echtes. private. banking. Ausgabe 6 — MAI 2015 Character im Porträt Stephanie Czerny Die Gründerin der DLD-Konferenz über den digitalen Alltag und altmodische Stärken 6 — 19 Die Auerbach Schifffahrt: Trotz Krise auf Erfolgskurs 50 — 5 7 Der Sternjäger: Hans Kleissl und der Mercedes-Benz 300 SL 66 — 7 3 Gegenwart 2 Editorial In der Idee leben heißt, das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre. Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832, deutscher Dichter Character 3 Mai 2015 Liebe Leserin, lieber Leser, wann beginnt eine Erfolgsgeschichte? Das lässt sich natürlich erst im Rückblick genau sagen – wenn sich der Erfolg bereits eingestellt hat. Die richtige Antwort müsste aber lauten: Eine Erfolgsgeschichte beginnt jederzeit. Nämlich dann, wenn jemand den Blick von der Vergangenheit abwendet und in die Zukunft schaut. Wenn er sich dazu entschließt, zu handeln und eine neue Idee in die Tat umzusetzen. Indem wir heute handeln, gestalten wir unser Morgen. Deshalb ist es wichtig, nicht zu lange zu hadern, sondern eine Idee in die Tat umzusetzen. Nur so können wir den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte legen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Vergangenheit ist wichtig. Sie bestimmt unsere Herkunft und gibt uns Identität. Sie vermittelt Werte, die es zu bewahren und in die Zukunft zu übertragen gilt. Erfolgreiche Personen und Familien bauen auf solche Werte genauso wie erfolgreiche Unternehmen. Und dennoch: Wir leben im Hier und Jetzt. Wir müssen also im Heute handeln, um unser Morgen zu gestalten. Ein bekannter Ausspruch lautet nicht umsonst: „Erfolg buchstabiert sich T-U-N.“ Stephanie Czerny hat genau das getan. Sie ist der „Character“ unserer aktuellen Ausgabe und gibt ein gutes Beispiel dafür, dass es sich lohnt, nach vorne zu schauen und zu handeln. Sie lernte von ihrer Mutter, dass sie auch in schwersten Momenten nicht verzagen, sondern weitermachen sollte. Sie nahm Krisen in ihrem Leben als Herausforderungen, aus denen auch etwas Gutes entsteht. So gründete sie das Konferenz-Netzwerk Digital Life Design (DLD) und gestaltet bereits heute den digitalen Alltag von morgen. Nicht hadern, sondern einfach handeln, das machten auch Alexander Tebbe und Lucius Bunk. Mitten in der Schifffahrtskrise nutzten sie die Gelegenheit, kauften ein Schiff zu günstigen Konditionen und gründeten eine eigene Reederei. Sie ließen sich nicht beirren und sind heute bereits mit mehreren Schiffen auf Erfolgskurs. Das Morgen gestalten – damit beschäftigen wir uns in vielen weiteren Geschichten dieser Ausgabe. So stellen wir die Gartenbau-Ingenieurin Heike Boomgaarden vor, die sich für eine „Versöhnung von Mensch und Natur“ einsetzt. Wir zeigen, wie viele wertvolle Rohstoffe ungenutzt in dem täglich anfallenden Elektroschrott stecken. Und wir berichten davon, wie überflüssig die gute alte Plastiktüte im Grunde ist. Zugleich präsentieren wir eine andere Perspektive auf das Gestern und Heute: Hans Kleissl sucht weltweit nach Exemplaren des Mercedes 300 SL und restauriert sie. Damit bewahrt er eine deutsche Stilikone für die Zukunft. Erfolgsgeschichten können überall und zu jeder Zeit ihren Anfang nehmen. Wir würden uns freuen, wenn wir mit dieser Ausgabe einige Impulse für neue Geschichten geben könnten. Bleiben wir im Dialog! Aus dem Bethmannhof grüßt Sie herzlich horst schmidt Vorstandsvorsitzender der Bethmann Bank Gegenwart Inhalt 4 tradition gegenwart 26 Runde Kunstwerke Das Bielefelder Unternehmen Union Knopf Stephanie Czerny Die Gründerin der DLD-Konferenz über ihre persönliche Vergangenheit und die digitale Zukunft Passion Mercedes 300 SL Hans Kleissl, der Bewahrer einer deutschen Stil-Ikone 66 6 60 Die Männertasche Frauen haben ihre Handtasche – aber was haben die Männer? www.bethmannbank.de Character Mai 2015 5 zukunft Überblick 6 Character im Porträt Stephanie Czerny Gründerin der Konferenz Digital Life Design 20Werte im Wandel Siezt du noch oder duzt du schon? Die richtige Anrede 24Perspektivenwechsel Bezahlen – Ist Bargeld ein Auslaufmodell? 36 26Unternehmen mit Tradition Knöpfe für die Welt Union Knopf aus Bielefeld Verborgene Werte Edelmetall aus alten Handys 34 12 Dinge, die man tun sollte VON TAPFERKEIT, HUMOR, NEUGIER UND DEM MUT, FEHLER ZU MACHEN 36Für morgen Urban Mining DAS GOLD AUS DER SCHUBLADE 40Unterbewertet Rostock Die Kraft von Wind und Wellen 42Zahlen, bitte! Wasser Grundlage von Lebens- und Wirtschaftswachstum 44Zwischen kommerziell und karitativ Versöhnung von Mensch und Natur Die Gartenbau-ingenieurin Heike Boomgaarden 48Hello / Goodbye Ist das noch tragbar? Alternativen zum Verpackungswahn 50Unternehmen der Zukunft Im Fahrwasser der Krise Auerbach Schifffahrt in Hamburg 58 12 ausgewählte Zitate von Stephanie Czerny 60Panorama Wohin damit? Eine Betrachtung der MännerHandtasche 50 Gründung in der Krise Wie die Auerbach Schifffahrt auf Erfolgskurs geht 64 Einplanen Durch das Jahr mit Stephanie Czerny 66Panorama Der Sternjäger Hans Kleissl sucht und restauriert den Mercedes 300 SL 74Impressum Gegenwart 6 Porträt Geschäftsführerin und Gründerin des Konferenz-Netzwerks DLD (Digital Life Design) Stephanie Czerny Interview: DR. EVA KARCHER Fotos: WOLFGANG STAHR Bellen und Kläffen hinter der Tür des Landhauses in Kreuth. Zwei schwarzweiße Hunde stürmen heraus, springen an den Besuchern hoch, und mitten in das wilde Begrüßungszeremoniell sagt eine heitere Stimme: „Murrle, los, kommt her.“ Stephanie Czerny, die DLD miterfunden und zur globalen Marke entwickelt hat, ist herzlich und entspannt, ihr Haus ein rustikal-eleganter Mix aus Antiquitäten und Bauhausdesign. Sie führt in die sonnendurchflutete Bibliothek. Die Bücher sind nach Farben geordnet und verraten wie Stephanie Czernys goldfarbene Schuhe zur steingrauen Strickweste: Diese Frau weiß Atmosphäre und Glamour zu verbinden. www.bethmannbank.de Character 7 Meine Mutter zelebrierte das Leben, sie zeigte mir, dass es schön ist. Das war ihr Geschenk an mich, unschätzbar. Mir zu zeigen: Selbst in den schwersten Momenten geht es weiter. Vorbild: Stephanie Czerny vor dem Porträt ihrer ebenso schönen wie außergewöhnlichen Mutter Ada von Szankowska, das deren Vater Boleslaw von Szankowski malte, ein zu seiner Zeit berühmter Künstler Mai 2015 Gegenwart 8 Es ist so banal, aber wer mit kleinen Dingen zufrieden sein kann, lebt besser. www.bethmannbank.de Porträt Character Frau Czerny, 2005 initiierten Sie das globale Netzwerk DLD, das digitale Tycoons, Start-up-Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler mischt. Wie wird man Gründerin einer solchen Innovationskonferenz? Alles begann 1995 beim Skifahren. In der Gondel auf dem Wallberg lernte ich den Verleger Hubert Burda kennen. Er sprach von einer neuen Technologie, die alles verändern würde, dem Internet. Ich hatte keine Ahnung. Am Anfang dachte ich sogar naiv: inter-nett? Damals hatte mich Dr. Burda gerade in seinen Stab als Managerin berufen. Zehn Jahre später schickte er mich dann mit dem Auftrag ins Silicon Valley: Lerne die spannendsten Leute kennen und bring sie nach München. Das habe ich getan. Dem DLD-Motto folgend „Connect the unexpected“? Genau. Es geht immer um die Mischung. Sie sich zu erarbeiten, ist die eigentliche Qualifikation. Eine Konferenz ist wie ein lebendiges Wesen. Unsere Gäste sollen nicht nur über sich sprechen, sondern andere Menschen mit anderen Haltungen und Blickweisen treffen. Uns interessieren die Menschen, nicht so sehr die Produkte. Welche Perspektiven haben sie, welche Denkmuster? Grundsätzlich braucht man Stars und Persönlichkeiten, die kommunikativ sind. Leute, die gerade an die Börse gegangen sind oder kurz davor stehen. Zu einer guten Party, denn das ist DLD auch, gehört außerdem ein gewisser Sex-Appeal – kluge, schöne Frauen, smarte, markante Männer. Dazu Humor, denn so entstehen jene spontanen Augenblicke, die allen unvergesslich bleiben. Wie jener, als Hubert Burda zusammen mit Giorgio Moroder auf einem unserer Panels „Happy Birthday“ sang. Solche Begegnungen zu initiieren, ist mein höchstes Vergnügen! Moroder, die Disco-Legende, der gerade sein Album „74 is the new 24“ veröffentlichte? Menschen mit Geschichte haben am meisten Persönlichkeit. In den 70er-Jahren erfand Giorgio Disco und Donna Summer … 9 Sie summt: „Love to love you baby …“ Das Podium wurde von Troy Carter moderiert, dem Musikmanager und Gründer von Atom Factory, der Lady Gaga erfand. Es war ein unschlagbarer Mix von Power und Glamour! Wie gelingt diese Alchemie? Nicht vom Kopf her, sondern intuitiv. Zulassen, das ist das Geheimnis. Kann man Intuition lernen? Da bin ich nicht sicher. Manchmal entdeckt man erst in einer Notsituation, dass man sie hat. Es gehört viel Erfahrung dazu, aber auch der Mut, Dinge zu tun, die andere für verrückt halten würden. Vorstellungskraft, Sensibilität, Empathie, das sind Eigenschaften, aus denen sich Intuition entwickelt. Das, was einen Charakter zum Charakter macht. Hubert Burda ist ein Meister der Intuition, von ihm habe ich viel gelernt. Was zeichnet Intuition aus? Sie ist nicht berechenbar. Deshalb wird sie immer wichtiger für unsere Gesellschaft. Maschinen können sich vernetzen, sie denken kausal und logisch. Statt ihnen ähnlicher werden zu wollen, sollten wir unsere intuitive Intelligenz aktivieren. Deshalb ist Kunst so wichtig, auch bei DLD, denn Künstler und Forscher und andere Kreative sind Seismografen von Veränderung. Worüber ich derzeit auch viel nachdenke, ist Otium. Über Muße? Ja. Wenn wir künftig dank der immer fortgeschritteneren Technologien mehr Zeit haben werden, wie gehen wir mit ihr um? Wir sollten Muße als Quelle von Kreativität entdecken und sie für mehr Humanität einsetzen. Draußen vor der verglasten Fensterbank des Landhauses in Kreuth buddelt die Appenzeller Hündin Murrle, fördert bellend und springend einen Stock zutage und schaut schwanzwedelnd in Richtung Frauchen. Mai 2015 Sie leben am Tegernsee. Ist diese Idylle Ihr Gegengewicht zum vielen Reisen als DLD-Chefbotschafterin? Auch! Man kann nur kosmopolitisch sein, wenn man vor seiner eigenen Tür zu Hause ist – davon bin ich überzeugt. Ich bin so aufgewachsen, wie ich heute lebe. Meine Mutter leitete in München die deutsch-amerikanische Gesellschaft und am Wochenende waren wir auf dem Land in Fischbachau. Das ist ein Nachbarort von Kreuth. Ihr Leben war nicht leicht. Als sie mich bekam, war sie 42, der Vater 26. Wie fortschrittlich! Genau, wie heutig! Sie war eine Lebenskünstlerin, und das habe ich von ihr geerbt. Von ihr lernte ich, dass es nicht um materielle Dinge geht. Sie hatte nie Geld, das konnte anstrengend sein. ABER! Was hat sie von ihrem letzten Geld am Monatsende gemacht? Sie ging mit mir essen und kaufte uns einen Blumenstrauß. Sie zelebrierte das Leben, sie zeigte mir, dass es schön ist. Das war ihr Geschenk an mich, unschätzbar. Mir zu zeigen: Selbst in den schwersten Momenten geht es weiter. Sekundenlang klingt der Silberton in ihrer hellen, warmen Stimme eine Spur rauer. Woher kam diese ungewöhnliche Stärke? Die ist glückhaft. Es ist so banal, aber wer mit kleinen Dingen zufrieden sein kann, lebt besser. Für mich sind zum Beispiel meine Hunde ganz wichtig. Ihre bedingungslose Zuneigung finde ich wunderbar. Oder die Natur, die Blumen, das Zwitschern der Vögel. Ich erkenne fast jeden Vogel an seinem Gesang. Und sehen Sie, jetzt kommt die Sonne raus, tut das nicht gut? Ein Genuss! Meine Mutter setzte sich damals, in den 60er-Jahren, gegen alle Konventionen durch. Die Leute wechselten die Straße, wenn sie mit ihrem ledigen Bankert (Anm. d. Redaktion: uneheliches Kind) ankam. Das bekam ich mit, darunter habe ich sehr gelitten. Gegenwart 10 Souveränes Chaos: Einer der Arbeitstische von Stephanie Czerny, umrahmt von Objekten, die sie inspirieren (v. l.): Reproduktion der schwarzen Madonna aus Krakau, Stich vom Kloster Tegernsee, russische Ikone, Landkarte des 18. Jahrhunderts Wer ständig Neues sucht, läuft den Dingen und sich selbst davon. www.bethmannbank.de Porträt Character 11 Mai 2015 Gegenwart Fühlten Sie sich als Außenseiterin? Ja, aber inzwischen sehe ich diese Rolle als großen Vorteil. Ich möchte, wie schon Winston Churchill sagte, in keinem Club Mitglied sein. Außenseiter beobachten, sie suchen sich das Beste heraus und sind nicht Teil des Ganzen. Haben Sie von der Weaklinks-Theorie gehört? Den schwächsten Gliedern einer Kette? Geschlossene Systeme oder auch Communitys implodieren, wenn sie sich nicht erneuern. Führungspersönlichkeiten sind oft darauf bedacht, ihre Macht nicht zu verlieren. Alles Neue bedroht ihre Autorität, also sind Außenseiter die Einzigen, die solche Systeme mit Ideen und Mut öffnen können. Jedes Unternehmen muss die Balance zwischen systemerhaltenden und destabilisierenden Maßnahmen suchen, gerade auch Familienunternehmen mit langer Tradition. Brauchen wir mehr Querdenker? Das Wort mag ich nicht. Ein Baum, der quer in einem Bach liegt, verstopft und bringt das Wasser zum Überlaufen. Genauso sind berufsmäßige Querdenker oft eher erhaltend als erneuernd. Ich ziehe Mitdenker und Vordenker bei Weitem vor. Zuerst verstehen und dann vorauseilen. Was ist das Erfolgsgeheimnis des Internets? Die Gründerszene besteht aus Hochbegabten, die sich monothematisch und total strukturiert auf ihr Thema konzentrieren. Ihre Vision, die Welt zu verändern, treibt sie an. Wie Google-Gründer Larry Page, Marc Zuckerberg von Facebook oder Marissa Mayer, die Yahoo-Vorstandsvorsitzende. Außerhalb ihrer Community sind sie beinahe gesellschaftsunfähig. Ich glaube, wir eilen auf ein seltsames Zeitalter zu. Die Digitalisierung verändert gerade alle unsere Industrien, von der Auto- über die Musik- und Medien- bis zur Medizinindustrie. Früher oder später wird menschliche Leistung von sich organi sierenden autonomen Maschinen ersetzt. Smartphones sind unsere Fernbedienung, mit ihnen erschließen wir uns alles. 12 Porträt Aber was geschieht mit den Menschen, die durch Maschinen freigesetzt werden? Wir alle haben mehr Zeit und müssen uns beschäftigen. Was ist die Lösung? Kreativität. Sie ist eine Schlüsselqualifikation der nahen Zukunft. 24 Millionen Nutzer. Man kann in jedem Alter damit anfangen. Andere Leute spielen Bridge, es ist wie Gedächtnistraining in der Gruppe. Zerstören die virtuellen Technologien Kreativität nicht eher? Nicht wenn wir sie formen, bevor sie uns formen. Ganz wichtig ist, dass wir von den Mustern lernen, die wir via Big Data zum ersten Mal erkennen können. Egal ob Tumormuster im Blutbild oder Fehlerquellen in der Militärtechnologie: Wir müssen lernen, sie zu deuten, und – das ist entscheidend – wir müssen darauf achten, dass nicht nur wenige Ich möchte, wie schon Winston Churchill sagte, in keinem Club Mitglied sein. AuSSenseiter beobachten, sie suchen sich das Beste heraus und sind nicht Teil des Ganzen. Eliten diese Muster deuten können. Schon im Kindergarten sollten Kinder coden lernen. Coden sollte zur Kulturtechnik werden wie Lesen oder Schreiben. Können Sie programmieren? Ich bin kein technischer Mensch. Aber ich versuche es, genauso wie Klavierspielen. Immerhin bin ich bei der Code Academy angemeldet. Sie auch? Noch nicht. Sie wurde 2011 von Zach Sims und Ryan Bubinski gegründet und zählt inzwischen über www.bethmannbank.de Was bedeuten Ihnen die Berge, die Sie umgeben? Sehr viel! Wenn ich meine Wanderung mache, finde ich Frieden. Es ist Labsal für meinen Körper, meine Sinne und meine Seele. Natur ist der Inbegriff von Vernetzung. Ich gehe seit Jahren fast jeden Tag immer denselben Weg – auf die Königsalm – und immer entdecke ich etwas Neues. Das ist ein Geschenk. Gehen als Meditation? Je mehr ich mit einem Weg vertraut bin, desto weniger muss ich mich absichern, desto offener werde ich für ungeahnte Nuancen und Facetten. Das wiederum stärkt meine Intuition. Die Voraussetzung ist, sich geborgen zu fühlen. Wer ständig Neues sucht, läuft den Dingen und sich selbst davon. Wie bringen Sie Beruf und Ihre Familie mit vier Kindern in Einklang? Das konnte ich nicht von Anfang an. Aber ich hatte viel Glück und eben eine Mutter, die ein großes Vorbild war. Sie sagte Sätze wie: „Es kommt nicht darauf an, viel anzuhäufen. Sondern darauf, das, was du tust, richtig zu tun.