Flammen - Kathrin Lange

Herz
in
Kathrin Lange
Flammen
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Kathrin Lange
Herz in Flammen
Herz
in
Kathrin Lange
Flammen
Eine Kurzgeschichte
zur Herz aus Glas-Trilogie
1. Auflage 2015
© Kathrin Lange
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche
Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herstellung: Kathrin Lange
Lektorat: Birgit Rentz, Itzehoe
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Motivs von fotolia
Umschlagmotiv: Heart shaped firework @ fotolia.com
Für das Team
vom Arena Verlag.
Avignon. Mai 1987.
Der Straßenmusikant stand an einer Hausecke, spielte
Gitarre und sang dazu französische Chansons. Caro
fragte sich, wie er die eisigen Windböen aushielt, die ihm
von hinten ins Genick bliesen. Er schien nicht zu frieren,
obwohl er über seiner schmutzigen Jeans nur eine dünne
Jacke trug – und darunter ein ebenfalls ziemlich schmutziges T-Shirt.
Sie saß in einem Straßencafé in der Rue Bonneterie
inmitten von Avignons Altstadt. Vor ihr stand ein Milchkaffee, und um ihre Schultern hatte sie zwei der dicksten Pullover geschlungen, die sie in diesen verkorksten
Südfrankreich-Urlaub mitgenommen hatte. Für die Jahreszeit – es war Ende Mai – war es ungewöhnlich kalt in der
Provence.
Ihr Blick wanderte wieder zu dem Musikanten. Seine
Finger tanzten geschickt über die Saiten seines Instruments.
Schlank war er, fast zu mager, so als würde er nicht regelmäßig etwas zu essen bekommen. Obwohl die Sonne seit
Tagen nicht geschienen hatte, schimmerte seine Haut in
einem sanften Karamellbraun. Vor ein paar Minuten hatte
er ein Stück von Jacques Brel gesungen: Ne me quitte pas.
Verlass mich nicht.
Dabei hatte sein Blick zufällig Caro gestreift. Er hatte sie
angelächelt.
Jetzt klang seine Stimme noch ein bisschen weicher, und
während sein Lied davon erzählte, dass er seiner Liebsten Regenperlen mitbringen würde aus einem Land ohne
Regen, hatte Caro das Gefühl, er singe nur noch für sie.
Sein Französisch hatte einen ganz eigenartigen Akzent,
einen, den sie nicht auf Anhieb einordnen konnte.
Robert zog den bunt bestickten Gitarrenriemen über
den Kopf und setzte sein Instrument ab. Er musste sich
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beherrschen, um nicht zu zittern. Dieser verflixte Mistral
war wirklich die Pest! Der eisige Wind ging durch seine
Klamotten wie durch eines der brüchigen Fischernetze
weiter südlich am Meer.
Aus einer kleinen Wasserflasche, die zu seinen Füßen
stand, trank Robert einen Schluck, und dabei wanderte
sein Blick erneut zu dem jungen Mädchen in dem Straßencafé.
Warum sie nicht einfach reinging und sich ihren Café
au Lait dort schmecken ließ? Ihr schien ebenso kalt zu sein
wie ihm, trotzdem lauschte sie weiter seiner Musik. Ihm
gefiel der Gedanke, dass sie seinetwegen fror.
In seinem Gitarrenkoffer, den er aufgeklappt vor sich
liegen hatte, lagen nur ein paar läppische Franc- und Centimes-Münzen. Das ekelige Wetter machte die wenigen
Touristen mürrisch. Den Menschen war die Lust vergangen, dem Gesang eines schmutzigen Straßenmusikanten
wie ihm zu lauschen.
Robert stellte die Flasche fort, streifte sich den Gitarrenriemen wieder über, und während er überlegte, was er als
Nächstes spielen sollte, klimperte er ein paar zusammenhanglose Töne.
Seine Augen waren braun.
Nachdem er seine Gitarre wieder umgehängt hatte und
die Finger in einem schnellen Rhythmus über die Saiten
tanzen ließ, erkannte Caro kurz darauf den Chanson pour
l’auvergnat, eine Art sozialkritisches Lied über die Gier
unter den Menschen. Es begann mit den Worten: Elle est à
toi cette chanson.
