Herz in Kathrin Lange Flammen 1 Kathrin Lange Herz in Flammen Herz in Kathrin Lange Flammen Eine Kurzgeschichte zur Herz aus Glas-Trilogie 1. Auflage 2015 © Kathrin Lange Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden. Herstellung: Kathrin Lange Lektorat: Birgit Rentz, Itzehoe Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Motivs von fotolia Umschlagmotiv: Heart shaped firework @ fotolia.com Für das Team vom Arena Verlag. Avignon. Mai 1987. Der Straßenmusikant stand an einer Hausecke, spielte Gitarre und sang dazu französische Chansons. Caro fragte sich, wie er die eisigen Windböen aushielt, die ihm von hinten ins Genick bliesen. Er schien nicht zu frieren, obwohl er über seiner schmutzigen Jeans nur eine dünne Jacke trug – und darunter ein ebenfalls ziemlich schmutziges T-Shirt. Sie saß in einem Straßencafé in der Rue Bonneterie inmitten von Avignons Altstadt. Vor ihr stand ein Milchkaffee, und um ihre Schultern hatte sie zwei der dicksten Pullover geschlungen, die sie in diesen verkorksten Südfrankreich-Urlaub mitgenommen hatte. Für die Jahreszeit – es war Ende Mai – war es ungewöhnlich kalt in der Provence. Ihr Blick wanderte wieder zu dem Musikanten. Seine Finger tanzten geschickt über die Saiten seines Instruments. Schlank war er, fast zu mager, so als würde er nicht regelmäßig etwas zu essen bekommen. Obwohl die Sonne seit Tagen nicht geschienen hatte, schimmerte seine Haut in einem sanften Karamellbraun. Vor ein paar Minuten hatte er ein Stück von Jacques Brel gesungen: Ne me quitte pas. Verlass mich nicht. Dabei hatte sein Blick zufällig Caro gestreift. Er hatte sie angelächelt. Jetzt klang seine Stimme noch ein bisschen weicher, und während sein Lied davon erzählte, dass er seiner Liebsten Regenperlen mitbringen würde aus einem Land ohne Regen, hatte Caro das Gefühl, er singe nur noch für sie. Sein Französisch hatte einen ganz eigenartigen Akzent, einen, den sie nicht auf Anhieb einordnen konnte. Robert zog den bunt bestickten Gitarrenriemen über den Kopf und setzte sein Instrument ab. Er musste sich 9 beherrschen, um nicht zu zittern. Dieser verflixte Mistral war wirklich die Pest! Der eisige Wind ging durch seine Klamotten wie durch eines der brüchigen Fischernetze weiter südlich am Meer. Aus einer kleinen Wasserflasche, die zu seinen Füßen stand, trank Robert einen Schluck, und dabei wanderte sein Blick erneut zu dem jungen Mädchen in dem Straßencafé. Warum sie nicht einfach reinging und sich ihren Café au Lait dort schmecken ließ? Ihr schien ebenso kalt zu sein wie ihm, trotzdem lauschte sie weiter seiner Musik. Ihm gefiel der Gedanke, dass sie seinetwegen fror. In seinem Gitarrenkoffer, den er aufgeklappt vor sich liegen hatte, lagen nur ein paar läppische Franc- und Centimes-Münzen. Das ekelige Wetter machte die wenigen Touristen mürrisch. Den Menschen war die Lust vergangen, dem Gesang eines schmutzigen Straßenmusikanten wie ihm zu lauschen. Robert stellte die Flasche fort, streifte sich den Gitarrenriemen wieder über, und während er überlegte, was er als Nächstes spielen sollte, klimperte er ein paar zusammenhanglose Töne. Seine Augen waren braun. Nachdem er seine Gitarre wieder umgehängt hatte und die Finger in einem schnellen Rhythmus über die Saiten tanzen ließ, erkannte Caro kurz darauf