April / Mai 15 | #529 Das Kommunale Kino Wiens, Akademiestraße 13, 1010 Wien Bruno Dumont, „Li’l Quinquin“, Teil 1 ab 8. Mai 2015 im Stadtkino Jürgen Böttcher, „Jahrgang 45“, ab 10. April 2015 im Stadtkino Peter Kern, „Der letzte Sommer der Reichen“, ab 24. April 2015 im Stadtkino Eine Umarmung, die das Universum zähmt „Li’l Quinquin“ ist Bruno Dumonts erste offizielle Komödie. Es gibt darin insgesamt sechs Tote, vier davon in Körpern von Tieren. ALEXANDRA ZAWIA E ine tote Kuh wird gefunden. In der Kuh eine tote Frau, zerhackt und ohne Kopf. Die Frau, nicht die Kuh.Wo hört denn nun der Mensch auf und wo beginnt die Bestie? Wieviel Humanität kann man denn noch aus animalischen Eingeweiden schälen - in dieser weiten, rauen Einöde der Küstenlandschaft der Boulonnais oder wo auch immer? Vor den überwachsenen Ruinen eines einstigen Hitlerbunkers vor den Toren eines französischen Küstenkaffs haben sich der kleine Quinquin und seine Freunde versammelt, um skeptisch den Worten des Kommissars Van der Weyden zu lauschen: „Das ist schon sehr speziell“. Bernard Pruvost spielt diesen Chef-Ermittler, der den Mordfall (der sich zur Mordserie ausweiten wird) aufkären soll - eine Mischung zwischen Inspector Clouseau und Kommissar Maigret, und wie alle Darsteller hier ist er Laie. Sein Gesicht besteht hauptsächlich aus buschigen Augenbrauen, die auf seinen permanent entgleisenden Gesichtszügen Bocksprünge machen. So viele Ticks zwischen Stirn und Kinn, da ist es kein Wunder, dass Van der Weydens Partner Rudy Carpentier (Philippe Jore), der viel schlechter Auto fahren kann, als er meint, meist so ratwie zahnlos grinst und einfach auf gut Glück nickt. Ein verstecktes Zugeständnis an die soziologischen Zwänge, die in Bruno Dumonts Universum ohnehin jedem zum Verhängnis werden. Zum ersten Mal hat der französische Regisseur mit Li’l Quinquin eine Auftragsarbeit (für den Sender Arte) gemacht und sie unverhohlen als „Komödie“ deklariert, auch wenn die tragikomische Groteske in keinem seiner Filme fehlt. Als Vierteiler konzipiert, ist Li’l Quinquin genauso gut ein einziger großer Wurf, unterteilt in vier Kapitel. „Die Bestie Mensch“, so kündigt es ein Insert an, heißt das erste. „La bête humaine“, sagt Carpentier, „das ist ein Buch von Zola.“ Und natürlich auch ein Film von Renoir. Wenn diese Gräueltaten nun wirklich „die Quintessenz des Bösen“ sind, wie Van Fortsetzung auf Seite 2 » Inhalt Grotesk Bruno Dumont im Interview über seine erste Komödie „Li’l Quinquin“. 3 Verboten 25 Jahre lang war Jürgen Böttchers „Jahrgang 45“ in der DDR verboten. Ein Besuch bei dem Regisseur. 5 Opulent Peter Kerns in Berlin und Graz gefeierter Film „Der letze Sommer der Reichen“. Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 Wien / P.b.b. 6 02 Bruno Dumont, „Li’l Quinquin“ » Fortsetzung von Seite 1 der Weyden es benennt, so haben weder er noch Carpentier die Fähigkeit, darüber zu reflektieren: „Wir sind nicht hier, um zu philosophieren.“ Alles an Li’l Quinquin ist jedoch strikt philosophisch, in vieler Hinsicht eine thematische Weiterführung von Dumonts gesamter Arbeit, zuletzt seinem Camille Claudel 1915, alleine deswegen, weil auch dieser Film religiöse und moralische Überzeugungen infrage stellt, sobald diese körperlicher oder geistiger Deformiertheit gegenüberstehen, egal ob durch intellektuelle (Nicht-)Entwicklung oder psychologische Desorientierung. Wie bei David Lynch geht es in den Filmen Dumonts um Repräsentationen des Bösen und so muss die Comédie humaine auch gleichzeitig eine Tragödie sein. Der Humor hier amüsiert, aber er tröstet nicht. Er steigert nur die Tiefe seines Gegenstands. „Wir sind im Herz der Finsternis“, wird Carpentier später einmal hervorpressen, denn, wie Lynch, geht es auch Dumont um Mystik. Er sei kein naturalistischer Regisseur, betont Dumont immer wieder vehement (siehe Interview) und die Wildnis, wie sie hier inmitten der Zivilisation eine Rolle spielt, meint tatsächlich etwas Transzendentales: Naturalistische Elemente werden immer wieder unkenntlich gemacht und abgewandelt verdichtet, bis sie explodieren.Was der Kommissar sagt, ist inkohärent; die Kinder um Quinquin (Alane Delhaye) sind und bleiben unschuldig, relativ jedenfalls, auch weil sie der Wildnis unverstellt am nächsten stehen. Das Verlassen dieser Wildnis wäre ein Erwachsenwerden, ein erzwungenes Anpassen, und es geht mit Schuld einher: Die Erwachsenen in Li’l Quinquin sind lächerlich, kaputt, oft krank und meist moralisch deformiert. Wer aber ist Quinquin überhaupt? Das, was man hierzulande Gfrast nennt, ein präpubertärer Gang-Pate in einem Revier, das sich um Menschen wenig schert, weil Schweine tatsächlich viel nützlicher sind (unter anderem auch im Beseitigen von Zweibeinern). Seiner Freundin Eve (Lucy Caron) ist Quinquin vollen Herzens zugetan, eine zarte Liebe, die er mit aller Kraft beschützt; eine Liebe, die sich nicht weniger um diese unwirtliche Umgebung scheren könnte, und in ihr gedeiht, als wäre es das Paradies. In der ersten Szene nickt Quinquin Eve zu, und Dumont zeigt ihn dabei in einer frontalen, halbnahen Einstellung: damit nickt Quinquin auch uns zu, dem Publikum. Sein zerzaustes, hellblondes kurzes Haar, seine ruppigen Gesten, seine operierte Hasenscharte und ein Hörgerät im Ohr – alles zusammen macht ihn verletzlich und zwiespältig zugleich. Mit diesem Nicken schwört er uns auf diesen Ort und auf sich ein: Welchen Helden hätten wir denn gerne? Einmal abgesehen von dem ominösen Ch’tiderman natürlich, eine Gestalt in Strumpfhosen und Skimaske, die sporadisch aus dem Nichts auftaucht, vor den skeptischen Augen Quinquins, tut, was auch immer sie tun muss, und sich danach klanglos wieder trollt. EB-S_Anz.Stadtkino_260x122_RZ_10.06.indd 2 Wenn die Sprache versagt, ist das Gesicht alles, was bleibt. Das Kino wäre nichts ohne Delinquenten. Die Welt ist ohnehin ein Narrenschiff. Das Setting von Li’l Quinquin fügt sich nahtlos in das Universum von Dumonts Arbeiten, speziell von Filmen wie Flandres oder Hors Satan. Nord Pas-de-Calais wird hier zu einem Ort, an dem Verderben und Hoffnung gleichermaßen existieren und die lokale Identität seiner Laiendarsteller, wie sie Dumont für seine Filme immer wieder besetzt, ist abermals integraler Be- Das Kino wäre nichts ohne Delinquenten. Die Welt ist ohnehin ein Narrenschiff. standteil des organischen Ganzen. Ohne ihren echten Hintergrund könnte gar keine Transfiguration stattfinden, um