Volkswirtschaft Spezial volkswirtschaftliche themen im fokus www.oppenheim.de april 2015 Parlamentswahlen in Großbritannien mit unsicherem Ausgang Der Wahlausgang in Großbritannien am 7. Mai ist höchst unklar. Das klassische Zwei-Parteien-System ist von einem Mehrparteiensystem abgelöst worden. Aufgrund des Wahlsystems unterliegen die im Vorfeld erhobenen Prognosen einer hohen Fehleranfälligkeit. Vermutlich wird der Wahlausgang ein „Hung Parliament“ hervorbringen, also einen Wahlausgang, bei dem keine Partei die absolute Mehrheit erreicht. Eine Koalition oder eine Minderheitsregierung könnte unter Umständen weniger stabil oder politisch weniger berechenbar sein. Fiskalpolitisch sehen wir Risiken für den Konsolidierungskurs nur dann, wenn die Schottische Nationalpartei in die Regierung eingebunden wird. Europapolitisch dürfte ein EU-Referendum unter einer konservativ geführten Regierung kaum noch zu umgehen sein. Ein Austritt aus der EU muss sich daraus aber nicht ergeben. Sollte es zu den angestrebten Neuverhandlungen mit der EU kommen, ist es elementar, dass die britische Regierung stabil und handlungsfähig ist. das zwei-parteien-system gerät aus den fugen … Großbritannien ist ein Land der Traditionen. Der Tee wird um fünf Uhr eingenommen, das Staatsoberhaupt heißt seit einer gefühlten Ewigkeit Queen Elizabeth II und in der Regierung wechseln sich die Konservativen und Labour in schöner Regelmäßigkeit ab. Doch bei den bevorstehenden Parlamentswahlen am 7. Mai 2015 zeichnet sich ab, dass mit der letztgenannten Tradition gebrochen wird. In den letzten Jahren ist aus dem klassischen Zwei-Parteien-System, bei dem der Wahlgewinner mit absoluter Mehrheit regieren konnte, ein Fünf-Parteien-System geworden. Bereits die letzte Wahl 2010 Prognosen: Keine absolute Mehrheit war ein Unikum. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Koalition nötig – zwischen den Konservativen und der drittstärksten Kraft, den Liberaldemokraten. Mittlerweile wurde das britische Parteienspektrum noch vielfältiger: durch die UKIP (United Kingdom Independence Party), deren Hauptforderungen restriktivere Einwanderungsregeln und der sofortige EU-Austritt sind. UKIP dürfte vor allem den Konservativen Stimmen abgenommen haben. Darüber hinaus verzeichnet die Green Party Zulauf, die eine stärkere Rolle des Staates zur Begrenzung des „Hyperkapitalismus“ fordert. In Schottland gilt inzwischen sogar ein Sechs-Parteien-System. Dort scheint die nur regional antretende SNP (Schottische Nationalpartei) stärkste Kraft zu werden. Deren Stimmen gehen vor allem zulasten von Labour. Das Erstarken kleinerer Parteien spiegelt sich auch in den Wahlumfragen wider (vgl. Abbildung 1). Aktuell können die Konservativen und Labour nur je ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen. Das verbleibende Drittel teilen sich die kleineren Fraktionen untereinander auf. In den landesweiten Umfragen gehen die regional starken Parteien, neben der SNP in Schottland nordirische und walisische Parteien, eher unter. In ihrer jeweiligen Region sind sie dennoch so erfolgreich, dass sie im Unterhaus mit Sitzen vertreten sind. … mit ungewissem wahlausgang Abb. 1 Quelle: UK Polling Report, Stand: 8. April 2015 Die große Unsicherheit im Rahmen der Wahlen am 7. Mai liegt darin, dass die obigen Umfragen wenig darüber aussagen, wie sich bei dieser information handelt es sich um werbung Volkswirtschaft Spezial seite 2 april 2015 das Unterhaus nach der Wahl tatsächlich zusammensetzt. Grob gesagt ist das britische Wahlrecht nicht für das relativ neue Mehrparteiensystem ausgelegt. Es gilt ein simples Mehrheitswahlrecht: Der Kandidat, der seinen Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewinnt, zieht ins Unterhaus ein. Die restlichen Stimmen bleiben unberücksichtigt. Das begünstigt die großen Parteien: So erhielten die Konservativen bei den letzten Wahlen 47 % der Sitze im Abgeordnetenhaus, obwohl sie nur rund 36 % der Stimmen auf sich