“ Das Wichtige richtig machen. Was ist das Wichtige? Das muss jeder für sich entscheiden. Mir war wichtig, dass meine Kinder eine gute Ausbildung haben, dass sie integre, neugierige Menschen werden. Wie alt sind sie? Der jüngste, mein Sohn Georg, ist 25. Er hat Landwirtschaft studiert und macht demnächst in den USA ein Praktikum auf einer Trauben-, Mandel- und Aprikosenfarm. Meine älteste Tochter Antonia ist 30 und wird Ärztin. Dazwischen gibt es noch Anastasia und Agnes, die beide gerade ihr Studium beenden. Character 13 Mai 2015 Bunter Bücherschatz: Die Bände ihrer großen Bibliothek hat die Literaturkennerin nach Farben geordnet Gegenwart 14 Porträt Wohlfühlatmosphäre (v. l.): Kater Carlo auf dem Kachelofen im Wohnzimmer, Tierminiatur aus Eisen, Blick aus dem Fenster im Salon in den Garten, die Weltenbummlerin mit einem der Globen, die sie sammelt Vorstellungskraft, Sensibilität, Empathie, das sind Eigenschaften, aus denen sich Intuition entwickelt. Das, was einen Charakter zum Charakter macht. www.bethmannbank.de Character 15 Mai 2015 Gegenwart 16 INTERNET UND INTUITION Die Zeitschrift WIRED zählt Stephanie Czerny, die alle Steffi nennen, zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der digitalen Szene in Europa. Sie selbst geht mit Hitlisten ebenso cool um wie mit den Big Boys und Girls der Gründerszene, die sie alle kennt: Sie lädt diese jedes Jahr in Palo Alto zur großen Party, auf der ihr Hutmacher Wiesner mit seiner Frau, ihre „Musikanten aus Kreuth“, aufspielt. Als Gastgeberin ist die 1954 geborene Politikwissenschaftlerin und Journalistin unschlagbar, wie sie seit zehn Jahren mit der DLD-Konferenz von Hubert Burda Media beweist. Getreu ihrem Leitspruch „Man kann nur kosmopolitisch sein, wenn man vor seiner eigenen Tür zu Hause ist“ verbindet sie mühelos Metropolen-Trips und Wanderungen auf die Königsalm, Internet und Intuition. Aufgewachsen in Fischbachau, lebt die Mutter von vier erwachsenen Kindern mit den Hunden Murrle und Froschi am Tegernsee in einem Landhaus in Kreuth. www.bethmannbank.de Porträt Character 17 Mai 2015 Weitsicht: Czerny in der heimeligen DLDLounge im 6. Stock des Burda Medienhauses Gegenwart 18 Tierfreundin: Mit Hündin Froschi in der Diele ihres Hauses, rechts Stillleben aus Wunderkammerobjekten wie einer Koralle und Eisenvotiven für den Heiligen St. Leonhard www.bethmannbank.de Porträt Character Gab es in Ihrem Leben Krisen? Viele, immer wieder, Gott sei Dank, sonst wäre es doch langweilig. Aus der Herausforderung wächst oft etwas Gutes. Es geht immer weiter! Dieses Weitergehen muss man gestalten, aktiv und in vollem Bewusstsein. Was gehört für Sie zu guter Gestaltung? Intellektueller Diskurs und körperliche Leistungsfähigkeit sind wichtige Elemente. Aber auch Äußerliches gehört dazu. Gute Nahrung ist Teil unserer Kultur, genau wie gute Materialien, gute Stoffe, gute Kleidung. Ich bin ein großer Fan von für mich geschneiderten Sachen. Meine Blusen, Röcke, Jacken, Mäntel und Hemden lasse ich mir seit Jahren nähen, zum Beispiel von Ines Schamberger, der besten Hemdenschneiderin Münchens. Und der Schuhmacher Martin Mitter aus Tegernsee fertigt meine Bergschuhe. Das ist Ihr Luxus? Es sind Dinge, die zu mir gehören, in denen ich mich wohlfühle, die mir Jahrzehnte erhalten bleiben. Sie prägen Ihren Stil. Lehnen Sie Labels ab? Überhaupt nicht. Eine Kelly Bag von Hermes ist mir das Schönste! Aber eine genügt fürs ganze Leben. Genauso schwärme ich aber Mai 2015 19 auch für einen Bergstock aus sehr gerade gewachsenem Haselnussholz. Beides ist Luxus für mich. Sie ziehen Handwerk und Tradition einem modischen Look vor? Ja, aber wenn man jung ist, muss man modisch sein. Sich ausprobieren, experimentieren, mixen. Nur dann findet man seinen Stil. Vor fünf Jahren gründeten Sie DLD Women, um Frauen besser miteinander zu vernetzen. Was hat sich verändert? Das Thema bleibt schwierig, mögen wir noch so viele Forderungen stellen. Der Spagat von Beruf und Familie hängt immer noch an uns Frauen. Es gibt mehr Kindergärten und Horte, aber solche Maßnahmen genügen nicht. Arbeiten und Leben müssen sich noch viel mehr verknüpfen. Ob ich im Büro oder zu Hause arbeite, ist bei vielen neuen Berufen egal. Es muss nur organisiert werden, und zwar von uns Frauen. Wir sind die Speer spitze. Der Konflikt zwischen Beruf und Familie muss sich auflösen. Was sollten Unternehmer tun? Die Rahmenbedingungen schaffen. Vertikale Hierarchien sind altmodisch, leider gibt es immer noch zu viele. Wir brauchen neue Führungsstile, die unternehmerisches Denken fördern. Wie beurteilen Sie die negativen Auswirkungen der Digitalisierung, Totalkontrolle und gläserne Existenz? Neues zerstörte immer alte Strukturen und hatte auch negative Folgen. Die Erfindung des Buchdrucks und mit ihm der Flugblätter und Kupferstiche von Massakern machten den Dreißigjährigen Krieg zum ersten Medien- und Propagandakrieg der Geschichte und zu einem unvergleichlichen Trauma für Europa. Es gibt immer zwei Seiten. Die vielschichtige Transparenz von Daten durch Big Data ist etwas, das wir nicht zurückschrauben können. Ich gehöre zur Generation der späten 68er, wir haben diese Transparenz gefordert! Aber es braucht niemand technophob zu sein. Wichtig ist zu begreifen und sich immer wieder bewusst zu machen, was gerade geschieht. Nichtwissen erzeugt Angst, Aggression und Unsicherheit. Das heute durch Daten erzeugte Wissen lässt ein neues, komplexes Menschenbild entstehen. Wer weiß, vielleicht steuern wir gerade auf eine zweite Aufklärung zu. Für mich ist der Kant’sche Satz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ aktueller denn je. Gegenwart Werte im Wandel 20 Werte im Wandel Siezt du noch oder duzt du schon? Die richtige Anrede Du oder Sie? Ganz klar: Das Du ist auf dem Vormarsch. Sich zu duzen, ist im Internet selbstverständlich. Das Du bestimmt aber auch immer mehr die Anrede von Face to Face und nicht nur von Facebook zu Facebook. Ob das gut ist? Januar 2015, die Polizei Essen Mülheim teilt ihren Bürgern Wichtiges mit: „Liebe Facebook Fans der Polizei Essen Mülheim, durch einen landesweiten Erlass sind wir dazu angehalten, ab sofort das ‚Duzen’ hier auf Facebook einzustellen. Wundert euch also nicht über die sich jetzt ändernden Postings und Kommentare. Wir werden weiterhin versuchen, so authentisch wie möglich zu bleiben, und hoffen, dass euch die Umstellung nicht stört.“ Doch, die User störte diese Umstellung gewaltig! Und deshalb posteten sie zurück, dass man sich in der weiten „multimedialen Welt grundsätzlich duze“. Einige beschwerten sich beim nordrhein-westfälischen Innenministerium, das der Polizei die korrekte Anrede der Bürger in sozialen Netzwerken vorschreibt. Andere wiesen sogar darauf hin, dass es nach jedem Etikette-Ratgeber als „stillos“ gilt, jemandem ein einmal angebotenes Du wieder zu entziehen. Die Polizei hätte sich eben etwas früher überlegen sollen, ob sie den Bürgern überhaupt das Du anbietet – das tat sie nämlich bereits 1926, als Innenminister Albert Grzensinski den berühmten Slogan „Die Polizei – Dein Freund und Helfer“ im Freistaat Preußen etablierte. DAS DU KANN ZUM KARRIEREKNICK FÜHREN Sprache ist per se ein ständiger Wert im Wandel. So offenbart die polizeiliche Randnotiz als Zeichen gesuchter – oder fehlender – Bürgernähe einmal mehr das immer komplizierter werdende kommunikative Chaos in unserem eigentlich intakten Gesellschaftsalltag: Ob wir uns spontan und in der jeweiligen Situation für das Sie oder Du als Anrede entscheiden, kann schließlich zu zwischenmenschlichen oder geschäftlichen Katastrophen, eventuell sogar zum Karriereknick führen. Wer glaubt, gerade die Geschäftswelt sei die letzte Bastion, in der sich die Frage „Du oder Sie?“ nicht stellt, der ist ziemlich naiv. Er vergisst, dass der digital angeheizte Generationskonflikt dieses Etikette-Problem ebenso verdeutlicht wie die Pflege und Verweigerung deutscher Tradition inklusive Hierarchie- und Gender-Debatte. Ja, und obendrein gibt’s dann noch die regionalen Unterschiede: Das vornehme „Hamburger Sie“ („Wie geht es Ihnen, Jens?“) ist in seiner Umkehrung kein „Münchner Du“ („Du, Meier!“), sondern schlichtweg eine Unverschämtheit. Das vertrauliche, kumpelhafte Anredepronomen Du, es hat längst Konjunktur. Besonders in der Werbung: Zuerst forderte ein Hersteller von Speiseeis: „Nogger dir einen!“ Aus dem Radio tönte es bald: „Hol dir die neue ...“ Inzwischen gibt es keinen Werbespot im Fernsehen, der einen nicht duzt, wenn eine neue Flatrate, eine Singlebörse oder ein Fitness-Produkt angepriesen werden. Das schwedische Möbelhaus fragt: „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ und empfiehlt in seiner Textilabteilung: „Wiege dir deinen Stoff selber ab.“ Die Partei der Grünen verblüffte im Wahlkampf bereits mit einem „Du entscheidest“. Das Forstamt mahnt duzend: „Auch dein Hund wildert.“ Und außerdem wissen wir sowieso alle: „Du bist Deutschland!“ Alle diese Dus haben zumindest einen frommen Wunsch ihrer Anwender gemeinsam: Per Du könnte man besser auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, Hierarchien einreißen, Distanzen überwinden und die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Jüngerem und Älterem oder Chef und Mitarbeitern abschaffen. Also: Siezt du noch, oder duzt du schon? Helmut Kohl Gegenwart Es geht um Umgangsformen – und für die gibt es bekanntlich Regeln: Bei der Frage, wer nun wem das Du anbietet, gilt nach Stilbibel Knigge, dass immer der Ranghöhere dem Rangniedrigen und der Ältere dem Jüngeren das Du anbietet. Das gilt übrigens für beide Geschlechter. Zwischen Mann und Frau gilt noch zusätzlich: Die Frau bietet dem Mann das Du an, auch wenn sie jünger ist. Umgekehrt könnte man es schnell als plumpe Anmache missverstehen. Natürlich ist es unfein, ja peinlich, ein Du zu erbitten oder eben die duzende Anrede rückgängig zu machen wie bei der Essener Polizei. Ein Du kann man ablehnen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Und dann gibt es noch jenes temporäre Du bei Weihnachtsfeier, Sport oder Bergtour; am Tag danach sollte man allerdings darauf achten, „wie“ der Ranghöhere mit jenem leichtfertigen Du, das unterm Gipfelkreuz oder beim Juleclub galt, umgeht. Ob’s dabei bleibt oder eben nicht. Das klingt ja so weltläufig wie ein „you“ In Deutschland kam das flächendeckende, kumpelhafte Geduze in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter linken Studenten in Mode. Für viele ist es, wie das meiste schlechte Benehmen, bis heute ein Überbleibsel der 68er-Proteste gegen die siezende Herrschaftswelt geblieben. Nicht jeder konnte, trotz anschwellender Wertedebatte der vergangenen Jahrzehnte, von der Tatsache überzeugt werden, dass Vertrauen es gerade dort schwer hat, wo zu viel duzende Vertraulichkeit herrscht. So wurde aus dem studentischen Wohngemeinschafts-Du zwischenzeitlich das TV-Moderatoren-Du. In mediokren Klatschsendungen duzt dann der Moderator seine C- und D-Promis und suggeriert den „verduzten“ Deutschen: Wir sind alle eine große TV-Familie. Der Sportkommentator duzt im Interview die Sportler, und im heute-journal des ZDF benutzt Claus Kleber besonders gern das Du im Gespräch mit seinen Korrespondenten. Klingt ja so weltläufig, so amerikanisch, so You. Werte im Wandel 22 Nun bedeutet das englische „You“ aber kein Du, sondern ist ein Respekt forderndes, höfliches Sie. Das allerdings wird von Anwendern eines rudimentären „pidgin english“ leicht vergessen. So hat sich auch Helmut Kohl schon anderen Staatsmännern mit einem jovialen „You can say you to me“ vorgestellt. Heute beziehen sich viele international, global, cool und smart fühlende deutsche Duzer auf das englische You. Auch sprachlich findet hierzulande in Unternehmen eine Amerikanisierung statt. Um Vertrauen zu signalisieren, sprechen oft Führungskräfte gerade Teams in der zweiten Person Plural an: „Wie macht ihr das denn in eurer Abteilung?“ Das Siezen ist stets die elegantere, aber auch kompliziertere Verkleidung unserer Konversation. Nicht immer hat diese Zwischenform von Sie und Du aber die erhoffte Wirkung – wie überhaupt ein zu schnelles Duzen gerade im Geschäftsleben ziemlich anbiedernd wirken kann. Arbeitspsychologen warnen deshalb vor der duzenden Anrede. Zwar könne man das Du als ein motivierendes Instrument der Führung nutzen. Aber es falle eben auch sehr, sehr viel schwerer, jemanden hart zu kritisieren oder gar zu kündigen, wenn man ihn duzt. Das förmliche Sie schützt immer beide Seiten. Und ist dieses Sie erst einmal perdu, also verloren, ist es eben stillos bis unmöglich, wieder zu ihm zurückzukehren. Das feine, subtile Spiel der Kommunikation, das einem das Sie ermöglicht, weil es Abgrenzung schafft und innerhalb dieser Abgrenzung Freiheit schenkt – in der Netzwelt ist es längst verloren gegangen. Die inflationäre Kommunikation im Internet – von nicht selten maximal reduzierter Sprachqualität (LOL, hdgdl, rofl, ^^) – öffnet inzwischen alle Schleusen schlechten Benehmens. Es reißt jede Schranke von Respekt und schüttelt alle traditionellen Regeln und Werte unseres verbalen Umgangs durch. Der InternetKnigge, die Netiquette kennt keine festen Duoder Sie-Regeln: User sind per Du! Es gilt hier, zumal im Schutz der Anonymität: Die Hemmschwelle unter Duzern ist niedriger als unter Siezern. Deutlich niedriger! Dass Kommunikation in sozialen Netzwerken mitunter zur handfesten Beleidigung mutiert, verwundert nicht. Wer postend und twitternd per Du verbal eindrischt, schimpft, diffamiert, mobbt und auf gut Deutsch „Scheißstürme“ entfacht, der hat längst vergessen – oder nie gewusst –, dass man per Sie viel beißender und viel bissiger sein kann. Joschka Fischers berühmter Satz „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ hätte weder Wirkung noch Nachhaltigkeit gehabt, hätte er ihn in ein plumpes Du gekleidet. Das Siezen ist stets die elegantere, aber auch kompliziertere Verkleidung unserer Konversation. Es bietet viel mehr Zwischentöne, um gegenseitige Achtung wie auch Geringschätzung auszudrücken. Es schenkt uns viel mehr verbale Facetten der Höflichkeit (und Unhöflichkeit) im Umgang miteinander. So einfach ist das – und so kompliziert. Da wir es heute aber