der es Dumont besonders in der Komödie geht: Es zieht ihn hier zur Transgression, zur Übertreibung, Akkumulierung, zur Repetition, dem Burlesken, aus all dem eine Groteske wachsen kann. Dazu kommt eine Unvorhersehbarkeit, eine Unberechenbarkeit des Spiels, das die Möglichkeiten eines einzigen Dialoges vielfältig steigert. Pruvost, zum Beispiel, so Dumont, hatte immense Schwierigkeiten, seine Texte zu lernen, woraufhin ihm Dumont soufflierte. Deshalb wartet Kommissar von der Weyden im Film immer zuerst etwas, bevor er spricht – ein nie geplanter, zusätzlicher komödiantischer Effekt. Van der Weyden ist außerdem großer Wertschätzer noch größerer Hinterteile, vor allem bei Pferden. Sein Name ist eine Hommage an den Meister der flämischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Räume und Plätze, in denen er sich bewegt, sind von grotesken Ausformungen und bizarren Widersprüchen bestimmt. Schönheit und Schrecklichkeit verbinden sich bei Dumont immer wieder in den Gesichtern seiner Figuren, die offensichtlichste Weise, wie Dumont Zärtlichkeit ausdrückt und damit jeden Verdacht von Exploitation zunichte haucht. Er verweilt auf Gesichtern in Close-ups, so konzentriert, dass sogar eine Szene, in der Quinquin Eve aus der Entfernung neckt, allein durch die Isolierung ihres Gesichts, das ihre amüsierte Reaktion zeigt, herzzerreißend wirkt. Gesichter sind Dumont Tore ins Innere, auch wenn sie ausdruckslos scheinen, wie zum Beispiel jenes des Kuhhändlers Lebleu (Stéphane Boutillier), dessen geneigter Kopf immer wieder das Bild einnehmen darf: den Mund weit offen, die Augen aufgerissen, so zieht es uns in rätselhafte Dunkelheit, ebenso wie Dany (Jason Cirot), Quinquins geistig zurückgebliebener Onkel, der umherstreift und den ein ortsansässiger Bully immer wieder anpöbelt. Dumont stellt so genannte „Tabu-Gesichter“ in den Vordergrund, auch um den Zuseher zu verunsichern: Darf man lachen? Wenn ja, muss man sich dafür schämen? Im Gesicht, wie es Dumont in Szene setzt, spiegelt sich der Horror in mehreren Schichten und in mindestens zwei Richtungen. Vor allem, wenn die Sprache versagt, ist das Gesicht alles, was bleibt. „Im Herz des Bösen“ ist der Titel des zweiten Kapitels, denn als der Serienmörder wieder zuschlägt, setzt der Film fort. Zum einen, weil zwischen den Behörden keine Kommunikation stattfindet, zum anderen bedingt durch eine generelle Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern. Ein Subtext, der sich mit der abwesenden StadtkinoZeitung Kommunikation zwischen Institutionen und Individuen beschäftigt, wird in den letzten beiden Kapitel verdichtet: „Der Teufel in Person“ und dem finalen „Allah Akhbar”, dem die lange schwelende Rivalität zwischen Quinquin und dem etwas älteren Mohammed vorausgeht. Die Spannungen entwickeln sich zuerst entlang von Pubertäts-Rivalitäten um ein Mädchen, Dumont lässt sie allerdings offen in explizit religiöse Konflikte hochwinden. Li’l Quinquin wurde in Audresselles gedreht, am Cap Gris-Nez in der Pas-de-Calais Region, nicht weit von Ambleteuse, wo ein beträchtlicher Teil von Hors Satan gefilmt wurde. Der nächst größere Ort ist Wissant, der nächste danach Sangatte – das Gebiet der „berüchtigten“ Flüchtlingslager, die im Zuge des Vorstoßes des Front National bei den letzten Wahlen geräumt wurden. In der Pas-de-Calais Region hat die Front National unter anderem den höchsten Prozentsatz an Wählern. In der nördlich benachbarten Region, Bailleul (wo La vie de Jésus spielt und wo Dumont geboren wurde), hatten sie übrigens nur unwesentlich schlechter abgeschnitten. Offensichtliche Politik existiert in Li’l Quinquin aber nicht. Van der Weyden soll die einzige Autoritäten-Instanz sein und die katholische Kirche erweist sich wiederholt als wenig sicher oder hilfreich. Mohammeds Abdriften in den Fanatismus und die Selbstzerstörung entspricht dem weiter gefassten Konzept in Dumonts Arbeiten, in dem seine Figuren entsprechend überlieferter und eingetrichterter sozialer Normen agieren beziehungsweise in ihrem Nicht-Handeln leiden. Dumont attackiert hier deutlich und sarkastisch die schädliche Auswirkung organisierter Religion auf Individuen und auf Gemeinschaften. Sein Interesse liegt darin zu zeigen, wie sowohl Ideologie als auch das Kino selbst entlang haarfeiner Linien verlaufen, die Polaritäten nur unzureichend trennen und wo religiöse Rituale schnell zu komödienhaften Kapriolen werden, ein ernstes Drama in urkomischen Slapstick kippt. Die Liebe ist schließlich das Einzige, worauf Verlass ist. Und das Universum, launisch und grausam? Eine Umarmung kann es zähmen. • Bruno Dumont Li’l Quinquin (Frankreich 2014) Regie und Drehbuch Bruno Dumont Darsteller Alane Delhaye, Lucy Caron, Bernard Pruvost, Philippe Jore Kamera Guillaume Deffontaines Schnitt Basile Belkhiri, Bruno Dumont Ton Philippe Lecoeur Produktion 3B PRODUCTIONS, ARTE France Verleih Stadtkino Filmverleih Format DCP / Farbe Länge 2x 100 Min. Fassung OmdU Kinostart Teil 1: 8. Mai 2015 Kinostart Teil 2: 5. Juni 2015 10.06.14 12:10 Bruno Dumont, „Li’l Quinquin“ 03 Foto: © Olivier Vigerie StadtkinoZeitung Hier hatte der Fotograf Glück: Bruno Dumont hat angesichts seines Erfolgs gut Lachen. Ironie wird uns retten Bruno Dumont zu interviewen ist spannend, auch weil er kaum lächelt. Das passt besonders gut, spricht man mit ihm über Filme wie „L’Humanité“ oder „Hors Satan“, also unter anderem über Aggression, Sex, Religion und den Teufelskreis, den sie bilden. Im Gespräch über sein offen komisches Meisterstück „Li’l Quinquin“ ging es nach außen hin nicht nennenswert heiterer zu aber das ist durchaus plausibel. ALEXANDRA ZAWIA „Li’l Quinquin” markiert nicht nur Ihre deutliche Hinwendung zur skurrilen Komödie, sondern auch zur archaischen, episodischen Erzählstruktur. Auch, um die Komödie „ernster zu nehmen“? Es ist ein Irrtum, zu glauben, etwas wäre nicht tiefgründig, nur weil es witzig ist. Der Episodenfilm erlaubt es, der Geschichte den Charakter eines großen Romans zu verleihen, das schätze ich sehr. In der Komödie ist alles sehr expressionistisch und dafür bin ich dankbar, aber die Komödie ist nicht eigenständig, sondern sie begründet sich immer im Konflikt, wie er der menschlichen Natur nun mal eigen ist. Deswegen kann man bestimmt auch sagen, in all meinen Filmen lauert die Komödie versteckt hinter der Tragödie. So betrachte ich Li’l Quinquin als eine natürliche Entwicklung, die in gewisser Weise eine Konsequenz