Es ist für dich, dieses Lied.
Als der junge Mann diese Zeile sang und Caro dabei
direkt in die Augen sah, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass
er es wegen dieser ersten Zeile ausgesucht hatte.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie spürte, wie sie rot
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wurde, und als sich seine Mundwinkel hoben, senkte sie
rasch den Blick in ihre halb leere Tasse. Ein paar Sekunden später lugte sie vorsichtig zwischen ihren Haaren hindurch in seine Richtung. Er zwinkerte ihr zu, und plötzlich
wusste sie nicht mehr, wohin mit ihren Händen.
Sie tat, als müsse sie dringend die Details der Caféhausfassade studieren.
Die Minuten verstrichen. Der Musikant spielte zwei
weitere Chansons. Er musste dafür unter eine Markise
zurückweichen, weil ein haarfeiner Nieselregen eingesetzt
hatte. Nicht gut für die Gitarre, dachte Caro. Zwei Mal
noch ließ sie den Blick in seine Richtung schweifen, aber
er hatte sich jetzt von ihr abgewandt. Sie sah nur noch sein
Profil. Eine schmale Nase. Die Wangenknochen beschrieben einen Aufwärtsbogen.
Der Regen würde ihm das Instrument ruinieren!
Zwischen zwei Liedern biss Robert sich auf die Unterlippe. Warum war er eigentlich noch hier? Heute würde
er keinen müden Heller mehr verdienen. Er hätte längst
seine Sachen packen und von hier verschwinden sollen.
Sich einen Unterschlupf suchen, in dem er wenigstens vor
dem Regen Schutz fand. Ein weiterer Windstoß packte ihn
und hätte ihn beinahe ins Stolpern gebracht.
Caro fasste einen Entschluss. Sie legte das Geld für ihren
Kaffee unter das kleine Silbertablett, auf dem die Tasse
gebracht worden war. Dann packte sie ihre Tasche, schlang
sich den Riemen über die Schulter und ging mit leicht zittrigen Knien zu dem jungen Straßenmusikanten hinüber.
„Du spielst sehr schön“, sagte sie auf Französisch zu
ihm, und weil es sonderbar aufregend war, ihm plötzlich
so nahe zu sein, wich sie seinem forschenden Blick aus.
Stattdessen bückte sie sich und legte einen Zehn-FrancSchein in den Gitarrenkoffer.
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Er nickte ihr seinen Dank schweigend zu. Seine Fingerspitzen strichen über die Saiten der Gitarre, und Caro
ertappte sich bei dem Gedanken, wie es sich anfühlen
mochte, wenn er stattdessen sie streichelte.
Erneut musste sie schlucken. In seinen braunen Augen
schwammen kleine goldene Einsprengsel. Wie bei einem
Bernstein.
Sag was!, dachte sie. Gib mir einen Grund, noch einen
Moment zu bleiben.
Aber er sagte nichts. Und so ging sie.
Das Universum schien der Meinung zu sein, dass das noch
nicht alles gewesen sein konnte. Noch am selben Abend
sah Caro den Gitarrenspieler wieder.
Sie war auf dem Weg in die Altstadt – zusammen mit
ein paar Freundinnen aus ihrem Französisch-Leistungskurs, mit dem sie auf Kursfahrt in der Provence war. Als
sie an einer Ecke der Rue de la Republique Ne me quitte pas
hörte, blieb sie stehen. Der Musikant lehnte an einer niedrigen Mauer. Sein Gitarrenkoffer war noch genauso leer
wie am Nachmittag. Und noch immer war es empfindlich kalt, wenn auch der Nieselregen aufgehört hatte. Der
Mistral wehte eine weggeworfene Zeitung quer über den
Platz und wickelte sie um einen der dünnen Baumstämme.
Die Blicke des Musikanten schweiften über die wenigen
Passanten, und als er Caro entdeckte, senkte er rasch den
Kopf. Eine Sekunde später schaute er wieder auf, zwinkerte ihr ein weiteres Mal zu.