so gerne auf Vereinfachung anlegen und auf Verknappung und da wir Plumpes für authentisch halten und Vertraulichkeit mit Vertrauen verwechseln, darum ist das Duzen weiter auf dem Vormarsch. Ob das gut ist? Weißt du es? Wissen Sie es? Die Polizei, ganz gleich ob dein oder Ihr Freund und Helfer, weiß es jedenfalls nicht. Text: Pascal Morché Joschka Fischer Gegenwart Perspektivenwechsel 24 PERSPEKTIVENWECHSEL Bezahlen – Ist Bargeld ein Auslaufmodell? Im Internet gibt es keine Scheine und Münzen. Und auch an der Supermarktkasse, in der Mode-Boutique oder im Restaurant zücken die Kunden immer häufiger die EC- oder Kreditkarte, wenn es ans Bezahlen geht. Denn die Kartenzahlung ist bequem und macht den Gang zur Bank überflüssig. Wird Bargeld also zum Auslaufmodell? Oder geht es im Alltag doch nicht ohne? Bargeld – Zahlungsmittel Nr. 1 „Nur Bares ist Wahres“, sagt der Volksmund. Und diese Redensart ist aktueller denn je. Denn trotz des wiederholten Abgesangs auf diese Zahlungsart ist Bargeld auf absehbare Zeit nicht wegzudenken. So hat gemäß Bundesbank der Banknotenumlauf für das gesamte Eurosystem zwischen 2009 und 2013 um rund 150 Mrd. Euro zugenommen – ein Plus von 18,6 Prozent auf 956 Mrd. Euro. Gleichzeitig bleibt in Deutschland Bargeld das Zahlungsmittel Nummer eins: Etwa 80 Prozent aller Transaktionen erfolgen in bar. Friedrich P. Kötter, 48 Geschäftsführer der KÖTTER Geld- & Wertdienste GmbH & Co. KG, E ssen Warum das so ist? Ein wichtiger Grund liegt aus meiner Sicht in dem weit verbreiteten Gefühl, „etwas in der Hand zu haben“, statt allein virtuelle Werte zu sehen. Wer auf Bargeld setzt, minimiert zudem die Gefahr, Opfer von Cybercrime zu werden. Denn längst nutzen Kriminelle nach Behörden erkenntnissen nicht nur Phishing-Mails, sondern nehmen auch Smartphones und andere mobile Endgeräte gezielt ins Visier. Gleichzeitig gewährleisten Münzen und Scheine eine gute visuelle Kontrolle über die www.bethmannbank.de eigenen Finanzen. Und die ist nicht zuletzt gerade für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ein wichtiger Faktor beim angemessenen Umgang mit Geld. Last, but not least, schätzen viele Verbraucher die „Anonymität“ dieser Zahlungsart, die im Gegensatz zu elektronischen Wegen keine Spuren hinterlässt. Auch rechnet sich Bargeld in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn es ist das mit Abstand kostengünstigste Zahlungsmittel. Wird es im Handel mit dem Kostenfaktor 1 in Ansatz gebracht, haben Debitkarten den Kostenfaktor 4 und Kreditkarten in Deutschland den Faktor 15. Das heißt, dass Debitkarten für Einzelhändler vier Mal und Kreditkarten 15 Mal teurer sind als Bargeld! In der Summe also schlagkräftige Argu mente, die mich fest davon ausgehen lassen, dass Münzen und Scheine auch in Zukunft ihren angemessenen Platz in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem behalten werden. Und sich dabei gut mit modernen Zahlungsmöglichkeiten wie Mobile Payment ergänzen. Character Mobile Payment auf dem Vormarsch Deutschland ist heute noch das Land der Barzahler. Und dennoch zeigen Umfragen, dass neun von zehn Deutschen bereits jetzt ihr Portemonnaie lieber zu Hause lassen würden, wenn sie dies denn könnten. Ihr Smartphone dagegen haben sie gerne stets dabei. Und das würde – vor die Wahl gestellt – jeder Fünfte lieber für Zahlungen von unterwegs nutzen. Immer mehr Menschen besitzen ein Smartphone und verändern damit ihr Nutzungsverhalten. Sie setzen es zur Recherche, zur Kommunikation und Interaktion, zum Kaufen und zunehmend auch zum Bezahlen ein. Die Zahlen belegen, dass hier ein starkes Wachstum stattfindet. Arnulf Keese, 47 Geschäftsführer PayPal Deutschland, Berlin Mai 2015 25 Damit sich dies fortsetzt, muss mobiles Bezahlen tatsächlich ein Problem lösen. Denn eines ist klar: Es wird keine mobile Revolution geben, wenn einfach nur der Moment, in dem der Kunde eine Münze hinlegt, ausgetauscht wird gegen den Moment, in dem er zum Bezahlen sein Smartphone zückt. Gefragt sind Lösungen für konkrete Kundenprobleme wie das lästige Anstellen an der Kasse, fehlendes Kleingeld oder geschlossene Ladentüren. Ein anderes Beispiel wäre das Parken: Das Unternehmen Easypark liefert den Beweis, wie es möglich ist, in einem vermeintlich komplett erschlossenen Markt ein Problem zu lösen und diesen Markt so völlig auf den Kopf zu stellen. Das allseits bekannte und häufig mühevolle Suchen nach Kleingeld für den Parkscheinautomaten entfällt, stattdessen erfolgt bei Easypark die Bezahlung des Tickets einfach und bequem mit einer App. Ähnliches ist bereits in der Taxibranche passiert: Dank Anbietern wie mytaxi ist es mittlerweile möglich, per App nicht nur das Taxi zu bestellen, sondern auch den Preis für die jeweilige Fahrt bargeldlos zu begleichen. Mobiles Bezahlen bietet somit ganz neue Möglichkeiten – sowohl für den Handel als auch den Verbraucher. Die zunehmende Verbreitung bargeldloser Bezahlmöglichkeiten wird das Einkaufen überall einfacher machen. Deshalb bin ich sicher: Wir werden in Zukunft immer weniger Bargeld und schließlich gar keines mehr brauchen. Protokoll: Stefan Weber Tradition 26 Unternehmen mit Tradition UNTERNEHMEN MIT TRADITION Knöpfe für die Welt Union Knopf König Ludwig der XIV. beschäftigte einen persönlichen Knopfmacher. Kein Wunder, seine Staatsrobe war mit 104 Diamantknöpfen besetzt. Heute, in Zeiten der industriellen Produktion, müssen sich Knopfhersteller etwas einfallen lassen, um zu bestehen. Die mehr als 100 Jahre alte Union Knopf-Gruppe in Bielefeld hat es verstanden, sich immer wieder neu zu erfinden. www.bethmannbank.de Character 27 Mai 2015 Kunst im Miniatur-Format: Aufwendig gearbeitete Knöpfe aus der Zeit um 1850 (links). Martin Dolleschel im Gespräch (oben) Wenn sich Martin Dolleschel allzu sehr ärgert, greift er zur Schere. Mit ein, zwei Schnitten trennt er dann die Knöpfe von Sakko oder Mantel, nimmt Nadel und Faden und näht neue Verschlüsse an. Hochwertigere. Passendere. Auf jeden Fall solche, die ihm gefallen. „Für hässliche Knöpfe habe ich keine Toleranz“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter der Union Knopf-Gruppe. Das ist keine Marotte, sondern Passion. Und Mission. Wer Zweifel hat, dass Verschlüsse den Charakter eines Kleidungsstücks prägen und verändern können, dem hält Dolleschel das Beispiel eines dunkelblauen Sakkos entgegen: „Mit schlichten schwarzen Knöpfen aus Horn ist es businesslike. Aufwendig gearbeitete goldene Knöpfe machen es elegant und zur passenden Garderobe für jeden hanseatischen Poloclub.“ Viele dieser Modelle könnten wir heute gar nicht mehr herstellen. Martin Dolleschel, geschäftsführender Gesellschafter der Union Knopf-Gruppe Große Vielfalt: Eine riesige „Knopfwand“, auf der nächsten Seite im Ausschnitt, zeigt einen Bruchteil aktuell verfügbarer Knopf-Modelle Das Familienunternehmen Union Knopf ist der größte europäische Hersteller von Knöpfen. Der Großvater hatte das Unternehmen 1911 gegründet – in Berlin, dem damaligen Zentrum der Konfektion. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Neustart in der Leinenstadt Bielefeld. Dass der Enkel, Jahrgang 1965, einmal die Tradition fortsetzen würde, zeichnete sich früh ab. „Ich war schon in jungen Jahren von Knöpfen infiziert“, sagt Dolleschel. Er erzählt von der Vielzahl der Formen, Farben und Größen. Von den verschiedenen Materialien. Von den Knopfrändern, die mal kantig, mal glatt sind. Und von den Löchern – von denen es keineswegs immer vier geben muss. So viele Ideen für ein vermeintlich einfaches Tradition 28 Tradition ist so lange schön, wie sie eine Markt berechtigung hat. Martin Dolleschel www.bethmannbank.de Unternehmen mit Tradition Character 29 Mai 2015 Unternehmen mit Tradition Tradition 30 Produkt, dessen wichtigste Aufgabe es doch eigentlich ist, Kleidung zusammenzuhalten. Ob das mancher bedenkt, der sich morgens hastig Hemd oder Bluse, Hose oder Mantel zuknöpft? Und dem Knöpfe manchmal erst dann auffallen, wenn sie nicht mehr da sind, weil sie abgerissen wurden? Gefräst, gedreht, gelocht, gefärbt um 1850 zur Hand. Das Stück aus edlem dunkelblauem Stoff stammt aus dem Archiv eines französischen Knopfmacherbetriebs, den der Vater einst übernommen hatte. Auf jeder Katalogseite ist gut ein Dutzend verschiedener Knöpfe angenäht – meist handelt es sich um kunstvolle Handarbeiten aus wertvollen, seltenen Materialien. „Viele dieser Modelle könnten wir heute gar nicht mehr herstellen“, betont Martin Dolleschel. nicht verlieren und keine gesundheitsgefährdenden Stoffe absondern. An einem vergleichsweise teuren Standort wie Deutschland ist das schon lange nicht mehr auskömmlich zu machen. Union Knopf hat schon in den 90erJahren reagiert und eine Produktion in Polen aufgebaut. Später folgte eine weitere Fertigung in China. In der Firmenzentrale in Bielefeld fertigt Union Knopf heute nur noch Musterstücke und kleine Serien. „Knopfmacher“ war im Mittelalter ein angesehener Beruf. Die Knopfmacherordnung Württemberg von 1719 verlangte eine sechsjährige Lehrzeit. Mit Beginn der industriellen Produktion geriet die Handarbeit dann allmählich ins Abseits. Der Vielfalt und dem Ideenreichtum der Branche tat das keinen Abbruch. Dolleschel nimmt einen dicken „Kontrollkatalog“ aus den Jahren Die Produktion von Knöpfen ist eine auf wendige Sache – einmal abgesehen von den Kunststoff-Exemplaren, die in hunderttausendfacher Ausfertigung von Spritzgussmaschinen ausgespuckt werden. Jedes Stück wird während der Produktion mehrfach in die Hand genommen. Da wird gefräst, gedreht, getrommelt, gelocht, galvanisiert, gefärbt. Und das so lange, bis die Knopfformen perfekt sind, ihre Farbe Der Garant für Qualität www.bethmannbank.de Der frühzeitige Schritt ins Ausland, so sagt Dolleschel, sei einer der Gründe, warum das Familienunternehmen heute erfolgreich sei. Mancher deutsche Mitbewerber, der zu lange an seiner Scholle festgehalten habe, sei Character 31 Mai 2015 Für hässliche Knöpfe habe ich keine Toleranz. Martin Dolleschel Links: Knopf-Katalog: Jeder Knopf wird akribisch erfasst Diese Seite: Rund und bunt: Die Knöpfe in der Färberei. Die Farben werden per Hand angerührt Tradition verschwunden. „Man muss mit den Kunden gehen. Tradition ist so lange schön, wie sie eine Marktberechtigung hat“, sagt der Unternehmer. Die Fabriken in Polen und China, in denen jeweils mehrere Hundert Mitarbeiter tätig sind, gehören Union Knopf. Die Bielefelder meiden Joint Ventures, und Aufträge an Dritte kommen für sie schon gar nicht infrage. So können sie für ihre Qualität garantieren – vor allem aber sind sie so besser geschützt vor Produktpiraten. Ideenklau ist wie überall in der Mode auch für Knopfmacher ein Problem. Union Knopf beschäftigt ein Design-Team, das mit dem Input von internationalen Trendscouts zweimal im Jahr etwa 500 neue Modelle kreiert. Da sind mitunter hochmodische, teure Exemplare darunter, von denen vielleicht nur ein paar Zehntausend verkauft werden. An exklusive Schneider beispielsweise, die wissen, dass ihre edlen Stücke ebensolche Verschlüsse haben müssen, um nicht an Wertigkeit einzubüßen. Oder an Unternehmen mit Tradition 32 Hobby-Schneider, die ihre selbst genähten Stücke mit besonderen Knöpfen veredeln wollen. viele Möbelbauer ebenfalls in der Region zu Hause sind; das macht es leichter, im Gespräch zu bleiben. Union Knopf bedient das mittlere und gehobene Genre. Aber die Ostwestfalen brauchen auch Volumen-Aufträge. Große Stückzahlen, die heute schwieriger zu ergattern sind als vor fünf, zehn Jahren. Namen von Kunden kommen dem Chef nicht über die Lippen. Aber es ist kein Geheimnis, dass das Familienunternehmen die gesamte europäische Bekleidungsindustrie und auch Anbieter aus Asien und Amerika beliefert. Dolleschels Liebe aber bleiben vor allem die Knöpfe. Er ist weiter auf der Suche nach Formvollendung. Nach Harmonie. Nach dem idealen Verhältnis zwischen Knopf und Knopfloch. Mit alternativen Verschlüssen darf man ihm nicht kommen. Reiß- oder Klettverschlüsse? „Können einen guten Knopf nicht ersetzen“, betont er. Wie gut ein Knopf verarbeitet ist, kann auch ein Fachmann wie Dolleschel manchmal nicht gleich erkennen. Dann dreht er ihn um. Dort, auf der Rückseite, zeigt sich die Qualität des Verschlusses: Sind dort Farbnasen, Fräse- oder Spritzgussrückstände sicht- oder fühlbar? Ein guter Knopf ist ganzheitlich abgeschliffen und veredelt. Und manchmal, je nach Material und Produkt, findet sich auf dem Rücken auch ein „U“ – für „Union Knopf“. Vom Knopf zum Möbel Um sich ein wenig unabhängiger von der schnelllebigen Modebranche zu machen, fertigt Union Knopf seit Ende der 70erJahre auch Griffe und Accessoires für die Möbelindustrie. Martin Dolleschel sieht viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Kundengruppen. „Die Kollektionen inspirieren sich gegenseitig“, betont er. Hinzu kommt, dass www.bethmannbank.de Text: Stefan Weber Character 33 Natur pur Knöpfe aus Horn? Schön klassisch. Für Endverbraucher eher unbekannt sind Verschlüsse aus exotisch anmutenden Rohstoffen. Aus Steinnuss zum Beispiel. Das ist die Frucht einer Palme, die vor allem in Mittel- und Südamerika wächst. Sie ist hart wie Knochen und verfügt über eine wunderschöne Marmorierung. Die Steinnuss gilt als „pflanzliches Elfenbein“ und ist seit mehr als 100 Jahren ein beliebter Grundstoff für Knöpfe. Oder wie wäre es mit Verschlüssen aus Obstkernen, Schneckenhäusern, Strandfundstücken, rund gewaschenen Hölzern, Gläsern oder Muscheln? Alles möglich, alles erhältlich. Jedes Knopfmaterial hat seine besonderen Eigenschaften. Eukalyptuskerne zum Beispiel sondern bereits bei leichter E rwärmung heilende ätherische Öle ab. Knöpfe sind eine kleine Wissenschaft. Wer sie erfunden hat – darüber streiten die Experten. Sicher ist: Lange vor dem Knopf gab es die Fibel, eine verzierte Spange zum Zusammenheften der Kleider. Dann kam der Knebel, meist aus Knochen oder Tierzähnen, um den man eine Schlaufe legen konnte. Wann und wo das Loch zum Knopf erfunden wurde, ist nicht bekannt. Ungelöst ist auch eine andere Frage: Warum sind die Knöpfe bei den Herren rechts und bei den Damen links? Eine mögliche Erklärung: Wohlhabende Frauen im 19. Jahrhundert hatten Zofen, die ihnen beim Ankleiden halfen. Damit ihre Bedienstete besser die Bluse schließen konnte, waren die Knöpfe links. Klassisch: ein historischer Kontrollkatalog für Knöpfe Mai 2015 Zukunft 12 Dinge, die man tun sollte 34 12 dinge, die man tun sollte VON TAPFERKEIT, HUMOR, NEUGIER UND DEM MUT, FEHLER ZU MACHEN Stephanie Czerny ist eine visionäre Pragmatikerin – und in der Lage, Schein und Sein genau zu unterscheiden. Deshalb sind ihre Empfehlungen substanzielle Lebensweisheiten. Die Essenz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – oder in den Worten des von ihr hochgeschätzten Schriftstellers Leo Tolstoi: Du brauchst nur zu lieben, und alles ist Freude. 12 Dinge, die man tun sollte 1. Nicht mit Lob für andere sparen. 2.Die zehn Gebote befolgen oder zumindest die Vier Kardinaltugenden von Platon: Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit, Gerechtigkeit. 4. Seinen Humor nicht verlieren. 9. Trau dich, zu fühlen! 5. Wenn man denkt, man kann nicht weiter, dann erst recht! 