Orthopädieschuhtechnik, Ausgabe 3/15

MEDIZIN & TECHNIK
„Gehen Verstehen“ – Programm umgesetzt
Im Herbst dieses Jahres will die Klinik in Haag in Oberbayern erstes zertifiziertes Zentrum für die Ganganalyse
und Gangrehabilitation nach dem Programm „Gehen verstehen“ werden. Über zwei Jahre dauerten die
Vorbereitungen dazu, doch schon jetzt zahlt sich die Integration der Ganganalyse in den Therapieplan für
die Klinik aus. VON WOLFANG BEST
eit über zwei Jahren ist die Gangdiagnostik fester Bestandteil des Angebots der Klinik Haag. Als Fachklinik für
Geriatrie und Innere Medizin sichert sie im
Verbund mit der Klinik in Mühldorf die
medizinische Versorgung des Landkreises
Mühldorf am Inn und der angrenzenden
Region.
Dass sich eine Klinik mit Schwerpunkt
Geriatrie der Ganganalyse und Gangrehabilitation widmet, scheint naheliegend.
Doch Dr. Stephan von Clarmann, Chefarzt
der Klinik in Haag, berichtet, dass er eher
zufällig in Kontakt mit dem Programm
von „Gehen verstehen“ kam. Seine heranwachsende Tochter hatte einen Haltungsfehler entwickelt, für den er als
Arzt keine Erklärung hatte. Auch in der
Fachliteratur fand er nichts dazu. Über
das Buch „Gehen verstehen“ kam er in
Kontakt mit der Ganganalyse und besuchte einen Grundkurs bei Kirsten
Götz-Neumann. „Nach den zwei Tagen
fühlte ich mich erschlagen“, erinnert er
sich. Was er aber als Erkenntnis mitnahm
war, dass man auch mit einfachen Methoden erstaunliches bei der Therapie
von Haltungs- und Gangstörungen erreichen kann. „Am dritten Kurstag habe ich
den Entschluss gefasst, das Konzept bei
uns in der Klinik in Haag einzuführen.“
Bei der Leitung seiner Klinik stieß er
dabei auf offene Ohren. Dr. Wolfgang
Richter, ärztlicher Direktor der Klinik, erkannte das Potenzial für seine Klinik, die
sich auf die geriatrische Rehabilitation
spezialisiert hat. „Über die Ganganalyse
kann man mit wenig Aufwand viel für
die Patienten erreichen“, sagte er bei der
Präsentation des Qualitätssiegels für
„Gehen verstehen“ (s. Bericht ab Seite
27). Auch Heiner Kelbel, Geschäftsführer
der Klinik, stand der Idee offen gegenüber.
In etwas investieren, das es noch nicht
gibt, das sei er gewohnt, meinte er. Für
die kleine Klinik sei es in den letzten
Jahren immer wichtiger geworden, Netzwerke zu bilden und Kooperationspartner
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Die interdisziplinäre Sprechstunde mit dem Patienten im Mittelpunkt ist
einer der wesentlichen Bausteine der Ganganalyse nach „Gehen verstehen“.
Alle an der Therapie beteiligten diskutieren mit (v. l.): Physiotherapeut (PT)
Roland Herbert, PT Antje Eckert, Patient Jonas Becht, Dr. Stephan von Clarmann,
PT Michael Ritzenhoff, OSM Thomas Sax. (Foto: Klinik Haag)
zu finden, mit denen man das Angebot
der Klinik verbessern kann. In dieses
Konzept passe „Gehen verstehen“ sehr
gut. „Unsere Kooperationen rechnen
sich“, betonte er, „für die Patienten und
für die Klinik.“ Überzeugt hatte von Clarmann die Klinikleitung unter anderem
mit Videos von eigenen Patienten. Sie
zeigen deutlich die Verbesserungen, die
durch eine qualifzierte Analyse und eine
darauf beruhende Gangtherapie erreicht
werden können.
