A D H S - K Ü N S T L E R T A G E 2 0 1 5 L E N Z B U R G ADHS IM JOB Dr. med. Heiner Lachenmeier; FMH Psychiatrie & Lachenmeier Psychotherapie; Affoltern am Albis; [email protected] 2015 Wir alle kennen das kreative Potential von ADHS-lern. Die innovative Kraft, die ADHS-ler zeigen können. Ein Funkenreigen, den Nicht-ADHS-ler selten vorführen können. Vorsicht! ADHS-ler sind nicht einfach alles kreative Genies. Genauso wenig als ADHS-ler einfach „defizitär“ wären. Und selbstverständlich trifft ebenso wenig zu, dass alle Nicht-ADHS-ler Langweiler sind. So sehr man sich hüten muss, ADHS-ler generell als defizitär abzustempeln, so sehr muss man sich hüten, ADHS-ler generell als genial kreativ zu idealisieren. Das Leben mit ADHS ist nicht immer zauberhaft. Leider existiert auch das real existierende Leiden mit ADHS, wie viele hier drin aus eigener Erfahrung wissen. Es gibt alle möglichen, real existierende Schwierigkeiten, die bei einem Leben mit ADHS auftauchen können. – aber nicht unbedingt müssen! Und selbst wenn ein ADHS-ler ein Genie ist, dann garantiert das noch lange keinen beruflichen Erfolg. Denn welcher Vorgesetzte schätzt es schon, wenn der frisch eingestellte Angestellte am Ende des ersten Arbeitstages im Brustton der Überzeugung verkündet, wie man die Firma besser führen kann. Damit sind wir mitten im Thema „ADHS im Job“. Ein breites Thema, zu breit für eine Dreiviertelstunde. Aber für ein paar ausgewählte Spezialitäten reicht diese Zeit bestens. Lachenmeier 2015 Spezialität 1 neue Stelle antreten Lachenmeier 2015 Grundmuster oder ″Grundmechanik″ von ADHS: in diesen Bereichen werden Innformationen weniger automatisch gewichtet ( gefiltert) - verarbeiten - denken - assoziieren Aufnahme von Informationen (von aussen) Mobilisation von Informationen aus dem Gedächtnis (von innen) Lachenmeier 2015 Input Person ohne ADHS ausgelöste Gedanken es bleiben z.B. 6 Varianten → deshalb: automatische Filter Lachenmeier 2015 → schnell Überblick und Orientierung → dadurch Gefühl von Sicherheit → schnelle Entscheidung einfach möglich → wenig Energieverbrauch Input Person mit ADHS ausgelöste Gedanken → lange, bis Überblick und Orientierung möglich: = kognitive Überlastung → bis Überblick gefunden herrscht Unsicherheit (≈ Angst) es bleiben z.B. = emotionale Überlastung 100’000 Varianten zu verarbeiten → solange kein Überblick, besteht Mühe zu entscheiden → deshalb: = neg. Folge Handlungsebene → «keine» automatische Filter grosser Energieverbrauch = neg. Folge Energiehaushalt Lachenmeier 2015 Un-gewichtete Informationen befinden sich quasi in der gleichen Ebene («im Nebel»), sind dadurch schlecht differenzierbar, und bieten kaum Orientierung. Ein einzelner Reiz kann aber leicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn er prominent genug ist, aus dem «Nebel» herauszustechen (positiver bzw. negativer Hyperfokus). Lachenmeier 2015 WO IST WALTER? Lachenmeier 2015 Neues Gebiet kennenlernen: z.B. neue Arbeitsstelle, neues Studienfach, neuer Verein, etc. Lachenmeier 2015 Vorgehen von Nicht-ADHS-ler beim Kennenlernen von neuem Gebiet: Durch automatische Gewichtung («Filterung») der Informationen werden zuerst die wichtigen Informationen und Strukturen («Autobahnen») erfasst. Es entsteht schnell ein gewisser Überblick. Lachenmeier 2015 Lernkurve Nicht-ADHS-ler Lerneffekt Zeit Nicht-ADHS-ler Lachenmeier 2015 Vorgehen ADHS-ler beim Kennenlernen von neuem Gebiet (solange ohne spezifisches Coping): - Wegen reduziert automatischer Gewichtung («Filterung») der Informationen versucht man sofort alles zu fassen. Gelingt selbstverständlich nicht. - Aufgenommene Infos bleiben vorerst unzusammenhängend. - Führt zu subjektivem Eindruck, nichts