6. Genug schlafen, mindestens acht Stunden. 10.Ich mag weder Gier noch Sucht: Deshalb Nein zur Gier, nein zur Sucht, aber ja zur Neugier! 11. Keine Angst, Fehler zu machen! 3. M indestens einmal am Tag die eigene Komfortzone verlassen. Tapfer sein und Dinge tun, die man eigentlich nicht m achen möchte. Aufrichtig zu sich und seinen Mitmenschen sein. 7. Gedichte lesen! 8.Googeln! www.bethmannbank.de 12.„KRIEG UND FRIEDEN“ von Leo Tolstoi lesen, am besten in der Übersetzung von Werner Berggrün, mein Lieblingsbuch. Character 35 Mai 2015 Zukunft Für morgen 36 FÜR MORGEN URBAN MINING DAS GOLD AUS DER SCHUBLADE Recycler und Affinerien gewinnen wertvolle Rohstoffe aus Elektroschrott zurück. Insbesondere Handys enthalten einen hohen Anteil an Edelmetallen. Doch die begehrtesten G eräte verstauben zu Hause – oder werden wiederaufbereitet in Schwellenländer verschickt. Die Bergwerke der Zukunft liegen im Industriegebiet. Zum Beispiel auf dem Werkhof von Elektrocycling in Goslar, zwischen blauweißen Hallen, Backsteingebäuden, Baggern, Staplern und Bergen von Schrott. Wenn am Rand des Harz’ wieder einmal eine Lkw-Ladung alter Handys abgekippt wird, freut sich Recycling-Manager Kai Kramer: „In den Telefonen stecken auf kleinstem Raum viele hochwertige Metalle.“ Ein Handy könne mehr als 40 Elemente enthalten, von Kupfer über Zinn und Raritäten wie Tungsten oder bis hin zu Palladium. „Aber den Wert machen Gold und Silber aus.“ Die letzte Grube der alten Harzer Bergbauregion hat längst geschlossen – und doch ist Kramer heute so etwas wie der Schichtmeister vom Elektroschrott-Pütt. „Urban Mining“, das Abschürfen verbauter Rohstoffe aus den Konsumgegenständen der Städte, ist das neue Zauberwort des Recyclings. Wenn die Baggerschaufeln auf den Recyclinghöfen ausgemusterte Elektrogeräte auf die Förderanlagen prasseln lassen, beginnt die Wiederverwertung längst gehobener Bodenschätze. Aus Zerlegehallen klingt das Schlagen der Hämmer und das Sirren der Akkuschrauber, bevor das Knirschen der Schredder alles übertönt. Elektroschrott enthält heute Edelmetallvorräte, die 40 bis 50 Mal reicher sind als natürliche Erze. Insbesondere Mobiltelefone liefern eine hohe Konzentration dieser Werte: So steckt in 41 Handys so viel Gold wie in einer Tonne Golderz. Boliden sowie Europas größte Kupferhütte Aurubis in Hamburg. In die Hamburger Riesenschmelze wandern auch die Handys, die Elektrocycling im Oberharz auseinandernimmt. Goldschürfen im Smartphone Aufs einzelne Smartphone bezogen, bedeutet das: Ein Gerät enthält etwa 305 mg Silber und 30 mg Gold, so die Schätzung des Informationszentrums Mobilfunk, ein Zusammenschluss der deutschen Netzbetreiber. Aus einer Tonne Smartphones kann Elektrocycling somit 300 Gramm Edelmetall im Wert von knapp 11.000 Euro gewinnen. Allerdings machen die Mobiltelefone neben Computern, Fernsehern, DVD-Playern und einer Vielzahl weiterer, größerer Geräte nur einen kleinen Anteil des Gesamtaufkommens aus. Dabei hat Deutschland einen hohen Bedarf an Industriemetallen, den es nur zu geringen Teilen selbst decken kann (siehe Kasten). Nur wenige Firmen haben sich auf die Rückgewinnung der Edelmetalle aus Elektroschrott spezialisiert. Denn die Verfahren sind kostspielig und kompliziert. In Europa schmelzen und ätzen nur drei große Scheideanstalten die Rohstoffe aus den Schalen und Platinen heraus: Umicore in Belgien, die schwedische www.bethmannbank.de Schlamm für eine Million Euro Dort bleibt nach dem Zerkleinern, Schmelzen und Elektrolysieren von den Apparaten nur noch eine schwarzgraue Masse übrig, der so genannte Anodenschlamm. „Dieser Schlamm hat es aber in sich“, sagt Stefan-Georg Fuchs, der bei Aurubis Leiter des ElektroschrottEinkaufs und stellvertretender Leiter der Abteilung Kommerzielles Recycling ist. Eine Tonne Anodenschlamm habe aufgrund seiner Edelmetallkonzentration einen Wert zwischen einer halben und einer Million Euro. Nach dem Silber wird in der Edelhütte das Gold ausgelöst. Bei Temperaturen von bis zu 1.200 Grad Celsius fließt es aus einem Induktionsofen in vorgewärmte Gussformen. 1.000 Tonnen Silber und 43 Tonnen Gold kamen so im vergangenen Geschäftsjahr zusammen. Der Anteil aus den Mobilfunkgeräten ist dabei noch viel zu gering, beklagen die Verwerter, die gern mehr Umsätze aus dem wertstoffreichen Character Mai 2015 37 305 mg Silber 10 mg Palladium 30 mg Gold Zukunft Für morgen 38 ROHSTOFFQUELLE ELEKTROSCHROTT Deutschland ist ein Hightech- und Industriestaat ohne er- Der Preisdruck auf dem Rohstoffmarkt könnte durch giebige Rohstoffquellen. Besonders Edelmetalle und Seltene verstärktes Recycling gelindert werden, wenn auch Erden – also Metalle, die in der Produktion von Handys zunächst nur geringfügig. So beträgt der Wert der jähr- und anderen Elektronikprodukten benötigt werden – müssen lichen Rohstoffeinfuhren 84 Milliarden Euro – nur ein importiert werden. Unternehmen und Verbände warnen Zehntel dieses Werts kann bisher durch Recycling für deshalb immer wieder vor Rohstoff-Engpässen und in die die Industrie gewonnen werden. Er stammt aus jährlich Höhe schießenden Preisen. So vervierfachte sich zwischen rund einer Million Tonnen Elektroschrott, der vor allem 2001 und 2011 beispielsweise der Kupferpreis, während aus Computern, Leiterplatten, Fernsehern und Haus- sich der Preis für Palladium innerhalb von fünf Jahren ver- haltskleingeräten stammt. Mit lediglich 5.000 Tonnen doppelte. Beide Metalle sind in Mobiltelefonen enthalten. im Jahr machen Mobiltelefone einen sehr geringen Auch bei den ebenfalls in Handys verarbeiteten Indium oder Teil des Elektroschrotts aus. Was Edelmetalle betrifft, Lithium war zuletzt eine deutliche Bewegung nach oben zu sind Platinen aus Handys und Computern dennoch am verzeichnen. Nur bei den Seltenen Erden wie Yttrium gab die ergiebigsten. Sie können bis zu 39 Prozent der begehrten Deutsche Rohstoffagentur Anfang des Jahres vorübergehend Industriemetalle im Wertstoffkreislauf ausmachen. Entwarnung. Sie sind in geringen Spuren in Handys enthalten, allerdings nur schwer recycelbar. HANDY INHALTSSTOFFE Ein Handy enthält mehr als 40 Elemente. Metalle wie Kupfer (Cu) und Zinn (Sn), Sondermetalle wie Kobalt (Co), Indium (In) und Antimon (Sb) sowie Edelmetalle der Platingruppe, einschließlich Silber (Ag), Gold (Au), Palladium (Pd), Wolfram und Seltene Erden wie Yttrium (Y). (Quelle: Nokia) www.bethmannbank.de Character Ordnungsgemäß zurückgegeben wird noch nicht einmal ein Fünftel der Geräte, hat Perrine Chancerel vom Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) herausgefunden. Rund zehn Millionen Handys landen sogar unsortiert im Hausmüll. Mit ihnen, so hat Chancerel errechnet, verschwinden jährlich rund 350 Kilogramm Gold aus dem Edelmetallkreislauf – 12 Mio. Euro teurer Sondermüll. „Dabei sind Handys so wertvoll, dass sie noch nicht einmal mit anderem Elektroschrott gemischt werden sollten“, sagt Chancerel. Material erzielen würden. „Das Problem dabei ist, dass große Mengen erst mal zu uns auf den Recyclinghof kommen müssen“, sagt Kai Kramer von Elektrocycling. Von rund 6.000 Tonnen Elektroschrott, die bei dem Unternehmen im Jahr eintreffen, besteht nur der hundertste Teil aus den begehrten Telefonen. Verborgene Schätze im Haushalt Anstrengungen, die Recyclingrate für Handys zu erhöhen, gibt es viele. Netzbetreiber und Umweltverbände haben Rücknahme- und sogar Rückkaufprogramme aufgelegt. Auch Anbieter wie Wirkaufens, Zonzoo, Momox oder reBuy zahlen bares Geld fürs Altgerät. Trotzdem liegen die meisten Schätze noch immer in deutschen Schubladen. Denn die Besitzer der Altgeräte trennen sich nur schwerlich von ihren elektronischen Reichtümern. Häufig wissen sie nicht, wie sie ihre Daten verlässlich löschen können, heben ihre alten „Knochen“ als Ersatz auf oder sind einfach zu bequem. 2013 lagen erstmals mehr als 100 Millionen Althandys in deutschen Haushalten herum, meldete der Branchenverband Bitkom nach einer repräsentativen Umfrage – Dunkelziffer unbekannt. Weil die Hersteller in immer kürzeren Abständen neue Modelle bringen, wächst die Zahl der ausrangierten Telefone immer schneller, zuletzt um ein Viertel innerhalb eines Jahres. Mai 2015 39 Recycling contra Weiterverkauf Dass nur so wenige der edelmetallstrotzenden Kommunikationswunder bei Aurubis und in anderen urbanen Schmelzen verhüttet werden, hat noch einen anderen Grund: Gerade bei neueren Smartphone-Modellen ist es meist viel profitabler, eingesammelte Modelle aufzuarbeiten und weiterzuverkaufen. Umweltforscher der University of Santa Barbara in Kalifornien fanden 2010 in einer Studie heraus, dass die Margen für sogenannte „Refurbisher“ deutlich höher liegen als im stark volumenabhängigen „Abschürfen“ der Metalle in den Affinerien. „Pro Handy finden wir Gold im Wert von etwa 70 Cent“, erläutert Aurubis-Experte Fuchs. Dazu kämen andere Metalle, die vielleicht weitere 20 Cent ausmachten. „In Europa sind also insgesamt große Mengen vorhanden, aber wirtschaftlich schwer zu gewinnen, solange gebrauchte Mobiltelefone im Internet für zweistellige Euro-Beträge gekauft und verkauft werden.“ Sprich: Die besten Geräte werden entweder gar nicht abgegeben oder landen bei Wiederaufrüstern wie dem global agierenden USKonzern Hyla Mobile, der in Deutschland mit dem Handy-Rückkauf von Vodafone zusammenarbeitet. Ungenutztes Potenzial bei der Aufbereitung Immerhin dürfen die Verwerter damit rechnen, dass Verbraucher demnächst deutlich mehr Altgeräte zurückgeben. Im nächsten Jahr tritt die verschärfte ElektroschrottRichtlinie der EU in Kraft. Dann müssen nicht mehr nur die Hersteller, sondern auch alle Händler die Altgeräte wieder zurücknehmen. Die vorgeschriebenen Recyclingquoten werden deutlich erhöht. Die Richtlinie soll auch den blühenden illegalen Export von kaputten Altgeräten nach Asien und Afrika erschweren, wo es noch kaum nennenswerte Recycling-Bemühungen gibt. „Das Problem ist, dass die meisten Leute gar nicht wissen, dass sie ihren Schrott seit Jahren kostenlos zurückgeben können“, sagt der Recycling-Manager Kai Kramer. Mobiltelefone seien dabei „ein besonders negatives Beispiel“, so Matthias Buchert vom Darmstädter Öko-Institut, Mitautor des Metallrecycling-Berichts des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Die Autoren gehen davon aus, dass unter idealen Bedingungen 40 Mal so viele Wertstoffe aus alten Handys gewonnen werden könnten, als es heute tatsächlich geschieht. Kosten für die Gesellschaft Möglicherweise wird die Ineffizienz und Rohstoffverschwendung des Jahres 2015 künftig nur ein Kopfschütteln auslösen. Perrine Chancerel vom Fraunhofer-Institut IZM betont: „Das Recycling an sich, also der Schmelzprozess, lohnt sich auf jeden Fall.“ Wenn man die Kosten für Sammlung und Logistik mitberechne, sei der Wert zwar nicht mehr so eindeutig, schränkt sie ein. „Allerdings ist die Frage dahinter, inwieweit wir es uns als Gesellschaft leisten können, diese Metalle nicht zurückzugewinnen.“ Text: Hilmar Poganatz Gegenwart 40 Unterbewertet unterbewertet Rostock Die Kraft von Wind und Wellen Die größte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns wäre gern Landeshauptstadt geworden. Dafür punktet sie nun mit Kreuzfahrten und alternativen Energien. Im Darwineum, einem 29 Mio. Euro teuren Areal des Rostocker Zoos, wird für Besucher die Evolutionstheorie lebendig. Der Kurzschnabel-Igel, der dort durch sein Gehege wackelt, ist einer der Beweise dafür, dass Erfolg hat, wer sich wandeln kann, und derjenige überlebt, der am besten an die Umgebung angepasst ist. Das trifft auch auf die Stadt Rostock zu. Am Lauf des Flusses Warnow gelegen, der sich bei Warnemünde in die Ostsee öffnet, ist die Stadt dem Meer zugewandt. Fast 20 Kilometer zieht sich der Fluss bis zum Ostseebad durch die Stadt. An seinem U nterlauf liegen Werften und Hafenanlagen. Handel und Schifffahrt waren über Jahrhunderte die wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Im Rathaus, über dessen heutiger Fassade sieben Backsteintürme wachen, hatten die Kaufleute im Mittelalter ihre Stände – es war Sitz der Stadtverwaltung und Kaufhaus in einem. www.bethmannbank.de Hübsche Plattenbauten Von dort führt die Kröpeliner Straße zum Universitätsplatz. Die „Kröpi“ ist die Haupteinkaufsstraße der Stadt, seit 1968 Fußgängerzone. Ihre Geschäfte und Restaurants sind in gotischen Giebel häusern und barocken Kaufmannshäusern untergebracht, eines schöner als das andere. Lücken, die im Zweiten Weltkrieg entstanden, wurden zum Teil mit Plattenbauten geschlossen. Doch diese imitieren Character Bundesland: Mecklenburg- Vorpommern Höhe: 14 m. ü. NN Fläche: 181,4 km² Einwohner: 203.848 (31.12.2014) Bevölkerungsdichte: 1.123 Einwohner je km² Kfz-Kennzeichen: HRO die Architektur der Nachbarhäuser so geschickt, dass niemand auf die Idee käme, sie hässlich zu finden. Auch das rot geziegelte Hauptgebäude der Universität steht prächtig da. Und dennoch im Schatten. Die Rostocker Universität sei die älteste Deutschlands – „Ganz egal was die Wessis sagen“, erklärt der Rentner, der auf einer Bank in der Sonne sitzt. Das ist zwar nicht richtig, aber es zeigt das Problem, das Rostock hat: So bedeutend die Stadt im Lauf der Geschichte auch war – eine andere war immer bedeutender. Das schmerzt! Heidelberg hat die ehrwürdigere Universität. Die Hansestadt Lübeck das ältere Stadtrecht. Hamburg den größeren Seehafen – und das, obwohl die Stadt an der Elbe ganze 100 Kilometer vom Meer entfernt liegt. In Rostock kann man das Meer fast riechen. Und dann bekam 1990 auch noch Schwerin den Titel Landeshauptstadt zugesprochen. Obwohl Rostock die größte Stadt in Mecklenburg-Vorpommern ist und mehr wirtschaftliches Potenzial hat. Das schmerzt. Mai 2015 41 Doch anstatt wie die Riesenschildkröten im Darwineum den Kopf einzuziehen und abzuwarten, nutzen die Rostocker die Vorzüge der Umgebung: Wie schon die Kaufmänner der Hanse setzen sie auf die Kraft von Wind und Wellen, um ihrer Metropole in Zukunft einen führenden Platz auf den Ranglisten zu sichern. So öffnete die in Rostock ansässige AIDA Cruises, der größte Arbeitgeber der 200.000-Einwohner-Stadt, im Jahr 1996 den elitären Kreuzfahrttourismus für eine breitere Zielgruppe. Mit ihren lächelnden Schiffen ist die Kreuzfahrtreederei heute Marktführer in Deutschland. Rückenwind für die Wirtschaft Auch die Windenergie schafft Arbeitsplätze. Mit einem Anteil von mehr als 45 Prozent ist sie der wichtigste Energieträger im Land – und half, die Stadt in der Schifffahrtskrise auf Kurs zu halten. Die Firma Nordex übernahm 1999 ein ehemaliges Dieselmotorenwerk und montiert dort nun Windturbinen. Auf der Werft Nordic Yards bauen Arbeiter Plattformen für Windparks in der Nordsee. Schlepper bringen diese vom Rostocker Hafen hinaus aufs Meer. Seit 2006 liefert eine Offshore-Windenergie anlage vor der Küste grünen Strom. Viele Unternehmen der Region profitieren zudem von Kooperationen mit der Universität. Damit das so bleibt, fördern Schülerlabore den wissenschaftlichen Nachwuchs. 