„Das ist mehr als nur eine Fußnote“

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Sonntag/Montag,
3./4. Mai 2015
70 JAHRE KRIEGSENDE
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„Das ist mehr als nur eine Fußnote“
Als die Rote Armee
auf ihrem Vormarsch
Ende April 1945 die
Kleinstadt Demmin
südwestlich von
Greifswald erreicht,
begehen dort
Tausende
Selbstmord. Der
Historiker Florian
Huber (47) hat in
seinem Buch „Kind,
versprich mir, dass
du dich erschießt“
den Massensuizid
von Demmin
dokumentiert.
Alltag 1945: Russische Soldaten
belästigen eine deutsche Frau.
Ausweg Freitod
Die Stadt hat sich in „ein unruhig brodelndes Heerlager verwandelt“, beschreibt Florian Huber die explosive Lage in Demmin in der Nacht zum 1. Mai
1945. Der Autor lässt in der Aufarbeitung des Geschehens viele Augenzeugen unter anderem aus Tagebuchaufzeichnungen zu Wort kommen. Die Medizinstudentin Lotte-Lore Martens berichtet über den Moment, in dem das
Entsetzen umschlug in Untergangsstimmung.
Ein Auszug:
(Sie sah) „nicht nur die Qualmwolken
aus der Altstadt aufsteigen, . . . Ein anderer Anblick fuhr ihr noch tiefer in die
Glieder. Sie sah eine nicht abreißende
Schlange von Frauen, die weniger dem
Feuer als ihrem eigenen Schicksal entrinnen wollten. Eine hoffnungslose Prozession am helllichten Tag.
Interview von Regine Ley
Lübecker Nachrichten: Herr Huber,
was hat Sie bewogen, diesen entsetzlichen Ereignissen nachzugehen? Ist für Sie, Jahrgang 1967, das
Geschehen 1945 nicht sehr fern?
Florian Huber: So weit weg ist das
gar nicht mal. Mein Vater hat immer wieder vom Kriegsende erzählt. Von dem Moment, als in seinem Dorf in der Hinterpfalz die
deutschen Truppen langsam abrücken. Zerlumpte Gestalten zu Fuß,
barfuß, auf Ackergäulen, schleppen sich da raus; irgendwann ist
der Letzte gegangen, und dann
war in diesem Dorf ein paar Stunden Ruhe, völlige Ungewissheit.
Keiner wusste: Was passiert mit
uns? Bis dann irgendwann in der
Nacht die Panzer der Amerikaner
einrücken. Aber diese paar Stunden dazwischen, dieses Nichtwissen, das hat ihn beschäftigt. Ich habe mich immer wieder gefragt: Wie
haben sich die Leute nach diesem
zwölfjährigen Monsterreich, nach
diesem permanenten Ausnahmezustand, eigentlich gefühlt?
LN: Wie sind Sie auf den Massenselbstmord in Demmin aufmerksam geworden?
Huber: Durch Zufall, eine Fußnote
in einem Buch über das Kriegsende. Ich bin dem Thema dann nachgegangen und habe ganz schnell
festgestellt, was das für Ausmaße
hatte. Es ist eigentlich kein Geheimnis, das ich da aufdecke. Es gab
schon 1945 in Demmin die ersten
Berichte darüber. Der Landrat von
Demmin hatte ein offizielles Schreiben über diese Massenselbstmorde verfasst, hatte sogar Zahlen
genannt. Ich kam relativ schnell an
den Punkt, an dem ich feststellte:
Das ist wirklich mehr als nur eine
Fußnote der Geschichte.
LN: Wie kam es zu dieser Selbstmordwelle?
Huber: Es gab in Demmin besondere Umstände – vor allen die geografische Lage der Stadt. Demmin ist
wie eine Halbinsel, die von drei
Flüssen – Peene, Tollense und Trebel – eingeklammert wird. Die Brücken, die aus der Stadt führten, wurden am 30. April 1945 aus militärischen Gründen von der sich zurückziehenden Wehrmacht gesprengt.
Man kam also Richtung Westen,
was eigentlich auch der Fluchtweg
für die Bevölkerung war, nicht
mehr weiter.