erfasst zu haben. z.B. 70% Lachenmeier 2015 Sobald Grossteil des Gebietes (mit vielen Details) erfasst ist, setzen sich die Infos zusammen. Es entsteht «plötzlich» ein Überblick, mit i.d.R. tiefer greifendem Verstehen als bei gleich intelligenten Nicht-ADHS-lern. Deshalb unterschiedliche Lernkurven, trotz vergleichbarer Intelligenz! Lerneffekt Zeit Nicht-ADHS-ler ADHS-ler (wenn quasi «nativ ADHS», also situativ ohne spezifische Coping-Mechanismen) Lachenmeier 2015 Worin liegt die BEDEUTUNG dieser Funktionsunterschiede z.B. bei einem Jobwechsel ? Lachenmeier 2015 Bedeutung der ADHS-typischen Aufnahme- und Lernmechanismen bei Jobwechsel • Je länger ich vorgängig an einer Stelle war, desto weniger ist mir vermutlich bewusst, wie tiefgreifend ich nicht nur mit der Arbeit an sich, sondern mit dem gesamten Arbeitsumfeld (Gebäude, Personen, etc.) vertraut bin. Und wie sehr ich aus dieser Vertrautheit meine Orientierung bzw. Überblick gewinne, im «Nebel» der durch ADHS weniger gewichteten («gefilterten») Informationen. • Über diese Vertrautheit werde ich am neuen Ort zu Beginn nicht verfügen. Davon sollte ich mich nicht überraschen lassen. • Ich muss aber keine Angst vor der zu Beginn fehlenden Vertrautheit haben, wohl aber einen Plan! Lachenmeier 2015 Es ist clever, sich vor dem Stellenantritt mit einigen banalen Umständen des neuen Ortes vertraut zu machen. Diese dienen dann in der Unsicherheit der möglichen, initialen Reizüberflutung als banale - aber emotional erstaunlich wirksame - Orientierungspunkte. zum Beispiel: • mit Arbeitsweg vertraut machen • mit der Umgebung vertraut machen (Gebäude, Kantine, Rauchereck, Toilette, Einkaufsmöglichkeiten, Park, etc.) • Organigramm des zukünftigen Bereiches aufzeichnen • oder anderes Lachenmeier 2015 Erste Phase am neuen Ort: I. Umgang mit mir selbst 1. Orientierung aktiv behalten Wenn ich verstehe, wie und warum meine «Lernkurve» so ist, dann gerate ich nicht so schnell in Stress oder gar Panik, wenn ich zu Beginn den Eindruck habe, ich könne mir kaum etwas merken. Ich kann mir vertrauen: Wenn ich genügend Informationen aufgenommen habe, setzen sich diese zu einem Bild zusammen, und ich werde die Arbeit und das Firmenumfeld strukturell sehr gut erfassen. (Wenn möglich zusätzlich eigene Erfahrung als Referenzpunkt verwenden) Lachenmeier 2015 Erste Phase am neuen Ort: I. Umgang mit mir selbst 2. Umgehen mit dem eigenen ADHS-Lernverhalten Meine ADHS-Lernkurve bietet im Idealfall den Vorteil von besonders guten Kenntnissen in einem Gebiet. Aber zum Nachteil der erheblichen Verzögerung eines Überblicks im Vergleich zu anderen. Wenn ich das wirklich verstehe, kann ich den Vorteil behalten, und den Nachteil zumindest zum Teil verhindern. Indem ich mir mit einem «manuellen» Filter aktiv den Überblick schaffe = Coping Lachenmeier 2015 Den Fünfer und das Weggli: Bewusst einen manuellen Filter verwenden als ADHS-ler z.B. die drei wichtigsten Aufgaben; wo finde ich Material/Unterlagen; Hierarchie: wer direkt Vorgesetzter, wer Untergebener; wie sind Beziehungen am Arbeitsplatz; etc. Lachenmeier 2015 Erste Phase am neuen Ort: II. Umgang mit Vorgesetzten und Mitarbeitern • In der ersten «flachen» Phase kann ein Vorgesetzter natürlich den Eindruck erhalten, dass man der Aufgabe nicht gewachsen sei. • Im Extremfall resultiert daraus eine Kündigung während der Probezeit. Lachenmeier 2015 Erste Phase am neuen Ort: II. Umgang mit Vorgesetzten und Mitarbeitern Bei Bedarf Prophylaktische Kommunikation Achtung: • es ist meist nicht sinnvoll, zu diesem Zeitpunkt seine Diagnose bekanntzugeben! Diagnose-Etiketten führen oft nur zu Vorurteilen, für deren Ausräumung der Stellenantritt ein schlechter