2013 erhielt Rostock für diese Initiative den Titel „Stadt der jungen Forscher“. Dass sich diese Investition langfristig rechnet, zeigen die aus den Forschungsprojekten der Universität hervorgegangenen Start-ups. Seit 1992 gab es über 100 solcher Ausgründungen, die mehr als 1.600 Arbeitsplätze geschaffen haben. „Medizin und Forschung gehören fest zu unserer Kultur dazu. Sie sind Wegweiser für die Zukunft der menschlichen Evolution“, heißt es im Darwineum. In Rostock hat man für diese Zukunft schon ein Zuhause geschaffen. Text: Jessica Braun Zoo Rostock Barnstorfer Ring 18059 Rostock Telefon 03 81/ 2 08 20 www.zoo-rostock.de Universität Rostock 18051 Rostock Telefon 03 81 / 49 80 www.uni-rostock.de Stromerwachen Warnemünde Mit dem Stromerwachen, einem Festival entlang des Alten Stroms, beginnt im Seebad im Mai die Sommersaison. www.wmnde.de Hanse Sail Zur größten maritimen Veranstaltung MecklenburgVorpommerns legen im August Traditionssegler, Kreuzfahrt schiffe, Fähren und andere große Seeschiffe in der Hansestadt an. www.hansesail.com Marine Science Center In der Forschungseinrichtung der Arbeitsgruppe „Sensorische und kognitive Ökologie“ der Universität dürfen Besucher mit Robben tauchen. Am Yachthafen 3A 18119 Rostock – Hohe Düne Telefon 03 81/ 50 40 81 81 www.marine-science-center.de Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum Deutschlands größtes schwimmendes Museum. Schmarl - Dorf 40, 18106 Rostock Telefon 03 81/ 12 83 13 64 www.schifffahrtsmuseum-rostock.de Gegenwart Zahlen, bitte! 42 Zahlen, Bitte! Wasser G Wasser ist nicht nur die Grundlage allen Lebens. Der ausreichende Zugang zu sauberem Wasser ist auch Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Wohlstand einer Gesellschaft. Menschen, die an Wassermangel leiden, werden nicht nur eher krank, sondern sind auch Konflikten um das Wasser ausgesetzt. A 1.400.000.000 (= 1,4 Mrd.) Kubikkilometer Wasser gibt es auf der Erde. In Kubikmeter ausgeschrieben ist das eine 14 mit 16 Nullen. Davon sind nur 2,5 Prozent Süßwasser, macht also insgesamt 35 Mio. Kubikkilometer Süßwasser, die auf der Erde verfügbar sind – rein theoretisch. Denn tatsächlich ist nur ein Bruchteil des existierenden Süßwassers für die Menschen in Seen, Flüssen und Talsperren erreichbar. Der größte Anteil des Süßwassers liegt gefroren in Form von Gletschern, Schnee und Eis sowie flüssig in Form von Sumpfgewässern vor. A B B Rund 0,5 Liter Wasser atmet ein Mensch über den Tag verteilt aus. Einen Liter verliert jeder Mensch täglich über die Haut, auch wenn er nicht schwitzt. C 2,17 Euro war 2013 der höchste Preis für einen Kubikmeter Trinkwasser in Deutschland, und zwar im Bundesland Berlin. Die deutsche Hauptstadt berechnet aber gleichzeitig mit knapp 17,58 Euro die niedrigste jährliche Grundgebühr. Den niedrigsten Wasserpreis je Kubikmeter hat das Bundesland Niedersachsen mit 1,23 Euro, das allerdings bei einer Grundgebühr von 61,74 Euro. Heißt konkret: In Bundesländern mit hoher Grundgebühr und niedrigem Kubikmeterpreis werden Großverbraucher bevorzugt, in Bundesländern wie Berlin profitieren dagegen Geringverbraucher von der niedrigeren Grundgebühr. C D Rund 40 Prozent der Weltbevölkerung leben an Seen und Flüssen, die sich mindestens zwei Staaten teilen. 300 internationalen Vereinbarungen über die gemeinsame Wassernutzung stehen, bezogen auf die vergangenen 60 Jahre, 37 zwischenstaatliche Konflikte gegenüber. Beispiel: Der Jordan ist entscheidend für die Wasserversorgung in Israel, Jordanien, Libanon und Syrien. Der Streit um das Wasser des Jordans ist immer wieder Grund für Konflikte. www.bethmannbank.de D E 3,6 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs benötigen Privathaushalte, 4,4 Prozent des Wassers braucht die Industrie. 92 Prozent des globalen Wasserverbrauchs fließen in die Agrarproduktion. Character Mai 2015 43 G Bis zu 12 Tage kann ein Mensch im Extremfall ohne Wasser überleben. In der Regel halten die meisten Menschen aber nur drei bis vier Tage durch. H H Bis 2050 wird laut OECD der weltweite Wasserverbrauch durch Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Globalisierung und Wirtschaftswachstum um 55 Prozent zunehmen. J L K 180 Kilometer muss die geplante Wasserpipeline zwischen Rotem Meer und Totem Meer in Jordanien überwinden. 80 der jährlich zu transportierenden 200 Mio. Kubikmeter Wasser sollen in einer Entsalzungsanlage zu Trinkwasser verarbeitet werden. L3 unterschiedliche Wassermoleküle existieren: das bekannte H2O. Das sogenannte schwere Wasser heißt Deuteriumoxid (D2O) und besteht aus einem Sauerstoffatom plus zwei Atomen Deuterium. Letztere haben zusätzlich noch ein Neutron im Atomkern und verfügen damit über eine höhere Molekülmasse. Es wird beispielsweise bei der Kühlung von Kernreaktoren eingesetzt. Beim „überschweren Wasser“ handelt es sich um Tritiumoxid: Es enthält statt zwei Wasserstoffatomen zwei Wasserstoffisotope, deren Kerne jeweils aus einem Proton und zwei Neutronen bestehen. Es ist radioaktiv, daher instabil und kommt in der Natur selten vor. K E M F & I F Etwa 30 Länder, vor allem Afrikas und des Nahen Ostens, leiden bereits heute an akutem Wassernotstand. Das heißt, sie haben weniger als 500 Kubikmeter Süßwasser pro Person zur Verfügung. Dazu gehören beispielsweise der Sudan und Jordanien. J 15.500 Liter Wasser fließen in die Herstellung eines Kilogramms Rinderfleisch. 5.000 Liter Wasser braucht es für ein Kilo Käse, 3.900 Liter für dieselbe Menge Hühnerfleisch. Für die Produktion von einem Kilogramm Baumwolle sind immerhin noch 2.700 Liter Wasser notwendig, für ein Kilo Weizen 1.300 Liter. Für einen Liter Bier braucht es dagegen nur 75 Liter Wasser und für einen Liter Orangensaft sogar nur 50 Liter Wasser. Für einen einzigen Latte Macchiato, geschätzt 0,4 Liter, bedarf es 200 Liter Wasser. I 1.700 Kubikmeter erneuerbares Wasser beträgt die Mindestmenge, die ein Mensch pro Jahr zur Verfügung haben sollte. Länder oder Regionen mit weniger Wasservorräten leiden an Wasserknappheit, Nationen mit weniger als 1.000 Kubikmeter Wasser pro Person und Jahr gelten als wasserarm. M Etwa 2,7 Milliarden Menschen werden Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2025 in Regionen mit extremer Wasserarmut leben. Derzeit müssen etwa 2,4 Milliarden ohne sanitäre Anlagen auskommen. Etwa 800 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jeden Tag sterben rund 5.000 Menschen an Durchfallerkrankungen – verursacht durch verunreinigtes Trinkwasser und unhygienische Abwasserentsorgung. Text: Geraldine Friedrich Gegenwart Zwischen kommerziell und karitativ 44 Zwischen Kommerziell und karitativ Die Versöhnung von Mensch und Natur die Gartenbau-ingenieurin Heike Boomgaarden Mit ihrem Ingenieurbüro Wesentlich verändert Pflanzenexpertin und Fernsehmoderatorin Heike Boomgaarden Städte und Landschaften. Ihr Motto: Wildblumen und Weinreben statt biederer Thuja. Es ist nicht schwer, Heike Boomgaarden in dem Getümmel zwischen Gartenliebhabern und Pflanzenexperten in der Essener Messehalle ausfindig zu machen. Die große, schlanke 52-Jährige ist schnell der Mittelpunkt ihrer Umgebung bei einer Sonderschau zum Thema „Urban Gardening“, wo Ideen für mobile Stadtgärten gezeigt werden. Boomgaardens Ingenieurbüro Wesentlich stellt gemeinsam mit ökologischen Partnerfirmen neue Konzepte für begrünte Städte aus – zur Erhaltung der Pflanzenvielfalt. Alte Schuhe hat die Gartenbau-Ingenieurin mit Rosmarin bepflanzt, ausrangierte Koffer mit blühenden Osterglocken und Handtaschen mit Basilikumpflanzen, sogar ein Rollator wurde zum mobilen Garten. Alles, was Heike Boomgaarden antreibt, dreht sich um die „Versöhnung von Natur und Mensch“. Das begann schon, als ihre heute erwachsenen Kinder in die Schule kamen und das Lernen von der Natur dort tabu war. Boomgaarden entwickelte deshalb die ersten Naturerlebnisgärten und startete so vor 20 Jahren ihre Selbstständigkeit. „Das war damals in der Gesellschaft kein angesagtes Thema, der Start lief holprig“, erinnert sich Heike Boomgaarden. Dennoch machte sie weiter, weil sie ein Gedanke seitdem nicht mehr losließ. „Es ist unsere dringende Aufgabe, die Vielfalt aller Lebewesen auf unserer Erde zu erhalten. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass alte, fast ausgestorbene Pflanzenarten weiter genutzt werden. Je vielfältiger die Pflanzenwelt, desto vielfältiger wird der Lebensraum für Tiere“, erklärt die Expertin. „Viele Menschen müssen viele Pflanzen pflanzen.“ Die Verfechterin der unkonventionellen Gärtnerei ist für die Besucher der Essener Ausstellung so etwas wie ein Bezugspunkt im grünen Universum: Eine Frau möchte wissen, wie sie ihre problematische Zimmerpflanze pflegen muss. Boomgaarden antwortet prompt, freundlich und quittiert das kurze Gespräch mit einem lauten, herzhaften Lachen, ihrem Markenzeichen als Radiound Fernsehmoderatorin verschiedener Gartensendungen in ARD und SWR. www.bethmannbank.de Saatgut vergessener Pflanzen „Ich liebe Menschen, die sich auch für Pflanzen interessieren“, sagt die Unternehmerin. Sie meint es ehrlich, denn bei ihnen kann Boomgaarden ihre Mission sofort beginnen – und die hat nichts mit dem wirtschaftlichen Wachstum ihrer Firma zu tun: Boomgaarden beteiligt sich an Samentauschbörsen und verteilt Saatgut längst vergessener Pflanzenarten kostenlos. „Es geht darum, genetische Reserven für die nächsten Generationen zu sichern.“ Dass sie sich damit einer ganzen Industrie entgegenstellt, die sich auf die Veredlung und Einschränkung von Saatgut spezialisiert hat, um die Leistungsfähigkeit von Pflanzen zu steigern und so auch die Welternährung sicherzustellen, ist ihr wohl bewusst. Character 45 Viele Menschen müssen viele Pflanzen pflanzen. Heike Boomgaarden Mai 2015 Gegenwart Zwischen kommerziell und karitativ 46 „Um die zahlreichen Ideen umsetzen zu können, pflege ich ein sehr aktives Netzwerk, zu dem rund 30 umtriebige Menschen zählen. Ich spreche mit Landesministern, Staatssekretären, Stiftungsvertretern und bin selber in verschiedenen Verbänden aktiv wie den Landfrauen oder der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft“, erklärt Heike Boomgaarden. Nur so lassen sich die verschiedenen öffentlichen Fördermittel gezielt ausfindig machen und einsetzen. Sozialunternehmer international vernetzt Kreativ: Eine Sonderausstellung von Heike Boomgaarden zum Urban Gardening Modernes Saatgut für Getreide oder Gemüse ist auf maximalen Ertrag ausgelegt und nur für ausgewählte Sorten verfügbar. Boomgaarden hat selbst eine Ausbildung zur Obstbäuerin beim Chemiekonzern Höchst absolviert und kennt die industrielle Agrarproduktion von innen. Mit ihren Projekten will die Pflanzen- und Landschaftsexpertin bekannte Grenzen sprengen und zum Wohl der Menschen „neues urbanes Grün“ schaffen. Erste industrielle Jungpflanzenund Samenproduzenten arbeiten bereits mit Heike Boomgaarden zusammen, um die neue Nachfrage nach bienenfreundlichen Wildblumen bedienen zu können. Die „Essbare Stadt“ Andernach Alle ihre Projekte spiegeln diesen Geist und setzen in Größe – und auch Medienwirksamkeit – Zeichen. Ob „Flüchtlingsgärten“ in Innenstädten, die Wiedereinführung vergessener Kirschbaumsorten im ganzen Mittelrheintal (siehe Interview) oder pädagogisch geplante Schulgärten – Heike Boomgaarden zieht die Aufmerksamkeit vieler öffentlicher Entscheider auf sich. Boomgaardens bislang bekanntestes Projekt ist die „Essbare Stadt Andernach“. Das kleine Städtchen am Rhein zwischen Bonn und Koblenz hat sich nach Boomgaardens Plänen von ungenutzten und ungepflegten Grünflächen verabschiedet und stattdessen mithilfe der Bürger auf öffentlichem Grund Gemüse und Obst angebaut. Andernachs Nutzpflanzen-Begrünung lebt davon, von jedermann gejätet, gepflückt und gegessen werden zu können. Jeder darf mitmachen, alle sollen sich verantwortlich fühlen. Ein Graus für die historische Gartenbaukunst englischer Tradition. Auch Boomgaarden musste zuerst die Stadtund Landesväter, die Verbände und die Bevölkerung überzeugen und für das Projekt gewinnen, bevor sich brachliegende Flächen in Sonnenblumen- und Salatbeete verwandeln konnten. www.bethmannbank.de Boomgaarden, gebürtige Hessin, hat ihren Lebensmittelpunkt in Rheinland-Pfalz gefunden. Hier hat sie vor 23 Jahren ihre erste Gartenbaufirma gegründet und ist dank ihrer Medienarbeit und Umtriebigkeit nicht nur in ihrem Heimatland geschätzt. Boomgaarden, Mutter von drei erwachsenen Kindern, zählt zu den ausgewählten sozialen Unternehmern in Deutschland und ist seit 2013 ein „Ashoka Fellow“. Das internationale Netzwerk verbindet Sozialunternehmer auf der ganzen Welt – auch Muhammad Yunus, Gründer des ersten Mikrokredit-Programms und Friedensnobelpreisträger, gehört dazu. Boomgaarden erinnert sich gut, dass ihre Geschäftsidee, biologische Vielfalt durch städtischen Gartenbau zu fördern, vor nicht allzu langer Zeit kaum Chancen hatte. „Noch vor zehn Jahren interessierte sich kaum jemand für Insektenhotels und Artenvielfalt. Heute ist der Zeitgeist dagegen eng mit den Themen Heimat und Natürlichkeit verbunden. Jeder will dabei sein“, stellt Boomgaarden fest. Zahlreiche ihrer Projekte wie auch das Modell „Essbare Stadt“ pflanzen sich deshalb schnell im ganzen Land fort. Ob es sie ärgert, finanziell nicht an dem Wachstum ihrer Ideen beteiligt zu sein? „Überhaupt nicht!“ Boomgaarden lacht charakteristisch herzlich. „Das war das Ziel: Alle Ideen müssen möglichst breit gestreut werden, erst dann beginnen sie zu leben.