den Chanson pour l’auvergnat, eine Art sozialkritisches Lied über die Gier unter den Menschen. Es begann mit den Worten: Elle est à toi cette chanson. Es ist für dich, dieses Lied. Als der junge Mann diese Zeile sang und Caro dabei direkt in die Augen sah, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass er es wegen dieser ersten Zeile ausgesucht hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie spürte, wie sie rot 10 wurde, und als sich seine Mundwinkel hoben, senkte sie rasch den Blick in ihre halb leere Tasse. Ein paar Sekunden später lugte sie vorsichtig zwischen ihren Haaren hindurch in seine Richtung. Er zwinkerte ihr zu, und plötzlich wusste sie nicht mehr, wohin mit ihren Händen. Sie tat, als müsse sie dringend die Details der Caféhausfassade studieren. Die Minuten verstrichen. Der Musikant spielte zwei weitere Chansons. Er musste dafür unter eine Markise zurückweichen, weil ein haarfeiner Nieselregen eingesetzt hatte. Nicht gut für die Gitarre, dachte Caro. Zwei Mal noch ließ sie den Blick in seine Richtung schweifen, aber er hatte sich jetzt von ihr abgewandt. Sie sah nur noch sein Profil. Eine schmale Nase. Die Wangenknochen beschrieben einen Aufwärtsbogen. Der Regen würde ihm das Instrument ruinieren! Zwischen zwei Liedern biss Robert sich auf die Unterlippe. Warum war er eigentlich noch hier? Heute würde er keinen müden Heller mehr verdienen. Er hätte längst seine Sachen packen und von hier verschwinden sollen. Sich einen Unterschlupf suchen, in dem er wenigstens vor dem Regen Schutz fand. Ein weiterer Windstoß packte ihn und hätte ihn beinahe ins Stolpern gebracht. Caro fasste einen Entschluss. Sie legte das Geld für ihren Kaffee unter das kleine Silbertablett, auf dem die Tasse gebracht worden war. Dann packte sie ihre Tasche, schlang sich den Riemen über die Schulter und ging mit leicht zittrigen Knien zu dem jungen Straßenmusikanten hinüber. „Du spielst sehr schön“, sagte sie auf Französisch zu ihm, und weil es sonderbar aufregend war, ihm plötzlich so nahe zu sein, wich sie seinem forschenden Blick aus. Stattdessen bückte sie sich und legte einen Zehn-FrancSchein in den Gitarrenkoffer. 11 Er nickte ihr seinen Dank schweigend zu. Seine Fingerspitzen strichen über die Saiten der Gitarre, und Caro ertappte sich bei dem Gedanken, wie es sich anfühlen mochte, wenn er stattdessen sie streichelte. Erneut musste sie schlucken. In seinen braunen Augen schwammen kleine goldene Einsprengsel. Wie bei einem Bernstein. Sag was!, dachte sie. Gib mir einen Grund, noch einen Moment zu bleiben. Aber er sagte nichts. Und so ging sie. Das Universum schien der Meinung zu sein, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. Noch am selben Abend sah Caro den Gitarrenspieler wieder. Sie war auf dem Weg in die Altstadt – zusammen mit ein paar Freundinnen aus ihrem Französisch-Leistungskurs, mit dem sie auf Kursfahrt in der Provence war. Als sie an einer Ecke der Rue de la Republique Ne me quitte pas hörte, blieb sie stehen. Der Musikant lehnte an einer niedrigen Mauer. Sein Gitarrenkoffer war noch genauso leer wie am Nachmittag. Und noch immer war es empfindlich kalt, wenn auch der Nieselregen aufgehört hatte. Der Mistral wehte eine weggeworfene Zeitung quer über den Platz und wickelte sie um einen der