N ° 12 — 21. M Ä R Z 2015 DER UTOPIST Chrigel Vaterlaus kämpfte in den 80ern für ein anderes Zürich. Jetzt verändert er Sansibar. WARUM SIND DIE MEISTEN SCHWEIZER FILME SO SCHLECHT? S. 28 WARUM SCHLIESSEN SICH JUGENDLICHE AUS DEM WESTEN DEM IS AN? S. 20 Echte Jäger wissen, wann sie zuschlagen müssen. Der neue CLA Shooting Brake für CHF 279.–/Mt.* Der neue CLA Shooting Brake vereint das Beste aus zwei Welten – die Sportlichkeit eines Coupés mit dem Raumangebot eines Kombis. Und mit seinem tiefen CO2-Wert denkt er auch an die Umwelt. Wählen Sie zwischen Front- und unserem Allradantrieb 4MATIC und nutzen Sie unsere attraktiven Flottenkonditionen. 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Eine Gesellschaft ohne Utopien wäre schon selbst eine Utopie, weshalb es nicht stimmt, wie oft behauptet wird, dass es keine Utopien mehr gibt. Freilich ist es so, dass die meisten Menschen mit grossen gesellschaftlichen oder persönlichen Utopien im Verlaufe ihres Lebens irgendwann ausgebremst werden. Sie ordnen sich ein in den Schwarm der glücklich oder unglücklich Geknickten eines kapitalistischen Systems, das alles überspannt. In diesem Heft porträtiert mein Kollege Christian Schmidt in der Titelgeschichte (ab S. 10) einen, der bis heute geblieben ist, wer er war, als er als Jugendlicher im repressiven Zürich der Achtzigerjahre mehr Freiraum forderte: Christian Vaterlaus wollte die Welt immer verbessern, die Formulie- rung klingt beinahe ironisch, auch wenn sie der Wahrheit entspricht. In Zürich haben er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter vieles bewegt. «Chrigel», aus privilegierten Verhältnissen stammend, hätte danach Karriere machen können. Er wollte aber nicht. Heute lebt er die meiste Zeit in Tansania, und wieder will er einen Flecken Welt auf seine eigene, beharrliche Art verbessern. Wer Utopien oder Visionen hat, braucht keinen Arzt, wie Helmut Schmidt einst spottete, sondern Verbündete. Finn Canonica S. 10Der gute Mensch von Sansibar: ein Zürcher und seine kleine Utopie in Afrika. Von Christian Schmidt S. 20«Chrieg» als Vorbild: Der Schweizer Film braucht eine bessere Drehbuchförderung. Von Denise Bucher S. 28«In Europa wird eine Jugend produziert, die nichts mehr zu verlieren hat.» Daniel Binswanger im Gespräch mit dem französischen Islamwissenschaftler Olivier Roy „Die Verführerische...“ ...ein ganz individueller Charakter – wie alle 15 Connaisseurs-Pralinés. Schenken Sie Connaisseurs, die wertvollsten Meisterwerke unserer Maîtres Chocolatiers. 3 KOMMENTAR DIE TEFLONREAKTION DER SCHWEIZER Bundesrat nur den Auftrag hatte, die Kooperation zu untersuchen). Neu sind diese Zurechtrückungen, die Maissen in knappen Kapiteln und auf dem Stand der Forschung vorexerziert, weiss Gott nicht. Da das breite Publikum jedoch mit heiliger Sturheit von Rütlischwur und Reduit-Schweiz nicht lassen will, bleibt das Insistieren auf der Wahrheit des schon lange Ausgewiesenen verdienstvoll. Peter von Matt hat das Wort geprägt von der «Teflonreaktion» auf die zahlreichen Entzauberungswellen, die seit den Sechzigerjahren über die Schweizer Nationalmythen hinweggerollt sind. Die historische Aufklärung perlt an der breiten Öffentlichkeit ab, erreicht die Tiefen des Nationalbewusstseins nicht. Es handelt sich hier um eine spezifisch helvetische Pathologie, deren potenzielle Schädlichkeit man nicht unterschätzen darf. Zwar brauchen alle Staatsvölker ihre kollektiven Mythen, und es ist gar nicht wünschenswert, dass sich das nationale Geschichtsbewusstsein auf der Höhe der aktuellen Quellenforschung befindet. Doch gefährlich wird es, wenn ein politisch instrumentalisiertes Identitätsgefühl sich vom Diskurs der seriösen Ge schichtswissenschaft entkoppelt und nationale Legenden nach Belieben zu absoluten, von Wissenschaft gar nicht einholbaren Tatsachen erhoben werden. Das schadet nicht nur der Forschungsarbeit der Geschichtsprofessoren, die in der heutigen «Schweizer Wissensgesellschaft» als Professoren nur dann tituliert werden, wenn man sie disqualifizieren will. Es schadet vor allem der identitätsstiftenden Substanz der historischen Überlieferung, die sich nicht mehr fortentwickelt, sondern im Vakuum willkürlicher Absolutsetzungen zur propagandistischen Kostümklamotte regre- diert. Wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist, lässt sich laut von Matt daran ablesen, dass «Heidi» den «Tell» als Leitmythos abgelöst hat. «Heidi» ist ein wunderbares Kinderbuch und macht, was Kinderbücher eben machen: Es zelebriert eine infantile Weltsicht. Am Rande eines Interviews hat der Holocaustforscher Saul Friedländer einmal gesagt: «Ich verstehe nicht, weshalb die Schweizer die Bergier-Kommission ignorieren. Kein anderes Land hat seine Weltkriegsvergangenheit so seriös untersucht. Daran könnte der Nationalstolz anknüpfen.» Andere Länder, zum Beispiel Österreich und Frankreich, die sich in den Neunzigerjahren ebenfalls einer neu aufgelegten Vergangenheitsbewältigung zu stellen hatten, wehrten sich erst fürchterlich gegen unangenehme Einsichten, waren schliesslich aber fähig, ihr nationales Selbstbild zu modifizieren. Wer wagte es, dies von der Schweiz zu behaupten? Die jüngste Lancierung der Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» – eine Vorlage, die ihre Legitimität vermeintlich auf den mittelalterlichen Widerstand gegen «fremde Richter» zurückführt – zeigt eindrücklich, wie destruktiv das souveränistische Amokpotenzial der nationalen Legendenbildung geworden ist. Ein Land, das glaubt, die historische Wahrheit verachten zu können, wird früher oder später politisch einen hohen Preis bezahlen. Thomas Maissen, «Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt», Verlag Hier und Jetzt, 2015 Sao Paulo Johannesburg San Francisco Buenos Aires Los Angeles Saint Maarten Insel La Reunion Montreal Bangkok Dakar Peking Tokio Paris DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Von DANIEL BINSWANGER Das Jubiläums- und Wahljahr 2015, in dem mit dem Wiener Kongress (1815), der Schlacht von Morgarten (1315) und Marignano (1515) gleich drei helvetische Schicksalsdaten memoriert werden wollen, dürfte die Schweizer Politik wieder einmal in ein identitätspolitisches Delirium stürzen. Vor lauter Hellebarden, falschen Bärten und vermeintlichen Geschichtslektionen über das ewige Wesen der Willensnation wird man sich nicht mehr retten können. Wohltuend ist vor diesem Hintergrund das neue Buch von Thomas Maissen über «Schweizer Heldengeschichten». Mit Kompetenz und Eleganz zerpflückt der Geschichtsprofessor die Mythen, mit denen nationalkonservative Ideologen nicht bloss ein realitätsfernes Vergangenheitsbild konstruieren, sondern selbstredend auch ein für alle Mal einen Pflichtenkatalog für das Schweizertum der Gegenwart festschreiben wollen. Nein, die bewaffnete Neutralität war nicht die Einsicht weise gewordener Schweizer Recken nach der Niederlage von Marignano, sondern ist im Wesentlichen ein Geschenk der europäischen Mächte am Wiener Kongress. Nein, die Ur-Schweiz der Waldstätte war keine Demokratie, sondern die Demokratie im modernen Sinn wurde durch die Bundesverfassung von 1848 eingeführt, die zwar auch vom Vorbild der Landsgemeinde, aber viel stärker von den importierten Idealen der Französischen Revolution geprägt war. Nein, das Davonkommen im Zweiten Weltkrieg war nicht nur der Guisan’schen Widerstandsstrategie, sondern mindestens so sehr der Kooperation mit dem Hitler-Reich geschuldet (etwas anderes hat auch Jean-François Bergier nie behauptet, der jedoch vom RENDEZ-VOUS IN PARIS Oder in mehr als 1000 anderen Städten weltweit dank eines der grössten globalen Streckennetze gemeinsam mit KLM und unseren SkyTeam-Partnern. DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin». 