“ Text: Petra Schäfer Character Mai 2015 47 Pflanzen helfen Menschen FRAGEN AN HEIKE BOOMGAARDEN Zahlreiche Projekte treiben Heike Boomgaarden um – immer stehen die Menschen und ihre Rolle in der Natur im Mittelpunkt. Auch aktuellen politischen Fragen begegnet Boomgaarden mit „natürlichen“ Antworten. Warum spielen die Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten und Afrika, die nach Deutschland kommen, für Ihre Firma aktuell eine wichtige Rolle? Das Leben und das Schicksal der Flüchtlinge beschäftigen uns sehr. So haben wir unser neuestes Projekt „Willkommen Erdlinge“ genannt: ein Garten für Flüchtlingskinder und Familien. Viele Flüchtlingskinder kommen traumatisiert nach Deutschland – manchmal sogar ohne ihre Familie. Das Projekt „Willkommen Erdlinge“ möchte diesen Kindern die Möglichkeit geben, die heilenden Kräfte des Gärtnerns zu nutzen, um sich zu „erden“ und neuen Lebensmut zu schöpfen. Wie kann das funktionieren? Ich glaube fest an die Botschaft „Pflanzen helfen Menschen“. Wenn wir beispielsweise Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Regionen nach Deutschland geflohen sind, die Möglichkeit geben, in einem Garten zusammenzuarbeiten und sich um die Pflanzen zu kümmern, dann stiften wir eine neue Gemeinschaft. Die Menschen entwickeln gemeinsame Interessen, haben eine Aufgabe und nähern sich an. Vielleicht kann man so Frieden säen. Haben Sie schon Städte gewinnen können, die Ihre Idee unterstützen? Mainz, Koblenz und Andernach zeigen starkes Interesse und wollen öffentliche Gärten und Parks für die Flüchtlingsprojekte zur Verfügung stellen. Auch Hilfsorganisationen wie die Caritas arbeiten hier mit. Grundsätzlich geht es uns darum, dass die Ideen von möglichst vielen Gemeinden übernommen werden. Die Fortpflanzung Ihrer Ideen hat auch bei Ihrem neuen Projekt „Mittelrheinkirsche“ gut funktioniert. Was hat es damit auf sich? Ende vergangenen Jahres haben wir damit begonnen, vergessene Kirschbaumsorten wieder da zu kultivieren, wo sie seit Jahrhunderten ihren Platz hatten: im gesamten Mittelrheintal. Die Uferhänge waren traditionelles Obstbaugebiet, bis der Anbau mit fortschreitender Industrialisierung zu unwirtschaftlich wurde. Acht Gemeinden haben schon Bäume gepflanzt und viele werden 2015 mitpflanzen. Bald wird das klassische Bild des UNESCOWelterbe-Gebietes Oberes Mittelrheintal wieder erblühen und international als Cherry Valley bekannt werden. In St. Goarshausen am Rhein habe ich jetzt meinen eigenen Kirschbaum, über den ich einen Blog schreibe. Aber bis er Kirschen trägt, wird es noch ein paar Jahre dauern. Essbare Stadt: Ein Nutzgarten an der Stadtmauer von Andernach Gegenwart 48 Hello / Goodbye HELLO / GOODBYE Ist das noch tragbar? Alternativen zum Verpackungswahn Ein einzeln in Plastik eingeschweißter Teebeutel, der in einer Schachtel steckt, die sich wiederum in einer Plastikfolie befindet – und dann in einer Plastiktüte vom Supermarkt nach Hause getragen wird. Muss so viel Müll und Verpackungsaufwand für eine einzelne Tasse Tee wirklich sein? Sowohl die EU als auch eine neue Reihe von Geschäften sagen: Nein. www.bethmannbank.de Character Mai 2015 49 - Hello - Lose Waren Kartons öffnen, Plastikfolien entfernen, Aludeckel aufreißen – Lebensmittel sind verpackt, oft doppelt und dreifach. Daran haben sich Verbraucher gewöhnt. Hersteller wiederum nutzen die Verpackung, um Aufmerksamkeit zu erregen und Begierde zu wecken. Doch eine neue Art von Geschäften will auf den Verpackungswahn verzichten: Läden wie „Original Unverpackt“ in Berlin oder „in.gredients“ im texanischen Austin bieten ihre Waren in loser Form an. Jeder Kunde kann sich selbst so viel Reis, Haarshampoo oder Müsli abfüllen, wie er braucht. Bezahlt wird nach Gewicht. Behältnisse sollen die Kunden nach Möglichkeit selbst mitbringen, diese werden leer gewogen und ihr Eigengewicht an der Kasse abgezogen. Spontaneinkäufer, die keine leeren Tupperschüsseln oder Flaschen dabeihaben, können sich gegen Pfand welche ausleihen oder für einige der Waren Papiertüten verwenden. Neben der Umwelt wird durch den Verpackungsverzicht auch auf beiden Seiten der Geldbeutel geschont: Die Händler sparen Lagerraum und Kunden sind nicht mehr gezwungen, Packungen zu kaufen, die mehr beinhalten, als sie benötigen. Darüber hinaus bezahlt der Kunde in jedem gewöhnlichen Supermarkt für die Verpackung mit – mal 20 Prozent (für Rucola-Salat in der Plastikschale), mal 40 Prozent (für eine Flasche Glasreiniger in der Sprühflasche). Kein Wunder also, dass neben den Vorreitern, die komplett auf Verpackungen verzichten, auch immer mehr Biomärkte zumindest einen Teil ihrer Waren unverpackt anbieten. - Goodbye - Plastiktüten 200 Plastiktüten verbraucht ein durchschnittlicher EUBürger pro Jahr. Die allermeisten davon werden einmal benutzt und dann weggeworfen. Die EU will diese Zahl bis 2025 schrittweise auf 40 pro Einwohner reduzieren. Die Mitgliedsländer sollen dabei sowohl Steuern oder Gebühren auf die Plastiktüten erheben als auch Verbote aussprechen dürfen. Wie einfach sich das Müllaufkommen durch höhere Kosten steuern lässt, beweist der Vergleich zwischen Polen, wo durchschnittlich 466 der meist kostenlos verteilten Tüten pro Jahr verbraucht werden, und Dänemark, wo es lediglich vier sind – denn dort sind sie kostenpflichtig. Vor allem wegen ihrer Langlebigkeit sind Plastiktüten eine Gefahr für die Umwelt: Plastik braucht mehrere Hundert Jahre, bis es komplett zersetzt ist. Riesige Teppiche aus Plastikmüll verschmutzen inzwischen die Weltmeere und töten dort Vögel, Fische und Meeressäuger. Über die Nahrungskette können winzige Plastikteilchen nach Angaben von Experten sogar in den menschlichen Körper gelangen. Ein hoher Preis für gerade mal 25 Minuten Nutzen – denn so lange wird eine Plastiktüte im Durchschnitt benutzt, bevor sie auf den Müll oder ins Meer wandert. Mit ihrem Schritt zur Eindämmung der Plastikflut liegt die EU im Trend. Denn in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Missouri sind Plastiktüten seit Kurzem ganz verboten. Supermärkte müssen ihren Kunden dort stattdessen kompostierbare Tüten anbieten und für diese mindestens zehn Cent verlangen. Text: Christoph Koch Zukunft 50 www.bethmannbank.de Unternehmen der Zukunft Character Mai 2015 51 UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT Im Fahrwasser der Krise Auerbach Schifffahrt 2010 herrscht Flaute in der Schifffahrtsbranche. In Hamburg nutzen zwei junge Männer die Gelegenheit, günstig ein Schiff zu erstehen und ihre Reederei zu gründen. Mit beiden Händen am Steuerrad steht Alexander Tebbe auf der Brücke der Cap San Diego und schaut nach vorne. Der alte Frachter liegt vertäut im Hamburger Hafen, aber das scheint der 33-Jährige für einen Moment vergessen zu haben. Wahrscheinlich bewegt ihn derselbe Gedanke wie schon unzählige Besucher vor ihm: Wie es wäre, diese knapp 160 Meter lange rot-weiße Schönheit die Elbe hinab und hinaus auf See zu steuern. machte er sich im Herbst 2010 selbstständig. Mitten in der Branchen-Krise. Zu einem Zeitpunkt, als man eigentlich hätte zu Fuß übers Meer nach Indonesien laufen können, wie Bunk einmal sagte. Denn so viele Schiffe lagen ungenutzt vor Anker. Heute stehen die jungen Reeder kurz vor ihrer vierten Kapitalerhöhung. Suchen zehn neue Gesellschafter, um die Einlagen von 20 auf 40 Mio. Euro zu verdoppeln. Ein majestätisches Bild. Selbst für Tebbe, dessen Reederei bereits drei solcher Schiffe gehören. Er ist einer der beiden Gründer von Auerbach Schifffahrt. Gemeinsam mit seinem Partner, dem 36-jährigen Lucius Bunk, Indem sie sich an den Werten orientierten, welche die Branche vor dem Boom ausgemacht hatten, konnten sich die beiden ihren Platz in einem von Patriarchen dominierten Umfeld erarbeiten. Ihre Reederei wächst Imposant: Das Museumsschiff Cap San Diego in Hamburg nicht dank Geld von anonymen Anlegern oder aus Schiffsfonds. Ihre bisherigen Investoren stammen selbst aus der Schifffahrt und sind direkt am Unternehmen beteiligt. Bunk und Tebbe setzen auf nachhaltiges Wachstum: Erst wird die Flotte aufgebaut und die Schiffe vorerst verchartert, also an andere Befrachter vermietet. Langfristig wollen Bunk und Tebbe aber selbst mit den Firmen verhandeln, deren Waren sie verschiffen. Denn so lässt sich mehr Gewinn erwirtschaften. Die Krise ist noch nicht vorbei. Aber Auerbach Schifffahrt hat trotzdem Fahrt aufgenommen. Zukunft 52 Unternehmen der Zukunft Verspielt: Das selbst gebaute Modell der Reeder symbolisiert ihr erstes Schiff Maple Ingrid U nsicheres Gewässer: Gründen in der Krise Bunk, ursprünglich Volkswirt und Sinologe, lernte den Schifffahrtskaufmann Tebbe bei der Hamburger Reederei Ernst Russ kennen. Für Tebbe war es der erste Arbeitgeber: „Bei Ernst Russ habe ich gelernt, was es heißt, Verantwortung für ein Projekt zu übernehmen.“ Drei Jahre arbeiteten die beiden Männer eng zusammen. Dann ging Bunk nach China, um das Büro der Reederei in Shanghai zu leiten. Es war eine Zeit, in der manche Frachtschiffe sechsstellige Tagesmieten einfuhren. Eine Zeit, in der Reeder, euphorisiert von derartigen Summen, bei den Werften Schiff auf Schiff bestellten – ohne zu wissen, ob diese nach dem Stapellauf auch wirklich so viel einbringen würden. Denn der Bau eines Frachtschiffs kann mehrere Jahre dauern. Mit der LehmanPleite drehte sich der Wind. Frachter, die noch nicht mal zu Wasser gelassen waren, verloren an Wert. Und Bunk und Tebbe wussten: Jetzt ist der Zeitpunkt, sich selbstständig zu machen. Sie trafen sich beim Notar, gründeten ihre Reederei ohne Schiff. Das wurde ihnen nur drei Monate später angeboten. Die „Honest Rays“, ein Mehrzweckschiff aus Konkursmasse. Knapp 10 Mio. Euro sollte es kosten, weniger als die Hälfte des Neupreises. Bunk www.bethmannbank.de und Tebbe leerten ihre Konten, liquidierten Bausparverträge und Lebensversicherungen. Bereit, alles auf diesen Frachter zu setzen. Doch den ersten zehn Banken, bei denen die jungen Gründer vorsprachen, schien das Geschäft zu unsicher. „Uns wurde immer wohlwollend auf die Schulter geklopft“, erinnert sich Tebbe. Aber mehr als eine Tasse Kaffee für jeden wollten oder konnten die Berater nicht bereitstellen. Der elfte bat um zwei Tage Bedenkzeit. Dann kam die Zusage: 6 Mio. Euro. Um vier weitere aufzutreiben, blieben den Gründern nur wenige Wochen. Doch sie fanden acht Gesellschafter, mit deren Hilfe sie den Frachter übernehmen konnten. Im März 2011 stieß er in See. Unter neuem Namen: Maple Ingrid. Character 53 D ie Marke verankern: Ahorn und Goethe Am Reesendamm, der die Einkaufsstraße Jungfernstieg mit dem Rathausmarkt verbindet, wehen 34 Flaggen. Jede steht für eine Hamburger Reederei. Viele sind mit den Initialen der Firmengründer bedruckt. Nicht die der Auerbach Schifffahrt. „Wir wollten mit unserer Reederei-Flagge einen Farbklecks am Hamburger Rathaus hinterlassen und signalisieren, dass wir nachhaltig und ökologisch handeln“, sagt Alexander Tebbe. Ein weißes Blatt auf grünem Grund sollte es sein. Nichts Maritimes. „Ein Apfel hat ja auch nichts mit Computern zu tun. Aber er bleibt im Gedächtnis.“ Die beauftragte Designagentur bestand zwar auf Dunkelblau – das sei klassischer. Doch mit dem Blatt setzten sich die Gründer durch. Sie wählten das Ahornblatt. „Weil es an eine Krone erinnert.“ Den Namen ihres Unternehmens liehen sie sich vom Auerbachs Keller in Leipzig, den Goethe mit „Faust I“ weltbekannt gemacht hatte. Und sie telefonierten so lange herum, bis sie einen Herrn Auerbach fanden, der bereit war, mit seinem Namen in die Gesellschaft einzusteigen. Die skurrilen Telefonate, die sie dafür führen mussten, seien es wert gewesen, sagt Tebbe. „Uns war wichtig, dass der Name traditionell und beständig klingt. Nicht nach Lehman Brothers oder Citigroup.“ Uns wurde immer wohlwollend auf die Schulter geklopft. Alexander Tebbe Jungreeder: Lucias Bunk (l.) und Alexander Tebbe Mai 2015 Zukunft K urskorrektur: Eigene Ziele definieren Szenenwechsel zur Cap San Diego. Bunk und Tebbe sind nicht zum ersten Mal dort – das mehr als 50 Jahre alte Museumsschiff eigne sich gut, um das Geschäftsmodell von Auerbach Schifffahrt zu erklären, sagt Bunk. Ihre eigenen Schiffe, die Maple Ingrid, Maple Lotta und Maple Lea, sind der Cap San Diego recht ähnlich. Nur nicht ganz so luxuriös ausgestattet. Auerbachs Flotte besteht aus flexiblen Mehrzweckfrachtern, wie sie vor allem in Asien, Afrika oder Südamerika genutzt werden. Mit ihren bordeigenen Kränen laden diese Kisten und Säcke mit Lebensmitteln, Windkraftrotoren oder Eisenbahnschienen. Die Ladung ändert sich von Hafen zu Hafen. „Man muss sich so ein Schiff wie ein Taxi vorstellen, das dorthin fährt, wo es gebraucht wird“, sagt Bunk. So funktionierte die Schifffahrt lange auch in Nordeuropa. Doch dann verdrängten die Containerriesen – die Linienbusse des Meeres – die kleineren Frachter. „Wir wussten von Anfang an, dass wir auf Stückgut setzen müssen.“ Auf Schiffe, die Dinge des täglichen Bedarfs transportieren, wie sie in Schwellenländern gehandelt werden. Deren Auslastung wird von Konsum und Konjunkturschwankungen in Europa oder den USA deutlich weniger beeinflusst, sagt Tebbe (und einen Containerriesen hätten sich die Gründer ohnehin nicht leisten können). Ihren ersten Investor, den Hamburger Unternehmer Stefan Cremer, überzeugte diese Ausrichtung – handelt er doch selbst weltweit mit Getreide und Futtermitteln. Für die Bank dagegen war entscheidend, dass Bunk und Tebbe ihre Flotte nicht wie üblich über Fonds finanzieren wollten. 54 A ndere ins Boot holen: Nicht jeder Geldgeber eignet sich als Partner „Nachdem wir Cremer als Gesellschafter gewonnen hatten, wurde es einfacher, weitere Investoren zu finden“, sagt Lucius Bunk. Doch auch dafür hätten sie etliche Termine gemacht, ergänzt Tebbe: „In unserem Gewerbe muss man mindestens zehn Gespräche führen, damit eines erfolgreich ist.“ Wichtig sei, dabei immer man selbst zu bleiben. Nichts verkaufen zu wollen, sondern die eigene Geschichte zu schildern und dann zuzuhören und auch mal um Rat zu fragen. Die Schifffahrtsbranche in der Hansestadt wird von Patriarchen dominiert. Offensichtlich gefiel denen die Haltung der jungen Männer. „Mit manchen unserer Gesellschafter haben wir uns nur ein paar Mal zum Mittagessen getroffen, bis diese einstiegen“, sagt Tebbe. Bei anderen habe es durchaus auch mal Monate gedauert. „Und einige haben wir abgelehnt“, sagt Lucius Bunk. „Weil uns ihre Erwartungen suspekt waren.“ Wer sich nachhaltiges Wachstum auf die Flagge druckt, muss sich so viel Selbstbewusstsein eben leisten. Man muss sich so ein Schiff wie ein Taxi vorstellen. Lucius Bunk Sie beteiligten Cremer an der gesamten Reederei und auch alle weiteren der mittlerweile elf Investoren. Das mindert das Risiko für den einzelnen Gesellschafter. www.bethmannbank.de Unternehmen der Zukunft Character Ortsbesuch: Die Cap San Diego ist ein Stückgutfrachter – wie die Schiffe der Auerbach-Reederei 55 Mai 2015 Zukunft 56 Maritime Geschichte: Der Maschinentelegraf übertrug einst Befehle der Kommandobrücke an den Maschinenraum www.bethmannbank.de Unternehmen der Zukunft Character D en Vortrieb nutzen: Das zweitälteste Gewerbe wandelt sich Vier spannende Jahre liegen hinter Lucius Bunk und Alexander Tebbe. Ihrem Ziel, bis Ende 2015 eine Flotte von zehn Schiffen aufzustellen, sind sie schon recht nahe gekommen. Im April 2014 haben die Reeder bei einer chinesischen Werft zwei Mehrzweckschiffe in Auftrag gegeben. Zwei weitere Optionen sind erklärt. Noch immer sind die Preise für Schiffe niedrig. Das lässt mehr Spielraum für Entwicklungen. Volle Fahrt: Die Maple Lea, das dritte Auerbach-Schiff Mai 2015 57 Stärkere Kräne und eine knapp 80 Meter lange Ladeluke sollen den Neubauten den Transport von riesigen Rotorflügeln für Windenergieanlagen auch unter Deck erlauben. Große Schrauben und ein langhubiger Motor senken den Treibstoffverbrauch um bis zu 25 Prozent. Das schont die Umwelt und die Betriebskosten. Vor einem Jahr haben die jungen Reeder außerdem das E-Ship 1 übernommen. Das Frachtschiff von Enercon wurde für den Transport der Windkraftanlagen des Konzerns entwickelt – und wird selbst zum Teil mit Windkraft betrieben. Ein Konzept, das Alexander Tebbe für zukunftsfähig hält. „In der Schifffahrt hat sich seit Einführung der Dieselmotoren nur wenig verändert. An solarbetriebene Schiffe glaube ich nicht. Aber Wind – das leuchtet mir ein.“ Die Übernahme des Schiffs beschreibt er als seinen besten Moment 2014. „Unser Kapitän steuerte das E-Ship 1 um Helgoland. Als er die Rotoren nach dem Wind ausrichtete, wurde es lautlos zwei bis drei Knoten schneller. Das war beeindruckend.