MEDIZIN & TECHNIK „Gehen Verstehen“ – Programm umgesetzt Im Herbst dieses Jahres will die Klinik in Haag in Oberbayern erstes zertifiziertes Zentrum für die Ganganalyse und Gangrehabilitation nach dem Programm „Gehen verstehen“ werden. Über zwei Jahre dauerten die Vorbereitungen dazu, doch schon jetzt zahlt sich die Integration der Ganganalyse in den Therapieplan für die Klinik aus. VON WOLFANG BEST eit über zwei Jahren ist die Gangdiagnostik fester Bestandteil des Angebots der Klinik Haag. Als Fachklinik für Geriatrie und Innere Medizin sichert sie im Verbund mit der Klinik in Mühldorf die medizinische Versorgung des Landkreises Mühldorf am Inn und der angrenzenden Region. Dass sich eine Klinik mit Schwerpunkt Geriatrie der Ganganalyse und Gangrehabilitation widmet, scheint naheliegend. Doch Dr. Stephan von Clarmann, Chefarzt der Klinik in Haag, berichtet, dass er eher zufällig in Kontakt mit dem Programm von „Gehen verstehen“ kam. Seine heranwachsende Tochter hatte einen Haltungsfehler entwickelt, für den er als Arzt keine Erklärung hatte. Auch in der Fachliteratur fand er nichts dazu. Über das Buch „Gehen verstehen“ kam er in Kontakt mit der Ganganalyse und besuchte einen Grundkurs bei Kirsten Götz-Neumann. „Nach den zwei Tagen fühlte ich mich erschlagen“, erinnert er sich. Was er aber als Erkenntnis mitnahm war, dass man auch mit einfachen Methoden erstaunliches bei der Therapie von Haltungs- und Gangstörungen erreichen kann. „Am dritten Kurstag habe ich den Entschluss gefasst, das Konzept bei uns in der Klinik in Haag einzuführen.“ Bei der Leitung seiner Klinik stieß er dabei auf offene Ohren. Dr. Wolfgang Richter, ärztlicher Direktor der Klinik, erkannte das Potenzial für seine Klinik, die sich auf die geriatrische Rehabilitation spezialisiert hat. „Über die Ganganalyse kann man mit wenig Aufwand viel für die Patienten erreichen“, sagte er bei der Präsentation des Qualitätssiegels für „Gehen verstehen“ (s. Bericht ab Seite 27). Auch Heiner Kelbel, Geschäftsführer der Klinik, stand der Idee offen gegenüber. In etwas investieren, das es noch nicht gibt, das sei er gewohnt, meinte er. Für die kleine Klinik sei es in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, Netzwerke zu bilden und Kooperationspartner S 30 ORTHOPÄDIESCHUHTECHNIK 3|15 Die interdisziplinäre Sprechstunde mit dem Patienten im Mittelpunkt ist einer der wesentlichen Bausteine der Ganganalyse nach „Gehen verstehen“. Alle an der Therapie beteiligten diskutieren mit (v. l.): Physiotherapeut (PT) Roland Herbert, PT Antje Eckert, Patient Jonas Becht, Dr. Stephan von Clarmann, PT Michael Ritzenhoff, OSM Thomas Sax. (Foto: Klinik Haag) zu finden, mit denen man das Angebot der Klinik verbessern kann. In dieses Konzept passe „Gehen verstehen“ sehr gut. „Unsere Kooperationen rechnen sich“, betonte er, „für die Patienten und für die Klinik.