4 AIRFRANCE.CH DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 DR AUSSEN SEIN MIT: KURT LAUBER Das Matterhorn ist kein Disneyland, mahnt der Chef der Hörnlihütte. Er fordert weniger Zirkus und mehr Demut, das seien wir dem Berg schuldig. Von CAROLE KOCH Am 14. Juli darf kein Mensch aufs Matterhorn, nicht einmal Kurt Lauber. Dabei hätte es zur Feier von 150 Jahren Erstbesteigung kühnste Ideen gegeben: Prinz Harry auf dem Gipfel. Ein Hochseilakt zwischen Matterhorn und Klein Matterhorn. Ein Spektakel. Aber es wird auf 4478 Metern kein Gipfelfeuer geben und auch keine Raketen. Im Gegenteil. Was wie ein Aprilscherz klingt, hat Strategie: Der Berg wird gesperrt. «Man muss ihn vor sich selbst schützen», sagt der Zermatter, der diese Ikone von Zacken besser kennt als jeder andere: Kurt Lauber, 53, Bergführer, Bergretter und seit 20 Jahren Chef der Hörnlihütte. Gegen 400-mal ist er von da schon auf den Gipfel gestiegen und hat über 1000 Rettungseinsätze geleitet. Nun stapft er durch den Frühlingsschnee, Tourenski geschultert, Schritt für Schritt diesen 1,6 Milliarden Kubikmeter Fels, Eis und Schnee entgegen, diesem Architekturwunder der Natur. Lauber hat das Gewusel von Skitouristen hinter sich gelassen, das Tal, in dem die Vorbereitungen für das Jubiläum auf Hochtouren laufen. Freilichtspiele, Dokumentarfilm, Jubiläumssong, Jubiläums-Swatch, Jubiläumskollektion. Auch der Mann mit dem kernigen Gesicht leistet mit seinem zweiten Buch «Matterhorn. Bergführer erzählen» einen Beitrag. «Der Tourismus braucht das», sagt er, im Dorf sind Anfang März zum ersten Mal wieder Zimmer frei. Trotzdem wird der Berg am Jubiläumstag gesperrt. Ein leises Zeichen in der brüllenden Vermarktungsmaschinerie. Aus Respekt vor der Erstbesteigung. Und weil das Matterhorn alles sein muss, bloss eines nicht: eine Art Everest der Alpen. Im Sommer schafft es Lauber in 50 Minuten von der Bahn zur Hörnlihütte – normale Wanderer brauchen bis zu zwei Stunden. Jetzt ist es «bitz blöd», weil der Weg unter Schneebergen begraben liegt. «Wenn es dumm geht, kann man hier zu Tode stürzen.» Weiter gehts also angeseilt. Rechts die Felsen des Hirligrats, links ein steiler Abhang, an dem auch Edward Whymper entlanggegangen sein könnte. Damals, an jenem 14. Juli 1865, als seine Seilschaft den letzten unbezwungenen Viertausender der Alpen schaffte. Beim Abstieg stürzten vier von sieben Männern zu Tode. Warum ist das Seil gerissen? Hat Whymper es zerschnitten? Das schreckliche Geheimnis faszinierte die Welt. Und Queen Victoria wollte den Alpinismus gar verbieten. «So hat der Run begonnen» sagt Lauber, dessen Vorfahren arme Bauern waren. Alle kamen, um den verbotenen Berg zu sehen und nie mehr zu vergessen. Weil er unverkennbar ist, «als hätte ihn ein Kind gezeichnet». Mit den Fremden kam das Geld, und mit dem Geld konnten die Zermatter die Mistgabeln in die Ecke stellen. Inzwischen gibt es das Matterhorn als Toblerone-Schokolade und auf der Schachtel jamaikanischer Mentholzigaretten. Es ist eine globale Marke. Wie der Everest aussieht, weiss hingegen keiner. Lauber zieht andere Parallelen zum höchsten Berg der Welt: Als der gelernte Maschinenmechaniker in den Achtzigern als Bergführer anfing, war am Matterhorn «Mord und Totschlag». In einem Sommer sind 18 Menschen zu Tode gestürzt, bis heute sind mehr als 500 verunglückt. Weil Hobbyalpinisten ohne Bergführer zum Gipfel aufbrechen. «Die Sherpas kennen den Everest, wir das Matterhorn. Fremde sollten sich anpassen. Aber an den gesunden Menschenverstand zu appellieren lohnt sich schon lange nicht mehr.» Dabei zähle das «Horu» zu den schwierigsten Viertausendern der Alpen. Das Wetter, die Routenfindung, die Steinschlaggefahr. Ein Hauch davon ist auch heute zu spüren, auf dem Gittersteg am Felsen: Die Tragelemente fehlen, ein Stein hat sie mit in den Abhang gerissen. «Das kann immer passieren», sagt Lauber und klettert an den Kanten entlang, mit der Gelassenheit des Bergretters, der immer wieder Arme oder Därme eingesammelt hat. Dabei hat ihn der Berg «geformt». «Hochmut, Fehlentscheidung, Achtlosigkeit – zack, hat es dich, er bestraft sofort.» Ehrlich, aber gnadenlos. Inzwischen brechen die meisten mit Bergführer auf. Das andere Problem ist geblieben: zu viele Leute. Pro Saison steigen um die 3000 Leute auf den Gipfel. An einem Tag bis zu 140. Wie am Everest gibt es Stau, Streit, Unfälle. Dann diese «Disneylandisierung». Einmal wurde für die Sendung «Verstehen Sie Spass?» ein Kiosk in die Wand geflogen. Der grösste «Fluch» seien jedoch nicht die Luxustouristen, sondern die Camper, die überall ihr Geschäft verrichten und Müll liegen lassen. «Meistens bedeutet wenig Geld auch schlechte Ausrüstung, keine Erfahrung, kein Bergführer, viele Unfälle.» Hirli, 2889 Meter. Von hier aus ist das Matterhorn zum Greifen nah und doch in wilder Ferne. Man kann die Hörnli hütte sehen, wo Lauber im Sommer Hüttenwart ist und im Winter kaum einer aufsteigt. Zu gefährlich. Die Hütte wird zum Jubiläum umgebaut. 130 statt 170 Schlafplätze, die Nacht wird 150 Franken statt 80 kosten, und Camper werden von Helikopter-Polizisten gebüsst. Überhaupt soll von nun an alles anders werden, weniger Zirkus, mehr Ursprung: Aktivitäten müssen vom Gemeinderat bewilligt werden. Wenn einer wieder ein Auto auf seinen Gipfel setzen will etwa oder «weiss der Gugger was». «Das sind wir dem Horu schuldig», sagt Lauber. Es ist sein Wunsch gewesen, am Jubiläumstag nur die Hütte einzuweihen und den Berg zu sperren. Er blickt die Wände hinauf, die ihn an die Grausamkeit der Natur erinnern. Und trotzdem sagt der sonst so pragmatische Lauber den Satz: der Berg habe für ihn so etwas wie eine Seele. Wenn er bei Sonnenaufgang auf der Hüttenterrasse steht, umgeben von 28 Viertausendern und Unendlichkeit. Dann fühlt er sich eins mit sich und seinem Berg. «Er hat es immer gut gemeint mit mir.» Das Matterhorn – diese globale Marke. Niemand kennt den Berg besser als Kurt Lauber. Bild BRU NO AUG SBU RGER 7 K ATJA FRÜH ACH, CR EMES Alarm! Ganz klar, Alarm!, schreit die Verkäuferin alarmiert. – Was? Wo? – Hier um die Augen. Haben Sie denn nie etwas unternommen? – Ich … nein. – Tja, das wird schwierig. Da müssen wir mit Seren arbeiten und aufpolsternden Cremes. Doppelreinigung, Doppelbefeuchtung. Das Serum muss die Vergangenheit Ihrer Haut verstehen, um die Zukunft zu optimieren. Das wollen wir doch, oder? – Ja, die Zukunft würde ich gern optimieren. – Das ist schon mal der