meiner bisherigen Arbeit ist. Aber es fühlt sich tatsächlich auch wie eine Selbstparodie an. Sie betonen die Komödie vor allem im Grotesken. An der Realität interessiert mich nicht, sie naturalistisch abzubilden, selbst wenn viele immer wieder sagen, ich wäre ein naturalistischer Regisseur, das sehe ich gar nicht so. Mich interessiert, wie ich die Realität entstellen kann, weil ich nur dann wirklich etwas entdecken kann. Die Aufnahme, die man von einer Landschaft gemacht hat, ist nicht länger diese Landschaft, und besonders diese Landschaft dort bestimmt mich, und sie bestimmt all meine Filme, wie in einer geheimen, mystischen Verbindung. Man könnte es meinen Ausgangspunkt für eine universelle Wahrheitssuche nennen, die für mich immer mit Introspektion beginnt. Auch unter diesem Aspekt liebe ich das Cinemascope-Format, weil es eine Herausforderung darstellt. Es ist immer zu viel im Bild, zu viel an den Seiten, es macht es schwierig, eine Nahaufnahme zu gestalten. Aber es ist enorm wichtig, um eben solche „GedankenShots“ zu kreieren. Denn das, was fotografiert wurde, ist nicht länger in der Geometrie unseres Denkens. Die Einstellung ist also eine Einschränkung, aber eine faire, weil sie das Rundherum zulässt, als organische Gesamtkomposition. Und sie relativiert die Figur, das finde ich sehr wichtig. Kommissar Van der Weyden hat eine spezielle Liebe für flämische Maler, nicht nur aufgrund seiner Namensverwandtschaft sondern wegen der disproportionalen Motive, die sie abbilden.Woher kommt sie? An der flämischen Malerei mag ich besonders, dass es darin nicht um Perspektive geht. Darüber findet Van der Weyden seinen Zugang: Alles verhält sich zueinander unproportional, in den Gemälden, wie in seiner Welt. haften „Detective“, der stoisch daherkommt, logisch denkt und entschlossen handelt.Van der Weyden aber erinnert an Pharaon aus „L’Humanité“ und wie dieser ist er angesichts der Schreckenstaten von einer Empathie überwältigt, zu der wohl nur wenige fähig wären. Van der Weyden ist nur in einer konventionellen Definition inkompetent. Er möchte eine Verbindung zu den Menschen haben, er sucht diese Verbindung. Aber speziell in seinem Job wird er tagtäglich aufs Neue frustriert und desillusioniert. Mich interessiert die animalische Seite der Menschen sehr, ihr instinktives Verhalten, das viel wahrhaftiger ist, als gelerntes oder angepasstes Verhalten. In Li’l Quinquin sind die Kommissare Kino ist nichts Metaphysisches, Kino ist physiologisch. Bei Malern wie Govaerts und Van der Weyden werden ganz normale Menschen zu „Helden“. Das zeugt von Humor und von einem Sinn fürs Groteske. Ich habe also nichts erfunden, sondern bin einfach der Tradition dieser Maler gefolgt. Der Tod lauert dabei an jeder Ecke, er ist allem immanent und trotzdem hat das eine komische Seite. Es ist ein philosophischer Mix von Tragödie und Drama und Komödie. Ohne Entstellung kann es keine Veränderung geben und keinen Ausdruck, nur dadurch bekommt etwas eine Bedeutung oder einen Sinn und wird zu etwas, das wir Kino nennen können. Kino ist nichts Metaphysisches, Kino ist physiologisch. Van der Weyden ist ein eher inkompetenter Kommissar. Das Gegenteil des archetypischen, helden- tatsächlich sehr schlecht in ihren Jobs, ich zeige Polizisten generell als Versager, aber hier interessiert mich der Zustand des Nichts-Tuns, der allem vorangeht. Gewalt und Sex fallen in diese Phase, weil sie aus dem Nichts kommen können, ohne Vorwarnung, aber gleichzeitig sind sie immer der Anfang von etwas. Trotz der Brutalität herrscht in Ihren Filmen kaum Angst.Warum nicht? Ich schreibe Angst nie ins Skript. Deswegen müssen meine Darsteller nie spielen, als würden sie sich fürchten. Sie sind alle sehr fatalistisch. Sie machen alles aus einer gewissen Direktheit heraus. Da alle Laien sind, bringen sie ohnehin eine gewisse „Grundangst“ mit. Bernard Pruvost zum Beispiel ist tatsächlich von Ticks geplagt, die noch schlimmer werden, wenn er nervös ist und - wie vor einer Kamera - unter Druck steht. Er hatte immer sehr große Angst, was ihn automatisch sehr sensibel und großartig emotional sein hat lassen. In Ihren Filmen sind Fragen über Fundamentalismus und religiösen Fanatismus wiederkehrende Themen - am Deutlichsten wohl in „Hadewijch“, „La vie de Jésus“ und „Flandres“.Wo in Ihrem philosophischen Bogen über die Menschheit würden Sie diese Fragen verorten? Mehr als diese Themen in konkrete politische Kontexte zu stellen oder sie geographisch zu verankern, interessiert mich die generelle menschliche Fähigkeit zur totalen Barbarei. Das Barbarische im Menschen ist unausrottbar, egal wie „hoch zivilisiert“ oder technisch fortgeschritten eine Gesellschaft ist. Man kann Barbarei nicht tilgen noch permanent unterdrücken, weder durch Bildung noch durch Kultur. Gerade Bereiche wie Religion und Politik sind eine Arena, in der die Menschen - je nach Macht als Individuen oder Gesellschaften - Barbarei ganz offen ausleben. Gibt es Hoffnung? Kino ist Aberglaube. Wie bei Superman. Oder der Auferstehung. Kino ist die ganze religiöse Palette. Wir alle brauchen etwas Spirituelles, wir brauchen ein „Jenseits“. Dieses Jenseits ist das Kino. Durch Kino können wir das Jenseits sehen. Ich glaube an die Ironie. Ich bin überzeugt, dass Ironie uns rettet. Auch deswegen hatte ich große Freude daran, nun eine Komödie zu machen. Auch wenn wir wissen, dass Quinquin im Prinzip ein kleines Biest ist, das eines Tages zur großen Bestie werden wird, liegt allein in der Tatsache, dass wir das wissen, viel Ironie. Wir sind uns auch bewusst, dass es anders kommen könnte: Er könnte ein guter Mann werden, ein guter Mensch. Ironie ist mein Optimismus. Am Ende wissen wir ohnehin: alles war eine Täuschung. Bruno Dumont, „Li’l Quinquin“ 04 StadtkinoZeitung Wieso sollten sich Genie und Wahnsinn ausschließen? Zwei Monate lang luden wir im Rahmen des Scope50 Projekts 50 Teilnehmer ein, zehn europäische Filme über die Plattform Festivalscope zu sichten, zu diskutieren und zu bewerten. Der Siegerfilm „Li’l Quinquin“ startet nun in den österreichischen Kinos. Hier einige Reaktionen und Bemerkungen. D er Film Li’l Quinquin hat mich in mehr als einer Hinsicht positiv überrascht. Positiv deswegen, weil man meinen könnte, dass schon genug Krimis gedreht wurden, die in Richtung Slapstickkomödie wollten. Dieser hier ist aber ein Sehenswerter. Angefangen mit dem jungen Hauptdarsteller und seinem ungewöhnlichem Aussehen, der eine wunderbar freche und fast schon rohe Figur verkörpert und seinen kleinen Freunden, die zwar ganz lieb, aber genauso fluchende (verzeihen Sie) Arschlöcher sein können, bis hin zu den beiden herrlich skurrilen Ermittlern, hat dieser Film ein schönes Repertoire an tollen Momenten, Schauspielern und Bildern zu bieten. So oder so geht einem bei diesem Werk das Herzerl auf und der Zuschauer wird mit einem gutem Gefühl den Kinosaal verlassen. Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass ich das Scope50 Projekt großartig finde und hoffe, dass es derartige Arrangements in Zukunft öfter und in größerer Zahl geben wird, es kann nur ein Gewinn für die österreichische und europäische Filmlandschaft sein. Adela Schneider E in Landkrimi im weitesten Sinne? Eine absurde Groteske? Eine subversive Kritik am französischen Polizeiwesen? Li’l Quinquin ist all das und noch viel mehr. Konzipiert als Vierteiler fürs Fernsehen, entfaltet dieser Film sein wahres Potential erst auf der großen Leinwand, wo die tristen Weiten des französischen Nordens und die verstörend-komischen Verhaltensmuster seiner Bewohner sich zu einem irren Tanz entwickeln, der weniger von der kinetischen Energie, als von der schleichenden Redundanz seiner Gags geprägt ist. Bruno Dumont, bis dato (zu Unrecht) als hochphilosophischer und verkopfter Filmemacher verschrien, liefert mit Li’l Quinquin eine zugängliche, liebenswerte Komödie ab, die nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Nachdenken und Staunen anregt. Rainer Kienböck W underbarer Film und trotz der Länge kein bisschen fad. Perfekte Komödie im Sinne eines Gemäldes der menschlichen Gesellschaft, in diesem Fall einer Kleinstadt in der tiefsten Provinz. Dazu Genrekomödie, die alle Elemente einer Kriminalkomödie beinhaltet: skurrile Handlung, dazu passender Kommissar, ein bisschen beschränkter Helfer und ja - natürlich der Zufall ... Und dann noch die Liebesgeschichte der Kinder - Jeux interdits. Jörg Rainer E in Dorf an der nordfranzösischen Küste wird von einem makaberen, teuflisch anmutenden Mordfall erschüttert. Die Leichenteile einer Bäuerin finden sich im Verdauungstrakt einer verendeten Kuh wieder, die in einem verlassenen Bunker entdeckt wird. Während der schrullige Dorfkommissar und sein ungeschickter Assistent alles (Menschen-) Mögliche versuchen, um aus den nicht vorhandenen Spuren und den stoischen Bewohnern schlau zu werden, macht sich eine Gruppe von Springinkerln, angeführt von Li’l Quinquin und seiner großen Liebe Eva, selbst an die Auflösung des bizarren Rätsels. Bruno Dumont entzieht sich gekonnt den klassischen Filmkategorisierungen, es handelt sich weder um einen Kriminalfilm noch um ein Horrorspektakel, und Komödie oder Drama will es auch nicht so recht sein, obwohl sie alle elementar vorhanden sind. In diesem freien Raum, vor allem getragen durch die exzellente Chemie zwischen den Darstellern und dem unvoreingenommenen Blick des Regisseurs, entwickelt sich etwas sozusagen aus dem Nichts; die eigentliche Handlung tritt immer mehr in den Hintergrund und macht Platz für die Menschen, die eben so sind, wie sie sind, mit allen ihren Macken und Tugenden. Christian Malavasi O berflächlich betrachtet macht dieser Film vieles falsch: Kinder als Hauptfiguren eines erwachsenen Films? Kein international bekannter Hauptdarsteller? Ein Humor, den man des Öfteren nicht erfasst? Vier Stunden Spielzeit? Doch das ist alles irrelevant, denn der Film funktioniert. Vier Stunden lang. Weil das Casting der Kinderdarsteller so überragend ist, dass diese den Film tragen können. Weil die Figuren am Ende doch nicht so dümmlich sind, wie man dachte. Weil die Kriminalgeschichte eine Grundspannung mitbringt, die die verschiedenen Nebenstränge der Erzählung zusammenhält. Vor allem aber, weil viele der besagten Nebenstränge unter die Haut gehen: Die bedrohlichen Weltkriegs-Bunker (samt liegen gebliebener Waffen), die zum Spielplatz der Jugend werden. Eine überraschend natürlich gespielte Liebesgeschichte zwischen zwei Noch-nichtmal-Teenagern. Ein junger Mann, der durch Vorurteile und Rassismen der Dorfgemeinschaft zum äußersten getrieben wird. Und über all dem schwankt ein Ermittlerduo zwischen absurder Einfältigkeit und 007-Coolness. Wieso sollten sich Genie und Wahnsinn auch ausschließen? Reinhard Mayerhofer die in Cannes, Venedig etc. im Zentrum cinephiler Öffentlichkeit stehen, in der breiten, geradezu grotesk hollywoodorientierten Öffentlichkeit jedoch leider meist gar nicht bis kaum wahrgenommen bzw. in den größeren Kinos erst gar nicht gezeigt werden. Da es leider, auch in einer (u.a. dank des hervorragenden Stadtkino Filmverleihs) an sich großartigen Kinostadt wie Wien oft passiert, dass originäre, radikale, faszinierende Werke keinen Kinoverleih bekommen, genoß ich das Privileg, ebensolche, bislang noch nicht „an das Publikum gebrachte“ Werke anzusehen, zu bewerten, und damit über einen möglichen Kinostart mitbestimmen zu dürfen, sehr. Dass am Ende nicht einer meiner eigenen Favoriten gewann, ist dabei halb so wichtig – ich freue mich einfach, dass der Siegerfilm vielen anderen so gut gefallen hat und dass ein Werk des geschätzten Bruno Dumont auf österreichischen Leinwänden zu sehen ist. Der kleine Wermutstropfen an einem solchen Projekt liegt auf der Hand, denn grundsätzlich sollte jeder gute Film am besten auf einer Kinoleinwand genossen werden und nicht zuhause - gerade deshalb hoffe ich sehr, dass Scope50 kein einmaliges Projekt bleibt, sondern sich als partizipativer Teil des Systems Kino etabliert - ich wäre jederzeit wieder liebend gerne dabei! Paul Brugger V ielen Dank für die Verkündung des Siegerfilms - meinem absoluten Liebling in diesem Wettbewerb! Isabella Fellinger D ieses Projekt finde ich sehr spannend und sehr gut, da uns Kino-Gehern/ Cineasten die Möglichkeit geboten wurde, Einfluss auf das Programm zu nehmen, aber auch ein kleiner Einblick in die Programmgestaltung der Kinos gewährt wurde. Die Frage, wie man mehr Leute für gute Filme ins Kino bringen kann, beschäftigt mich schon einige Zeit und in meinem kleinen Kreis bemühe ich mich nach besten Kräften. Da war es wirklich eine Wohltat, einmal nicht nur tatenlos zuzusehen, sondern ein klein wenig aktiv zu sein. Li’l Quinquin als Krimi zu bezeichnen würde vielleicht falsche Erwartungen erzeugen. Bruno Dumont hat bei diesem Film zwar einen Kriminalfall untergebracht, tatsächlich aber jagen sich das Absurde, Groteske und Skurrile gegenseitig. