Paradigmenwechsel in der Behandlung Alkoholkranker

Paradigmenwechsel in der
Behandlung Alkoholkranker
Henriette Walter
Medizinische Universität Wien
Im AKH
The Burden of
Disease
wird gemessen in DALY
(Disability adjusted life year)
= numbers of years lost due to illhealth, disability, or early death
The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010.
H.U. Wittchen , F. Jacobi, J. Rehm, A. Gustavsson , et al.
European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679
Ranking - DALYs
The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010.
H.U. Wittchen , F. Jacobi, J. Rehm, A. Gustavsson , et al.
European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679
CMD versus SMD
• Die meisten psychischen Erkrankungen
werden als „mild“ oder „moderate“ klassifiziert
- common mental disorders (CMD) ¾ der
Betroffenen
• Am häufigsten: Depression, Angststörungen,
Substanzmissbrauch/Suchterkrankungen
• Können aber auch in eine „severe mental
disorder“ (SMD) übergehen, daher
Prävention dieses Überganges durch
Früherkennung und Therapie wesentlich
Sick on the Job? Myths and Realities about
Mental Health and Work, OECD Bericht 2011
Bedeutung der psychischen
Erkrankungen und Arbeitsmarkt
(OECD, 2011)
• Die meisten Menschen mit leichten/mittleren psychischen
Erkrankungen (CMD) sind im Arbeitsprozess (60-70%) nur
10-15 Prozentpunkte weniger als Personen ohne mental
illness
• SMD: 45-55% im Arbeitsprozess
• Arbeitslosigkeit bei SMD 6-7fach höher! als bei
Personengruppen ohne SMD, bei CMD 2-3fach höher
• Im Vergleich zu Allgemeinbevölkerung: für CMD – Betroffene
schwieriger Job zu halten
• Betroffene mehr Krankenstände und längere Krankenstände
• Viele Betroffene gehen nicht in den Krankenstand – Ergebnis:
underperformance, productivity losses
Sick on the Job? Myths and Realities about
Mental Health and Work, OECD Bericht 2011
Diagnostik
und Verlauf
Abhängigkeit (ICD-10)
während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden
Kriterien
1. Ein starker Wunsch oder (Zwang), Alkohol zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. des Beginns, der Beendigung und der
Menge
3. Substanzgebrauch, mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern
4. Ein körperliches Entzugssyndrom
5. Nachweis einer Toleranz.
6. Ein eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol oder der
Substanz wie z.B. die Tendenz, Alkohol an Werktagen wie an Wochenenden
zu trinken etc.
7. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen
zugunsten des Alkoholkonsums.
8. Anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher
Folgen.
Alcohol Use Disorder, DSM-5
(11 items)
A problematic pattern of alcohol use, leading to clinically significant
impairment or distress, as manifested by at least two of the following,
occurring within the a 12 month period:
1. Alcohol is often taken in larger amounts or over a longer period than was intended.
2. There is a persistent desire or unsuccessful efforts to cut down or control alcohol
use.
3. A great deal of time is spent in activities necessary to obtain alcohol, use alcohol,
or recover from its effects.
4. Craving, or a strong desire or urge to use alcohol.
5. Recurrent alcohol use resulting in a failure to fulfill major role obligations at work,
school or home.
6. Continued alcohol use despite having persistent or recurrent social or
interpersonal problems caused or exacerbated by the effects of alcohol.
Alcohol Use Disorder, DSM-5
7. Important social, occupational, or recreational activities are given up or reduced
because of alcohol use.
8. Recurrent alcohol use in situations in which it is physically hazardous.
9. Alcohol use is continued despite knowledge of having a persistent or recurrent
physical or psychological problem that is likely to have been caused or exacerbated
by alcohol.
10. Tolerance, as defined by either of the following:
a. A need for markedly increased amounts of alcohol to achieve intoxication or
desired effect.
b. A markedly diminished effect with continued use of the same amount of
alcohol.
11. Withdrawal, as manifested by either of the following:
a. The characteristic withdrawal syndrome for alcohol (refer to Criteria A an B of
the criteria set for alcohol withdrawal, pp.499-500).
b. Alcohol (or a closely related substance, such as benzodiazepine) is taken to
relieve or avoid withdrawal symptoms.
Specify current severity:
•
305.00 (F10.10) Mild: Presence of 2-3 symptoms.
•
303.90 (F10.20) Moderate: Presence of 4-5 symptoms.
•
303.90 (F10.20) Severe: Presence of 6 or more symptoms.