erste Schritt. Prima. Zuerst geht es um das Lösen. Um das Entfernen öllöslicher Verunreinigungen. Dazu braucht es Wille und eine gewisse Vorstellung. – Schopenhauer. – Wie bitte? – Die Welt als Wille und Vorstellung. – Unterschätzen Sie das nicht. Das Ritual. Die einzelnen Schritte. Wir wollen doch zu einer reinen, tiefen Klarheit kommen, oder nicht? – Ja natürlich, eine tiefe, reine Klarheit wäre wunderbar. – Sehen Sie, mit dem Alter hat die Haut immer mehr das Bedürfnis, verwöhnt zu werden. Da fangen wir doch am besten mit Kaviar an. – Verwöhnt. Mit Kaviar, wow. – White Caviar Collection Illuminating Eye Cream. Das gibt Ihnen Ihre unvergleichliche Ausstrahlung zurück. – Das hatte ich gar nie, eine unvergleichliche Ausstrahlung. – Sie werden staunen! Das ist ein echt tolles Repair-Produkt. – Was repariert es denn? – Den unlöschbaren Durst Ihrer Haut. Spüren Sie den? – Den Durst? Ja, irgendwie schon ... – Sehn Sie. Die Forschung identifiziert zwei Gene, die bei Hormonmangel die Morphologie der Fibroblasten beeinflussen und damit zur Veränderungen ihrer Aktivität beitra- gen. – Meine Aktivität hat sich wirklich verändert. Ich meine: Sie ist weniger geworden. – Das ist klar, denn die betroffenen Zellen nehmen ihre Rolle als «Dirigenten jugendlicher Haut» nicht mehr wahr. Eine neue Erkenntnis, die das Wissen über die Haut der Frauen revolutioniert hat. – Das Wort Revolution haben wir früher in anderen Zusammenhängen gebraucht. – Ja, aber das hier ist eine wirkliche Revolution. Schauen Sie einmal in den Spiegel: Ihre Haut ist dünn und müde. – Ja, müde. Müde fühl ich mich wirklich. – Das ist klar. Die Mikrozirkulation wird mit dem Alter langsamer. Die natürliche Lichtreflexion wird durch den Dreifacheffekt dieses Produkts verstärkt. Das ist das Fantastische. Und es ist ein Schutz vor negativen Umwelteinflüssen. Die negativen Umwelteinflüsse sind der grösste Schädling. – Ja, das stimmt. Da haben Sie recht. Immer diese negativen Umwelteinflüsse! – Eben, darum brauchen wir noch einen Booster für mehr Ausstrahlung. Dazu empfehle ich Ihnen dieses Produkt: Super Rescue Antioxidant Night Moisturizer. Es basiert auf der Philosophie, dass jede Haut schön sein kann. – Das ist keine schlechte Philosophie. – Sehen Sie. Ihre fünf Probleme heissen: Trockenheit, Feuchtigkeitsverlust, feine Linien, Falten und mangelnde Ausstrahlung. – Was, echt, so viele? – Und ohne die richtige Pflege wird sich das verstärken, logisch oder? – Ja, eigentlich logisch. – Aber es gibt ein Zauberwort: Age Control! Mit diesen je fünf Produkten – fünf Reinigungsprodukte, fünf Pflegeprodukte, vier bis fünf Produkte für die Vorbereitung auf das Finish – werden Sie alle Probleme los. Ich schwebe aus der Parfümerie. Rein, tief und klar, meine Zukunft optimiert, Wille und Vorstellung gestärkt, der unlöschbare Durst gelöscht. Eine unvergleichliche Kaviar-Ausstrahlung wird mich umhüllen, meine Aktivität wird gestärkt, ich werde verwöhnt und von Grund auf revolutioniert sein. Alle Probleme gelöst, das Alter fest unter Kontrolle. Ach, Cremes! Die Drehbuchautorin und Regisseurin K AT JA F RÜ H schreibt hier im Wechsel mit Hazel Brugger. Bild LU K A S WA S SM A N N DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 M A X KÜNG R ELATIVE RUHE Es war im Juni 1993. Am Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon fand ein Kongress für Manager statt. Er hiess «Von der Produktequalität zur Erlebnisqualität». Unter den Referenten waren Leute wie der Schriftsteller Douglas Coupland oder der Präsident von Harley-Davidson. Auch ein paar Journalisten waren als Zuhörer dabei. Einer davon war ich. Das Seminar dauerte zwei Tage, und es gab viele Vorträge, an die ich mich nicht mehr erinnere. Ich glaube, ich nickte mehrmals ein oder schaute sehnsüchtig in den schönen Sommer hinaus, in den Park des Instituts, von wo der Blick herrlich auf den See geht. Im Park des Instituts waren zu dieser Zeit belgische Archäologen an ihrer dreckigen Arbeit. Sie trieben einen tiefen, T-förmigen Graben in den Rasen. In den Pausen des Seminars schlenderte man bei ihnen vorbei und schaute zu und dachte: Zum Glück bin ich nicht Archäologe geworden – das ist ja noch langweiliger, als an einem Seminar teilzunehmen. Doch dann plötzlich landete ein Hubschrauber. Ein Antioxidationsmittel musste eingeflogen werden, um einen Fund zu konservieren. Nicht irgendein Fund, sondern ein Etruskerfund! Das Seminar war schlagartig Nebensache, und der anwesende Roger Schawinski berichtete live für Radio 24. Im «Blick» las man am nächsten Tag: «Eine Weltsensation!» Und: «Durch den Zürcher Fund müssen grosse Teile der Geschichte der Etrus- ker neu geschrieben werden, die bislang als gesichert geltenden Erkenntnisse werden über den Haufen geworfen.» Tatsächlich wusste man bis anhin nicht, dass die Etrusker nördlich von Mantua aktiv waren. Als der Kantonsarchäologe davon Wind bekam, wollte er mit Baggern anrücken. Nun, es war alles erfunden. Die belgischen Archäologen waren keine Archäologen, sondern Schauspieler. Die Grabung war eine detailreiche Inszenierung und Teil des Kongresses. Damals lernte ich: Nichts ist so, wie es scheint. Man kann alles zu Realität machen, wenn man es erlebbar macht. Die Kronenhalle-Bar in Zürich ist ein Ort, der bestens bekannt ist. Vor fünfzig Jahren trat das erste Mal ein Gast durch die schwere Holztür an der Rämistrasse 4. Seither hat sich an der von Trix und Robert Haussmann entworfenen Bar nicht viel geändert – nur die Vorhänge hat man vor einer Weile ausgewechselt. Immer wenn ich in der Kronenhalle-Bar sitze, denke ich, dass diese Bar ein Ort ist, an dem ich viel öfter sein sollte – viel öfter, als das seriöse Leben es zulässt, das ich lebe. Es gibt dort Drinks, die so sind, wie ich gern wäre: klar, hart und stark. Aber: Warum ist die Kronenhalle-Bar ein so spezieller Ort? Ist es die potente Kunst an den mit grünem Kavallerietuch bespannten Wänden, unter anderem von einem gewissen Picasso? Ist es das tausendfränkige Blumendekor auf dem Tresen? Sind es die Paprikachips, die zu den Drinks gereicht werden? Ist es der Umstand, dass der Gastgeber Weltmeister seines Fachs ist? Ist es das weiche Saffianleder, mit dem die Sofas bezogen sind? Und dann plötzlich kam ich dahinter. In diesen fünfzig Jahren, die es die Kronenhalle-Bar gibt, lief dort niemals Musik. Kein Jazz. Kein Rock. Kein Pop. Kein Schubert, noch nicht mal Erik Satie. Seit fünfzig Jahren wird der Raum nur von den Geräuschen gefüllt, die die Menschen machen, die in einer Bar sitzen. Es gab keinerlei Belästigung durch Musik: Deshalb ist der Ort so grossartig, er ist akustisch unbefleckt. Nun fragt man sich: Was haben die Etruskerfunde von Rüschlikon mit der Kronenhalle-Bar zu tun. Nun: Nichts ist so, wie es scheint. Und die Erkenntnis, dass die relative Ruhe der Kern der Magie der Kronenhalle-Bar ist, sie kam mir, als ich in der Kronenhalle-Bar sass, mich aber gleichzeitig auch 3,7 Kilometer von ihr entfernt befand. Dies aber, es ist eine ganz andere Geschichte. M A X K Ü NG ist Reporter bei «Das Magazin». 