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, welche Typen, allesamt Laienschauspieler, der Regisseur hier in seiner Heimat aufgetrieben hat. Und mittendrin in diesem Treiben, das mitunter auch sehr makaber ist, wird eine reizende platonische Teenager-Liebesgeschichte erzählt und zu Freundschaft, Rassismus, Familie und zum Dorfleben, samt Kirche und Obrigkeit Stellung bezogen. Obwohl thematisch viel untergebracht wird, ist es ein sehr langsamer Film, der viel Zeit gibt die Typen und die Landschaft, rund um die Opalküste Frankreichs, intensiv zu betrachten und wirken zu lassen. Andrea Rohm S cope50 war für mich eine sehr spannende und schöne Erfahrung. Das Entdecken „unbekannter“ Filme, die anschließenden Reflexionen, die unterschiedlichen Reaktionen und Sichtweisen der anderen TeilnehmerInnen. Seit vielen Jahren interessiere ich mich in erster Linie für das sog. Festivalkino, einfach gesagt, all jene zum Großteil besonderen Filme, Eine „Amour fou“, wie sie Bruno Dumont imaginiert… S o wie vier weitere europäische Filmverleiher lud das Stadtkino Anfang des Jahres 50 heimische Cineasten, zehn europäische Filme, die in den letzten beiden Jahren auf internationalen Filmfestivals Premiere feierten, über die Online-Plattform Festivalscope zu sichten, zu diskutieren und zu bewerten. Die Prämisse war simpel: Mit dem Aufkommen des Internets und den von ihm gebotenen Möglichkeiten, sich über die aktuellen Entwicklungen und die Geschichte des internationalen Films zu informieren, haben sich die Sehgewohnheiten in den letzten 15 Jahren stark verändert. Dadurch gibt es heute ein größeres Publikum, das über ein breites Filmwissen verfügt und bereit wäre, neue Filmkontinente zu entdecken und erforschen. Das Problem: Mehr als 90 Prozent der pro Jahr weltweit produzierten Filme finden keinen Weg in die Kinos, selbst die versiertesten Arthouse Filmverleihe können nicht alle diese Filme sichten. Durch den Auswahlprozess und die Bewertung konnten die Teilnehmer in ganz Österreich in Zusammenarbeit mit der EU-Initiative „Scope50" einen Film ihrer Wahl in die österreichischen Kinos bringen. Dem Aufruf folgten Cineasten aus dem ganzen Land, zwei Monate lang entsponnen sich im Netz leidenschaftliche Analysen und Debatten – unter anderem auch zu der Frage nach Vermarktungsmöglichkeiten des möglichen Siegerfilms oder darüber, nach welchen Auswahlkriterien überhaupt ein Film in die Programmkinos kommt. Die Konkurrenz war groß, doch schließlich wurde Bruno Dumonts Li’l Quinquin von der Mehrheit unserer Juroren als Bester Film ausgewählt. Der Stadtkino Filmverleih kommt diesem Votum nun nach und startet den Film in zwei Teilen in den österreichischen Kinos. StadtkinoZeitung Jürgen Böttcher, „Jahrgang 45“ 05 Jugend in der DDR – für die Staatsführung von Böttcher zu asozial und kapitalistisch dargestellt. Sanft sein und brüllen können Die frisch restaurierte Fassung von Jürgen Böttchers „Jahrgang 45“ ist ab 10. April im Stadtkino im Künstlerhaus zu sehen. Ein Besuch bei dem Maler und Regisseur, auch Strawalde genannt. KERSTIN DECKER S ie müssen aber Ihre Schuhe abtreten, wenn Sie wieder gehen!“, sagt Jürgen Böttcher, als er die Tür öffnet. Ein Blick auf den Mann genügt, um zu wissen: Das ist keine leicht verunglückte Aufforderung, bei ihm auf Strümpfen zu laufen. Dies sei eine Malerwohnung, und man könne nie wissen, wo man da reintritt, fügt Böttcher erklärend an, die Verwirrung seiner Gäste bemerkend. Sie wird in den nächsten Stunden kontinuierlich zunehmen. Böttcher, der Maler, der ein Filmemacher ist. Böttcher, der Filmemacher, der ein Maler ist. Als Maler nennt er sich Strawalde, nach dem Lausitzer Dorf seiner Kindheit. Böttcher, der Regisseur, der einen einzigen Spielfilm drehte in der DDR. Den vielleicht einzigen Nicht-DEFA-Film bei der DEFA. Das ist nun ein halbes Jahrhundert her, und genau vor einem Vierteljahrhundert wurde dieser Film zum ersten Mal gezeigt: 1990. Surreale Zeiträume. Und in ebensolche Welten führen auch Böttchers Filme: Es ist ein Surrealismus, aus lauter Realismen gewoben. Es riecht nach Ölfarben in den weiten Zimmern. An den Wänden lehnen große Bilder. Es ist vollkommen klar, dass diese Wohnung ihnen gehört, die Gegenstände haben längst die Herrschaft übernommen, Böttcher ist hier nur noch geduldet. Es werden immer mehr Leinwände, denn der Maler malt, aber kaum einer will seine Bilder kaufen. Dabei schienen der Ruhm und das Geld ihn zu verfolgen nach 1990. Es ist seltsam, es ist eine der vielen Seltsamkeiten seines Lebens. Jürgen Böttcher sieht aus wie sechzig Jürgen Böttcher ist jetzt 83 Jahre alt und sieht aus wie ein Mann um die sechzig, als hätte das Alter ihn vergessen. Er hat Tee gemacht. Es genügt zu sehen, wie Böttcher eine Teetasse hält, um seine Ästhetik zu verstehen. Es liegt eine unendliche Zärtlichkeit, eine große Behutsamkeit darin. Was Jürgen Böttcher anfasst, wird durch seine Berührung zur Kostbarkeit. Jahrgang 45 also. Es ist die Geschichte von Al und Li, von Alfred und Lisa. Sie ist Säuglingsschwester, er ist Automechaniker. Beide glau- ben, dass ihre Heirat ein Irrtum war, viel zu früh, eine Selbstinternierung, noch bevor sie die Freiheit kannten, die das Leben ist. Und jetzt will Al sich scheiden lassen. Bei gewöhnlichen Filmen darf man so beginnen, bei diesem heißt es, ihn von vornherein zu verfehlen. Denn eigentlich ist Jahrgang 45 nichts weiter als eine große atmosphärische Verdichtung, gemacht aus Gesten und Blicken, aus kleinsten Welteröffnungen, tastend, spielerisch, wegwerfend auch. So steht Rolf Römers Al auf seinem Balkon, irgendwo in Berlin. Der Tag liegt vor ihm wie das Leben: ungeheuer weit, ungeheuer ziellos,Verheißung und Abgrund zugleich. Er habe da von diesem Film gehört, den er plane, sagte Römer damals zu Böttcher, und dass er es für seine Pflicht hielte, ihm mitzuteilen, dass er Al sei. Er müsse das spielen. Auf dich wäre ich nun gar nicht gekommen, wollte Böttcher schon antworten, denn sie kannten sich von der Filmhochschule und ihre gegenseitigen Sympathien hielten sich sehr in Grenzen. Aber etwas ließ Böttcher innehalten und seine kinematografische Intelligenz sagte ihm: Warum eigentlich nicht? Die Reaktion schon im Studio bei der Rohschnittabnahme, war Wut. Böttcher erinnert sich genau: Das sei die „Heroisierung des Abseitigen“, schrie ein Kollege. Leonid Breschnew verhinderte Böttchers