Alcohol consumption
age
Source: Handbuch Alkohol – Österreich 2001 (Uhl et al., Wien 2001)
HARMLOSIGKEITSGRENZE
Konsum wird als unbedenklich eingestuft bei:
Männern bis 24 Gramm reiner Alkohol pro Tag
Frauen bis 16 Gramm reiner Alkohol pro Tag
vereinfacht ca. 20 Gramm Alkohol
Dem entspricht
ein halber Liter Bier oder
ein Viertel Wein
Quelle: Handbuch Alkohol – Österreich 2001 (Uhl et al., Wien 2001)
GEFÄHRDUNGSGRENZE
Konsum wird als gesundheitsgefährdent eingestuft bei:
Männern ab 60 Gramm reiner Alkohol pro Tag
das entspricht 3 halbe Liter Bier
oder 3 Viertel Wein
bei Frauen ab 40 Gramm reiner Alkohol pro Tag
das entspricht 2 halbe Liter Bier
oder 2 Viertel Wein
20 g reiner Alkohol sind in ca. einem 1/2 Liter Bier oder einem 1/4 Liter Wein oder 3 kleinen
Schnäpsen enthalten.
Quelle: Handbuch Alkohol – Österreich 2001 (Uhl et al., Wien 2001)
Verlaufsphasen der
Rückbildungsvorgänge nach Scholz
Entzugsphase
Phase der
Restitution
scheinstabil
psychoorganische
Störungen
Spätkrisen
1.Krise
Dysphorie,
Unruhe,
vegetative
Störungen
Latenzphase
Motivationsverlust,
wenig Störungen
Dysphorie, Unruhe,
vegetative
Störungen,
Schlafstörungen,
Alkoholverlangen,
u.a.m.
Phase der
Stabilisierung
1. Woche
2. Woche
7.-9. Woche
„KURZZEITSTUDIE“
6 Monate
12 Mo
„LANGZEITSTUDIE“
18 Mo
24 Mo
Scholz H, 1996
Temperamente
The Burden of Bipolar-II and Cyclothymia:
Axis I Comorbidity in Cyclothymic and Non-Cyclothymic Bipolar II
Patients
%
**
**
**
*
**
*p < .05
**p < .01
Perugi and Erfurth, Persönliche Mitteilung
Alkoholabhängigkeit: eine
komplexe Störung
• Patienten zeigen heterogene Symptome
• Weltweit zeigen wissenschaftliche Daten, dass diese
Heterogenität nicht zufallsverteilt ist, sondern dass
getrennte Subtypen existieren
• Diese Subtypen sollten unterschiedliche Ätiologien und
Prognosen unterscheiden
Hester &Miller, 2001
Klinisch brauchbare Subtypen ?
• Chronische/schwere Trinkund Entzugstypen
• Mild betroffene
Verlaufstypen
• Depressive/ängstliche
Typen
• Antisoziale Typen
Hesselbrock VM und Hesselbrock MN 2006
Alkohol-Krankheitsverlauf
good
18,5 %
slips
25,6%
relapses
Life event dependent
31,7%
Life event dependent
unfavourable
24,2 %
Lesch et al., Forensic Scie,1988
Alkoholabhängigkeit: Typologie
nach Lesch in Schlagworten
Typ I: „ALLERGIE“
(Problem liegt im
Alkoholstoffwechsel)
Typ II: „ANGST“
(Alkohol als Konfliktlöser)
Typ III: „DEPRESSION“ (Alkohol als Antidepressivum)
Typ IV: „GEWÖHNUNG“ (Vor-alkoholische cerebrale
Schäden)
www.lat-online.at (kostenfrei)
Lesch et al, 1995
Was fragen wir beim
Erstkontakt ?
•
•
•
•
Early/Late onset
FA pos/neg
Typ 1-4 nach Lesch; www.lat-online.at
Epi ja/nein; Delir ja/nein oder starker
Entzug
• Cyclothymie, Depr, Angstörung
• Veränderungswunsch (1-10)
• Veränderungskompetenz (1-10)
Therapie
3 Strategische Ziele
• Absolute Abstinenz (Typ I)
• Behandlung der Basisstörung (Typen II und III)
• Reduktion der Trinkmenge/ -zeiten (Typen II, III
und IV)
Eckpfeiler in der Therapie
2 Säulen
• Realitätsprinzip
Erreichbarkeit des Zieles
(realistisches Ziel setzen)
• Gemeinsamkeitsprinzip
Akzeptanz des Therapiezieles
von PatientIn und TherapeutIn
Therapie im zeitlichen Ablauf
• Erstkontakt – Motivation - Ziel
• Diagnostik nach Typen
• Ambulant – stationär ?
• Entzug, weitere Diagnostik
• Entwöhnung
• Rückfallprophylaxe
stationär
• Bei bestehenden Risikofaktoren (z.B.
Diab. mell. etc)
• Bei hohen Trinkmengen
• Wenn schwerer Entzug erwartbar ist
• Bei trinkendem Freundeskreis
Wie rasch gibt es ein Bett ?