Caros Herz wurde schwer. Eine tiefe, bittersüße Melancholie erfüllte ihr Innerstes, weil sie wusste, dass sie nicht
mehr lange in Avignon sein würde. Am übernächsten Tag
würde sie mit ihrem Kurs nach Deutschland zurückkehren. Ein Instinkt sagte ihr, dass es besser wäre, weiterzugehen, sich nicht in den braunen Augen dieses jungen
Mannes zu verlieren, weil es ohne jeden Zweifel schon
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sehr bald Tränen bedeuten würde, wenn sie ihn zu dicht
an sich heranließ.
Noch während sie mit sich rang, was sie tun sollte, verstaute der Musikant seine Gitarre in dem Koffer, hob ihn
auf und kam direkt auf Caro zu.
„Sprich ihn an!“, raunte ihre Freundin Biggi ihr ins Ohr,
aber Caro wagte es nicht. Da übernahm Biggi das Ruder.
Sie trat dem Musiker in den Weg.
„Lust auf ein Glas Wein?“, fragte sie ihn geradeheraus
und in etwas holperigem Französisch. „Wir würden dich
gern einladen.“
Er blieb stehen. Sein Blick streifte erst Biggis Gesicht,
dann sah er Caro in die Augen. Es fühlte sich an, als würde
er mit sehr sanften Händen ihr Herz umschließen. „Ich habe
heute Nachmittag von einer großzügigen jungen Dame
zehn Francs bekommen“, sagte er in reinem Hochdeutsch.
„Wenn sie es erlaubt, würde ich gern sie dafür einladen.“
Caro nickte mechanisch. Ihre Gehirnwindungen waren
wie blank poliert. Kein einziger Gedanke mehr in ihnen,
außer: Jetzt also weiß ich, was für einen Akzent sein Französisch hat.
Himmel, warum fühlte er sich plötzlich, als sei er aus Holz?
Eine Stunde, nachdem die beiden Mädchen ihn angesprochen hatten und er mit ihnen in eine kleine Kneipe in
der Nähe der Rue de la Republique gegangen war, wusste
er nicht mehr, ob er nicht einen Riesenfehler gemacht hatte.
Die Mädchen gaben sich wirklich Mühe, ein Gespräch in
Gang zu halten, aber er konnte nur einsilbig und schüchtern antworten. Sie mussten ihn für einen trotteligen,
ungepflegten Landstreicher halten, und im Grunde war er
das ja auch. Das Mädchen, das sich ihm als Caro vorgestellt hatte, wich die ganze Zeit über seinen Blicken aus.
Warum nur gingen die beiden nicht einfach und ließen ihn
hier sitzen?
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Zu allem Überfluss stand die Freundin jetzt auch noch
auf, um zur Toilette zu gehen. Urplötzlich saß Robert Caro
ganz allein gegenüber.
„Du bist nicht besonders gesprächig, oder?“, fragte sie, nur
um irgendwas zu sagen. Robert musste sie für ein Stück
Holz halten, so schüchtern, wie sie die ganze Zeit war.
Er errötete. „Nur mit der Gitarre in der Hand.“
„Sie gibt dir Sicherheit.“
„Ich kann durch sie hindurch mit den Menschen reden.“
Seine Augen waren weit und dunkel und so tief, dass Caro
Angst hatte, sich in ihnen zu verlieren.
„Erzähl mir von dir!“, forderte sie Robert auf. „Was
machst du hier in Südfrankreich?“
Er zuckte unter ihrer Frage zusammen wie unter einer
Ohrfeige.
„Entschuldige“, murmelte sie. „Ich wollte nicht …“
„Ceratias holboelli“, sagte er schnell.
Sie verstand nicht.