Film Böttchers Jahrgang 45 geriet 1966 in die Nachwelle der Hysterie des 11. Plenums der Staatspartei, das ursprünglich die DDR-Wirtschaft der Marktlogik öffnen wollte. Leonid Breschnew, der neue erste Mann in Moskau, hat es in letzter Sekunde verhindert. Eine neue Eiszeit brach an, fast die ganze DEFA-Jahresproduktion 1965/66 landete in den Panzerschränken des Spielfilmstudios. Böttcher erhielt Hausverbot wie auch an der Filmhochschule, nicht einmal seinen Schauspielern durfte er den Rohschnitt zeigen. Jahrgang 45 wieder zu sehen, heißt zu ahnen, dass dieser Film selbst bei anhaltendem Tauwetter nie den Weg in die Kinos gefunden hätte. Sein ganzer Gestus schien den machthabenden Überlebenden des Dritten Reichs ins Gesicht zu schlagen: Für einen wie Al ha- ben wir nicht gekämpft, für diese Jugend haben wir nicht in den Lagern gesessen! Doch genau diese Ungerechtigkeit der Generationen gegeneinander, ihre Sprachlosigkeit ist das Thema des Films, darum der Titel Jahrgang 45. Es geht um die, die 1965 zwanzig waren: eine Jugend wie eine Unbestimmtheitsrelation, zum Hedonismus sehr begabt, mit anderen Talenten noch nicht hervorgetreten. Und vielleicht das Schlimmste: Die meinende Sprache ist in Jahrgang 45 nur eine Sprache unter vielen, und bei Weitem nicht die wichtigste. Eine große atmosphärische Verdichtung, gemacht aus Gesten und Blicken, aus kleinsten Welteröffnungen. Vielleicht hat Jürgen Böttcher die Staatsführung als einziger je angeschrien Es entspricht der Weltwahrnehmung des Jürgen Böttcher. Wenn er von Begegnungen seines Lebens berichtet, gibt er nicht zuerst wieder, was einer gesagt hat, sondern wie der Rauch seiner Zigarette sich in diesem Augenblick zog. Es gibt nichts Wesentlicheres als das Unwesentliche, glaubt Böttcher. So drehte er auch seine Dokumentarfilme. Wäscherinnen etwa oder Ofenbauer. Der verfilmt noch das ganze Branchenbuch, mutmaßten die, die ihn nie verstanden. Für Rangierer bekam er 1987 beim australischen Eisenbahnfilmfestival den Grand Prix, das „Goldene Gleis“. 20 Minuten lang rangierende Züge, aber wie! Die Sprache der Schienen wird irgendwann zur Musik. Das Irritierende an Böttcher ist: Bei all seiner Sanftheit, trotz seines mimetischen Ausnahme- talents ist er doch auch des Gegenteils fähig. Vielleicht war Jürgen Böttcher der Einzige, der die Vertreter der Partei- und Staatsführung der DDR je angeschrien hat. „Ich kann unglaublich brüllen, das habe ich von meinem Vater“, sagt er. Seltsam genug, nahmen die Genossen das hin. Sie fühlten sich lebendig in diesen Augenblicken, vermutet der Ungebärdige. Irgendwann nannten sie ihn Spartakus. Einer, der den Sklavenaufstand probt: allein. Das ist er wohl geblieben. Alle seine Gefährten waren irgendwann weg, Penck, der Maler, Freund Biermann sowieso. Aber Böttcher blieb, eisern. Er misstraute dem Kapitalismus, das macht er noch immer. • Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von „Der Tagesspiegel“, Berlin. Jürgen Böttcher Jahrgang 45 (DDR 1966/1990) Regie Jürgen Böttcher Drehbuch Klaus Poche, Jürgen Böttcher Darsteller Monika Hildebrand, Rolf Römer, Paul Eichbaum, Holger Mahlich, Gesine Rosenberg Kamera Roland Gräf Schnitt Helga Gentz Musik Henry Purcell, Wolf Biermann, Matthias Suschke Ton Peter Foerster Produktion DEFA-Studio für Spielfilme, KAG „Roter Kreis“ Potsdam-Babelsberg, Deutsche Demokratische Republik Verleih Deutsche Kinemathek Format DCP / s/w / 35mm Länge 94 Min. Jürgen Böttcher wird, dank einer Kooperation mit Thomas Heises Filmklasse an der Akademie der Bildenden Künste, von 17. – 19. April in Wien sein. Im Rahmen einer Sonntagsmatinee zeigen wir am 19. April auch seinen Film „Die Mauer“ (1990). Informationen dazu finden Sie rechtzeitig auf unserer Homepage. Peter Kern, „Der letzte Sommer der Reichen“ 06 StadtkinoZeitung „Einen Killer bestellt man nur einmal“: Amira Casar als abgründige Turbokapitalistin in Peter Kerns melodramatischem Thriller „Der letzte Sommer der Reichen.“ Ein filmischer Reigen der Korruption Mit „Der letzte Sommer der Reichen“ legt der österreichische Filmemacher und Autor eine der besten Arbeiten in seinem an Glanzstücken nicht armen bisherigen Werk vor. Ein Interview. KARIN SCHIEFER H anna von Stezewitz ist jung, attraktiv und Mitglied der High Society von Wien. Die erfolgreiche Konzernchefin zieht mit ihrem Geld rücksichtslos die Fäden in Politik und Wirtschaft und nimmt sich – im Dominatrix-Outfit –, was ihr gefällt. Ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigt sie in nächtlichen Eskapaden im Bordell, Alkohol und Drogen sind ihr Lebenselixier. Immer härter, immer schneller, lautet die Devise, nur nicht langweilig werden. Doch ihrem Großvater, dem bettlägerigen konservativen Patriarchen des Familienunternehmens, gefällt ihre freizügige Lebensweise nicht. „Niemand Thomas Bernhard Am Ziel Regie Cesare Lievi Martina Ebm, Andrea Jonasson, Therese Lohner und Christian Nickel Mit »Das ist großartiges Theater und großartige Literatur. Ein interessanter Abend mit großen schauspielerischen Leistungen.« (European Cultural News) wird dich vor deinen Lastern und Perversionen schützen“, droht er der Enkelin mit Enterbung. Diese heuert einen Killer an, um sich von ihrer Last ein für allemal zu entledigen. Als Hanna in der Krankenpflegerin ihres Großvaters, der Nonne Sarah, unverhofft ihre Seelenpartnerin findet, scheint ihre Sehnsucht nach dem persönlichen Glück endlich in Erfüllung zu gehen. Doch dann erreicht sie ein anonymer Anruf …“ Diagonale 2015 „Schrill“: Das ist so ein Adjektiv, das man dem österreichischen Filmemacher und Autor Peter Kern gerne „umhängt“ – wie ein Deckmäntelchen, das weniger den Künstler und sein Werk schützt; vielmehr lenkt es ab in Richtung vermeintlicher Abseitigkeiten und Kapriolen, um nur ja nicht zuzugeben, dass Kerns Blick Lust- und Last- und Gewaltvorstellungen sich sehr unverstellt an realen Gegebenheiten misst. „Satire“? Mittlerweile kann man Peter Kern, dem mitunter auch diese Schublade gerne zugeschoben wird, eigentlich nur konzedieren, dass unsere Gesellschaft in Sachen Zuspitzung quasi stündlich ihre „Satiriker“ selbst überholt. Satire, das sind vielleicht die (ernst gemeinten) Qual-Szenarien in Fifty Shades of Grey („Welcome to my world“). Ernsthafter und liebevoller und eleganter als Peter Kern hingegen kann man Menschen, die sich selbst träumend zerstören, schwerlich abbilden. Es sei denn, man denke an Filme von Rainer Werner