Wenn länger dauert – die Zeit nützen !!
TM reduzieren
Nachteil
• Nachteil des plötzlichen Absetzens von
Alkohol ist der sog.
„Alcohol deprivation effect“ ……
Cut down drinking –
- Trinkmenge reduzieren
Exstinktionsmethode
nach David Sinclair
Optiatantagonisten reduzieren bei
bestehendem Alkoholkonsum die
Trinkmenge
(Hernandez-Avila et al, 2006)
Die Biologie des Alkoholverlangens
nach Bankole Johnson et al, 2002
Pharmakologische Exstinktion
Durch Opiatrezeptorblockade kommt es zu
keiner Dopaminausschüttung
d.h. zu keinem angenehmen Gefühl, zu
keinem Belohnungsgefühl
Allmählich entkoppeln sich die Stimuli
Alkoholkonsum und Belohnungsgefühl
Pharmakologische
Dekonditionierung
• Allmählich im Verlauf von 3 Monaten löst
sich allmählich auf der Erlebnisebene der
Zusammenhang der Reize Alkoholkonsum
und Lustgefühl.
• Erleben, dass Alkohol nicht mehr die alte,
vertraute Wirkung hat
• Kombiniert mit Motivation, regelmäßigen
Kontrollen und Trinktagebuch
Trinkmengenreduktion
Durchführung
1. Pharmakotherapie: 1x1 Naltrexon / täglich
2. Kurze Gespräche
• Erste Woche: tägliche Kontrollen
• Zweite Woche 2-tägige Kontrollen
• Ab dritter Woche 2x pro Woche Kontrollen
Gespräche werden länger, seltener
3. Trinktagebuch
Tägliches Aufzeichnen der konsumierten
Getränke macht den Erfolg sichtbar
Gibt auch
Schon
App für
Handy
Vorteile der Methode
Trinkmengenreduktion
•
•
•
•
•
•
Wartezeit auf Bett sinnvoll nützen
Schwere Entzüge werden verhindert
Entzüge sind leichter (Seltener Komplikationen)
Unterstütztes Lernen der Selbstkontrolle
Persönliches Wachsen am Erfolg
Allmähliches Lernen mit weniger Alkohol im
Alltag auszukommen
• Weniger Alkoholkonsum- Besserung von RR,
Leberwerten, depressiven Symptomen etc.
• Kein „Alcohol deprivation“ Effekt
Nachteile der Methode
Trinkmengenreduktion
• Up-Regulation der Opiatrezeptoren –
daher nach ca 3 Monaten weniger
Wirkung
• Bei ca 10% der PatientInnen – keine TM
Reduktion mit dieser Methode erreichbar
Trinkmengenreduktion -Cut
down drinking
• Von D. Sinclair in Finnland
entwickelt
• Bereits 1994 von der FDA in den
USA als Methode anerkannt
1.
2.
3.
Cut down drinking
Wissenschaft
• Project Combine (Anton et al, 2006)
– Naltrexon allein wirkte schon, zusätzliche Gespräche
brachten keine weitere Verbesserung
• UK/Schottland: Chick et al, 2006
– Naltrexon wirkte vor allem in Verbindung mit
regelmäßigen Gesprächen Verbesserung
• Österreich: Walter, Lesch, in Vorbereitung
– Naltrexon wirkte 3 Monate, danach vor allem die
regelmäßigen Gespräche. 12 PatientInnen ambulant
über 1 Jahr (2 Rückfälle; 2 abstinent, 8 konstant
geringer Konsum, d.h. täglich 1 Bier oder 2 Gläser
Wein pro Woche; keine Spirituosen)
– Nalmefene
Baclofen
– (Lioresal)
– GABa B Rezeptor
– In Frankreich nicht
mehr off-label
Zusammenfassung I
• Für viele PatientInnen angenehme
Methode –
– Können im Arbeitsprozess bleiben
– Weniger stationäre Aufnahmen
– Weniger Entzugsbeschwerden
– Weniger Komplikationen
– Lernen im eigenen Umfeld wenig zu trinken
• Kostenreduktion
Medical Treatment , Addolorato et al, 2005
Zusammenfassung
• ICD und DSM-Diagnostik braucht Subdiagnostik –
damit therapierelevant wird
• Verlauf – abhängig von vielen Faktoren
• -Temperament
•
•
•
-Persönlichkeit
SMD /CMD
-social support etc…..
Wir gehen heute davon aus, dass die
Alkoholkrankheit eine Erkrankung mit
rezidivierenden Verlauf ist, also mit
Rückfällen einhergeht.
Wichtig ist bei Rückfall nur WANN man
aufhört
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
[email protected]