dünnen Baumstämme. Die Blicke des Musikanten schweiften über die wenigen Passanten, und als er Caro entdeckte, senkte er rasch den Kopf. Eine Sekunde später schaute er wieder auf, zwinkerte ihr ein weiteres Mal zu. Caros Herz wurde schwer. Eine tiefe, bittersüße Melancholie erfüllte ihr Innerstes, weil sie wusste, dass sie nicht mehr lange in Avignon sein würde. Am übernächsten Tag würde sie mit ihrem Kurs nach Deutschland zurückkehren. Ein Instinkt sagte ihr, dass es besser wäre, weiterzugehen, sich nicht in den braunen Augen dieses jungen Mannes zu verlieren, weil es ohne jeden Zweifel schon 12 sehr bald Tränen bedeuten würde, wenn sie ihn zu dicht an sich heranließ. Noch während sie mit sich rang, was sie tun sollte, verstaute der Musikant seine Gitarre in dem Koffer, hob ihn auf und kam direkt auf Caro zu. „Sprich ihn an!“, raunte ihre Freundin Biggi ihr ins Ohr, aber Caro wagte es nicht. Da übernahm Biggi das Ruder. Sie trat dem Musiker in den Weg. „Lust auf ein Glas Wein?“, fragte sie ihn geradeheraus und in etwas holperigem Französisch. „Wir würden dich gern einladen.“ Er blieb stehen. Sein Blick streifte erst Biggis Gesicht, dann sah er Caro in die Augen. Es fühlte sich an, als würde er mit sehr sanften Händen ihr Herz umschließen. „Ich habe heute Nachmittag von einer großzügigen jungen Dame zehn Francs bekommen“, sagte er in reinem Hochdeutsch. „Wenn sie es erlaubt, würde ich gern sie dafür einladen.“ Caro nickte mechanisch. Ihre Gehirnwindungen waren wie blank poliert. Kein einziger Gedanke mehr in ihnen, außer: Jetzt also weiß ich, was für einen Akzent sein Französisch hat. Himmel, warum fühlte er sich plötzlich, als sei er aus Holz? Eine Stunde, nachdem die beiden Mädchen ihn angesprochen hatten und er mit ihnen in eine kleine Kneipe in der Nähe der Rue de la Republique gegangen war, wusste er nicht mehr, ob er nicht einen Riesenfehler gemacht hatte. Die Mädchen gaben sich wirklich Mühe, ein Gespräch in Gang zu halten, aber er konnte nur einsilbig und schüchtern antworten. Sie mussten ihn für einen trotteligen, ungepflegten Landstreicher halten, und im Grunde war er das ja auch. Das Mädchen, das sich ihm als Caro vorgestellt hatte, wich die ganze Zeit über seinen Blicken aus. Warum nur gingen die beiden nicht einfach und ließen ihn hier sitzen? 13 Zu allem Überfluss stand die Freundin jetzt auch noch auf, um zur Toilette zu gehen. Urplötzlich saß Robert Caro ganz allein gegenüber. „Du bist nicht besonders gesprächig, oder?“, fragte sie, nur um irgendwas zu sagen. Robert musste sie für ein Stück Holz halten, so schüchtern, wie sie die ganze Zeit war. Er errötete. „Nur mit der Gitarre in der Hand.“ „Sie gibt dir Sicherheit.“ „Ich kann durch sie hindurch mit den Menschen reden.“ Seine Augen waren weit und dunkel und so tief, dass Caro Angst hatte, sich in ihnen zu verlieren. „Erzähl mir von dir!“, forderte sie Robert auf. „Was machst du hier in Südfrankreich?“ Er zuckte unter ihrer Frage zusammen wie unter einer Ohrfeige. „Entschuldige“, murmelte sie. „Ich wollte nicht …“ „Ceratias holboelli“, sagte er schnell. Sie verstand nicht. Ein ganz leises Lächeln hob seine Mundwinkel. Es sah fast ein bisschen wehmütig aus. Traurig, dachte sie. Laut sagte sie: „Was bedeutet das?