Ein ganz leises Lächeln hob seine Mundwinkel. Es sah
fast ein bisschen wehmütig aus. Traurig, dachte sie. Laut
sagte sie: „Was bedeutet das?“
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine Beine
waren unter dem Tisch ausgestreckt, und sein linker Fuß
berührte sie am Knöchel. „Tut mir leid!“ Er zog das Bein
einen halben Zentimeter zurück, und sie vermisste im selben Sekundenbruchteil seine Berührung. „Ceratias holboelli ist ein Fisch. Das Männchen und das Weibchen sind
sich ein Leben lang treu.“
„Aha.“ Caro wartete, was nun kommen würde. Als es
Schweigen war, sagte sie leise: „Ein komisches Thema, findest du nicht?“
Er schüttelte den Kopf, sodass ihm seine zu langen
Haare in die Augen fielen. Durch sie hindurch sah er Caro
an. „Wenn sich ein Männchen und ein Weibchen gefunden
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haben, verbeißt sich das Männchen in das Weibchen und
wächst mit ihm zusammen. Am Ende teilen sie sogar den
gleichen Blutkreislauf.“
Caro schluckte. „Klingt gruselig.“
Es klang nicht nur so. Was sollte das? Sie wurde nicht
schlau aus ihm.
Er legte beide Hände flach auf die Tischplatte. Links
waren seine Fingernägel sehr kurz, rechts ein wenig länger, um damit die Saiten der Gitarre greifen zu können.
Robert hielt die Luft an. Dann stieß er hervor: „Ich möchte
einen Roman schreiben.“
Er hatte von diesem Traum noch niemandem erzählt,
warum ausgerechnet ihr? Caros Miene hatte bei seinem
sonderbaren Thema verwirrt gewirkt, fast ein bisschen
ängstlich. Und auf einmal hatte er das Bedürfnis, dafür
zu sorgen, dass sie niemals wieder in ihrem Leben Angst
haben musste.
„Eine große Liebesgeschichte“, sagte er. „Ich habe eine
große Liebesgeschichte im Kopf, und wenn ich sie aufschreibe, möchte ich ihr diesen Titel geben: Ceratias holboelli.“
Gleich, dachte er. Gleich steht sie auf und geht einfach.
Was war er nur für ein Schwachkopf!
Aber sie ging nicht. Sie nahm ihr Weinglas und drehte
es zwischen den Handflächen. „Klingt nach etwas Literarischem“, sagte sie. Das Kondenswasser an der Außenseite
des Glases netzte ihre Haut.
Robert nickte. „Das soll es werden. Ich möchte neue Worte
für Liebe erfinden. Warme Worte. Und gefährliche Worte.
Rasiermesserscharfe.“
In Caros Brust krampfte sich das Herz zusammen. Das,
was er sagte, berührten sie auf so sonderbar intensive
Weise, dass sie es zum ersten Mal schaffte, seinem Blick
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länger als ein paar Sekunden standzuhalten. „Hast du mit
dem Roman schon angefangen?“
Er schüttelte den Kopf, sah verlegen aus.
„Warum nicht?“, fragte sie. Er würde rasiermesserscharfe Worte finden, dachte sie. Er war absolut dazu in
der Lage. Woher sie die Gewissheit nahm, wusste sie nicht.
Er zuckte die Achseln, wirkte kurz, als wüsste er keine
Erwiderung auf ihre Frage, aber dann antwortete er doch:
„Ich habe Angst.“
Sie war ratlos, das konnte er ihr deutlich ansehen. Am
liebsten hätte er das Thema gewechselt, aber das kam ihm
feige vor.
„Ich fürchte, alles, was ich hinbekomme, wird schnulzig“, sagte er. „Ich glaube, ich bin nicht gut in …“ Er verstummte, senkte die Lider. „… großen Gefühlen.“ Er
wusste, er hätte noch etwas hinzufügen, sich erklären
sollen, doch in diesem Moment trat ein Mann an ihren
Tisch und erlöste ihn. Es war einer der Straßenverkäufer,
die es in der Altstadt zu Hunderten gab. Anders als all die
anderen aber, die versuchten, rote Rosen an den Mann zu
bringen, verkaufte dieser hier herzförmige Wunderkerzen.
Caro runzelte verständnislos die Stirn, als er eine davon
Robert in die Hand drückte.