Intensive Vorbereitung
Zwei Jahre lang hat sich die Klinik Zeit genommen, die Gangdiagnostik mit der
Gangrehabilitation aufzubauen und in das
Klinikangebot zu integrieren. „Das geht
nur als Prozess“, erklärt von Clarmann,
denn auch innerhalb der Klinik gelte es,
strukturelle und personelle Hürden zu
nehmen.
„Die Kandidatenphase ist die größte
Hürde", so von Clarmann, denn in dieser
ersten Stufe für das Qualitätssiegel
müssen überhaupt erst die personellen
und strukturellen Voraussetzungen ge-
schaffen werden. Dazu müsse man alle
Disziplinen integrieren und die Mitarbeiter entsprechend qualifizieren. „Es war
eine Lernphase des gesamten Teams.“
Mit der von der Klinik gegründeten
ambulanten Praxis für Physiotherapie
„MobiliJA“ (Mobil in jedem Alter) wurden
in der Klinik die strukturellen Voraussetzungen für die Umsetzung des Programms geschaffen. Neben allen klassischen Formen der Physiotherapie wird
dort auch die Ganganalyse nach „Gehen
verstehen“ im neu eingerichteten Ganglabor angeboten.
„Angesichts der aufwändigen Ausbildung der Mitarbeiter habe ich Anfangs
schon ein bisschen geschluckt“, sagt von
Clarmann. Die Hälfte der Physiotherapeuten und auch die Hälfte der Oberärzte auf die entsprechenden Kurse zu
schicken, habe Zeit und natürlich auch
Geld gekostet. „Aber das war notwendig“, erklärt er.
„Wenn ich therapiere, muss ich vorher
den Gang analysieren. Und davor muss
ich verstehen, wie eigentlich der Gang
funktioniert.“ Deshalb hat auch er selbst
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die Kurse bis zur Practicioner-Qualifikation durchlaufen. Auch seine ärztlichen
Kollegen haben zumindest die Grundausbildung absolviert. „Wir haben 105
Betten in der Klinik. Das Wissen über die
Ganganalyse muss auf allen Stationen
vorhanden sein.“
Schwerpunkt: schwierige Fälle
Ein Schwerpunkt sind Betroffene mit dem
Vorliegen eines sogenannten „Therapieversagens“. Dazu gehören zum Beispiel
Patienten, bei denen eine physiotherapeutische Behandlung seit sechs Monaten
ohne signifikanten Erfolg ist. Auch wenn
trotz vieler technischer Untersuchungen
die Ursache der Gangstörung unklar ist,
sich nach operativen Eingriffen die Beschwerden nicht bessern oder eine drohende Operation die mutmaßlich letzte
Therapieoption ist, nimmt sich das Ganglabor dieser Patienten an. Daneben gehören auch Gangstörungen bei neurodegenerativen Erkrankungen sowie
rezidivierende Stürze bei bisher fehlender
exakter Diagnosestellung zum selbst gewählten Aufgabengebiet der Klinik.
Bei der Diagnostik steht nicht nur die
beobachtende, videogestützte Ganganalyse in verschiedenen Gehsituationen im
Mittelpunkt. Auch das persönliche Gespräch mit dem Herausarbeiten der individuellen Problematik, die Bewertung
aller vorliegender Vorbefunde und die
klinische Untersuchung des Bewegungsapparates (Muskelkraft, Gelenkbeweglichkeit etc.) gehören dazu.