9 … UND JETZT SANSIBAR Während der Jugendunruhen 1980 kämpfte er für ein anderes Zürich. Heute kämpft Chrigel Vaterlaus für eine Insel vor Tansania. Was treibt ihn an? DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Von Christian Schmidt Bilder Manuel Bauer «Wir haben etwas erreicht», sagt Chrigel Vaterlaus über die 80er-Unruhen. Zürich sei nicht mehr so grau und beamtig wie damals. Jetzt knöpft er sich das Meer vor Sansibar vor. 10 Sansibar – Sonne, Sand und Freiheit Es ist Februar 2015. Chrigel sitzt vor seinem Haus in Jambiani an der Ostküste Sansibars. Hier wohnt er mit seiner Partnerin Connie Sacchi zehn Monate im Jahr. Gross gewachsen und mit durchdringendem Blick gehört er zu den Menschen, die einen Raum füllen, Chrigel ist ein Mensch, dem man nachschaut. Kennengelernt hatte ich ihn 1983. Er war der Freund eines Freundes und lebte in einer Wohngemeinschaft über dem Zürichsee, in einer von Glyzinien umrankten Villa mit 25 Zimmern, zu gross für eine Familie und zudem renovationsbedürftig, also perfekt für eine WG. Im Haus war er der Held, und alle, die hier ein und aus gingen, träumten wie er von einer Stadt, die etwas anderes als Opern und Anlässe wie das verhasste Sechseläuten zu bieten hatte. Im Unterschied zu Chrigel waren wir bei den Demonstrationen nur am Rande dabei, ab und zu bekam auch ich etwas Tränengas ab oder ein paar Gummiprojektile in den Rücken. Der Strahl der Wasserwerfer reichte gerade knapp bis zu uns. Chrigel hingegen stand mittendrin, und immer hatte er wilde Ideen. «Kompliziert waren die Vorbereitungen für die Toilettenaktion eigentlich nicht. Wir hatten auf dem Tiefbauamt um Einsicht in die Pläne der Kanalisation gebeten und notiert, unter welchen Dolendeckeln die Leitungen verliefen. Solche Informationen erhielt man zu dieser Zeit noch. Dann liehen wir uns bei der Waschanstalt Zürich orange Schutzwesten, fuhren bei den einzelnen Stadträten vor und betonierten die Leitungen zu. Mitten am Tag! Das hat funktioniert, aber nicht bei allen. Sicher bin ich nur bei zweien. Wir verbanden Politik mit Kreativität. Es war uns ernst, aber wir wollten auch Spass an unseren Aktionen haben.» Jambiani ist ein lang gestrecktes Fischerdorf. Alles ist heftig hier: das Licht, der Wind, die Hitze. Sogar die Holzwürmer fressen lauter als zu Hause, und die Zikaden singen intensiver. Der Reiseführer bezeichnet den Ort als «bezaubernd», was eine sehr eigenwillige Interpretation der Realität ist. Ein wenig zurückversetzt vom Strand, kauern sich armselige Häuschen mit Dächern aus Wellblech oder Palmwedeln aneinander, die Fenster zum Teil zugenagelt, zum Teil mit Gitterresten abgedeckt – gegen die Mücken. In den verstreut herumliegenden Abfällen scharren Ziegen, Enten und Hühner. Die Strasse ist eine schmale Staubpiste. Zwar haben die meisten Einwohner genug zu essen, ihre Armut ist jedoch so offensichtlich, dass man lieber wegschaut, wenn sie aus einem Napf nichts als dünnen Maniokbrei schlürfen. Anders die erste Reihe. Hier wechseln sich Restaurants und kleine Hotels ab. In dieser Reihe steht auch das Haus von Chrigel und Connie. Es blickt auf eine Szenerie, die bei jedem Besucher Neid auslöst. Meer: türkis. Palmen: relaxt nickend. Strand: schneeweiss. Und das alles bis zum Horizont. Lautlos gleiten Daus aus Mangoholz über die Lagune, die trapezförmigen Segel weit gebläht; Frauen in langen Röcken waten durch das seichte Wasser; daneben raufen sich dunkelbraune Kinder um einen Ball. Es sieht aus, als sei Robinson Crusoe eben erst gegangen. Zürich – eine Stadt zum Ersticken Chrigel ist 1959 in Meilen geboren, Vater Chemiker, Mutter Hausfrau. Der Wehrwille wird hochgehalten, was sich Aber was solls. So war er immer. Sein Leben riecht nach Freiheit, Sand und Liebe, nicht nach Laktoseintoleranz, Burn-out-Syndrom und Veganismus. 12 daran zeigt, dass die beiden Schwestern FHD leisten, freiwilligen Frauenhilfsdienst. Als Chrigel mittels erfundener Phobien der Rekrutenschule zu entkommen versucht, schickt der Vater heimlich einen Brief an die Armee und verrät den Sohn. Chrigel färbt die Haare und wendet sich Zürich zu, wo er sich mehr Freiheit erhofft, doch er wird enttäuscht. «Zürich war nichts für junge Menschen. Auch nach 1968 nicht. Damals ging es um grosse politische Ideen, gebracht hat der ganze Aufstand – ausser Freiraum im Kopf – nicht viel. Wir wollten mehr. Unsere Zitate stammten nicht von Lenin, sondern von Brecht. Wir wollten das Lebensgefühl in der Stadt ändern, punktuell und konkret. Zum Beispiel störte uns, dass man bei der ‹Züri Bar› nicht draussen stehen durfte, weil sonst die Durchfahrt der Feuerwehr behindert werde. Das behaupteten die Behörden. Obwohl mitten in der Gasse ein Pfosten stand! Zudem war um 23 Uhr Polizeistunde, danach konnte man vielleicht noch im ‹Ugly› tanzen oder mit etwas Glück an ein privates Fest, aber das wars. Es gab keine Freiräume und keinen Platz für eine andere als die gängige Kultur. Die Stadt subventionierte nur, was der Oberschicht gefiel. Einzeln besehen, mögen das Details sein, zusammengenommen herrschte jedoch ein Klima zum Ersticken. Dagegen wehrten wir uns, unter anderem mit der Aktion gegen die Stadträte. Als ich meiner Tochter – sie ist 26 – kürzlich erzählte, wie das Leben in Zürich damals war, war sie total erstaunt. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.» DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 An das genaue Datum kann sich Christian Vaterlaus, genannt Chrigel, nicht erinnern. Jedenfalls war es zu Beginn der Achtzigerjahre, zur Zeit von «Züri brännt». Eines Tages können die Zürcher Stadträte die Toiletten in ihren Wohnungen nicht mehr benützen. Statt dass der Schüsselinhalt im Untergrund verschwindet, schwappt er auf den Badezimmerboden. Weshalb das so ist, erfahren die Stadträte erst, als das Tiefbauamt in die Kanalisation steigt. Die Abwasserleitungen zu ihren Häusern sind zubetoniert. Bekennerschreiben liegen an den Tatorten: «Das Leben in Zürich ist Scheisse. Die Jugend steckt bis zum Hals darin. Wir finden, den Stadträten soll es nicht besser gehen.» Weshalb haben Chrigel und seine Kumpels diese Aktion veranstaltet? Und was hat diese kleine Sauerei mit dem Wandel Zürichs von der grauen Zünfterhochburg zur Weltstadt im Kleinformat zu tun, wie sie sich selbst nennt? Um das herauszufinden, bin ich zu Chrigel geflogen. Um an die Ursachen der Tat zu erinnern. Die Hintergründe. An die Akteure, die «Bewegten», und ihren Zusammenschluss: «d’Bewegig». Weil die heute so hoch gepriesene Lebensqualität der Stadt zumindest teilweise in den Ereignissen dieser Jahre gründet: Dass Zürich im Vergleich der beliebtesten Städte seit Jahren einen Spitzenplatz belegt, kommt nicht von ungefähr. Chrigel Vaterlaus hat dazu beigetragen, nicht nur er, wie er immer wieder betont, aber er gemeinsam mit vielen anderen. Stallgeruch der Goldküste Dass die Stadtregierung 1980 für die Sanierung und Erweiterung des Opernhauses 61 Millionen ausgeben will, sich aber weigert, Kulturanlässe der jungen Generation zu unterstützen, löst Krawalle aus. Ab Ende Mai kommt es fast täglich zu Demonstrationen und Gewalt exzessen. Wie ernst es ist, wird