Robert schaute das handtellergroße Herz an. Dann
atmete er tief durch, nahm ein Franc-Stück aus seiner
Jeans­tasche und gab es dem Mann.
Der Gesichtsausdruck, mit dem Robert die Wunderkerze
ansah, wirkte, als habe er sich den Brustkorb geöffnet und
das Herz daraus hervorgezogen.
Caro nahm ihm das nur handtellergroße Ding weg. Es
war verblüffend schwer, und es strömte einen schwachen,
vertrauten Geruch aus. Nach Weihnachten und Familie
und Geborgenheit.
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„Gib mal.“ Robert streckte die Hand aus. Caro gab ihm
die Wunderkerze zurück. Seine Fingerspitzen streiften
ihre dabei. Sie erschauderte und sah zu, wie Robert ein
Feuerzeug aus der Tasche nestelte. Er hielt die Flamme
an die Spitze des Herzens. Mit einem leisen Zischen entflammte es.
Gleißende Funken fraßen sich auf beiden Seiten des Herzens langsam nach oben, spiegelten sich in Roberts Pupillen. Dehnten die verstreichenden Sekunden zu endlosen
Momenten, in denen es nur noch Caro und Robert gab und
keinen einzigen anderen Menschen mehr auf dieser Welt.
Nachdem die Funken versprüht waren, lag ein intensiver
Geruch von verbranntem Metall in der Luft.
Der Zauber des Augenblicks zerstob, als sich vom anderen Ende des Raumes Caros Freundin näherte. Durch den
beißenden Qualm hindurch konnte Robert sehen, wie ein
Schleier über Caros Miene fiel.
Plötzlich wirkte sie verwirrt. War er ihr zu nahe getreten?
Er ließ die abgebrannte Wunderkerze auf den Tisch
fallen. Dann sprang er eilig von seinem Stuhl auf. „Ich
muss …“ Hilflos zuckte er die Achseln. Weg hier!, war das
Einzige, das er denken konnte. Er zog den Zehn-FrancSchein, den Caro ihm am Nachmittag gegeben hatte, aus
seiner Hosentasche und warf ihn auf den Tisch.
Dann, kurz bevor Caros Freundin sie erreicht hatte,
drehte er sich um und verließ fluchtartig das Lokal.
„Was war das denn gestern?“, fragte Caro Robert. Sie stand
ihm in der Rue Bonneterie gegenüber – an fast genau derselben Stelle, an der Robert am Nachmittag zuvor auch
schon gespielt hatte. Wieder nieselte es leicht, und das
Wasser lief ihm in dünnen Bächen aus den Haaren und
über Stirn und Wangen.
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Seine Miene verschloss sich. War sie ihm zu nahe getreten? Er wirkte nicht begeistert, sie wiederzusehen.
„Ich bin nicht besonders gut im Reden“, murmelte er.
„Diese Wunderkerze, es war eine bescheuerte Idee, oder?“
Es war so romantisch, dachte Caro, aber sie biss sich
auf die Lippe, um es nicht laut auszusprechen. Sie hatte
nur noch einen Tag hier in Avignon. Sie wollte die Zeit so
gut wie möglich nutzen. Mit einem Lächeln deutete sie auf
Roberts Gitarre. „Der Regen wird sie noch völlig ruinieren.“
Er warf einen Blick auf das von einem feinen feuchten
Film überzogene Instrument. „Ja. Vermutlich.“
„Warum spielst du dann bei diesem Wetter?“
Da erschien ein Funkeln in seinen Bernsteinaugen.
„Vielleicht, weil ich gehofft habe, dich wiederzusehen.“
Zwei Stunden später saß er mit Caro auf den Stufen des
Theaters am Place de l’Horloge. Die Musik des alten
Karussells erfüllte die Luft, und das Juchzen und Lachen
von ein paar Kindern, die auf den antiken Holzpferdchen
im Kreis fuhren, gellte in Roberts Ohren. Sein Pulsschlag
ging schnell und stolpernd, und er war dankbar dafür,
dass Caro das Schweigen zwischen ihnen mit Worten
zu füllen versuchte. Sie redete über die Schule, über ihre
Freundinnen, ihre Kursfahrt in die Provence.