Moment ist. Sondern eine simple, klärende, positive Botschaft ohne «Etikett»: • Mir ist es wichtig, die Aufgaben hier völlig korrekt zu erfassen. Deswegen bin ich zu Beginn etwas zögerlicher als andere, und brauche etwas mehr Zeit, bis ich alles sicher drin habe. Sobald ich mich aber eingearbeitet habe, können Sie sich voll auf mich verlassen. Lachenmeier 2015 Spezialität 2 Kommunikation bei (real oder vermeintlich) tollen Ideen Lachenmeier 2015 Wenn ich als ADHS-ler … ein Gebiet gut kenne, daran interessiert bin, ungebremst assoziiere, eine Idee entwickelt habe, (und als Zugabe eine reduzierte Impulssteuerung habe), … dann ist das Risiko für Kommunikationsschwierigkeiten mit meinem Umfeld sehr hoch. Lachenmeier 2015 Kommunikationsschwierigkeit zwischen begeistertem ADHS-ler und Nicht-ADHS-ler • Nur wenig von A’s Infos treffen in Röhre B. • Das Wenige wird nicht direkt verständlich für B. A = ADHS-ler • B wird zusätzlich aussen durch die «süssen Ideen» von B «klebrig». • B lehnt alles ab. • A fühlt sich missverstanden («von Idioten umgeben»). Kann arrogant werden. • Wenn B am nächsten Tag merkt, dass A recht hat, fühlt sich B als «blöd» ertappt, und lehnt A erst recht ab. B = Nicht-ADHS-ler Lachenmeier 2015 Lösung dieser Kommunikationsschwierigkeit «TRICHTER» = LÖSUNG. • Meist ist der andere eben doch kein Idiot. A = ADHS-ler • Aber ich muss meinen Informationsfluss seiner Aufnahmegeschwindigkeit anpassen • Stück für Stück; evtl. etappiert • Das heisst keineswegs, dass ich mich nach unten beschränken muss! • Sondern es bedeutet vielmehr, dass ich mir die Chance für den Erfolg meiner Ideen schaffe. B = Nicht-ADHS-ler Lachenmeier 2015 In prestissimo diskutieren, oder doch besser in moderato? Lachenmeier 2015 Largo 40-60 Largo 40-60 Larghetto 60-66 Adagio 66-76 Andante 76-108 Moderato 108-120 Allegro 120-168 Presto 168-200 Prestissimo 200-208 Spezialität 3 Kritik, Missverständnisse und negativer Hyperfokus Lachenmeier 2015 Steuerungsmodell von ADHS eigenes Interesse Interesse richten und halten Aufmerksamkeit richten und halten Fokus Konzentration richten und halten Fokus auf Speichern von Informationen bzw. „Dateipfad“ Bestimmung Level Zulassung Wahrnehmung aller Sinnesqualitäten SteuerungsZentrale („Kupplung“) Bestimmung Level Zulassung Wahrnehmung sozialer Situationen (inkl. Nähe-Distanz) „in“ Bestimmung Level Zulassung Wahrnehmung Affekte und Gefühle Bestimmung Level Zulassung Aktivitätsdrang (körperlich + geistig) Bestimmung Level Zulassung Impulse (nicht nur aggressive, auch sexuelle, reden, einkaufen, etc.) „out“ Planen-Organisieren-Durchführen Initiieren einer Aktivität Prioritäten setzen anderes Lachenmeier 2015 Organisation Gesamtsicht negativer Hyperfokus ganze Person Kritikpunkt Realität Subjektive Perzeption im neg. Hyperfokus dem kleinen Kritikpunkt steht der ganze Wert der eigenen Person gegenüber - ich existiere ausschliesslich daraus bzw. der andere sieht mich nur so bzw. der andere ist nur negativ (zu mir) Lachenmeier 2015 Verhältnisse in der Realität Lachenmeier 2015 Subjektiv im negativen Hyperfokus Die Wahrnehmung des eigenen Potentials («Bödeli») verschwindet Lachenmeier 2015 Innerhalb des Negativen Hyperfokus, dem scheinbaren «Ganzen»: ► Das kann zu einer massiven Verstärkung der mit der Situation zusammenhängenden Gefühle und Einschätzungen führen. quantitative Verstärkung der Wahrnehmung ► Es kann darüber hinaus zu einer inhaltlichen Verzerrung kommen, wenn vorübergehend nur noch ein Teil der Sachlage wahrgenommen wird. qualitative, inhaltliche Veränderung der Wahrnehmung Lachenmeier 2015 Beispiel zu Folgen Negativer Hyperfokus Die vielzitierte «Kritikunfähigkeit» von ADHS-lern findet sich meist nur