“ Überzeugt hatte von Clarmann die Klinikleitung unter anderem mit Videos von eigenen Patienten. Sie zeigen deutlich die Verbesserungen, die durch eine qualifzierte Analyse und eine darauf beruhende Gangtherapie erreicht werden können. Intensive Vorbereitung Zwei Jahre lang hat sich die Klinik Zeit genommen, die Gangdiagnostik mit der Gangrehabilitation aufzubauen und in das Klinikangebot zu integrieren. „Das geht nur als Prozess“, erklärt von Clarmann, denn auch innerhalb der Klinik gelte es, strukturelle und personelle Hürden zu nehmen. „Die Kandidatenphase ist die größte Hürde", so von Clarmann, denn in dieser ersten Stufe für das Qualitätssiegel müssen überhaupt erst die personellen und strukturellen Voraussetzungen ge- schaffen werden. Dazu müsse man alle Disziplinen integrieren und die Mitarbeiter entsprechend qualifizieren. „Es war eine Lernphase des gesamten Teams.“ Mit der von der Klinik gegründeten ambulanten Praxis für Physiotherapie „MobiliJA“ (Mobil in jedem Alter) wurden in der Klinik die strukturellen Voraussetzungen für die Umsetzung des Programms geschaffen. Neben allen klassischen Formen der Physiotherapie wird dort auch die Ganganalyse nach „Gehen verstehen“ im neu eingerichteten Ganglabor angeboten. „Angesichts der aufwändigen Ausbildung der Mitarbeiter habe ich Anfangs schon ein bisschen geschluckt“, sagt von Clarmann. Die Hälfte der Physiotherapeuten und auch die Hälfte der Oberärzte auf die entsprechenden Kurse zu schicken, habe Zeit und natürlich auch Geld gekostet. „Aber das war notwendig“, erklärt er. „Wenn ich therapiere, muss ich vorher den Gang analysieren. Und davor muss ich verstehen, wie eigentlich der Gang funktioniert.“ Deshalb hat auch er selbst MEDIZIN & TECHNIK die Kurse bis zur Practicioner-Qualifikation durchlaufen. Auch seine ärztlichen Kollegen haben zumindest die Grundausbildung absolviert. „Wir haben 105 Betten in der Klinik. Das Wissen über die Ganganalyse muss auf allen Stationen vorhanden sein.“ Schwerpunkt: schwierige Fälle Ein Schwerpunkt sind Betroffene mit dem Vorliegen eines sogenannten „Therapieversagens“. Dazu gehören zum Beispiel Patienten, bei denen eine physiotherapeutische Behandlung seit sechs Monaten ohne signifikanten Erfolg ist. Auch wenn trotz vieler technischer Untersuchungen die Ursache der Gangstörung unklar ist, sich nach operativen Eingriffen die Beschwerden nicht bessern oder eine drohende Operation die mutmaßlich letzte Therapieoption ist, nimmt sich das Ganglabor dieser Patienten an. Daneben gehören auch Gangstörungen bei neurodegenerativen Erkrankungen sowie rezidivierende Stürze bei bisher fehlender exakter Diagnosestellung zum selbst gewählten Aufgabengebiet der Klinik. Bei der Diagnostik steht nicht nur die beobachtende, videogestützte Ganganalyse in verschiedenen Gehsituationen im Mittelpunkt. Auch das persönliche Gespräch mit dem Herausarbeiten der individuellen Problematik, die Bewertung aller vorliegender Vorbefunde und die klinische Untersuchung des Bewegungsapparates (Muskelkraft, Gelenkbeweglichkeit etc.) gehören dazu. Ganganalyse führt zur Gangschulung Etwa eine Stunde dauert die Ganganalyse, in der nicht nur analysiert wird. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein Ziel erarbeitet, das durch die Analyse und die anschließende Gangtherapie angestrebt werden soll. Damit dies auch erreicht wird, erläutern die Therapeuten dem Patienten sein Problem genau anhand der Videoanalyse. Der Analyse folgt immer eine gezielte qualitative Programm. Hier sei ein NetzGangschulung nach den werk aus Ärzten, PhysiotheGrundsätzen des Programms rapeuten, Orthopädieschuh„Gehen verstehen“, damit machern und Orthopädietechder Patient die Ansteuerung nikern geschaffen worden, seiner Muskulatur