„Du liebe Zeit“, unterbrach sie sich nach einer ganzen Weile. „Ich muss dir vorkommen wie eine kleine
Schnatterente.“
Ihr verlegenes Lächeln nahm Robert die Luft. „Vielleicht
mag ich Schnatterenten.“
Caro pustete sich gegen die Haare und fand die Geste
gleich darauf unendlich dämlich. Sie musste zurück zu
ihren Klassenkameradinnen. Wahrscheinlich vermissten
die anderen sie schon.
Außerdem bildete sich dumpfer Druck in ihrem Her-
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zen. Morgen. Wenn sie es nicht schaffte, sich auf der Stelle
von Robert zu verabschieden, würde sie morgen um ihn
weinen.
Zwei gute Gründe, auf der Stelle aufzustehen und fortzugehen.
Trotzdem blieb sie sitzen. Wie konnte sie die wenigen
Minuten, die ihr noch blieben, sinnvoll füllen?
In einem der seltenen Augenblicke, in denen sie einmal
die Luft angehalten hatte, hatte er ihr erzählt, dass er Literatur studieren wollte. Er war auf der Reise, um Land und
Leute kennenzulernen, bevor er sich irgendwo einschreiben und sesshaft werden würde.
Ihr Blick fiel auf ein schmales, aus bunten Wollfäden
geflochtenes Band an seinem rechten Handgelenk. Zu
gern hätte sie gewusst, ob zu Hause eine Freundin auf ihn
wartete, aber sie traute sich nicht, diese Frage zu stellen.
Zu viel hatte sie schon aus ihm herausgeholt. Sie hatte das
Gefühl, mehr stünde ihr nicht zu.
Er bemerkte, wohin sie schaute, starrte nun selbst auf
das Bändchen. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht
ihrem plötzlich ganz nah. Etwas in ihrer Brust verknäuelte
sich. Robert hob die Hand, die Farben des Bändchens verschwammen vor ihren Augen, als er ihre Wange berührte.
Seine Finger waren eisig.
„Ist dir kalt?“ Sie konnte nur noch flüstern.
Er schüttelte den Kopf. Die Bernsteinflecken in seinen
Augen sahen aus wie kleine Funken.
Sie rührte sich nicht.
Auch nicht, als er seine Lippen ihrem Gesicht so sehr
näherte, dass sie seinen Atem spüren musste. Auch nicht,
als er sie – ganz vorsichtig und zart – küsste.
Ihre Lippen schmeckten nach Erdbeeren.
In seiner Brust löste sich ein Knoten, von dem er bisher
gar nicht gewusst hatte, dass er existierte.
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Caro spürte Roberts Kuss tief in ihrem Herzen, doch dann
gewann die mahnende Stimme in ihr die Oberhand. Sie
sprang auf.
Robert zuckte zurück. „Bin ich dir zu nahe …“ Er brach
ab. Sah fürchterlich erschrocken aus.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der nahe Abschied
schnürte ihr die Kehle zu. Sie schüttelte den Kopf, wusste
nicht, ob er ihr glauben würde.
Plötzlich standen Tränen in ihren Augen.
Robert sah sie. Seine Lippen wurden zu schmalen
Strichen, dann seufzte er sehr tief. Mit den Fingernägeln
begann er, den Knoten des Bändchens aufzunesteln. Es
ging nur mühsam, weil sich das Bändchen an seiner rechten Hand befand und die Nägel an der linken so kurz
waren.
Caro sah zu, wie er sich damit abmühte.
Als er es geschafft hatte, reichte er ihr das Band auf
der flachen Hand. Wie ein Geschenk, dachte Caro. Ein
Abschiedsgeschenk. Sie sah sich selbst in zehn Jahren, sah
das Bändchen vergilbt in einer Schmuckschatulle auf ihrer
Kommode.
„Was …“, krächzte sie.
„Du hast gesagt, ihr fahrt morgen Mittag. Sehen wir uns
morgen früh noch einmal?“
Nein!, wollte Caro rufen, ihr Herz tat jetzt schon viel zu
sehr weh.