“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine Beine waren unter dem Tisch ausgestreckt, und sein linker Fuß berührte sie am Knöchel. „Tut mir leid!“ Er zog das Bein einen halben Zentimeter zurück, und sie vermisste im selben Sekundenbruchteil seine Berührung. „Ceratias holboelli ist ein Fisch. Das Männchen und das Weibchen sind sich ein Leben lang treu.“ „Aha.“ Caro wartete, was nun kommen würde. Als es Schweigen war, sagte sie leise: „Ein komisches Thema, findest du nicht?“ Er schüttelte den Kopf, sodass ihm seine zu langen Haare in die Augen fielen. Durch sie hindurch sah er Caro an. „Wenn sich ein Männchen und ein Weibchen gefunden 14 haben, verbeißt sich das Männchen in das Weibchen und wächst mit ihm zusammen. Am Ende teilen sie sogar den gleichen Blutkreislauf.“ Caro schluckte. „Klingt gruselig.“ Es klang nicht nur so. Was sollte das? Sie wurde nicht schlau aus ihm. Er legte beide Hände flach auf die Tischplatte. Links waren seine Fingernägel sehr kurz, rechts ein wenig länger, um damit die Saiten der Gitarre greifen zu können. Robert hielt die Luft an. Dann stieß er hervor: „Ich möchte einen Roman schreiben.“ Er hatte von diesem Traum noch niemandem erzählt, warum ausgerechnet ihr? Caros Miene hatte bei seinem sonderbaren Thema verwirrt gewirkt, fast ein bisschen ängstlich. Und auf einmal hatte er das Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass sie niemals wieder in ihrem Leben Angst haben musste. „Eine große Liebesgeschichte“, sagte er. „Ich habe eine große Liebesgeschichte im Kopf, und wenn ich sie aufschreibe, möchte ich ihr diesen Titel geben: Ceratias holboelli.“ Gleich, dachte er. Gleich steht sie auf und geht einfach. Was war er nur für ein Schwachkopf! Aber sie ging nicht. Sie nahm ihr Weinglas und drehte es zwischen den Handflächen. „Klingt nach etwas Literarischem“, sagte sie. Das Kondenswasser an der Außenseite des Glases netzte ihre Haut. Robert nickte. „Das soll es werden. Ich möchte neue Worte für Liebe erfinden. Warme Worte. Und gefährliche Worte. Rasiermesserscharfe.“ In Caros Brust krampfte sich das Herz zusammen. Das, was er sagte, berührten sie auf so sonderbar intensive Weise, dass sie es zum ersten Mal schaffte, seinem Blick 15 länger als ein paar Sekunden standzuhalten. „Hast du mit dem Roman schon angefangen?“ Er schüttelte den Kopf, sah verlegen aus. „Warum nicht?“, fragte sie. Er würde rasiermesserscharfe Worte finden, dachte sie. Er war absolut dazu in der Lage. Woher sie die Gewissheit nahm, wusste sie nicht. Er zuckte die Achseln, wirkte kurz, als wüsste er keine Erwiderung auf ihre Frage, aber dann antwortete er doch: „Ich habe Angst.“ Sie war ratlos, das konnte er ihr deutlich ansehen. Am liebsten hätte er das Thema gewechselt, aber das kam ihm feige vor. „Ich fürchte, alles, was ich hinbekomme, wird schnulzig“, sagte er. „Ich glaube, ich bin nicht gut in …“ Er verstummte, senkte die Lider. „… großen Gefühlen.