwaltung tritt in den Hintergrund und anerkennt so die Rolle der Selbstverantwortung seiner
BürgerInnen.
Hier kann eingewendet werden, dass der heutige Mensch dieser Aufgabe nicht gewachsen sei, dass
er oder sie überfordert wäre, in der hochkomplexen Aufgabe Bürgerpflichten, Verantwortung für die
Lebensplanung, Umgang mit dem Geld und der Freiheit wahrzunehmen. Doch hat nicht bereits der
Adel vor Jahrhunderten dieselben Bedenken gegenüber dem aufstrebenden Bürgertum gehabt, oder
die Sklavenhalter gegenüber den Sklaven oder noch vor kurzem die Männer gegenüber den Frauen?
Ist es nicht so, dass die Habenden und Machtbesitzenden die jeweils übervorteilten Menschen
unterschätzen? Und ist es nicht ebenso klar, dass dieser Prozess stufenweise eingeführt werden
kann, sodass weder Staat noch Bürger überfordert wären? Wo ein Wille ist, da finden sich Wege.
Um die Umsetzung zu ermöglichen, müssen zunächst die Herzen gewonnen und das Interesse für die
Idee geweckt werden.
Nur eine aktive Beteiligung möglichst vieler Akteure und prinzipieller Befürworter der Idee in der
jetzigen Phase der Meinungsbildung kann hier Klarheit schaffen und die Wahrscheinlichkeit auf eine
Annahme der Initiative erhöhen. Jedes wesentliche Recht musste bisher erkämpft werden. Wenn nur
eine Handvoll überzeugter Initianten sich für dieses Recht einsetzt, ist der Kampf bereits verloren.
Doch wie soll es gelingen, innerhalb von zwei Jahren die Mehrheit der Schweizer BürgerInnen vom
bGE zu überzeugen, wissend, dass heute nur wenige das Prinzip bGE verstanden haben16. Wie kann
verhindert werden, dass sich nur die heute schon marginalisierten Bewohner, das Prekariat17
(Standing 2011), sowie die wenigen Engagierten und Überzeugten am Rande für dieses
Freiheitsrecht einsetzen? Wie kann dieses Recht elegant und pragmatisch mit den Erfordernissen der
nachhaltigen Entwicklung und des Umweltschutzes18 verknüpft und so verhindert werden, dass in
den nächsten Jahren ein Flickwerk von schlecht durchdachten und nicht die Wurzel der Probleme
und Ursachen angehenden Gesetze das Staatswesen und die Verwaltung überlasten? Wie kann sich
die Wohlstandsinsel Schweiz mit diesem notwendigen letzten Freiheitsrecht, welches nur durch
direktdemokratische politische Rechte eingeführt und realisiert werden kann, positiv ins Bild der
weltweiten Völkergemeinde setzen? Auch darf nicht vergessen werden: das bGE hat bessere
Chancen, verwirklicht zu werden, wenn Reichtum und Wohlstand vorhanden sind. Und dies ist in der
Schweiz wie in nur wenigen anderen Ländern der Fall. Aufklärung, Debatten und engagierte Bürger
sind die Basis des Erfolges. Ich bin überzeugt, dass es vordringlich ist, diese Prozesse nun von der
nationalen Ebene auf die kantonale Ebene und somit zu den Menschen und BürgerInnen im Lebensund Arbeitskontext zu verschieben.
16
Die bisherigen Reaktionen der politische Parteien, der Medien, des Bundesrates (am 27.8.2014) und das
Ausbleiben einer breiten Diskussion lassen darauf schliessen. Allerdings hat 2014 eine Vielzahl von events
eingesetzt, insbesondere in der West- und Nordschweiz.
17
Standing versteht unter Prekariat Menschen, die unter chronischer Unsicherheit leiden sowie von den
Arbeitsnormen und Arbeiterschaft sich entfremdet haben. Sie haben dadurch nicht nur Rechte verloren,
sondern auch Teilhabe an der Gesellschaft.
18
zZ arbeitet die Weltgemeinschaft an der Überarbeitung der neuen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung auf
globaler Ebene (2015-2030). Die Bereiche Armut, Gleichheit, würdige Arbeit für Alle, reduzierte Ungleichheit
zwischen den Völkern stehen bereits auf der Liste.