klar, als sich eine junge Frau vor dem Opernhaus mit Benzin übergiesst und anzündet. Einen Monat später beugt sich die Stadt dem Druck und stellt am Sihlquai eine leer stehende Fabrikhalle zur Verfügung. Allerdings schliesst sie das AJZ, das Autonome Jugendzentrum, schon bald wieder, weshalb es ebenso bald zu weiteren Ausschreitungen kommt. An der Demonstration vom 24. Dezember marschiert Chrigel in der ersten Reihe, hinter ihm zehntausend Menschen, darunter irgendwo auch ich. Dann steht plötzlich eine Front aus Polizeigrenadieren vor ihm. Diese hätten, ohne zu zögern, zugeschlagen, sagt Chrigel. Er wehrt sich, wirft Steine und wird in der Folge niedergeknüppelt. Als er am Boden liegt, steht ihm ein Grenadier gezielt auf die Finger und dreht den Absatz. Später schlägt ihm ein anderer den Ellenbogen in die Magengrube. Zusammen mit anderen verbringt Chrigel die Festtage im Gefängnis. Er hört, wie draussen die Demonstranten, auch da war ich mit dabei, skandieren: «Use mit de Gfangene – Use mit de Gfangene.» Die Solidarität tut ihm gut. Noch vor Neujahr wird er entlassen. An diesem Punkt hätte Chrigel sein Leben ändern können. Die Rekrutenschule besuchen, weiter Psychologie studieren, Karriere machen. Kurz: dem Stallgeruch der Goldküste folgen. Aber er tut es nicht. Im Gegenteil. Die Gewalt hat ihn radikalisiert. Dass die Behörden eine andere Meinung niederschlagen, kann er nicht verstehen. Sein Bild der Heimat ist erschüttert, und nicht nur seines. Die Stadt ist so häufig wie noch nie in den Schlagzeilen der internationalen Medien. Statt eine Bankenmetropole und Oase der Beständigkeit zu sein, steht sie nun für Krawalle, angeheizt von repressiv agierenden Behörden und ihren Handlangern. Neben den Schaufenstern liegt auch das Image der Stadt in Scherben. Nach dem Ende der Unruhen bewegt sich Chrigel weiterhin im Umkreis der Bewegten, die man damals «die Szene» nannte. 1986 besetzt er zusammen mit anderen mehrere Häuser an der Schmiede Wiedikon im Kreis 3. «Mer händ’s innegnoo», wie er sagt. Die Häuser sollen einer Überbauung weichen. Die Besetzung ist gleichzeitig Manifest gegen den Mangel an günstigem Wohnraum wie auch ein früher Protest gegen ein Thema, das heute noch aktuell ist: die grassierende Spekulation in der Stadt. Zudem stellen die Gebäude eine der wenigen Möglichkeiten dar, um mit einer grösseren Zahl Gleichgesinnter zusammenzuleben. In den Achtzigerjahren gibt es weder Immobilienportale mit einer Rubrik «Wohngemeinschaft» noch den Vergleichsdienst Comparis, der auch gleich das billigste Zimmer findet. Chrigel und die WG-Genossen wollen die Häuser retten und gehen juristisch gegen Eigentümer und Stadt vor. Obwohl sie von Paragrafen und Gesetzen keine Ahnung haben, gelingt es ihnen, die Gegenseite immer wieder in die Defensive zu treiben. Chrigel schreibt nächtelang an Rekursen und ficht Ausweisungsbegehren ebenso konsequent an wie jede Bewilligung, die das Neubauprojekt voranbringt. Die Sache kommt dreimal vor Bundesgericht; die Hausbesetzer messen sich mit den besten Anwälten. «Sie verzweifelten, weil wir stets neue Gesetzeslücken fanden.» Letztlich verlieren Chrigel und seine Kollegen, doch sie haben sich einen Respekt erkämpft, von dem die Besetzerszene bis heute profitiert. So lassen die Behörden leer stehende Häuser nur noch räumen, wenn die Eigentümer eine Abbruch- oder Baubewilligung vorlegen oder wenn sie eine Neuvermietung nachweisen können. Mit ihrem Engagement ebnen die Besetzer zudem den Weg für eine Wohnform auf genossenschaftlicher Basis, die inzwischen anerkannt ist und auch aktiv gefördert wird. Aktuellstes Beispiel ist die Überbauung «Kalkbreite», Symbol für soziologisch und ökologisch pionierhaftes Wohnen im 21. Jahrhundert. Die Utopie von einst ist inzwischen Realität. Retter des Meeres Am nächsten Morgen schaue ich mir an, was einer tut, der seinen Alltag im Dauerparadies verbringt. Es ist noch früh, soeben steigt die Sonne als fahle Scheibe aus dem Meer. Chrigel steht inmitten einheimischer Fischer am Strand und beobachtet, wie ein kleiner Lastwagen vorfährt. Die Füsse des Beifahrers ragen aus dem Seitenfenster, Reggae dröhnt. Der Laster bringt Sand. Sobald die Ladung gekippt ist, beginnen Chrigel und die Männer den Haufen mit Zement zu mischen. Dann giessen sie den Beton zu hohlen, einen Meter hohen Halbkugeln. Auf Swahili weist Chrigel die Männer 13 an, doch nicht mit den nackten Füssen in den Beton zu stehen, das verätze die Haut, doch er ist der Erste, der sich nicht an die eigene Anweisung hält. Die Halbkugeln sind sein neustes Projekt. In den USA entwickelt, sollen sie das natürliche Riff ergänzen, das drei Kilometer vor Jambiani liegt und die Wogen des Indischen Ozeans zu Schaum bricht. Erfahrungen aus anderen Weltgegenden zeigen, dass sich bereits nach wenigen Monaten Korallen auf dem Beton ansiedeln; Fische nutzen das hohle Innere als Versteck und pflegen dort ihre Brut. Wenn alles gut geht, ist das künstliche Gerüst der sogenannten Reefballs nach einigen Jahren nicht mehr zu erkennen. Das hilft den Menschen von Jambiani. Sie haben die Lagune grösstenteils leer gefischt, anfänglich mit Speeren und Angeln, zwischendurch mit Gift, neuerdings mit Netzen. Zudem haben die Korallen unter dem Klimawandel gelitten und sind ausgebleicht. Die Halbku- 14 geln werden nun für neues Leben sorgen. Die Fänge der Fischer werden wieder mehr decken als nur gerade den Eigenbedarf, die Touristen können in der neu erblühten Unterwasserwelt schnorcheln. Das Geschäft läuft, das Meer aufersteht. Das ist es, was Chrigel will. Buttersäure auf Polizisten Am Tag darauf sitzen wir wieder vor seinem Haus, um nochmals über die Achtzigerjahre zu reden. Die Zikaden jubilieren, eine Schar Kinder zielt mit Bällen und Schuhen auf Nüsse in einem Baum. Chrigel lässt sie gewähren, so lange, bis er erkennt, dass der Baum leidet. «Als klar war, dass deine Mitbesetzer und du vor Bundesgericht verlieren, wie habt ihr darauf reagiert?» «Wir begannen, uns auf die Räumung vorzubereiten, und präparierten einen Fluchtweg. In jedem Stock stand an derselben Stelle ein fest eingebauter, raumhoher Kleiderschrank. Wir verban- den diese Schränke vom Estrich bis in den Keller, indem wir Decken und Böden durchbrachen. So entstand ein durchgehender Schacht. Zudem gruben wir vom Keller aus einen Tunnel, der via Kanalisation ins Freie führte. Am 9. Juni 1987, nach zwei Jahren Besetzung, war es so weit. Als die Polizisten anrückten, schütteten wir kaltes Wasser auf sie, dazu Buttersäure, Farbe und Schmierseife. Wir wollten sie bewusst nicht verletzen. Dann sahen wir zu, wie sie die Barrikaden wegräumten und ins Haus drangen. Weil wir im unteren Teil die Treppen herausgebrochen hatten, kamen sie aber nicht weiter. Die Feuerwehr musste zuerst eine Leiter bringen. Wir hatten uns derweil in das oberste Stockwerk zurückgezogen und harrten so lange wie möglich aus. Erst im letzten Moment verschwanden wir im Innern der Schränke. Während sie in ihrer schweren Montur die Treppen emporpolterten, seilten wir uns ab und sausten in die Tiefe, geräuschlos und un- ... auch an Weihnachten 1980 vor dem Bahnhof. Chrigel wird niedergeknüppelt und landet im Gefängnis. DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 — BI L DE R : OL I V I A H E U S S L E R / C L IC . L I GM BH Züri brännt – und Chrigel Vaterlaus marschiert vorneweg ... sichtbar. Vom Keller aus flohen wir durch den Tunnel in die Kanalisation. Um uns den Rückzug zu sichern, zündeten wir Rauchbomben und nebelten die ganze Umgebung ein. Der Qualm war so dicht, dass man kaum die Hand vor dem Gesicht sah. Schliesslich stiegen wir an die Oberfläche, keine fünf Meter neben den Füssen von zweihundert Polizisten, und verschwanden. Verhaftet wurde niemand. Da wir den Funk angezapft hatten, hörten wir, wie die Polizisten im Haus uns vergeblich suchten. Sie hatten keine Ahnung, was geschehen war; wir hatten uns offenbar in Luft aufgelöst.» 