“ Er wusste, er hätte noch etwas hinzufügen, sich erklären sollen, doch in diesem Moment trat ein Mann an ihren Tisch und erlöste ihn. Es war einer der Straßenverkäufer, die es in der Altstadt zu Hunderten gab. Anders als all die anderen aber, die versuchten, rote Rosen an den Mann zu bringen, verkaufte dieser hier herzförmige Wunderkerzen. Caro runzelte verständnislos die Stirn, als er eine davon Robert in die Hand drückte. Robert schaute das handtellergroße Herz an. Dann atmete er tief durch, nahm ein Franc-Stück aus seiner Jeanstasche und gab es dem Mann. Der Gesichtsausdruck, mit dem Robert die Wunderkerze ansah, wirkte, als habe er sich den Brustkorb geöffnet und das Herz daraus hervorgezogen. Caro nahm ihm das nur handtellergroße Ding weg. Es war verblüffend schwer, und es strömte einen schwachen, vertrauten Geruch aus. Nach Weihnachten und Familie und Geborgenheit. 16 „Gib mal.“ Robert streckte die Hand aus. Caro gab ihm die Wunderkerze zurück. Seine Fingerspitzen streiften ihre dabei. Sie erschauderte und sah zu, wie Robert ein Feuerzeug aus der Tasche nestelte. Er hielt die Flamme an die Spitze des Herzens. Mit einem leisen Zischen entflammte es. Gleißende Funken fraßen sich auf beiden Seiten des Herzens langsam nach oben, spiegelten sich in Roberts Pupillen. Dehnten die verstreichenden Sekunden zu endlosen Momenten, in denen es nur noch Caro und Robert gab und keinen einzigen anderen Menschen mehr auf dieser Welt. Nachdem die Funken versprüht waren, lag ein intensiver Geruch von verbranntem Metall in der Luft. Der Zauber des Augenblicks zerstob, als sich vom anderen Ende des Raumes Caros Freundin näherte. Durch den beißenden Qualm hindurch konnte Robert sehen, wie ein Schleier über Caros Miene fiel. Plötzlich wirkte sie verwirrt. War er ihr zu nahe getreten? Er ließ die abgebrannte Wunderkerze auf den Tisch fallen. Dann sprang er eilig von seinem Stuhl auf. „Ich muss …“ Hilflos zuckte er die Achseln. Weg hier!, war das Einzige, das er denken konnte. Er zog den Zehn-FrancSchein, den Caro ihm am Nachmittag gegeben hatte, aus seiner Hosentasche und warf ihn auf den Tisch. Dann, kurz bevor Caros Freundin sie erreicht hatte, drehte er sich um und verließ fluchtartig das Lokal. „Was war das denn gestern?“, fragte Caro Robert. Sie stand ihm in der Rue Bonneterie gegenüber – an fast genau derselben Stelle, an der Robert am Nachmittag zuvor auch schon gespielt hatte. Wieder nieselte es leicht, und das Wasser lief ihm in dünnen Bächen aus den Haaren und über Stirn und Wangen. 17 Seine Miene verschloss sich. War sie ihm zu nahe getreten? Er wirkte nicht begeistert, sie wiederzusehen. „Ich bin nicht besonders gut im Reden“, murmelte er. „Diese Wunderkerze, es war eine bescheuerte Idee, oder?“ Es war so romantisch, dachte Caro, aber sie biss sich auf die Lippe, um es nicht laut auszusprechen. Sie hatte nur noch einen Tag hier in Avignon. Sie wollte die Zeit so gut wie möglich nutzen. Mit einem Lächeln deutete sie auf Roberts Gitarre. „Der Regen wird sie noch völlig ruinieren.“ Er warf einen Blick auf das von einem feinen feuchten Film überzogene Instrument. „Ja. Vermutlich.“ „Warum spielst du dann bei diesem Wetter?“ Da erschien ein Funkeln in seinen Bernsteinaugen. „Vielleicht, weil ich gehofft habe, dich wiederzusehen.“ Zwei Stunden später saß er mit Caro auf den Stufen des Theaters am Place de l’Horloge. Die Musik des alten Karussells erfüllte die Luft, und das Juchzen und Lachen von ein paar Kindern, die auf den antiken Holzpferdchen im Kreis fuhren, gellte in Roberts Ohren. Sein Pulsschlag ging schnell und stolpernd, und er war dankbar dafür, dass Caro das Schweigen zwischen ihnen mit Worten zu füllen versuchte. Sie redete über die Schule, über ihre Freundinnen, ihre Kursfahrt in die Provence. „Du liebe Zeit“, unterbrach sie sich nach einer ganzen Weile. „Ich muss dir vorkommen wie eine kleine Schnatterente.