LN: Das heißt: Die Wehrmacht zog
. . . Mit dem Rauch kam eine Unzahl
vergewaltigter Frauen, teilweise noch
stark blutend, mit ein, zwei, drei, ja
manchmal vier Kindern an der Hand in
Trance, leeren Blickes die Jarmener
Chaussee heraufgewankt. Wir sahen
sie früher oder später rechts den Weg
Richtung Tollense einschlagen. Ein Aufhalten war nicht möglich. Massenpsychose. Sie suchten also den Tod in den
Fluten.
Der Historiker und Autor Florian Huber produzierte als Regisseur auch preisgekrönte Dokumentationen für ARD, ZDF und Arte, darunter „Schabowskis Zettel – Die Nacht als die Mauer fiel“. Fotos: R. Ley, ddp
sich zurück, hat aber, um der Roten
Armee den Weg zu versperren, die
Brücken hinter sich abgebrochen
und die Menschen in der Stadt wissentlich in der Falle sitzen lassen?
Huber: Ja, die haben die Leute alleine gelassen. Die Parteibonzen hatten sich ebenfalls vorher abgesetzt,
Wehrmacht und SS sind komplett
abgerückt. Da war also niemand
mehr, der die Stadt hätte verteidigen wollen, und es sah auch so aus,
als würde sie dann friedlich übergeben werden. Demmin hatte damals
offiziell 15 000 Einwohner, und es
waren sicher mehrere tausend
Flüchtlinge in der Stadt. Auf einmal sind die Brücken weg, keiner
kann mehr weiter, und am Nachmittag kommt die Rote Armee von
Süden und von Osten und nimmt
die Stadt ohne große Zwischenfälle
ein. Die Sowjets wollten noch an
diesem Tag bis nach Rostock durchbrechen – und dann hängen die
fest, weil sie nicht über die Flüsse
kommen. Bis die Pioniere eine Behelfsbrücke bauten, das dauerte 24
bis 48 Stunden. In diesem Zeitraum
hat sich alles entladen: Hass, Vergeltung, bei den Sowjets war aber
auch viel Feierlaune dabei . . .
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LN: . . . wegen des 1. Mai?
Huber: Genau, dem größten Feiertag des Sowjetreiches. Und weil sie
die Losung ausgegeben hatten:
Am 1. Mai besiegen wir das Deutsche Reich endgültig, in Berlin machen wir den Sack zu! Es war klar,
dieser 1. Mai wird die große Siegesfeier – und genau das machen die
Sowjets, die in Demmin sitzen. Sie
feiern den 1. Mai auf eine Art und
Weise, die total aus dem Ruder
läuft. Niemand kann weg, alle sitzen in der Falle, in dieser viel zu
kleinen Stadt für die Massen an
Leuten, an Soldaten, Fahrzeugen.
Aufgeheizte Gemüter, Panikstimmung. In dieser Situation kommt es
dann zu diesem unglaublichen
Massenselbstmord. Die Leute steigen in die Flüsse, hängen sich auf,
sie töten ihre Kinder, vergiften ihre
Familien, reißen sich gegenseitig
mit . . . Das passiert alles innerhalb
von zwei, drei Tagen.
LN: Haben Sie auch mit Zeitzeugen
darüber gesprochen?
Huber: Ja, aber es gibt nur ganz wenige, die sich dazu äußern wollen.
Diese Menschen waren damals Kinder, sie haben das beobachtet oder
selbst erlebt. Ein Herr in Demmin
hat mir erzählt, wie sie sich aus der
brennenden Stadt auf einen Acker
gerettet hatten. Und dann steht da
seine kurz vorher vergewaltigte
Mutter wie wahnsinnig mit einer
Rasierklinge in der Hand, will die
Kinder umbringen und sich selbst,
der Großvater geht dazwischen
und schlägt ihr die Klinge aus der
Hand. Diese Frau wollte danach
nie darüber sprechen. Ihr Sohn sagte, er habe sie nicht bewegen können, jemals etwas dazu zu sagen.
LN: Die Selbstmorde waren eine direkte Folge der massenhaften Vergewaltigungen?
Huber: Das fing schon an, bevor die
Rote Armee einrückte. Die Angst
war so groß, dass die Ersten sich
schon vorher umbrachten. In Demmin sind 20, 25 Leute tot, bevor der
erste Soldat die Stadt betritt. Dann
die Vergewaltigungen. Die Berichte sind entsetzlich, es ist nicht zu
verkraften.