Fassbinder oder Werner Schroeter – um nur zwei Regisseure zu nennen, von denen Kern sehr ersichtlich gelernt hat. „Low Budget“: Mit gerade einmal 600.000 Euro Budget gehört Der letzte Sommer der Reichen zu den „opulenteren“ Werken eines obsessiven Traum-Künstlers, für den wenig Geld kein Hindernis darstellte, viele Filme zu machen. Und der beständig weiter vorexerziert: In Gefahr und höchster Not ist der Mittelweg, wie breit befahren er auch immer sein mag, als Sackgasse der Tod. www.josefstadt.org Karten und Info unter: T +43 1 42700-300 INSERAT_Am_Ziel_01.indd 1 25.03.15 14:37 Wie hieß es also zu Recht im Katalog der Berlinale 2015, in deren „Panorama“-Schiene Der letzte Sommer der Reichen von Kritik und Publikum gefeiert wurde: „Peter Kern gelingt ein bitterböses und opulentes Sittengemälde, in dem alle, arm wie reich, bestechlich oder zumindest verführbar sind und die Kriminalität mit dem Kapital unter einer Decke steckt. Ein Reigen der Korruption, und wer den Takt stört, der wird aus dem Weg geräumt.“ Claus Philipp In Ihren bisherigen Filmen haben Sie immer auf einen Ausschnitt in der Gesellschaft geschaut, in „Der letzte Sommer der Reichen“ werfen Sie einen viel globaleren Blick auf sie. Es ist ein düsterer und perfider Blick auf recht verkommene Zustände. Ich beschäftige mich schon seit zehn Jahren mit dieser Geschichte. Bis sie realisiert wurde, hat es gedauert, da hat sich lange niemand drüber getraut. Einmal mehr haben wir nur mit minimalen Mitteln gearbeitet, die uns letztlich das ÖFI bereitgestellt hat. Für so einen Film bräuchte man 2,5 Mio., wir hatten vielleicht ein Viertel davon. Das hat katastrophale Auswirkungen, weil alle ausgebeutet werden und ich mit meiner eigenen Kraft bis an die Grenzen ging. Tag und Nacht. Daher kommt wahrscheinlich auch meine Krankheit. Was lieferte vor zehn Jahren schon den Anstoß, dieses Bild von der Gesellschaft zu zeichnen? Ich wollte eine Geschichte unter dem Motto „Ein Mann sucht seinen Mörder“ machen. Er sucht jemanden, der ihn umbringt, weil das Leben nicht mehr lebbar ist und er es selbst nicht schafft, sich umzubringen. Ein deutscher Journalist machte mich darauf aufmerksam, dass es diese Geschichte schon bei Aki Kaurismäki I Hired a Contract Killer gäbe. Meine Inspiration geht aber auf Jack Londons Das Mordbüro zurück, das ich in meiner Jugend gelesen habe. Die Grundgeschichte hat sich in meinem Kopf immer weiter gesponnen. Irgendwann wurden zwei Frauen meine Hauptfiguren. Es ist aber keine Lesbengeschichte, sondern eine Liebesgeschichte. Ein Melodram über die Verzweiflung, dass Liebe nicht kaufbar ist, so wie es auch der Tod nicht ist. Parallel zum Drehbuch von „Der letzte Sommer der Reichen“sind in einem beispiellosen Output mehrere Spielfilme in den letzten Jahren entstanden.Vielleicht zu viele in dieser kurzen Zeit? Das Drehbuch-Schreiben machte vielleicht zehn Prozent meiner Gesamttätigkeit aus, ansonsten drehe ich immer wieder an neuen Werken. Das vergangene Jahr war das erste Jahr in meinem Leben, wo ich nichts gemacht habe, weil ich nichts machen konnte, weil keine Kraft mehr da war. Ich stand dem Tod näher als dem Leben. Es war mir alles gleichgültig. Burn-out, alles zusammen. Ich saß da und machte nichts mehr außer fernzusehen. Das Schlimmste, was einem Workaholic wie mir, der immer Geschichten erzählen und die Leute aufstacheln will, passieren kann. So ein Jahr möchte ich nicht noch einmal erleben. StadtkinoZeitung Peter Kern, „Der letzte Sommer der Reichen“ 07 Wienerische Morbidezza trifft auf Inszenierungen von Trauer eines Geldadels, der nicht nur in der Vergangenheit in mörderische Vernetzungen involviert war. Ich bin noch immer nicht der Alte und im bewährten Fahrwasser, an zwei oder drei Projekten arbeitet. Ich bin noch immer ein bisschen gelähmt. Aber jetzt bereite ich mich mal auf die Berlinale vor. Für die Hauptrolle, Hanna von Stezewitz, haben Sie eine renommierte französische Schauspielerin, Amira Casar, gewonnen.Warum ist sie Ihnen als Darstellerin der Hanna vorgeschwebt? Ich hab sie bei Werner Schroeter gesehen und hab sie vor zwei Jahren beim Filmfestival von Hof getroffen. Wir aßen zusammen, sie schwärmte so von meiner Arbeit und sagte, es sei ihr größter Wunsch, mit ihr zu arbeiten. Ich antwortete ihr: „Darling, the problem is your language. Wie willst du in einem deutschsprachigen Film arbeiten, ohne die Sprache zu können. Ich bin sehr heikel bei den Dialogen und verlange große Präzision.“ Da begann sie plötzlich, leicht mit mir Deutsch zu sprechen und kämpfte darum, mit Auch wenn das Grundschema von „Der letzte Sommer der Reichen“ schon in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zu finden ist, so haben Sie es dennoch in aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse transferiert. Haben sich Dinge, die sich bereits vor zehn Jahren abzeichneten, umso mehr nun potenziert? Potenziert und konkretisiert. Die Figur der Hanna von Stezewitz bringt das überspitzt auf den Punkt. Alle die Bösartigkeiten, die Vergewaltigungen – dass sich eine Person das alles in einer Gesellschaft leisten kann, nur weil sie unglücklich ist. Ich will nicht zu viel erzählen. Ich bin nur überzeugt, dass man selbst Veränderung an sich vollbringen muss. Ich sehe da auch ein Problem in den vielen Aufmärschen, die es zur Zeit gibt. Ich halte das für einen Irrtum. Nur die Liebe kann diese Veränderung bewirken. Die Liebe und der Glaube. Der letzte Sommer der Reichen ist eine sehr melodramatische Erzählung, die einen globalen Bogen unseres katastrophalen Untergangs beschreibt. Einen Untergang, der uns allen bevorsteht. Die Kultur hat versagt, unsere Politiker, die mit Kultur beauftragt sind, haben versagt. Es hat schon immer ein paar aufmüpfige Geister gegeben, aber im Grunde hat die Kultur insofern versagt, als sie nicht die gebührende Aufmerksamkeit der Politik hatte und entsprechend gefördert wurde. In den Medien sehe ich nur noch Promis, die sich alle ähnlich schauen, die gelangweilt präsentiert werden, damit wir vergessen, wie wir sein wollen. In der Kunst richten die Medien ihre Aufmerksamkeit auf Stars und Jubiläen, entdeckt wird niemand mehr. Peter Kern: „Es geht um einen Untergang, der uns allen bevorsteht.“ In „Der letzte Sommer der Reichen“haben die Reichen und die Medien das Sagen. Die Politik ist absent, abgesehen von einer etwas glücklosen Kulturpolitikerin. Die Politik ist kaufbar. Es gibt eine Szene, in der Hanna zu ihrem Sekretär sagt: „Wie viele tausend Euro sind übrig geblieben? Die geben wir dann der FPÖ.