2003 finden Chrigel und Connie zum ersten Mal nach Sansibar. Es ist ein normaler Urlaub und die Destination eher zufällig: Ein Bekannter besitzt ein Haus. Chrigel hat inzwischen sein Psychologiestudium beendet, jedoch ohne es mit den Lizenziatsprüfungen abzuschliessen. Beruflich lässt er sich stets vom Moment leiten. Vor und während der Platz- spitz-Zeit arbeitet er in der Auffangstation Tiefenbrunnen, einer Notschlafstelle für Fixer. Auch hier legt er sich mit den Behörden an, fordert die Liberalisierung des Heroinhandels und wehrt sich gegen das unsinnige Verbot, saubere Spritzen abgeben zu dürfen. Um den Süchtigen trotzdem helfen zu können, kauft er die Spritzen in Deutschland und schmuggelt sie über die Grenze. Gleichzeitig beginnt er sich beim Xenix zu engagieren, dem ersten Offkino der Stadt. Auf die Leinwand kommt, was die anderen nicht zeigen: Experimentalwerke, Trashfilme, B-Movies, Themen wie Homosexualität. Chrigel wird für das Xenix über zwanzig Jahre aktiv bleiben, in dieser Zeit Filme vorführen, Filme programmieren – unter anderem einen Zyklus mit dem Titel «Utopia» –, an der Kinobar arbeiten, nach Fördergeldern suchen, die Technik verantworten wie auch mit einer Openair-Version des Xenix durch Senegal reisen. Dass eines Tages die NZZ dem Xenix eine längere Hommage widmet und es damit quasi seine offizielle Anerkennung erhält, entspannt auch Chrigels familiäre Situation etwas. Der Vater äussert sich erstmals anerkennend über die Taten des wilden Sohns. Heute ist das Kino in der Baracke ein Markenzeichen für das andere Zürich. Und plötzlich trägt er Anzug In dieser Zeit kommt Chrigel mit Computern in Kontakt, erkennt die wirtschaftlichen Möglichkeiten der neuen Technik und entscheidet sich, hier einzusteigen. Als er mit einem Partner die ersten Webauftritte zu realisieren beginnt, hat er ausser einem einzigen Kurs keine Ausbildung. Es ist wie damals in der Schmiede Wiedikon, als er über Nacht zum Juristen wird: learning by doing. Rivella, Coca-Cola, Nestlé und die Bon-appétit-Gruppe zählen zu den Kunden der Agentur. Nun nähert sich Chrigel doch noch jener Welt, die zu seiner 15 Herkunft passt. Im Anzug reist er von Sitzung zu Sitzung, präsentiert seine Ideen vor Verwaltungsräten und schüttelt Bill Gates die Hand. Etwas Stolz schwingt mit, wenn er heute von dieser Zeit erzählt. Trotzdem bewahrt er sich einen gewissen Nonkonformismus. 1999 realisiert er für die Gebrüder Freitag, die damals schon Erfolg hatten mit ihren Taschen, die Plattform skim.com. Ziel ist die Lancierung einer Lifestyle-Marke. Auf den Kleidern und Accessoires von skim.com steht eine Identifikationsnummer, die über die Website kontaktiert werden kann. Jahre vor Facebook entsteht in der Schweiz bereits ein Portal, um sich über Internet auszutauschen. Doch skim.com scheitert und bleibt Utopie. «Wir waren zu früh», sagt Chrigel. Das Prinzip dahinter ist inzwischen Alltag. Während des ersten Aufenthalts in Jambiani fallen Chrigel die im seichten Wasser watenden Frauen auf. Tag für 16 Tag gehen sie stundenlang hin und her, einen Sack hinter sich herziehend. Sie sammeln Seegras, um es als Verdickungsmittel an die Nahrungs- und Kosmetikindustrie zu verkaufen. «Damit verdienten sie fünfzehn Euro pro Monat.» Zu viel Aufwand für den Profit anderer, findet er, der immer schon gegen Ausbeutung gekämpft hat. «Einen Virus pflanzen» Die Frauen tauchen zum richtigen Zeitpunkt in seinem Leben auf. Chrigel hat genug von den geistigen Untiefen des ECommerce; es zieht ihn zurück in eine Welt, in der er «Spuren hinterlassen» kann. Zusammen mit Connie beginnt er über andere Einkommensquellen für die Menschen in Jambiani nachzudenken, etwas, das seit der Unterjochung der Insel durch Araber, Perser, Portugiesen, Deutsche und Engländer noch niemand getan hat. Die halbe Welt hat sich zwar an Sansibar bereichert und dabei je nach Schätzung bis zu drei Viertel der Bevölkerung versklavt, doch zurückgekommen ist wenig bis nichts. Auch von der DDR nicht, die sich in den Sechzigerund Siebzigerjahren für Sansibar engagiert hat. Eindrücklichstes Resultat der Entwicklungshilfe sind neben einem Stasi-ähnlichen Überwachungsapparat einige inzwischen angeschimmelte Plattenbauten. Und auch die aktuelle Regierung tue nichts, findet Chrigel. «Sie hat keine Ideen. Niemand traut sich, zu fantasieren oder auch einmal verrückte Ideen zu verfolgen.» Wie in Zürich will Chrigel in Jambiani mit kleinen Veränderungen den Wandel herbeiführen. Kein Jahrhundertprojekt, sondern praktische Hilfe. «Einen Virus pflanzen», nennt er es. Er beginnt zu recherchieren, was in vergleichsweise kurzer Zeit Erfolg verspricht, wenig Investitionen erfordert und auch nachhaltig betrieben werden kann. Das Ergebnis: Aquakulturen, und zwar die Zucht Mithilfe solcher Reefballs soll die leer gefischte Lagune vor Jambiani neu belebt werden. DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Mehr Meer – Chrigel Vaterlaus inspiziert seine Schwämme. von Schwämmen und Korallen. Dafür gibt es weltweit einen wachsenden Markt, und weil Interesse und Preise steigen, nimmt die Wilderei zu. Auch im Indischen Ozean. Mithilfe der Aquakulturen will er diesem Raubbau entgegenwirken und den Einheimischen gleichzeitig neue Verdienstquellen eröffnen. 