und dadas kurzfristig die Anfordemit seinen Gang verändern rungen von „Gehen verstehen“ kann. Ein wichtiger Teil des umsetze. Die gründliche AnaKonzeptes ist auch die inlyse gebe dabei für alle Beteiterdisziplinäre Sprechstunligten einen guten Ausblick für de, zu der sich das Team die voraussichtlich erreichbajeden Freitag mit ausgeren Ziele. Oftmals werde dabei wählten Patienten und An- Mit einem Flyer auch „ums Eck“ gedacht, zum gehörigen trifft. Die Thera- informiert die Klinik Beispiel wenn eine Peronäuspeuten stellen den Fall über das Angebot Orthese aus Carbon bei Genuinklusive der Videoanalyse der Ganganalyse. recurvatum eingesetzt werde vor und dann wird über und der Patient das Hilfsmittel den Therapieplan und das in der Sprech- nicht mehr missen mochte. Der im interstunde sichtbare Ergebnis diskutiert. „Bei disziplinären Team geschulte Blick für den Patienten und deren Angehörigen die Wirkung einer Versorgung hat auch kommt das sehr gut an“, berichtet Ste- Sax’ Blick auf seine regulären Patienten phan von Clarmann. Sie würden merken, verändert. Er hat sich deshalb entschiedass sie mit ihren Problemen und Wün- den, sich zum Practicioner weiter zu schen im Mittelpunkt stehen. Er ver- qualifizieren. schweigt aber auch nicht, dass sich das Team erst daran gewöhnen musste, sein Angebot wird angenommen Tun so transparent auszubreiten und zur Mittlerweile hat sich das besondere Diskussion zu stellen. Nachdem die ersten Angebot der Klinik herumgesprochen. Ängste überwunden waren, werde dieses „Die Patienten kommen zunehmend zielVerfahren aber inzwischen von allen ge- gerichtet mit Mobilitäts- und Beweschätzt. „Man stellt sich ständig positiv in gungsstörungen zu uns“, berichtet von Frage“, beschreibt er die Vorteile dieser Clarmann. Auch von Hausärzten kämen immer häufiger Einweisungen in die Kliinterdisziplinären Sprechstunde. Weil die Ursachen für Gangstörungen nik zur Ganganalyse und Gangtherapie. vielfältig sind, gehört ein interdiszipli- Mit dazu beigetragen hat sicher auch die näres Netzwerk zum Konzept. Mit Ortho- Initiative „Stopp dem Sturz“ des Landpädieschuhmacher Thomas Sax aus Haag kreises Mühldorf, die die Klinik Haag und dem Sanitätshaus Orthotreff Wald- konzipierte und mit ihrer Kompetenz im kraiburg sind auch die beiden Orthopä- frühzeitigen Erkennen und Behandeln diehandwerke im Netzwerk vertreten. von Gangunsicherheiten auch der pasGerade dieses Netzwerk ermögliche die sende Partner für die Aktion ist. Mit einem Flyer (s. oben) und gezielnotwendige Nachhaltigkeit der theraten Besuchen bei niedergelassenen Ärzpeutischen Maßnahmen. OSM Thomas Sax war von der Klinik ten arbreitet man in der Klinik Haag daHaag mit anderen Leistungserbringern ran, noch mehr Ärzte von dem Programm zum ersten Kurs „Gehen verstehen“ in „Gehen verstehen“ zu überzeugen, damit die Klinik eingeladen worden. Die an- die Patienten bei Problemen frühzeitig in fängliche Skepsis – „noch ein Kurs“ – die Gangtherapie kommen. ❚ wich schnell der Begeisterung für das ORTHOPÄDIESCHÄFTE OR Kronacher Schäftefabrikation STENGEL OHG Orthopädieschäfte 96328 Küps/Burkersdorf Pfründestrasse 4 Tel. 09264/968 754 Fax 09264/968 755 www.kronacher-schaefte.de [email protected] ORTHOPÄDIESCHUHTECHNIK 3|15 31
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