Ganganalyse
führt zur Gangschulung
Etwa eine Stunde dauert die Ganganalyse, in der nicht nur analysiert wird. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein Ziel
erarbeitet, das durch die Analyse und die
anschließende Gangtherapie angestrebt
werden soll. Damit dies auch erreicht
wird, erläutern die Therapeuten dem Patienten sein Problem genau anhand der
Videoanalyse. Der Analyse folgt immer
eine gezielte qualitative
Programm. Hier sei ein NetzGangschulung nach den
werk aus Ärzten, PhysiotheGrundsätzen des Programms
rapeuten, Orthopädieschuh„Gehen verstehen“, damit
machern und Orthopädietechder Patient die Ansteuerung
nikern geschaffen worden,
seiner Muskulatur und dadas kurzfristig die Anfordemit seinen Gang verändern
rungen von „Gehen verstehen“
kann. Ein wichtiger Teil des
umsetze. Die gründliche AnaKonzeptes ist auch die inlyse gebe dabei für alle Beteiterdisziplinäre Sprechstunligten einen guten Ausblick für
de, zu der sich das Team
die voraussichtlich erreichbajeden Freitag mit ausgeren Ziele. Oftmals werde dabei
wählten Patienten und An- Mit einem Flyer
auch „ums Eck“ gedacht, zum
gehörigen trifft. Die Thera- informiert die Klinik
Beispiel wenn eine Peronäuspeuten stellen den Fall über das Angebot
Orthese aus Carbon bei Genuinklusive der Videoanalyse der Ganganalyse.
recurvatum eingesetzt werde
vor und dann wird über
und der Patient das Hilfsmittel
den Therapieplan und das in der Sprech- nicht mehr missen mochte. Der im interstunde sichtbare Ergebnis diskutiert. „Bei disziplinären Team geschulte Blick für
den Patienten und deren Angehörigen die Wirkung einer Versorgung hat auch
kommt das sehr gut an“, berichtet Ste- Sax’ Blick auf seine regulären Patienten
phan von Clarmann. Sie würden merken, verändert. Er hat sich deshalb entschiedass sie mit ihren Problemen und Wün- den, sich zum Practicioner weiter zu
schen im Mittelpunkt stehen. Er ver- qualifizieren.
schweigt aber auch nicht, dass sich das
Team erst daran gewöhnen musste, sein Angebot wird angenommen
Tun so transparent auszubreiten und zur Mittlerweile hat sich das besondere
Diskussion zu stellen. Nachdem die ersten Angebot der Klinik herumgesprochen.
Ängste überwunden waren, werde dieses „Die Patienten kommen zunehmend zielVerfahren aber inzwischen von allen ge- gerichtet mit Mobilitäts- und Beweschätzt. „Man stellt sich ständig positiv in gungsstörungen zu uns“, berichtet von
Frage“, beschreibt er die Vorteile dieser Clarmann. Auch von Hausärzten kämen
immer häufiger Einweisungen in die Kliinterdisziplinären Sprechstunde.
Weil die Ursachen für Gangstörungen nik zur Ganganalyse und Gangtherapie.
vielfältig sind, gehört ein interdiszipli- Mit dazu beigetragen hat sicher auch die
näres Netzwerk zum Konzept. Mit Ortho- Initiative „Stopp dem Sturz“ des Landpädieschuhmacher Thomas Sax aus Haag kreises Mühldorf, die die Klinik Haag
und dem Sanitätshaus Orthotreff Wald- konzipierte und mit ihrer Kompetenz im
kraiburg sind auch die beiden Orthopä- frühzeitigen Erkennen und Behandeln
diehandwerke im Netzwerk vertreten. von Gangunsicherheiten auch der pasGerade dieses Netzwerk ermögliche die sende Partner für die Aktion ist.
Mit einem Flyer (s. oben) und gezielnotwendige Nachhaltigkeit der theraten Besuchen bei niedergelassenen Ärzpeutischen Maßnahmen.
OSM Thomas Sax war von der Klinik ten arbreitet man in der Klinik Haag daHaag mit anderen Leistungserbringern ran, noch mehr Ärzte von dem Programm
zum ersten Kurs „Gehen verstehen“ in „Gehen verstehen“ zu überzeugen, damit
die Klinik eingeladen worden. Die an- die Patienten bei Problemen frühzeitig in
fängliche Skepsis – „noch ein Kurs“ – die Gangtherapie kommen. ❚
wich schnell der Begeisterung für das
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