“ Text: Jessica Braun Gegenwart 58 Verleger, Eigentümer der Hubert Burda Media geboren 1940 y, Kenned John F. nt der Vereinigten e 35. Präsid Amerika, n o v n te Staa 63 9 1 – 7 1 9 1 www.bethmannbank.de Character 59 Mai 2015 römischer Dichter, 65 v. Chr. – 8 v. Chr. aus der Ode „An Leukonoe“ Johann wolfgang von Goethe Erich Kästner deutscher Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor, 1899 –1974 (Lieblingszitat von Ada von Szankowska, Mutter von Stephanie Czerny) Gegenwart Panorama 60 Panorama WOHIN DAMIT? Frauen haben ihre Handtasche. Aber was haben die Männer? Männer sind nicht zu beneiden: Sie wissen einfach nicht, wohin mit ihren Siebensachen. Und oft gibt es auch noch mehr als nur sieben ... Transportable Gedanken zur gesellschaftlich akzeptierten Unterbringung von männlichem Hab und Gut. SEXUELLE LIBERALISIERUNG Auch in modernen Zeiten des papierlosen Büros, der Smartphones und Tablets, die jene lederne Filofax-Agenda des vergangenen Jahrhunderts ins Museum verbannten, schleppt der Mann doch weiterhin einiges an „Hardware“ mit sich herum. Die gilt es unterzubringen. Nur wo und wie? Wohin mit Schlüsselbund und Bargeld? Wohin mit dem viel zu dicken Portemonnaie mit seinen Kreditkarten, abgelaufenen Versicherungskarten, dem Führerschein, dem Fahrzeugschein, den Visitenkarten? Wohin mit Sonnenbrille und Kugelschreiber? Wohin mit dem Smartphone nebst Headgear und Ladekabel? Wohin gar mit Laptop, Ordnern, Unterlagen? Die Last des Trägers, sie ist die Summe jener vielen Kleinigkeiten, die ein Mann mit sich trägt, ohne dass dabei auch noch ein Schweizer Offiziersmesser erschwerend ins Gewicht fiele. Er trägt die Akten und ich die Verantwortung. Heinz Erhardt www.bethmannbank.de Mokieren wir uns jetzt über das „Herrenhandtäschchen“, sind wir zwar mitten in der Problemlösung. Aber: Die Dinger waren schon peinlich, als sie in Mode kamen. In den 1970er-Jahren galten diese Straßenkulturbeutel mit Halteschlaufe als Resultat sexueller Liberalisierung. Sie stigmatisierten aber auch die armen Männer: „Dein Täschchen brennt“, das ließ sich der eingefleischteste Hetero-Mann nur einmal hinterherrufen. Heute hat das Herrenhandtäschchen nur am Handgelenk von Hardcore-Pfeifenrauchern und Fahrkartenkontrolleuren überlebt. Und es gehört zur festen Ausstattung von Hape Kerkelings alter Ego Horst Schlämmer sowie Frank-Martin B arwassers Kunst(witz)figur Erwin Pelzig. Aber sind das Vorbilder für den modernen Businessman? Also, wie es lösen, das Transportproblem? Character 61 Mai 2015 PORTEMONNAIE IN DER GESÄSSTASCHE Sich diese kleine Handytasche an den Gürtel klicken? Oh weh! Erinnert in peinlichster Weise an den Colt von John Wayne und ans Walkie-Talkie des Montagearbeiters. Das Portemonnaie in die Gesäßtasche stecken? Bitte nicht! Eine Problemzone, bei der ein Mann spürt, dass eine Seite seines Körpers fünf Zentimeter höher gehoben wird als die andere. Also: Kleingeld in die Hosentasche? Okay, aber dazu noch ein Schlüsselbund? Niemand will aussehen wie ein Fesselballon, dessen Sandsäcke noch am Korb hängen. Die Sonnenbrille in die Brusttasche des Hemdes stecken? Was auf der Croisette in Cannes elegant ist, wird auf dem Weg ins Büro zum No-go. Aber es gibt ja das Sakko, denkt der Mann mit dem Transportproblem seiner Siebensachen. Das Sakko hakt er an seinen Zeigefinger und freut sich der vielen Innenund Außentaschen. Nun, wer diesen Trick bevorzugt, nimmt sein Sakko immer mit – auch bei 35 Grad im Schatten – und weiß immer noch nicht, wohin mit Laptop und Ordner. MANAGER MIT STADTRUCKSACK Ob diese Lösung für einen Mann darin besteht, in die Handtasche der Frau oder Freundin zu investieren? Tatsächlich kann ein Mann für sich selbst mehr praktischen Nutzen daraus ziehen, wenn er einer Frau eine Handtasche schenkt, als sie mit Schmuck, Parfüm oder Schuhen zu beglücken. Nur – will er seine Sachen wirklich diesem dunklen, unheimlichen Abgrund anvertrauen? Außerdem muss sich ein Mann, der sein Transportproblem mittels Handtasche einer Frau zu lösen versucht, über eines klar sein: Das Paar muss überall gemeinsam hingehen. Da nun der Rollerblade fahrende Manager mit flatternder Krawatte und Stadtrucksack in den engen Schluchten der Wallstreet eine Traumfigur von Werbefilmern bleibt, bieten Gegenwart sich dem Mann – so er neben Verantwortung noch mehr zu tragen hat – heute neue (und alte) Transportmöglichkeiten. Zu den guten und alten zählt die Aktentasche: Zu Beginn der 1970er-Jahre, als der Diplomatenkoffer mit Zahlenschloss das Geschenk für Aufsteiger war, galt sie als hoffnungslos veraltet. Irrtum! Das wirkliche Büro des Mannes bleibt die Aktentasche. Nur ihr Äußeres verrät, dass ihr Inhalt wichtig sein muss. Sie brilliert durch Understatement: Ihre Lederqualität und ein kleines Schloss aus Sterlingsilber sind die größten Extravaganzen. DAS BÜRO DES MANNES In Attaché-Taschen aus leichtem Lammnappa, wie Napoleon sie trug, passt auch heute nur der Schlachtplan rein: Vertrag und FAZ. Neben solch flunderflachen Attachés feiert die klassische, bauchige Aktentasche ihr Comeback. Auch sie signalisiert mehr als Aktenkoffer oder Bürorucksack: Stilbewusstsein und – Redlichkeit. Dieses antiquierte Wort, es passt zur Aktentasche. Ihr Besitz scheint existenziell: In Kriegszeiten half sie schon beim Kohlenklau, war an die Fahrradlenkstange des Arbeiters angewachsen und beförderte später BildZeitung, Mariacron und Butterstulle zur Baustelle oder Fabrikhalle. Bis heute aber verdankt diese Tasche ihre machtvolle Position ausgerechnet jener Personengruppe, die in der allgemeinen Wahrnehmung mit den Attributen der Aktentasche nicht immer identisch sind: Politiker. Aber was schätzen Parlamentarier an ihr? Verglichen mit Aktenkoffern ermöglicht die Aktentasche eine in Politik und Wirtschaft wichtige Verhandlungsführung. Bei ihrer stets „aufrechten“ Nutzung bleiben Akten, Spendenbelege und Steuerpläne auch bei geöffneter Tasche verdeckt. Ein geöffneter Aktenkoffer hingegen befindet sich immer in der Waagerechten und bietet sofort vollen Einblick. Panorama 62 Viel Platz für Überflüssiges bleibt aber auch in der Aktentasche von heute nicht. Nur Spießer packen zu viel rein – und nur dadurch wird sie spießig. Für ein gebügeltes Hemd, Rasierzeug und Zahnbürste versucht die Modeindustrie inzwischen auch den Mann für den „Weekender“, jene große Henkeltasche zu gewinnen. Meist vergeblich – vielen ist es zu unpraktisch, zu feminin, zu gewagt, was Calvin Klein, Burberry Prorsum, Armani oder Louis Vuitton ihm da in die Hand drücken wollen. UMHÄNGETASCHEN FÜR DEN LAPTOP Der urbane, reisende Businessman nutzt heute meist Kurier- oder sportliche Umhängetaschen, wie sie Hugo Boss, Marc O’Polo, Tommy Hilfiger, Timberland oder Mulberry herstellen. Sie sind praktisch im Format und in der Handhabung sowie über jeden femininen Beigeschmack erhaben. An die Schulter gehängt oder schräg über den Körper getragen, lassen sie ihrem Träger die Arme frei zum Kampfe wie jene von Belstaff, die Will Smith passend zur Jacke im Film „I am Legend“ trägt. Aber auch sonst erweitern sie den Aktionsradius des modernen Mannes: beim Telefonieren oder am Etix-Automaten. Kampf und Aktion machen attraktiv: Ledertaschen werden im Laufe der Jahre immer schöner. Patina setzt an, und dass wir sie mögen, beweist unsere Sehnsucht nach gelebter Authentizität. Nichts mit sich herumzutragen, in völliger Geld-, Smartphone- und Schlüssellosigkeit zu leben und auf Taschen zu verzichten, ist ein Zeichen von Macht – oder von Freiheit. Und welcher Mann hat schon das eine, das andere oder sogar beides? Text: Pascal Morché www.bethmannbank.de Character Mai 2015 63 Eine kleine Historie der Männertasche Zu Pferde und die Zügel fest im Griff (beider Hände) Der Mann der 1970er-Jahre emanzipiert sich von der Akten- trug der Mann als Reiter für Jahrhunderte wichtige Papiere tasche und legt sie als spießig ab. Für seine privaten Utensilien wie Dekrete, Urkunden und Gesetzestexte gerollt in einer gibt die sexuelle Liberalisierung dem modernen, damals Lederröhre auf den Rücken geschnallt. Ein fürstliches oder langhaarigen Mann in Zeiten von Flower-Power das Her- gar päpstliches Dekret (Bulle) wurde auf dem Marktplatz renhandtäschchen an langer Schlaufe ans Handgelenk. Dazu entrollt und ihr Inhalt aus dem Sattel verkündet. gesellt sich für die berufliche Karriere der mit Zahlenschlössern ausgerüstete Aktenkoffer. Mode-unerfahrene Männerhände Kriegstauglich und ebenfalls per Pferd transportiert, greifen damals auch nach der Unterarmtasche (Portfolio), jener entwickelte sich daraus später die Umhängetasche in dünnen Ledermappe aus meist weichem Kalbsleder, sowie dem ihrer heutigen Form. Auch sie ließ dem Mann die Hände kosmopolitisch wirkenden, doch plumpen Pilotenkoffer. Akten- frei für Zügel, Fernrohr oder Waffe: Diese Attaché-Tasche koffer aus Aluminium markieren zu Beginn der 1980er-Jahre für Aufmarsch- und Schlachtpläne wurde an die Schulter gehängt und quer über Zeitgeist – die Blechträger möchten gerne der Werbe-, Film- oder Musikszene entstammen. den Körper getragen. Ein Privileg! Die Infanterie indes trug Verpflegung im Stilvolle Aktenkoffer hingegen sind oftmals Tornister auf dem Rücken: eine Tasche englischer Herkunft. Ihr leichter Holzkorpus ist (auch Ranzen) in Rucksackform, deren mit feinem, braunem Leder bezogen. Deckel und Stoff- oder Lederbespannung über einen Korpus schließen stets bündig ab. Auch wenn rechteckigen Holzrahmen genäht war. Patina einen solchen Aktenkoffer mit den Jahren immer schöner macht, auf das Gepäckband eines Mit dem Kutschenzeitalter bricht für den Flughafens sollte man ihn allerdings niemals Mann die Zeit der großen, gebauchten Reisetasche an. legen: Zersplittert und zerbrochen könnte man wahrscheinlich Die längliche Arzttasche mit ihrem typischen Metall das gute Stück wieder in Empfang nehmen. bügel, wie Emma Bovarys Ehemann sie trägt, geht aus der Reisetasche ebenfalls hervor wie die spätere Aktentasche. In den 1990er-Jahren wird für Manager und Führungskräfte Als Statussymbol der (noch wenigen) Angestellten des der Stadtrucksack aktuell und gesellschaftsfähig. Deutsche- frühen 20. Jahrhunderts wird sie schnell begehrtes und Bank-Chef Anshu Jain trägt ihn heute noch gerne. Doch er praktisches Objekt auch der Arbeiterklasse und transportiert, bleibt eine Ausnahme. Da der Mann aber noch immer für das häufig an die Fahrradlenkstange gehängt, statt Akten Butter- Besteigen der Karriereleiter seine Hände frei haben muss (Stich- stullen zur Fabrik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird in den wort Smartphone und/oder Etix-Automat), hat sich heute die 50er- und 60er-Jahren die klassische Aktentasche aus festem Attaché-Umhängetasche als zweifellos bestes Transportmittel Rindleder mit ihrer breit auslaufenden Klappe und einem sil- für Laptop, Mobiltelefon, Tablet und sogar für Unterlagen aus bernen Schnappschloss zum Symbol des Wirtschaftswunders Papier durchgesetzt. Die klassische Aktentasche, jenes lederne und seiner Angestelltenkultur. Arbeitstier des Berufslebens, wird jedoch nicht aussterben. Dafür sorgen schon Politiker, die sich ihre Aktentasche gerüchteweise auch gerne nachtragen lassen. Zukunft Einplanen 64 EINPLANEN Durch das Jahr mit StePHANiE Czerny So ausgefüllt der Terminkalender der viel reisenden Managerin mit ihren eigenen Veranstaltungen auch sein mag: Niemals würde Stephanie Czerny auf Konzerte, Opern und Ausstellungsbesuche verzichten. Darüber hinaus hat sie ein paar höchst ungewöhnliche Lieblings-Events. Stichwort: Naturschauspiel! Czernys ganz persönliche Toplist Morgendämmerung im Hochgebirge Auerhahn- und BirkhahnBalz April und Mai Spargelsaison und Frauenschuhblüte Mai Trachten-Waldfest der Hirschbergler Hirschbergler Trachtenhütte Kreuth 28. Juni ab 10 Uhr Hirschbrunft letzte September- / erste Oktoberwoche Allerseelenmarkt in Glurns im Vinschgau, Südtirol 2. November www.bethmannbank.de Character 65 Mai 2015 Czernys Jahreskalender Die DLD-Agenda: Als Ideenlabor, Kontaktbörse, Beschleuniger für Geschäfte und coole Partyadresse hat sich die Digital-Life-Konferenz von Hubert Burda Media weltweit etabliert. Fans folgen ihr nicht nur im Netz, sondern auch real an ihre Hauptschauplätze. Also vormerken: DLD New York, 6. / 7. Mai DLD Summer: 22. / 23. Juni München Weitere Termine: DLD Tel Aviv, September, DLD 2016 München, Januar www.dld-conference.com Biennale Venedig All the World’s Futures ist das Motto des diesjährigen Kreativdirektors der Biennale. Okwui Envezor, der auch das Münchner Haus der Kunst leitet, sieht sich mit einer Welt in Aufruhr konfrontiert, „heimgesucht von Gewalt, Fundamentalismus, ökonomischen Krisen, Seuchen und humanitären Katastrophen auf den Meeren, in den Wüsten und an den Grenzen“. So entwirft er seine Biennale als politische Megabühne, die Künstler in allen Medien bespielen, und mit Inhalten, die so revolutionär und widerständig wie möglich sein sollen. 9. Mai bis 22. November www.labiennale.org Salzburger Festspiele Stephanie Czerny versäumt sie in keinem Jahr, denn nirgendwo trifft sie so viele Freunde und Geschäftspartner in so musikalisch höchst beflügelnder Atmosphäre – dank Stars wie Cecilia Bartoli, Jonas Kaufmann, Christian Gerhaher, Anna Netrebko oder Ingo Metzmacher und den Wiener Philharmonikern. 18. Juli bis 30. August www.salzburgerfestspiel.at Burning Man Das Festival in der Wüste Nevadas ist einmalig durchgeknallt. Zehntausende Nerds und Wunderkinder überwiegend der digitalen Szene treffen sich eine Woche lang und inszenieren zusammen die fiktive Metropole Black Rock City, ein karnevaleskes Terrain aus Kunst, Show und Selbstdarstellung. Thema: Spiegel, Masken, Labyrinthe und Verschmelzungen, frei nach Guy Debord: „Das Spektakel ist keine Ansammlung von Bildern, es ist eine soziale Beziehung, die von Bildern veranschaulicht wird.“ 30. August bis 7. September www.burningman.org Tradition 66 Panorama panorama Der Sternjäger Bewahrer einer deutschen Stilikone Hans Kleissl spürt Mercedes-Benz 300 SL in den entlegensten Winkeln der Erde auf und restauriert sie mit Liebe, Perfektion und Besessenheit. Er hat sein ganzes Leben den legendären Flügeltürern und Roadstern aus den 1950er-Jahren gewidmet. www.bethmannbank.de Character 67 Mai 2015 Tradition 68 Hans Kleissl sitzt über den Laptop gebeugt im Hof seines Klosters im oberbayerischen Polling, zwischen Ammersee und Alpen gelegen. Der Bayer nimmt einen Schluck Kaffee und zeigt dem Besucher auf dem Bildschirm die Fotos eines mächtig maroden Oldtimers. „Ein gutes, originales Auto“, sagt der 62-Jährige zu dem abgebildeten Mercedes-Benz 300 SL. Und sofort zählt er auf: „Die Sitze sind noch mit dem ersten Leder bezogen. Die Karosserie hat keine größeren Unfallschäden abbekommen. Ein bisschen Rost. Der Motorblock ist in keinem guten Zustand, die Armatur ein einziger Kabelsalat. Scheiben gibt’s keine mehr. Der rote Lack ist zwar noch drauf, aber ziemlich hin. Der Wagen ist seit etwa 20 Jahren keinen Kilometer mehr gefahren.“ Und er resümiert: „Der Zahn der Zeit hat stark an ihm genagt. Doch er kann gerettet werden. Nein, er muss!“ Das hat Hans Kleissl schon lange vor. Er hat den Sportwagen, der momentan in einer zugigen Garage auf einer Insel im fernen Venezuela steht, bereits vor mehr als drei Jahren gekauft. Für 400.000 Euro. Allerdings gibt es Probleme bei der Ausfuhr. „Allein die Karosserienummer rechtfertigt den Preis“, erklärt er. „Heute würde ich das Auto, so restaurierungsbedürftig es auch ist, nicht mehr für unter 600.000 Euro bekommen. Das muss man sich mal vorstellen. Mit dieser Summe könnte ich mir eine ganze Garage voller nagelneuer Porsche kaufen. Möchte ich aber gar nicht.