“ Ihr verlegenes Lächeln nahm Robert die Luft. „Vielleicht mag ich Schnatterenten.“ Caro pustete sich gegen die Haare und fand die Geste gleich darauf unendlich dämlich. Sie musste zurück zu ihren Klassenkameradinnen. Wahrscheinlich vermissten die anderen sie schon. Außerdem bildete sich dumpfer Druck in ihrem Her- 18 zen. Morgen. Wenn sie es nicht schaffte, sich auf der Stelle von Robert zu verabschieden, würde sie morgen um ihn weinen. Zwei gute Gründe, auf der Stelle aufzustehen und fortzugehen. Trotzdem blieb sie sitzen. Wie konnte sie die wenigen Minuten, die ihr noch blieben, sinnvoll füllen? In einem der seltenen Augenblicke, in denen sie einmal die Luft angehalten hatte, hatte er ihr erzählt, dass er Literatur studieren wollte. Er war auf der Reise, um Land und Leute kennenzulernen, bevor er sich irgendwo einschreiben und sesshaft werden würde. Ihr Blick fiel auf ein schmales, aus bunten Wollfäden geflochtenes Band an seinem rechten Handgelenk. Zu gern hätte sie gewusst, ob zu Hause eine Freundin auf ihn wartete, aber sie traute sich nicht, diese Frage zu stellen. Zu viel hatte sie schon aus ihm herausgeholt. Sie hatte das Gefühl, mehr stünde ihr nicht zu. Er bemerkte, wohin sie schaute, starrte nun selbst auf das Bändchen. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht ihrem plötzlich ganz nah. Etwas in ihrer Brust verknäuelte sich. Robert hob die Hand, die Farben des Bändchens verschwammen vor ihren Augen, als er ihre Wange berührte. Seine Finger waren eisig. „Ist dir kalt?“ Sie konnte nur noch flüstern. Er schüttelte den Kopf. Die Bernsteinflecken in seinen Augen sahen aus wie kleine Funken. Sie rührte sich nicht. Auch nicht, als er seine Lippen ihrem Gesicht so sehr näherte, dass sie seinen Atem spüren musste. Auch nicht, als er sie – ganz vorsichtig und zart – küsste. Ihre Lippen schmeckten nach Erdbeeren. In seiner Brust löste sich ein Knoten, von dem er bisher gar nicht gewusst hatte, dass er existierte. 19 Caro spürte Roberts Kuss tief in ihrem Herzen, doch dann gewann die mahnende Stimme in ihr die Oberhand. Sie sprang auf. Robert zuckte zurück. „Bin ich dir zu nahe …“ Er brach ab. Sah fürchterlich erschrocken aus. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der nahe Abschied schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf, wusste nicht, ob er ihr glauben würde. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. Robert sah sie. Seine Lippen wurden zu schmalen Strichen, dann seufzte er sehr tief. Mit den Fingernägeln begann er, den Knoten des Bändchens aufzunesteln. Es ging nur mühsam, weil sich das Bändchen an seiner rechten Hand befand und die Nägel an der linken so kurz waren. Caro sah zu, wie er sich damit abmühte. Als er es geschafft hatte, reichte er ihr das Band auf der flachen Hand. Wie ein Geschenk, dachte Caro. Ein Abschiedsgeschenk. Sie sah sich selbst in zehn Jahren, sah das Bändchen vergilbt in einer Schmuckschatulle auf ihrer Kommode. „Was …“, krächzte sie. „Du hast gesagt, ihr fahrt morgen Mittag. Sehen wir uns morgen früh noch einmal?