2008 gründet Chrigel zusammen mit Freunden marinecultures.org, eine kleine Non-Profit-Organisation mit Sitz in Zürich und Basis in Jambiani. Wieder hat er keine Ahnung von der Materie und muss sich einarbeiten. Er informiert sich bei Meeresbiologen, korrespondiert mit Universitäten. Einiges geht in der ersten Zeit schief, Krankheiten dezimieren die Bestände. Doch heute sind in der Lagune vor Jambiani mehrere Unterwasserfarmen in Betrieb. Aufgereiht an langen Seilen, wachsen Tausende Schwämme; wie Weihnachtskugeln hängen sie in der Strömung. In der Nähe, in sechs Metern Tiefe, stehen auf dem Meeresgrund Ti- sche mit jungen Korallen. In Reih und Glied gepflanzt, erinnern sie an Salatsetzlinge. Bewirtschaftet werden die Aquakulturen von einem halben Dutzend einheimischer Frauen und Männer. Sie verdienen dank dem neuen Geschäft weit mehr als zuvor. Chrigel überwacht und hilft. Ein erster Schritt ist getan. An einem der folgenden Tage bringen Chrigel und einige Fischer die erste der Halbkugeln zum Riff hinaus; ein Probelauf. Neunzig weitere werden folgen, später vielleicht noch mehr. Chrigel befürchtet, dass das eine Hauruck-Aktion wird, und so ist es auch. Beim Verladen des 200 Kilo schweren Teils wird das kleine Transportboot beschädigt. Draussen beim Riff kommt es zu einer längeren Diskussion, wo das künftige Fischund Korallenhaus versenkt werden soll; dann aber gleitet es langsam in die Tiefe, gesichert an Seilen, und so wird die Aktion doch noch zum Erfolg, was Chrigel freut und die Fischer auch. Leichtigkeit des Seins Auf der Rückfahrt zur Küste taucht die Frage auf, wie er das alles finanziert. Der Aufbau der Aquakulturen kostet, zudem galt es mehrere Jahre durchzuhalten, bis die Produktion angelaufen war. Auch die Reefballs sind nicht gratis. Die Gussformen für die Halbkugeln musste Chrigel in den USA kaufen, und für die Herstellung stehen an die zehn Leute auf seiner Lohnliste. Dass Chrigel von der Zürcher Goldküste stammt, lässt Spielraum für Interpretationen. Die Kinder vom See haben den Ruf, das Erwerbsleben als ein Hobby zu sehen. Kommt Geld rein, ist es gut, kommt keines herein, macht es nichts. Also, wie finanziert Chrigel das alles? «Ich kenne die Frage,» sagt er, während das Boot die Wellen teilt. «Die Antwort ist: Nach mehreren Jahren Gratisarbeit zahlt mir marinecultures nun erstmals einen kleinen Lohn, finanziert aus Spenden. Es ist wenig, genügt aber, um hier 17 Forever young Es gibt nichts, was Anlass zu Kritik geben könnte, was auch die Einheimischen offenbar so sehen: Sie nennen ihn nicht wie alle anderen Weissen «Mzungu» – die Bezeichnung für eine Bananensorte mit rötlicher Schale. Chrigel und Connie sind «Wageni», Gäste. «Ich habe den schönsten Arbeitsplatz der Welt», sagt er, frei von überflüssigen Verpflichtungen, ausserdem mache ihm seine Arbeit auch noch Spass. Weshalb organisieren wir nicht alle unseren Alltag so?, denke ich mir. Was hält uns zurück, unsere Utopien zu leben? Die ersten Schritte sind einfach. In einer mehr oder weniger heftigen Sinnkrise einen Plan erstellen – was will ich in fünf Jahren tun, mit wem und wo will ich das tun? –, dann tief einatmen und durch. So hat es Chrigel getan. Einzig ankreiden kann man ihm, dass er seine Unverletzlichkeit etwas allzu sehr zelebriert. Sein «Forever young». Nichts und niemand kann ihm etwas anhaben. Er surft einen Nachmittag lang mit einem Lenkdrachen über die Lagune und ist nachher so rot, dass Connie ihn «Mzungu» hänselt – Sonnenschutz, die Hautkrebs-Thematik, geht ihn nichts an. Bei einer Fahrt durch den Busch Sansibars trinkt er Wasser aus einem Tank, der seit zwei Wochen in der sengenden Sonne steht und somit Brutstätte für alles ist, das einem das Leben schwer machen kann. Doch Chrigel ist das egal, Warnungen ignoriert er. Und wenn er mit seinem Motorrad über die Insel fetzt, eine Sonderanfertigung der Paris-DakarBMW, trägt er «nicht immer» einen Helm, das heisst: höchstens ab und zu. Aber was solls. So war er immer. Sein Leben riecht nach Freiheit, Sand und Liebe, nicht nach Laktoseintoleranz, Burn-out-Syndrom und Veganismus. Denkt Chrigel an die Zeit von «Züri brännt» zurück? Ja. Vieles, was ihm hier auf Sansibar bei der Lösung der Alltagsprobleme hilft, habe er in den Achtzigerjahren gelernt. Nicht nur, dass sich auch mit wenig Geld viel bewegen lasse: «Es braucht nichts ausser etwas Kreativität und die Fähigkeit, improvisieren zu können.» Hier anwenden kann er zudem, was er in Verhandlungen mit den Zürcher Behörden erfahren hat. Chrigel war nicht nur Hausbesetzer. Da er mehr an Lösungen als an Konfrontation interessiert war, hatte er bald einmal eine Mittlerposition zwischen Szene und Obrigkeit. Er war es, der mit Stadträtin Ursula Koch und ihrem damaligen Mitarbeiter Josef Estermann diskutierte, wie es in der Schmiede Wiedikon weitergehen sollte. Dieses Verhandlungsgeschick komme ihm nun zugute, sagt er, etwa wenn er mit den Behörden Sansibars zu tun hat, was langwierig sei und Nerven brauche. «Ist das eigentlich eine Flucht, dein Leben in Sansibar?» – «Nein», sagt Chrigel, «aber ein aktives Weglassen von Unnötigkeiten.» Mehr Lebensinhalt, weniger Engstirnigkeit, mehr Spass. Etwas Sinnvolles tun, wie zu Zeiten von «Züri brännt». Die Unruhen seien etwas vom Besten in seinem Leben gewesen, sagt er. «Wir hatten einen fantastischen Zusammenhalt, wir waren eine grosse Familie.» Und die Familie der Bewegten hatte Erfolg. Nicht sofort, aber der Virus hatte sich eingenistet. Die Stadt hat unter dem Druck der Strasse ihre Politik geändert, sie begann, kulturelle Aktivitäten zu unterstützen. Zwar ist niemand am Tisch noch im Alter, in dem die Partys morgens um zwei beginnen, aber dass die Sperrstunde inzwischen abgeschafft ist, freut uns alle. Es ist ein ganz anderes Lebensgefühl, wenn an einem zufällig ausgewählten Werktag in Zürich 26 Partys, 14 Lesungen, 24 Konzerte, 18 Theatervorstellungen und 95 Ausstellungen gelistet sind. Möglich gemacht haben es Eigeninitiative, Querdenken, Kreativität und die Veränderungen im Kulturbudget der Stadt. Mitte der Achtzigerjahre erhielten Institutionen ausserhalb der traditionellen Kulturtempel Opernhaus, Schauspielhaus und Tonhalle knapp eine Million pro Jahr, was bereits einem Erfolg gleichkam, verglichen mit 1980, heute sind es fünfzig Millionen. «Fantastisch», findet Chrigel und sieht hinaus aufs dunkle Meer: Utopien müssen nicht Utopien bleiben. Wie zu Zeiten von «Züri brännt» Am Abend essen wir Pizza, so global ist Jambiani bereits. Der Wind bläst Sand durch das Restaurant, vorne herein und hinten wieder hinaus. CH R I S T I A N S CH M I DT schreibt regelmässig für «Das Magazin»; [email protected] Der Fotograf M A N U EL BAU ER lebt in Winterthur; www.manuelbauer.ch 18 D N U N L E M M A S R E K STIC PLÜSCHHASE GRATIS ERHALTEN. <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2NzUyNgYASGSxig8AAAA=</wm> <wm>10CFXLoQ5CQQxE0S_qZtpO210qyXMvCIJfQ9D8vyLgENede54dA7-ux-1x3FuhpHiFuXesGFaJ7Ikas9gwS4PGRStCFz3_DiGnBbC_RmBiuTUlKLq2KmHOGu_n6wMd9mZLeQAAAA==</wm> • lten Sie So erha chhasen Ihren Plüs jeder ten Sie in Sticker, Einkauf erhal Pro Fr. 20.– an der Kasse einen n Sie le Migros-Filia er pro Einkauf. Klebeelheft. max. 10 Stickjeweils in das Samm diesen bitte DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 gut zu leben.» Geld aus der Zeit des ECommerce sei ihm kaum geblieben. Einen gewissen Rückhalt seitens des Elternhauses gebe es, doch sei er nicht darauf angewiesen. «Solange das hier funktioniert, mache ich weiter. Falls nicht, suche ich etwas Neues», sagt er, es sind die Worte eines Mannes, der sich die Leichtigkeit des Seins erlauben kann. Oder aber, Chrigel verfügt über ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Wahrscheinlich ist es beides. Am Abend spaziere ich durch das Dorf und frage mich, ob diese Geschichte aus dem Paradies nicht auch ihre Schattenseiten hat, doch ich finde keine. Chrigel hilft nicht nur den Fischern, er fördert auch diverse Kleinstgewerbe. So hat er etwa einem jungen Einheimischen beigebracht, wie man Handys repariert. Jedes Mal, wenn er aus der Schweiz nach Sansibar zurückkehrt, bringt er dem Mann gebrauchte Geräte mit. Zudem legt er selbst immer wieder Hand an im Dorf; er hat den Ruf, alles reparieren zu können, doch den Lohn, den er erhält, gibt er weiter. So bittet er einen Lehrer, dessen Wasserpumpe er wieder zum Leben erweckt, den Kindern seines Gärtners Nachhilfestunden in Englisch und Mathematik zu erteilen. Auch Connie hilft den Menschen in Jambiani. Sie hat die Produktion von Rouleaus aus Bambus in die Hand genommen, die hier als Windschutz sehr gefragt sind – eine weitere Einkommensquelle für die Frauen. Nur für kurze Zeit: 10.3.