vereinten. Für kleinere Parteien mit national relevanten Themen wie die UKIP wird es damit sehr schwierig, die landesweit große Zustimmung in adäquate Direktmandate umzusetzen. Das System benachteiligt kleinere Parteien mit national relevanten Themen. Regionale Parteien hingegen können von dem System profitieren. So sagen die Wahlforschungsinstitute der SNP den Gewinn von bis zu 50 der insgesamt 59 schottischen Wahlkreise voraus (2010: 6 Sitze). Damit würde die SNP bis zu 8 % der Sitze im Unterhaus einnehmen, obwohl die Partei überregional mit nur 3 % der Stimmen eher unbedeutend ist. Die kommende Zusammensetzung des britischen Unterhauses ist damit extrem schwer zu prognostizieren. Der Gewinn einer absoluten Mehrheit für Labour oder die Konservativen ist noch immer möglich, wäre aber eine große Überraschung. Vieles spricht wieder für ein „Hung Parliament“, also einen Wahlausgang, bei dem keine Partei die absolute Mehrheit von mindestens 326 der 650 Sitze erreicht. In diesem Fall würde der Vorsitzende der Partei mit den meisten Sitzen, also Ed Miliband von Labour oder David Cameron von den Konservativen, mit der Regierungsbildung beauftragt. Er hat drei Möglichkeiten: 1.) Bildung einer Koalition. Das muss prinzipiell nicht schlecht sein, wie die Stabilität der Koalition seit 2010 gezeigt hat. Allerdings wurde die aktuelle Regierung von dem großen gemeinsamen Ziel zusammengehalten, die tiefe Wirtschaftskrise zu überwinden. Dieses Mal dürfte der kleinere Partner selbstbewusster in die Verhandlungen gehen und höhere Machtansprüche stellen. 2.) Führung einer Minderheitsregierung. Je nach Sitzverteilung (oder Forderungen der möglichen Koalitionsparteien) wäre dies eine Option. Sie erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn andere Fraktionen ihre Unterstützung signalisieren. So hat beispielsweise die UKIP angekündigt, nicht für eine Koalition zur Verfügung zu stehen, aber nach Erfüllung bestimmter Bedingungen eine konservative Minderheitsregierung zu tolerieren. 3.) Neuwahlen. Gelingt es nicht, eine Koalition zu bilden oder die Vertrauensabstimmung nach der Bildung einer Koalition/ Minderheitsregierung zu gewinnen, kommt es zu Neuwahlen. Diese würden einige Wochen in Anspruch nehmen, in denen politischer Stillstand herrscht. Nach verschiedenen Hochrechnungen, in denen die Meinungsumfragen mit den aktuellen Wahlkreisaufteilungen abgeglichen werden (vgl. Tabelle 1), erscheint eine Labour-geführte Koalition am wahrscheinlichsten. Als Königsmacher kämen die SNP oder die Liberaldemokraten in Betracht, wobei die ideologische Übereinstimmung zwischen Labour und SNP größer sein dürfte. Unwahrscheinlicher, aber ebenso denkbar, ist eine konservativ geführte Koalition, dann voraussichtlich mit den Liberaldemokraten. Je nach Sitzverteilung kann auch eine Dreier-Koalition nötig werden, was von der bisherigen politischen Wirklichkeit noch weiter entfernt wäre. Im Folgenden soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, welche Implikationen sich daraus für die dominierenden Wahlkampf-Themen Fiskalpolitik und EU-Referendum ergeben. implikationen für die fiskalpolitik Eines der seit Jahren beherrschenden Themen der britischen Politik ist die Haushaltslücke, die infolge der Finanzkrise mit über 4 % noch immer beträchtlich ist (vgl. Abbildung 2). Die Stabilisierung der Staatsverschuldung von derzeit ca. 92 % (laut IWF) ist schon zur Aufrechterhaltung des AAA-Ratings erforderlich. Grundsätzlich befürworten alle größeren Parteien die Fortführung des Sparkurses. Unterschiede ergeben sich in Bezug auf Tempo und praktische Ausführung. Am restriktivsten dürfte eine rein konservative Regierung agieren. Hier dienen die aktuellen Budgetpläne als Blaupause. Ziel ist demnach ein kleiner Haushaltsüberschuss ab 2018. Dazu soll das strukturelle Defizit in den kommenden vier Jahren um einen Prozentpunkt pro Jahr reduziert werden, was einen spürbaren fiskalischen Bremseffekt darstellt. Der