“ Nein!, wollte Caro rufen, ihr Herz tat jetzt schon viel zu sehr weh. Aber sie nickte. Mit einer mechanischen Bewegung nahm sie das Bändchen. „An der Ecke in der Rue Bonneterie“, sagte sie. Sie musste sich beeilen! Caros Füße flogen über das unebene Pflaster der Altstadt. Der Morgen hatte mit einer schlechten Nachricht begonnen. Ihr Französischlehrer hatte verkündet, dass der Plan geändert worden war. Sie würden nicht erst um 20 zwölf Uhr nach Hause fahren, sondern schon um neun. Caro blieben nur noch knapp fünfundvierzig Minuten, um Robert Lebewohl zu sagen, um ihm zu verraten, dass sie die ganze Nacht über nicht geschlafen hatte, weil sie an ihn hatte denken müssen. Um Adressen und Telefonnummern mit ihm auszutauschen. Ihr Herz raste. Hoffentlich war er schon auf seinem Posten in der Rue Bonneterie! Caro schlidderte um eine Hausecke. Blieb stehen. Der Platz gegenüber dem Café war leer. Keine Spur von Robert. Ihr wurde die Kehle so unendlich eng, dass es wehtat. Sein Bändchen lag zusammengeknüllt in ihrer Linken. Komm!, flehte sie im Stillen. Komm her! Jetzt! Aber sie wurde nicht erhört. Mehr als zehn Minuten stand sie in der Gasse, starrte auf vorbeihastende Menschen und den silbrigen Stamm einer Platane, die ihre Schattenblätter über Hauswände und Dächer tanzen ließ. Sie stand auch noch da, als sie schon längst hätte zurück bei den anderen sein müssen, als sie Gefahr lief, dass ihr Kurs ohne sie fahren würde. Robert kam nicht. Sie schloss die Faust um das Bändchen. Schließlich blieb ihr keine andere Wahl mehr. Schweren Herzens zog sie einen alten Kassenbon aus ihrem Portemonnaie und einen Kugelschreiber aus ihrer Umhängetasche. Dann kritzelte sie ein paar eilige Zeilen auf die Rückseite des zerknitterten Papiers. Robert! Musste eher fahren. Tut mir leid! Sie zögerte. Dann fügte sie hinzu: 21 Würde dir gern Regenperlen schenken. Und setzte ihre Telefonnummer und Adresse darunter. Sie faltete den Zettel zusammen, wickelte ihn in das Armband ein und hängte es an eine der eisernen Zaunspitzen, direkt neben die Stelle, an der Robert gestanden hatte, als sie ihn das allererste Mal gesehen hatte. Dort würde er ihn sehen und sich melden. Hoffte sie. Sie warf einen letzten Blick auf das Arrangement. Dann kehrte sie zu den anderen zurück. Der Mistral ist ein boshafter Wind, sagen die Einheimischen, und gäbe es nicht Millionen von Geschichten über diese Bosheit, hätte allein diese ausgereicht: Eine kalte Windböe erfasste Caros Zettel, riss an ihm. Befreite ihn aus der Schlaufe des Armbandes, ließ ihn zu Boden fallen und wie ein welkes Blatt davontaumeln. Als Robert gegen Mittag zum vereinbarten Treffpunkt kam, fiel sein Blick sofort auf das bunte Bändchen am Zaun. Lange Zeit betrachtete er es, bevor er es abnahm. Zu verstehen glaubte. Es in die Tasche seiner Jeans steckte. Schwerfällig griff er nach der Gitarre. Seine Fingerspitzen zitterten über die Saiten. Ne me quitte pas. Der Robert dieser Geschichte ist Bob Wagner, der Vater von Juli aus der Herz aus Glas-Trilogie. Nach dieser Begegnung in den Gassen von Avignon hat er sich schließlich ein Herz gefasst – und seinen ersten Liebesroman geschrieben. Das Buch hatte den Titel Ceratias holboelli. Es trug die Widmung Für C. Regenperlen für dich. 22
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