“ Augenblicke gröSSten Glücks Die Karosserienummer also: 198.040.6500017. Die 198 ist die Typbezeichnung für den Mercedes-Benz 300 SL. Die 040 steht für den Flügeltürer. Zwischen 1954 und 1957 wurden insgesamt nur 1.400 Flügeltürer-Coupés gebaut. Dazu kamen von 1957 bis 1963 noch 1.858 Roadster, also Cabrios. Die 65 bezieht sich auf das Baujahr. Mercedes-Benz hat seinerzeit Echtheitsgarantie: Karosserienummer und weitere Plaketten belegen die Authentizität der Sportwagen www.bethmannbank.de Panorama Character 69 Mai 2015 die Zahlen einfach umgedreht. 65 meint also Baujahr 1956. Und die 00017 ist die laufende Fabrikationsnummer im betreffenden Jahr. Hans Kleissl sieht sich als „Bewahrer des automobilen Kulturguts 300 SL“, sagt er. Für ihn ist der Mercedes-Benz 300 SL „eine ebenso seltene wie schützenswerte Spezies“ und viel mehr als nur das Auto. „Er ist Designklassiker. German Wunder-Car“, erklärt er beim Gang über den gepflegten Klosterhof, wo Coupés und Roadster in der Sonne glänzen – schwarze, mattgraue, lindgrüne, rote, elfenbeinfarbene und auch himmelblaue Autos. „Er ist eine Antiquität, Kulturgut, rollendes Kunstwerk. Wenn es perfekt passt, verschmelzen Fahrer und Fahruntersatz miteinander. Wie Ross und Reiter. Bei einem solchen Anblick läuft es mir immer wieder heißkalt den Rücken runter, erlebe ich meinen ganz persönlichen Augenblick des größten Glücks.“ Verliebt in ein Auto Fast poetische Worte. Doch man kann sie ihm glauben. Denn fast alles in Hans Kleissls Leben kreist um den 300 SL. Er kann sich noch genau an den Tag erinnern, als der 300 SL plötzlich in sein Leben fuhr: „Ich habe damals, 1977, in München Jura studiert, stand vor der Staatsbibliothek und wartete auf die grüne Ampel, um die Straßenseite zu wechseln. Plötzlich rauschte dieser wahnsinnig schöne Wagen heran. Ein schneeweißer Roadster. Offenes Verdeck. Gänsehaut-Motorensound wie von einem anderen Stern. Und das perfekteste Hinterteil, das ein Auto überhaupt nur haben kann. Ein solches Meisterwerk des Automobildesigns hatte ich vorher noch nie gesehen. Ich stand wie angewurzelt da, dachte nur: Verdammt, es hat mich erwischt. Ich bin verliebt. In ein Auto!“ Blaupausen: Technische Zeichnungen aus den 1950er-Jahren erleichtern Reparatur und Restaurierung Bis er sich seinen ersten eigenen 300 SL leisten konnte, vergingen einige Jahre. Tradition Panorama 70 Dann hatte er das Geld zusammen und fand ihn bei einem Münchener Autohändler. Einen weißen Roadster. Für 40.000 Mark. Kurz nach dem Kauf merkte Kleissl jedoch, dass der Händler ihn betrogen hatte. Sein Traumauto war ein Unfallwagen und musste dringend generalüberholt werden. Doch weil er keine Werkstatt fand, die das so perfekt konnte, wie er wollte, gründete der Sohn eines Regensburger Richters im Kloster Polling – das er vor dem Abriss gerettet und an dessen Sanierung er schon lange gearbeitet hatte – sein eigenes Unternehmen: HK Engineering, den bis heute weltweit einzigen Reparatur- und Restaurierbetrieb nur für die legendären 300 SL. 4.000 Arbeitsstunden pro Fahrzeug In seinem Unternehmen, das langsam gewachsen und durch harte Zeiten gegangen ist, doch seit einigen Jahren floriert, beschäftigt der weltweit wahrscheinlich größte 300-SLKenner inzwischen 45 Spezialisten aus Deutschland, Italien, Frankreich Tschechien, der Slowakei, Kasachstan und Sibirien: Feinmechaniker, Motorentechniker, Karosseriebauer, Dreher, Lackierer, Verchromer, Sattler und Feintäschner. „Alle sind passionierte Handarbeiter und gehören zu den Besten ihrer Zunft“, sagt der Flügel-Virtuose. „Für die komplette Motoreninstandsetzung haben wir sogar einen originalen Bosch-Einspritzpumpenprüfstand. Wir machen hier alles aus einer Hand.“ Rund 4.000 Arbeitsstunden stecken seine Männer in so manchen maroden Mercedes, an dem bis zu acht Leute gleichzeitig arbeiten. 50 bis 70 Flügeltürer und Roadster, so viele wie sonst nirgendwo, stehen immer in der Pollinger Klostermanufaktur. Die Garagen, Werkstatt- und Verkaufsräume sind wahre Schatzkammern. In ihnen warten Fahrzeuge aus zahlreichen Ländern, die zur Verschönerung, Inspektion, Reparatur oder Rettung dort sind. Das Jahrhundertauto Mercedes’ Stilikone erlangte weltweit Berühmtheit, als das Rennfahrerduo Karl Kling und Copilot Hans Klenk im Jahr 1952 in Flügeltürer-Prototypen den Sieg bei der legendären „La Carrera Panamericana“ einfuhr. Und das trotz eines Geiers, der während der Fahrt in das Auto krachte und Hans Klenk kurz bewusstlos schlug. Der erste Platz bei dem über 3.000 Kilometer gehenden Straßenrennen quer durch Mexiko war ein wichtiger Meilenstein in Mercedes’ Rennsportgeschichte und machte schon früh einen Mythos aus dem Flügeltürer. Ein Coupé hatte im Film „Cinderella“ mit Dean Martin und Jerry Lewis seinen großen Auftritt. Und auch in anderen berühmten Filmen waren 300 SL blecherne Protagonisten, so in „Fahrstuhl zum Schafott“, „Drei Engel für Charlie“ oder „Batmans Rückkehr“. Die Schauspiel-Diva Sophia Loren und auch Pablo Picasso ließen sich für Medienberichte und Buchcover mit dem ebenso imageträchtigen wie legendären 300 SL Coupé ablichten. Im Jahr 1999 wählte eine internationale Expertenjury den 300 SL zum „Sportwagen des Jahrhunderts“. Der Prozess: Bei der Restauration eines „Flügels“ investieren Werkstattgenie Martin Cimander, Lackierer Markus Niggemann und Sattler Andrey Rogov (oben links bis unten rechts) unzählige Arbeitsstunden. Das Resultat: Hans Kleissl in einem neuen 300 SL (unten) www.bethmannbank.de Character 71 Mai 2015 Rasant steigende Preise Rettung bedeutet: Es handelt sich um Wracks, die Kleissls Späher und Informanten irgendwo aufgetrieben haben – auf Schrottplätzen und in längst vergessenen Scheunen in Nord- und Südamerika, Italien, England, Deutschland, Holland, Ägypten oder gar in Libyen oder auf Kuba. Erstmal in Kleissls Besitz, sind sie meistens auch schon weiter verkauft. Der 300 SL ist begehrt in Sammlerkreisen, und die Liste der Interessenten lang. „Die schwersten Zeiten liegen hinter HK Engineering“, hofft Hans Kleissl, dessen Manufaktur aktuell auf ein gutes Jahr hinaus ausgelastet ist. Die Ein- und Verkaufspreise für die Flügeltürer und Roadster sind seit der Finanz- und Wirtschaftskrise vor fünf Jahren richtiggehend explodiert, Wertsteigerungen von mehr als 20 Prozent im Jahr sind ganz normal, die 300 SL somit nicht nur „Genussfahrzeug“, sondern auch eine gute Wertanlage, erklärt Hans Kleissl. „Vor fünf, sechs Jahren waren sie noch halb so teuer. Irgendwann wird der rote Venezolaner hier im Kloster ankommen. Dann werden wir ihn zu neuem Leben erwecken. Hans Kleissl Tradition 72 Heute muss ich selbst für ausgebrannte oder völlig verrottete Exemplare mindestens eine halbe Million Euro auf den Tisch legen, um sie zu bekommen. Und dann ist das schon ein Schnäppchen.“ Rundum restauriert, wobei alles Alte und Originale erhalten bleiben soll, verkauft er die 300 SL für knapp unter bis zu weit über eine Million Euro in die ganze Welt. „Und am liebsten ist es mir, wenn der neue Besitzer den SL nicht einfach in der Garage verschwinden lässt, sondern mit ihm fährt. Ich gebe die wertvollen Wagen viel lieber an Liebhaber als an Spekulanten.“ Das Glück eines Lottogewinners Hans Kleissl führt Dossiers über den Verbleib der 300 SL, von denen in den vergangenen drei Jahrzehnten etwa 800 Stück durch seine Hände gegangen sind. Von 85 Prozent aller je gebauten Wagen weltweit weiß er, wo sie fahren, parken und rotten, wem sie gehören und wie groß die Chancen stehen, sie nach Polling zu holen. Und weil Hans Kleissls Liebe zum „Auto aller Autos“ bis heute anhält, hat er ständig mehrere Handys dabei, die er auch nachts nicht abschaltet. Es könnte ja sein, dass irgendwo in einer anderen Zeitzone, auf der anderen Seite des Erdballs ein Wagen zum Verkauf steht. Er müsse in seinem Job oft Geduld haben wie ein Angler und das Glück eines Lottogewinners, die Gelassenheit eines buddhistischen Mönches, den Riecher eines Torjägers, die Ausdauer eines Triathleten, die Risikobereitschaft eines Börsenspekulanten und die Perfektion eines Dirigenten besitzen, sagt er – und meint es auch ernst. Immer vorne mit dabei Mit seinen beiden mattgrauen und mattschwarzen Flügeltürern, die Kleissl und seine Spezialisten für die Rennstrecke optimiert haben, ist er bereits bei allen berühmten historischen Rallyes gefahren: Bei den 24 Stunden von Le Mans in Frankreich, Schatzkammer: In Kleissls Manufaktur parken immer 50 bis 70 Flügeltürer und Roadster. Viele haben einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf hinter sich www.bethmannbank.de Panorama Character Mai 2015 73 der Mille Miglia in Italien, beim Goodwood Revival in England und natürlich auch bei der Carrera Panamericana in Mexiko, dem noch immer schnellsten, verrücktesten und härtesten aller Straßenrennen für historische Boliden. Also dort, wo die 300-SL-Erfolgsgeschichte im Grunde begann. Bei Oldtimer-Veranstaltungen in der Schweiz, Italien und den USA, wo jedes Jahr die am schönsten restaurierten Fahrzeuge ausgezeichnet werden, belegen die Sportwagen aus der HK Engineering Edelmanufaktur immer vordere Plätze. Im Herbst 2014 wurde Kleissl bei den International Historic Motoring Awards in London gar mit dem Preis „Specialist of the Year“ gekrönt. Kleissls Kunden – und Kumpels – kommen aus allen Winkeln der Erde und den unterschiedlichsten Branchen. Ein britischer Stararchitekt gehört dazu, ein Londoner Diamantenhändler oder der Präsident einer Schweizer Luxusuhrenmarke. Vom Schauspieler bis zum Diktator Nach einer rasanten Probefahrt klappt der Bayer die Tür des mattgrauen Flügeltürers hoch, der gerade durch die Inspektion gegangen ist, steigt aus und stapft in Richtung des Chefmechanikers. Hans Kleissl macht immer selbst die Endabnahme. Beim Fahren hört und fühlt er, was mit dem Wagen ist, wo es noch hakt, sagt er. Mit dem Klang des Motors bei diesem grauen Flügel ist er noch unzufrieden. Der Chefmechaniker nickt, macht sich Notizen. Der Besitzer, ein schwerreicher Italiener, holt das Auto morgen ab. Die Mechaniker müssen Überstunden machen. Der Motorsound muss perfekt sein. Und alles andere auch. Den einzigen Aluminium-Flügeltürer, der jemals die Mille Miglia gefahren ist und der lange in sehr schlechtem Zustand in einer tristen Garage stand, hatte er bereits hier zur Generalüberholung. Den ersten je an eine Privatperson verkauften Flügeltürer und den Erdbeerroten, den der nicara- guanische Diktatorenclan Somoza einst bestellte, auch. Genauso wie den Roadster, der mal im Besitz von Rennfahrerlegende und „Vorkriegs-Schumi“ Rudolf Caracciola war. Auch das lindgrüne Coupé, das Gunter Sachs als junger Mann fuhr, erblühte in der Klostermanufaktur zu neuem Leben. Genauso wie die Zweisitzer von Prinzessin Soraya von Iran, Hollywood-Legende Clark Gable oder Prinz Ali Khan. Ein neues Leben auf der StraSSe Hans Kleissl selbst besitzt neben den beiden Rennflügeln auch das mattgraue Coupé, das dem Playboy der 30er- bis 50er-Jahre, Porfirio Rubirosa, einst gehörte. Kleissl entdeckte Rubirosas Zweisitzer vor 15 Jahren in „miserablem Zustand“ bei einem Londoner Mercedeshändler. Der Wagen hatte einen rostigen Tank und einen fingerdicken Farbanstrich. Kleissl kaufte ihn für umgerechnet 250.000 Mark, unterzog ihn in Polling einer behutsamen, zwei Jahre währenden Restaurierung und fährt ihn seitdem selbst. Wie viel er wert ist? „Er ist unverkäuflich“, antwortet der Liebhaber. Dann klingelt eines seiner Telefone. Der Kontaktmann aus Venezuela ist dran. Die Ausfuhrpapiere für den roten Flügeltürer sind nun fast komplett, behauptet er. Es fehlen nur noch zwei Stempel. Hans Kleissl antwortet erstaunlich lässig: „Okay, versuch die Stempel so schnell wie möglich zu beschaffen.“ Seine Sehnsucht nach dem fantastischen Wagen ist zwar groß, doch er habe über all die Jahre der Jagd gelernt zu warten, sagt er: „Irgendwann wird der rote Venezolaner hier im Kloster ankommen. Dann werden wir ihn zu neuem Leben erwecken. Und endlich wieder zurück auf die Straße bringen.“ Text: Jörg Heuer Gegenwart HERAUSGEBER Fotos Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de S. 6 – 19 Character im Porträt Wolfgang Stahr S. 24 – 25Perspektivenwechsel S. 24 Pressestelle Kötter S. 25 Pressestelle PayPal S. 25 Getty Images S. 26 – 33 Unternehmen mit Tradition Marc Krause S. 34 – 35 12 Dinge, die man tun sollte Wolfgang Stahr S. 36 – 39 Für morgen S. 37 Christian Weiß S. 38 Shutterstock S. 39 iStock S. 40 – 41Unterbewertet Thomas Haentzschel / Nordlicht S. 42 – 43 Zahlen, Bitte! Christian Weiß S. 44 – 47 Zwischen kommerziell und karitativ S. 45 Shutterstock S. 46 Hannah Boomgaarden / 2015 S. 45 + 47 Pressestelle Heike Boomgarden S. 48 – 49 Hello / Goodbye iStock S. 50 – 57 Unternehmen der Zukunft Marc Krause S. 60 – 63 Panorama, Herrenhandtaschen S. 61 – 62 Biedermann und Brandstift S. 63 Getty Images S. 64 – 65Einplanen S. 64 mein-tegernsee.de S. 65 wetribe.com Kyle Hailey flickr 1314820329 flickr 1314685317 S. 66 – 73 Panorama, Sternjäger S. 64 David Klammer Feedback zum Heft: [email protected] redaktion Frank Elsner Kommunikation für Unternehmen GmbH Kirchstraße 15a 49492 Westerkappeln [email protected] Presserechtlich verantwortlich Jens Heinen Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de Design Biedermann und Brandstift Creative Services GmbH Dreieichstraße 59 60594 Frankfurt am Main www.biedermannundbrandstift.com Impressum 74 Autoren Dieser Ausgabe Rechtliche Hinweise Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Inhalte, Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Sämtliche Urheberrechte für Beiträge, Fotos sowie die grafische Gestaltung liegen beim Herausgeber. Eine Verwertung der Zeitschrift oder der in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen, besonders durch Vervielfältigung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Herausgebers unzulässig, soweit sich aus dem Urhebergesetz nichts anderes ergibt. Insbesondere ist die Speicherung oder Verbreitung der Inhalte in Datenbanksystemen, zum Beispiel als elektronischer Pressespiegel oder Archiv, ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig. Alle Rechte vorbehalten. Eine Haftung für die Inhalte ist ausgeschlossen, es sei denn, dass solche Schäden vom Herausgeber oder seinen Mitarbeitern vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden sind. www.bethmannbank.de Jessica Braun, Geraldine Friedrich, Jörg Heuer, Dr. Eva Karcher, Christoph Koch, Pascal Morché, Hilmar Poganatz, Petra Schäfer, Stefan Weber druck Hinckel-Druck GmbH Obere Grüben 14 97877 Wertheim am Main www.hinckel.de papier Der Umschlag des Magazins Character wurde auf Papier namens Crush gedruckt, bei dessen Herstellung Mais verwendet wird. Crush ist FSC-zertifiziert und GMOfrei, enthält 30 % Altpapier und wird mit 100 % „grüner Energie“ produziert. Die CO2-Emission wird somit um rund 20 % reduziert. Die Inhaltsseiten sind auf Munken Print White (FSC-zertifiziert) gedruckt. Character 75 Mai 2015 Einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo die anderen erst einmal reden. John Fitzgerald „Jack“ Kennedy, 1917 – 1963, 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika bleiben wir im dialog! Telefon: 069 2177 1712 www.bethmannbank.de
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