Plan, dies fast ausschließlich über Ausgabenkürzungen zu erreichen, erscheint uns zu radikal und praktisch kaum umsetzbar. Im Falle einer Koalition zwischen Konservativen und Liberaldemokraten dürfte der Sparkurs aus einem ausgewogeneren Mix aus Ausgabenkürzungen und Einnahmenerhöhungen bestehen. SITZ-PROJEKTIONEN UNTERLIEGEN HOHER SCHWANKUNGSBREITE konservative labour libdem ukip snp sonstige Electoral Calculus (Stand: 11. April) 276 285 17 2 48 22 Election Forecast (Stand: 13. April) 283 274 27 1 42 23 Zum Vergleich: aktuelle Sitzverteilung 303 257 56 2 6 26 Prognose-Institut Tabelle 1 Quelle: Prognoseinstitute Electoral Calculus, Election Forecast, Stand: 13. April 2015 Volkswirtschaft Spezial april 2015 Unter Labour soll der Haushalt erst bis 2020 ausgeglichen werden. Daraus ergibt sich ein geringerer fiskalischer Bremseffekt von rund 0,5 % pro Jahr, gleichzeitig eine höhere Gesamtverschuldung. Labour setzt dabei neben selektiven Ausgabenkürzungen auf Steuererhöhungen für Besserverdienende, für den Bankensektor sowie für Luxusimmobilien. Diese Pläne sind wenig wirtschaftsfreundlich. Sie belasten den Finanzplatz London und würden sich negativ bei Investitionen und Zuflüssen ausländischen Kapitals bemerkbar machen. Risiken für die Haushaltspolitik sehen wir bei einer Koalition aus Labour und der SNP. Diese hat sich das „Ende der Austeritätspolitik“ auf die Fahnen geschrieben, womit laut Wahlkampfaussagen explizit Ausgabenerhöhungen gemeint sind. Eine Einbindung der SNP dürfte in eine Aufweichung des Sparkurses münden. Dadurch könnte sich die Bank of England gezwungen sehen, ihre Geldpolitik neu zu adjustieren. Dies hieße, dass Zinserhöhungen früher und/ oder schneller kämen als bisher geplant. implikationen für das britische verhältnis zur eu Die Unzufriedenheit der Briten mit der immer mächtiger werdenden EU ist groß. Dies zeigt nicht zuletzt das Erstarken der europafeindlichen UKIP. Vorsicht in der Europapolitik ist unseres Erachtens vor allem bei einer konservativ geführten Regierung angebracht. Premierminister Cameron hat bereits ein EU-Referendum in der ersten Hälfte der neuen Legislaturperiode versprochen. Sein Ziel ist aber nicht der EU-Austritt („Brexit“), sondern ein Verbleib in der EU nach Neuverhandlungen über einige bislang noch allgemein gehaltene Politikbereiche (Verbesserung der demokratischen Prozesse, mehr Entscheidungsgewalt für einzelne Mitgliedstaaten, verbesserte Wettbewerbsfähigkeit, Erhöhung der Flexibilität der einzelnen Mitglieder). Da das Thema Immigration im Wahlkampf zunehmend wichtiger wurde, streben die Konservativen mittlerweile auch eine Neuordnung der Immigrationsregeln an. Die oben genannten Aspekte sind noch so vage, dass unklar ist, ob Randbereiche oder Kernpunkte seite 3 der EU neu verhandelt werden sollen. Eine Neuverhandlung der Arbeitnehmerfreizügigkeit hingegen würde eine der Grundsäulen der EU in Frage stellen. Risiken sehen wir vor allem im Falle einer durch die UKIP tolerierten Regierung, in der die europafeindliche Partei die Konservativen unter Druck setzen könnte. Damit stiege die Gefahr, dass Großbritannien in Neuverhandlungen extreme bis unerfüllbare Positionen vertritt. Das Land könnte sich in eine derartige Außenseiterposition hineinmanövrieren, dass ein Austritt als einzige logische Konsequenz erschiene. Je nach Wahlergebnis könnte das EU-Referendum aber vorerst auch ausfallen. Labour, die Liberaldemokraten und die SNP sind pro-europäisch eingestellt. Setzt sich eine Labour-geführte Regierung durch, dürfte das Thema EU-Referendum (vorläufig) ad acta gelegt werden. Allerdings könnte die generelle britische Unzufriedenheit mit der EU auch eine Labour-Regierung unter Druck setzen, Neuverhandlungen oder ein Referendum anzusetzen. Dies dürfte insbesondere bei einer weiteren Befugnisverschiebung Richtung Brüssel gelten. Wir gehen allerdings davon aus, dass die zu verhandelnden Themen dann mit mehr Besonnenheit angegangen würden. Ob die