8
Mögliche Vorarbeiten am Beispiel des Kantons Graubünden
Wenn unser Argument akzeptiert wird, dass es sich beim bGE um ein Freiheitsrecht handelt, dann
müssten die Bündner hellhörig werden. In kaum einer Gesellschaft hat ein Volk so erfolgreich und
früh um Freiheit und zivile, politische und kulturelle Rechte gekämpft wie die Bündner, die in ihren
abgelegenen Tälern, bedrängt durch mächtige Nachbarn, sich über die letzten 800 Jahre
emporgearbeitet haben. Leider ist seit einigen Jahrzehnten bei vielen Bündnern das historische
Wissen vergessen gegangen, wie auch das Bewusstsein, dass wir eine politische Willensgemeinschaft
sind. Wer heute Graubünden sagt, denkt wohl bloss noch an Feriendestination, Tourismus und
Steinböcke…Doch genau dies ist ein Grundproblem: die Trennung von Politik und Wirtschaft, die
neue Unübersichtlichkeit und die hohe innerschweizerische Mobilität, welche viele BündnerInnen
ihren Arbeitsplatz im „Unterland“ finden lässt, wo die Wirtschaft mehr Entfaltung und Einkommen
bietet. Viele Potentiale liegen deshalb brach im Bergkanton; ich denke an den Gesundheitssektor, die
biologische Landwirtschaft, an die Holzwirtschaft, das Handwerk in Kombination mit dem Tourismus
aber auch an die Möglichkeit der vermehrten Heimarbeit. Die fantastische Landschaft mit den
energiespendenden Bergen und der wohltuenden Ruhe, mit den zahlreichen Möglichkeiten in den
„200 Tälern“ lässt erahnen, dass viel erwerbsmässige und kreative Arbeit in dieser „peripheren“
Region der Schweiz brachliegt, die durch das bGE belebt werden würde.
Wir werden somit in den nächsten Monaten Projekte ausdenken, wie wir das bGE und das Prinzip der
Fünften Freiheit- der wohl Letzten zu erringenden- in die Herzen und Köpfe der Bündnerinnen
pflanzen können. Wir werden eine Sprache finden müssen, die die Menschen verstehen. Eine
Sprache ohne Klischees und ohne jede Verleumdung. Eine Sprache derjenigen, die eine gemeinsame
Not leiden, poetisch, musikalisch, philosophisch, moralisch und mit Witz, Amüsement, mit der
grossen schöpferischen Kraft von Humor (Bloch 1985). Es wird die letzte Freiheit sein, die wir zu
erkämpfen haben, auf wohl lange Zeit, wenn uns diese als Spezies Mensch noch gegeben ist. Es muss
ja nicht so blutig zu und hergehen wie während der Bündner Wirren (1618-1648). Denn auch die
Bündner haben sich über die letzten 350 Jahre dank dem gewonnen Wohlstand und der erkämpften
Freiheitsrechte positiv weiterentwickelt. Und ein weiterer Trumpf liegt seit über 40 Jahren vor: seit
1972 dürfen auch die Bündnerinnen (auf Bundesstufe) mitgestalten und sich am politischen Kampf
beteiligen19. Gemeinsam mit unseren Miteidgenossen, mit Progressiven und Konservativen, aber als
stets an die Möglichkeiten des Menschen glaubende und die Schöpfung wahrende Menschen,
werden wir auch diesen Freiheitskampf gewinnen. Es ist bloss noch eine Frage der Zeit. Nur müssen
wir diesen Kampf nicht mehr allein fechten, heute sind wir weltweit verbunden mit Menschen auf
allen Kontinenten, die dasselbe Ziel vor Augen haben, die gleichen Wünsche für mehr Sicherheit und
Würde. Aber auch in der Schweiz haben wir tausende von MitbürgerInnen, mit denen wir uns
gemeinsam auf die Abstimmung im 2016 vorbereiten können.
Unsere Kinder würden es uns nicht verzeihen, wenn wir heute diesen Kampf verschlafen. Seien wir
klug, mutig und engagiert, so wie es unsere Vorfahren waren, denen wir ja fast alles zu verdanken
haben. Und höre Du, liebe BürgerIn und Mitmensch, nicht zu viel auf die Skeptiker und die
Ungläubigen, die sich durch tiefe Ängste in ihrer Vorstellungskraft behindern lassen und denen so der
nötige Mut fehlt. Auch dies können wir aus der Geschichte gelernt haben.
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1983 mussten die letzten Bündner Gemeinden zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts gezwungen
werden.
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Referenzen:
Bloch, E. (1985). Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Suhrkamp
Elias, N. (1994). The Civilizing Process, Blackwell.
Fromm, E. (1986). Psychologische Aspekte eines garantierten Einkommens für alle. Das garantierte
Grundeinkommen : Entwicklung und Perspektiven einer Forderung. Frankfurt am Main,
Fischer Taschenbuch Verl.: 19-27.
Klein, N. (2014). This Changes Everything. Capitalism vs. the Climate, Allen Lane, Penguin Books.
Luhmann, N. (1989). Ecological Communication, University of Chicago Press.
Luhmann, N., Ed. (1998). Die Gesellschaft der Gesellschaft (The English translation: Theory of
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Jahre Gotteshausbund, Calven Verlag, Chur.
Paine, T. (1797). Agrarian Justice, Classic Textbooks.
Standing, G. (2011). The Precariat: The New Dangerous Class, Bloomsbury Academic.
Gian L. Nicolay ist Schweizerbürger(Bravuogn/Bergün) und gleichzeitig Weltbürger, seit 2007 in Ardez
(GR) wohnhaft. Er arbeitet seit 25 Jahren als Agronom und Soziologe auf internationaler Ebene, wo er
sich insbesondere für die Rechte, Fähigkeiten und Institutionen der Kleinbauern als auch für eine
nachhaltige Entwicklung und für eine zukunftsfähige Landwirtschaft einsetzt.
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