LN: Denken Sie, die Leute wussten
nur zu gut, welcher Verbrechen
sich Deutschland schuldig gemacht hat?
. . . Manche schleppten auf ihren Schultern Rucksäcke, deren Riemen tief in
die Schultern schnitten. Sie waren vollgestopft mit Steinen, sodass sie sich
kaum mehr zuschnüren ließen. Andere
hatten sich aneinander festgeknotet.
Die Kinder zerrten sie mit sich an den
Handgelenken, an Knoten und Schnüren und Seilen. Kleine Babys hielten die
Mütter fest umklammert, während sie
ins Wasser stiegen.
. . . Demmins Schauplätze der Verzweiflung verteilten sich über das gesamte
Stadtgebiet und in allen Himmelsrichtungen. In den Stadtteilen und den Straßen, in den Grünflächen und Gewässern lagen, hingen und trieben überall
Tote.
. . . Ins Auge fällt bei allen Berichten das
Schicksal der vielen Kinder, die ihre Eltern und Angehörigen in den Untergang mitrissen. Wie die Erwachsenen
endeten auch sie erschossen, ertränkt,
erhängt, vergiftet, verblutet.“
Florian Huber
Kind, versprich mir,
dass du dich erschießt.
Der Untergang der
kleinen Leute 1945
Berlin Verlag, 22,99 ß
Demmin wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee niedergebrannt.
Es durfte tagelang nicht gelöscht werden. Foto: Kreisheimatmuseum Demmin/ddp
Huber: Ja, das glaube ich. In den
mehr als 100 Tagebüchern und Erinnerungen, die ich gelesen habe,
scheint das überall durch: Die Leute wussten, dass etwas ganz Schlimmes mit den Juden passiert war. Natürlich hat niemand aufgemuckt,
aber mitgekriegt haben es viele.
Ich bin überzeugt, dass das Gefühl
der Verstrickung in eine große
Schuld sehr weit verbreitet war. Daher auch die Angst davor: Wehe
uns, wenn wir überrollt werden!
LN: Sie beschreiben im Buch auch
sehr genau, wie perspektivlos die
Menschen angesichts der völligen
Niederlage waren.
Huber: Die Deutschen waren zwölf
Jahre lang völlig abgeschottet, es
gab kaum Einflüsse von außen.
Man hatte ihnen zu verstehen gegeben: Macht mit, dann können wir alles erreichen, wir können die Welt
beherrschen, und die Leute fühlten
sich auch so – alles, was ihnen versprochen worden war, war ja schon
fast greifbar gewesen. Auf der anderen Seite war aber auch klar:
Wenn das nicht klappt, dann droht
das Nichts. Die Nazis hatten immer
klargemacht: Wenn das deutsche
1. April, 13.15 Uhr. Die amerikanischen Truppen vollenden in Lippstadt mit den
aus Remagen kommenden Truppen die Einschließung des Ruhrgebiets.
Volk nicht stark genug ist, dann
soll es untergehen. Und die Leute
haben das geglaubt. Deswegen habe ich auch den Versuch gemacht,
die Motive für diesen extremen Gefühlsausbruch namens Massenselbstmord auch in der Vergangenheit zu suchen und nicht nur in der
konkreten Angst vor den Russen
oder vor dem Kriegsende.
LN: Wie erklären Sie sich, dass dieses Thema erst jetzt, nach so vielen
Jahrzehnten, Interesse findet?
Huber: Das habe ich mich auch gefragt. Diese Schicksale haben niemanden interessiert. Die Art und
Weise, wie wir in den letzten 30
und 40 Jahren die Vergangenheit
aufgearbeitet haben, war sehr
stark an den Tätern und an den Opfern ausgerichtet. Diese Selbstmörder passten da nicht so richtig rein.
Das sind ja weder Nazischergen
noch Opfer der Konzentrationslager, das sind Menschen, die nicht
in diesen Diskurs, in diese Erzählungsmuster hineinpassen, die wir
lange Zeit hatten. Ich glaube, dass
sie einfach durchs Raster gefallen
sind – eine andere Erklärung habe
ich nicht finden können.