Briten überhaupt für einen Brexit stimmen würden, ist keine ausgemachte Sache. Umfragen zufolge wäre eine Mehrheit für einen Verbleib in der EU, wenn es zu Neuverhandlungen in den oben genannten – noch vagen – Punkten käme (vgl. Abbildung 3). Diese Antwort verlangt allerdings von der Politik einen doppelten Erfolg: Es muss nicht nur gelingen, die aus Bevölkerungssicht „richtigen“ Themen mit der EU zur Neuverhandlung zu bringen, sondern auch, die Verhandlungsergebnisse im britischen Sinne ausfallen zu lassen. Dass dieser Prozess reibungslos verläuft, erscheint selbst mit einer starken britischen Regierung schwierig. Würden die Verhandlungen aber von einer instabilen Regierung ohne klare politische Linie geführt, stiege die Gefahr für ein Zerwürfnis zwischen Großbritannien und der EU. Hohe Verschuldung, langsamer Defizitabbau Umfrage zur EU-Mitgliedschaft EU-Referendum ohne Neuverhandlungen Referendum nach Neuverhandlungen (im britischen Sinne) Abb. 2 Quelle: Haver Analytics, Prognosen ab 2015, Stand: 13. April 2015 Abb. 3 Quelle: YouGov-Umfrage vom 22./23.3.2015, Stand: 13. April 2015 Volkswirtschaft Spezial seite 4 april 2015 resümee Während in anderen europäischen Ländern eine Mehrparteienlandschaft normal ist, ergeben sich in Großbritannien durch die Auflösung des Zwei-Parteien-Systems einige Risiken. Eine neue Koalitionsbildung dürfte nicht noch einmal so reibungslos verlaufen wie 2010. Nachdem die Liberaldemokraten in Meinungsumfragen für ihre Regierungsarbeit abgestraft worden sind, sollte der Koalitionspartner diesmal höhere programmatische Forderungen stellen. Je nach Sitzverteilung könnte sogar eine Koalitionsbildung mit drei Parteien nötig werden, was den kleinsten gemeinsamen Nenner und damit den politischen Aktionsradius weiter schrumpfen ließe. Auch im Falle einer Minderheitsregierung beträte Großbritannien quasi Neuland. Es bestünde die Gefahr, dass die Oppositionsparteien die Regierungspartei vor sich her treiben und die politische Linie unberechenbar machen. Alternativ bestehen Risiken des politischen Stillstandes, der angesichts der anstehenden innen- und außenpolitischen Themen ebenfalls verheerend wäre. Finanzpolitisch wollen – mit einer Ausnahme – alle großen Parteien den Konsolidierungskurs fortsetzen, wenngleich mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlichen Schwerpunkten. Hilfreich ist dabei die solide zyklische Erholung Großbritanniens, die ein „Herauswachsen“ aus den Defiziten erleichtert. Risiken bis hin zu einer restriktiveren Geldpolitik sehen wir nur, falls die SNP in die Regierungsarbeit eingebunden würde, da in dem Fall die Haushaltsziele aufgeweicht werden dürften. Gravierendere Unterschiede sind beim Thema Europa auszumachen. In jedem Fall würde das Thema unter einer konservativ geführten Regierung durch den Druck des schon zugesagten Termins für ein Referendum forcierter und mit größerer Europaskepsis angegangen. Vor allem unter dem Einfluss von der UKIP sehen wir Risiken, dass die Verhandlungen mit der EU in die falsche Richtung laufen könnten. Unter einer Labour-Regierung dürfte der Ton europafreundlicher bleiben, zumal es zunächst vermutlich kein Referendum geben würde. Insgesamt bleibt eines zu hoffen: dass die britische Regierung handlungsfähig und in sich konsistent ist, wenn das große Paket „Neuverhandlungen mit der EU“ aufgeschnürt wird. ansprechpartner Katrin Löhken [email protected] Telefon +49 221 145-2146 Hinweis und Haftungsausschluss Bei dieser Publikation handelt es sich um Werbemitteilungen der Sal. Oppenheim jr. & Cie. AG & Co. KGaA („Sal. Oppenheim“). Diese Publikation erfüllt deshalb nicht die gesetzlichen Anforderungen zur Gewährleistung der Unvoreingenommenheit von Finanzanalysen. Insbesondere gilt bei dieser Publikation im Gegensatz zu Finanzanalysen nicht das Verbot des Handelns vor der Veröffentlichung. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Sal. 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