“ Sie ist auch in außergewöhnlichen Kostümen zu sehen? Die Kostüme wurden uns von Chanel zur Verfügung gestellt. Das war eine tolle Sache. Ich finde, sie sind absolut richtig. Erstaunlich, was die alles mit Plastik anstellen können. Mir ist das weniger wichtig, aber für Amira war es sehr wichtig, dass Kostüme, Make-up mir zu arbeiten. Ich hab ihr dann diese Rolle angeboten unter der Voraussetzung, dass wir in Deutsch drehen. Mit der Sprache gelang mir dann auch ein Trick, der im Film zwei Ebenen entstehen ließ: Wenn sie Deutsch spricht, dann ist sie sehr autoritär, bestimmend und in einer Position der Überlegenheit. Die Sprache allein unterdrückt schon. Wenn sie frei ist oder schimpft, verfällt sie ins Englische. Sie hat für diese Rolle sehr hart gearbeitet. Impressum Telefonische Reservierungen von Mo. bis Do. 8.30-17 Uhr, Fr, 8.30-14 Uhr unter 522 48 14 – während der Kassaöffnungszeiten: Stadtkino im Künstlerhaus Akademiestraße 13, 1010 Wien, Tel. 712 62 76 / Filmhaus Kino am Spittelberg Spittelberggasse 3, 1070 Tel. 522 48 16. 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Sie ist eine deutsche Schauspielerin, die zum ersten Mal in einer so großen Rolle zu sehen ist. Die Besetzung stimmt sehr genau. Im Team glaubten alle sehr an das Projekt und haben alles gegeben. Ich suche Kinogesichter und keine Fernsehgesichter und diesen Unterschied hat man hier nicht kapiert. Und auch die Konsequenz nicht. Die Mittelmäßigkeit des Fernsehens macht einen Schauspieler auch kaputt. Was die Kamera in einem Fernsehspiel zeigt, hat nichts damit zu tun, was dann an Minimalisierung des Ausdrucks in höchster Form und höchster Klarheit auf der Kinoleinwand gezeigt wird. Die Sprache der Dialoge ist geschliffen und durch alle sozialen Schichten hinweg gleich gehoben. Diejenigen, denen man hier sagt, „Die sollen zuerst mal Deutsch lernen“, sind ja eigentlich die Intelligentsija und man versucht sie ständig zu quälen. Die Asylpolitik ist ein einziger Wahnsinn. Ich sage da nur Gegenschnitt – Hypo oder Eurofighter. Jetzt ist man hysterisch gegenüber den Afrikanern, die von Spanien nach Europa kommen. Ich habe zu diesem Thema vor vier Jahren einen Film darüber gemacht – Glaube Liebe Tod. Denken Sie nur an Frontex, dass wir den Tod der Farbigen finanzieren, ist ein Skandal. Frontex sollte dazu da sein, ihnen zu helfen und nicht das Gegenteil – sie zurückschicken und ertrinken lassen. Sie haben sich vor einigen Jahren in einem Interview als einen „traurigen Optimisten“ bezeichnet. Würden Sie das noch immer tun? Ich habe den Optimismus verloren, weil ich mit meinen Werken nichts erreicht habe. Ich habe bei einzelnen Personen auch international viel an Gefühlen ausgelöst. Nach einer Talkshow im Fernsehen gibt es Unmengen an Zuschriften und Mails von Leuten, die mit mir in Kontakt treten und über Freiheit diskutieren wollen. Ich hab das alles – dem Tode näher als dem Leben – als unwichtig empfunden. Die ganze Bürokratie, die täglichen Verbote, die ganze Widersprüchlichkeit und Verlogenheit, der man sich aussetzen muss. Ich wüsste nicht, wohin ich gehen kann, um frei zu leben. Selbst die Inseln sind schon verseucht durch bestimmte Figuren in der Politik. Könnte die Kunst noch eine Insel sein? Die Kunst war immer ein Vorbereiter der Gesellschaft. Es zeugt von einer totalen Absenz von Kultur, dass da wie jüngst in Paris Menschen einfach abgemurkst werden. Wir fallen zurück in ein Mittelalter, das katastrophal ist. Wir stehen vor einer Rückentwicklung der Kultur, bedingt durch das Medium Fernsehen, durch Theater, die sich nichts mehr trauen... Es wäre Aufgabe des Staates, Kunst zu finan- zieren. Kunst ist nicht kalkulierbar, sie muss immer einem Risiko und einem Scheitern ausgesetzt sein. Sie ist kein Wirtschaftsunternehmen. Wir Künstler werden aber von den Menschen, die an der Macht sind, als Wirtschaftsunternehmen berechnet. Ich bin mein ganzes Leben lang im Minus und versuche die Schulden des vorangegangenen Projekts zu kompensieren. Man wird brutal ausgenützt und hat leider den Ehrgeiz, über dieses Kunstmittel Film etwas zu verändern. Aber ich habe nichts verändert. Diese Gesellschaft hat sich sehr oft dem entzogen, was ich gemacht habe, weil sie es gar nicht zugelassen hat. Wir haben für „Der letzte Sommer der Reichen“ nicht einmal einen Verleiher in diesem Land. Der Regisseur Daniel Hoesl ist als Darsteller mehrmals in Ihrem Film zu sehen. Ich sehe sein Auftreten auch als ein künstlerisches Augenzwinkern, insofern als euch ein subversives und antikapitalistisch motiviertes Filmemachen verbindet. Ich habe seinen ersten Film gesehen und ich halte das für mutig, was er macht. Das ist vielleicht ein Hoffnungsaspekt in meinem Film – Daniel Hoesl, der da durch die Geschichte schwebt. Es gibt ja auch den utopischen Moment im Film, wo die zwei Frauen vor den Altar schreiten und von einem Priester getraut werden. Das stimmt. Zwei der Hauptfiguren sind Hanna und der Großvater. Mit dem Tod des Großvaters geht eine Generation, die nicht weniger amoralisch war. Dazwischen fehlt die Generation der Eltern. Steht dieses Fehlen auch für das fehlende Handeln dieser Generation, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen anders zu steuern? Das war mir nicht bewusst. Der Tod der Eltern dient in der Geschichte dazu, die Figur der Hanna genauer zu zeichnen. Das muss der Zuschauer schon selbst sehen. Ich biete einen Stoff an, der Denklöcher übriglässt, wo man selbst interpretieren kann. Man muss nichts auflösen in meinen Filmen, sie sollen vielmehr das Hirn erweitern, um nachzudenken. Peter Kern Der letzte Sommer der Reichen (Österreich 2015) Regie und Drehbuch Peter Kern Darsteller Amira Casar, Nicole Gerdon, Winfried Glatzeder, Susanna Hohlrieder u.a. Kamera Peter Roehsler Schnitt Marcus Gotzmann Ton Benjamin Kalisch Produktion nanookfilm Verleih Stadtkino Filmverleih Format DCP / Farbe Länge 92 Min. Ab 24. April 2015 im Stadtkino im Künstlerhaus Alltag und aneinander vorbei geliebt Zweisamkeit bei der Suche nach dem eigenen Ich? Jahrgang 45 Regie: Jürgen Böttcher Der verbotene Film der DDR Ab 10. April Stadtkino im Künstlerhaus Ein Film des DEFA-Studios für Spielfilme, Gruppe „Roter Kreis“, 1966/1990 Mit: Monika Hildebrand, Rolf Römer, Paul Eichbaum, Holger Mahlich, Gesine Rosenberg
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