im Zustand des negativen Hyperfokus, und wird dann als auffälliges Symptom von Symptombuchhaltern leicht erfasst. Wenn kein negativer Hyperfokus vorherrscht bzw. ausgelöst wird (= Grossteil der Zeit) sind ADHS-ler meiner Erfahrung nach eher besser kritikfähig als andere Menschen. (Dieses Phänomen wird von Symptombuchhaltern als Nicht-Symptom natürlich nicht erkannt.) Implikation für die therapeutischen Grundregeln bei ADHS! Lachenmeier 2015 Navigieren im negativen Hyperfokus Faustregel: Solange man sich in einem negativen Hyperfokus befindet, kann man sich nicht wirklich auf seine gefühlsmässigen Einschätzungen verlassen. Man fliegt also im neg. HF besser mithilfe eines künstlichen Horizontes (= objektiver Horizont) Lachenmeier 2015 Das Phänomen des negativen Hyper-fokussierens dürfte etwas vom Verheerendsten im Leben eines ADHS-ler sein, und unendlich viel mehr Leiden und Probleme verursachen, als die sogenannten Leitsymptome. Lachenmeier 2015 Spezialität 4 ff. «Bilanzfälschung», Mt. Everest, etc. Lachenmeier 2015 Wenn ich ungefiltert/ungewichtet funktioniere, dann bleiben die meisten Wertungen vorläufig. Lachenmeier 2015 ADHS-typische «Bilanzfälschung» cave: nicht zu verwechseln mit Überangepasstheit oder Unterwürfigkeit als Folge einer psychodynamischen Problematik! massiv verzerrte Bilanz Grund: eigentlich Integrität Lachenmeier 2015 Lachenmeier 2015 Effekt des verlorenen Überblicks Was er sah: Mt. Everest: Das schaff ich nicht!!! → Ich muss mich wehren Was es war: Uetliberg: Kein wirkliches Problem. → später Selbstvorwurf Lachenmeier 2015 Lösung in diesem Fall: win-win Nur eine einzige «Auftragserteilung» pro Mittagessen = nur ein Gedankenbaum zum Einordnen ausgelöst Die Menge, welche in der Auftragserteilung enthalten ist, ist weniger wichtig. Lachenmeier 2015 Verschiedene Ebenen von ADHS-Problemen Einteilung Hintergrund Primäre ADHS Phänomene - Direkter Ausdruck des reduzierten Filter Sekundäre ADHS Phänomene - Ungünstige Copingmechanismen - Nebenwirkungen von funktionierenden Copingmechanismen - Eigene Fehlinterpretationen (kognitive Ebene) - Missverständnisse mit/durch Umwelt (systemische Ebene) Tertiäre ADHS Phänomene - Ungelöste reaktive Gefühle und Konflikte (psychodynamische Ebene) Lachenmeier 2015 Rahmen pathogenetischer Mechanismen Einzelne Beispiele der Symptomatik - fehlender Überblick, „Gnusch“ Primäre ADHS-Phänomene - Unsicherheit, Angst (direkte Folgen der - Mühe zu entscheiden neurobiolog. Kondition) - zeitweise Erschöpfung reduzierte Steuerung - teils veränderte Wahrnehmung - Impulsivität - Ablenkbarkeit - Konzentrationsprobleme - Hyperaktivität negativer Hyperfokus - instabile Stimmung - kritikempfindlich ungünstige Coping Mechanismen - Scheingelassenheit (es ist mir egal, wenn ich im Sekundäre ADHS Phänomene Chaos lebe = untauglich) Nebenwirkungen von an sich funktionierenden - immer alles nachfragen = an sich zielführendes Coping Mechanismen Coping bei mangelndem Speichern, doch man wird zur unerträglichen Nervensäge - Perfektionismus als Überkompensation = tauglich, doch man wird mit nichts fertig und erschöpft sich eigene Fehlinterpretationen - Selbstwertproblematik (kognitive Ebene) - Angstsymptomatik - depressive Symptomatik - Zwangssymptome Missverständnisse sowohl mit als auch durch andere - Beziehungsschwierigkeiten (systemische Ebene) - Aussenseiter - gestörtes Sozialverhalten ungelöste reaktive Gefühle und Konflikte aufgrund - alle Formen „neurotischer“ Probleme inkl. Tertiäre ADHS Phänomene ADHS-bedingt schwieriger Erlebnissen psychodynamisch bedingte Selbstwertprobleme Lachenmeier 2015 (psychodynamische Ebene) reduzierter Filter
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