Aber sie nickte. Mit einer mechanischen Bewegung
nahm sie das Bändchen. „An der Ecke in der Rue Bonneterie“, sagte sie.
Sie musste sich beeilen!
Caros Füße flogen über das unebene Pflaster der Altstadt. Der Morgen hatte mit einer schlechten Nachricht
begonnen. Ihr Französischlehrer hatte verkündet, dass
der Plan geändert worden war. Sie würden nicht erst um
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zwölf Uhr nach Hause fahren, sondern schon um neun.
Caro blieben nur noch knapp fünfundvierzig Minuten,
um Robert Lebewohl zu sagen, um ihm zu verraten, dass
sie die ganze Nacht über nicht geschlafen hatte, weil sie an
ihn hatte denken müssen. Um Adressen und Telefonnummern mit ihm auszutauschen.
Ihr Herz raste.
Hoffentlich war er schon auf seinem Posten in der Rue
Bonneterie!
Caro schlidderte um eine Hausecke. Blieb stehen.
Der Platz gegenüber dem Café war leer. Keine Spur von
Robert.
Ihr wurde die Kehle so unendlich eng, dass es wehtat.
Sein Bändchen lag zusammengeknüllt in ihrer Linken.
Komm!, flehte sie im Stillen. Komm her! Jetzt!
Aber sie wurde nicht erhört. Mehr als zehn Minuten
stand sie in der Gasse, starrte auf vorbeihastende Menschen und den silbrigen Stamm einer Platane, die ihre
Schattenblätter über Hauswände und Dächer tanzen ließ.
Sie stand auch noch da, als sie schon längst hätte zurück
bei den anderen sein müssen, als sie Gefahr lief, dass ihr
Kurs ohne sie fahren würde.
Robert kam nicht.
Sie schloss die Faust um das Bändchen. Schließlich blieb
ihr keine andere Wahl mehr. Schweren Herzens zog sie
einen alten Kassenbon aus ihrem Portemonnaie und einen
Kugelschreiber aus ihrer Umhängetasche. Dann kritzelte
sie ein paar eilige Zeilen auf die Rückseite des zerknitterten Papiers.
Robert!
Musste eher fahren. Tut mir leid!
Sie zögerte. Dann fügte sie hinzu:
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Würde dir gern Regenperlen schenken.
Und setzte ihre Telefonnummer und Adresse darunter.
Sie faltete den Zettel zusammen, wickelte ihn in das
Armband ein und hängte es an eine der eisernen Zaunspitzen, direkt neben die Stelle, an der Robert gestanden
hatte, als sie ihn das allererste Mal gesehen hatte. Dort
würde er ihn sehen und sich melden.
Hoffte sie.
Sie warf einen letzten Blick auf das Arrangement. Dann
kehrte sie zu den anderen zurück.
Der Mistral ist ein boshafter Wind, sagen die Einheimischen,
und gäbe es nicht Millionen von Geschichten über diese
Bosheit, hätte allein diese ausgereicht: Eine kalte Windböe
erfasste Caros Zettel, riss an ihm. Befreite ihn aus der
Schlaufe des Armbandes, ließ ihn zu Boden fallen und wie
ein welkes Blatt davontaumeln.
Als Robert gegen Mittag zum vereinbarten Treffpunkt
kam, fiel sein Blick sofort auf das bunte Bändchen am
Zaun. Lange Zeit betrachtete er es, bevor er es abnahm.
Zu verstehen glaubte. Es in die Tasche seiner Jeans steckte.
Schwerfällig griff er nach der Gitarre. Seine Fingerspitzen zitterten über die Saiten.
Ne me quitte pas.
Der Robert dieser Geschichte ist Bob Wagner, der Vater von Juli aus
der Herz aus Glas-Trilogie. Nach dieser Begegnung in den Gassen von
Avignon hat er sich schließlich ein Herz gefasst – und seinen ersten
Liebesroman geschrieben.
Das Buch hatte den Titel Ceratias holboelli. Es trug die Widmung
Für C.
Regenperlen für dich.
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