– 6.4.2015.* 6.4.2015. Sie bis zum bis zum können Sie Sammeln hhasen erhalten t reicht. der Vorra Ihren Plüsc . Solange 13.4.2015 klebten den einge tauelheft mit uf mit und Ihr Samm Bringen Sie beim nächsten Einka le gegen einen 18 Stickern in Ihrer Migros-Filiaschhasen ein. n Sie es Gratis-Plü schen sche hiedenen der 3 versc DIE HASEN-FREUND E. seite der Rück ationen auf enfreunde Weitere Inform .migros.ch/has damit e www viel Freud und unter chen Ihnen Wir wüns Ostern! und frohe –––––––––––––––––––––––––––––––––––– Die Plüschhasen Sunny, Funny und Lucky warten auf Sie! –––––––––––––––––––––––––––––––––––– *Pro Fr. 20.– Einkaufswert gibt es vom 10.3. bis zum 6.4.2015 in allen MigrosFilialen oder bei LeShop einen Sticker (max. 10 Sticker pro Einkauf, solange Vorrat). Das volle Sammelheft mit 18 Stickern kann bis zum 13.4.2015 in allen Migros-Filialen gegen einen Gratis-Plüschhasen eingetauscht werden. Angebot nur solange Vorrat. Weitere Infos auf www.migros.ch/hasenfreunde «Komm auch zum IS ... ... das ist wie im Computerspiel Call of Duty – nur in echt» 20 21 Warum hat sich der islamistische Terror zu einer globalen Bedrohung entwickelt – und was haben die jungen IS-Krieger mit den Amokschützen in amerikanischen Schulen gemein? Ein Gespräch mit Olivier Roy, dem führenden französischen Islamwissenschaftler. Unter westlichen Islamwissenschaftlern ist er eine Ausnahmeerscheinung. Einerseits hat Olivier Roy eine brillante akademische Karriere absolviert und einige der wichtigsten Studien zum politischen Islam verfasst. Sein Buch «Das Scheitern des politischen Islam» (L’Échec de l’Islam politique) gilt als Referenzwerk genauso wie «Der islamische Weg nach Westen», eine Analyse der Stellung des Islam in der heutigen globalisierten Gesellschaft. Andererseits verfügt Roy jedoch über einen stupenden Erfahrungsschatz politischer Feldforschung, was ihn von vielen anderen sogenannten Experten unterscheidet: Er ging als Reisender, jahrzehntelang als Berater des französischen Aussenministeriums und der Sicherheitsdienste sowie als OSZEDiplomat und UNO-Gesandter immer wieder auf Tuchfühlung mit seinem Studienobjekt. Während der 80er-Jahre bereiste er intensiv das vom Krieg beherrschte Afghanistan – und wurde als bester westlicher Kenner der antisowjetischen Mujahedin zum gesuchten Experten für Wissenschaft, Diplomatie und Geheimdienste. Den 11. September 2001 erlebte er in Duschanbe, der Hauptstadt der zentralasiatischen Republik Tadschikistan. Er war angereist zu einem Treffen mit dem Kommandanten Massud, dem Anführer der afghanischen Nordallianz, den er seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Massud jedoch war zwei Tage zuvor von al-Qaida ermordet worden, als Auftakt zu den Anschlägen in den USA. Roy hat den politischen Islam und den islamistischen Terror theoretisch zu durchdringen versucht, aber er kennt ihn nicht nur aus der Theorie. In all seinen Büchern geht er von der Überzeugung aus, dass der politische Islam nur verstanden werden kann, wenn er im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen betrachtet wird. Das Magazin — Herr Roy, das Jahr begann mit den Attentaten von Paris. Dann kam Kopenhagen. Wie beurteilen Sie die Bedrohungslage? Olivier Roy — Man muss zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen wird die Situation bestimmt von den geostrategischen 22 Konflikten im Nahen Osten, die sehr explosiv und dynamisch sind. Wir haben die Tendenz, darüber hinwegzuschauen. Letztlich haben wir es im Nahen Osten immer noch mit Nachbeben der Dekolonisierung zu tun. Die aktuelle Krisenzone entspricht exakt den ehemaligen ottomanischen Provinzen, die die Engländer und die Franzosen 1920 untereinander aufgeteilt haben – Palästina, Syrien, Libyen, Irak und Jordanien, auch wenn Letzteres noch etwas stabiler ist als seine Nachbarländer. Nehmen Sie Libyen: Es ist ein Land, das nie zu einem richtigen Nationalstaat geworden ist. Das ist das Schicksal vieler «Nationen» im Nahen Osten. Die Dekolonisierung liegt weit zurück. Warum sind trotzdem keine stabilen Staaten entstanden? Seit der Unabhängigkeit haben die meisten Länder der Region verschiedene Phasen durchlaufen. Die erste Phase war der arabische Nationalismus, dessen Übervater der ägyptische General Nasser darstellt. Saddam Hussein war der letzte Repräsentant dieses Typus des nationalistischen Machthabers. Der Nationalismus hat jedoch überall in korrupten Militärdiktaturen geendet, denen als Gegenmacht der politische Islamismus und die Muslimbrüder gegenüberstanden. Dann kam der Arabische Frühling, der überraschenderweise zu einer Schwächung der Muslimbrüder geführt hat, obwohl sie zunächst wie die grossen Sieger aussahen. Zum einen hat ihnen die liberale Protestbewegung das Monopol des Widerstandes streitig gemacht, zum anderen ist ihnen mit den salafistischen Bewegungen auch innerhalb des politischen Islam Konkurrenz erwachsen. Das alles führt dazu, dass die politische Lage instabiler ist denn je – und entsprechend auf Europa ausstrahlt. Ist der Arabische Frühling nicht einfach gescheitert? Heute ist in Ägypten wieder ein Militärdiktator an der Macht. Nein, die Situation bleibt dynamisch. Gesellschaften bestehen nicht nur aus Ideologien und ideologischen Auseinandersetzungen – also Islamismus gegen autoritären Laizismus. Man muss das Gesamtbild betrachten. Nehmen Sie etwa die demografische Entwicklung. Tunesien zum Beispiel hat heute die DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Von Daniel Binswanger Bild Roberto Baldassarre niedrigste Geburtenrate in der arabischen Welt: 1,7 Kinder pro Frau. Das ist deutlich tiefer als in Frankreich. In Europa herrscht das Vorurteil, dass die Araber sich rasend schnell vermehren, aber das entspricht nicht mehr den Tatsachen. Zudem ist das allgemeine Ausbildungsniveau sehr hoch. In fast allen arabischen Ländern hat sich die Zahl der Universitätsabgänger in den letzten dreissig Jahren verzehnfacht. Das ist ein gewaltiger Instabilitätsfaktor: Es gibt einen massiven Überhang von arbeitslosen Akademikern. Ist das Problem in diesen Ländern nicht ganz einfach die Religion, das heisst der politische Islam? Natürlich spielt die Religion eine entscheidende Rolle – aber man muss genauer hinsehen, um welche Religiosität es sich handelt. Das Problem ist, dass die Religiosität in diesen Ländern nicht mehr traditionalistisch funktioniert, sondern sehr starken Veränderungen unterworfen ist. Noch einmal zu meiner Eingangsfrage: Müssen wir nun damit rechnen, dass sich in Europa eine endlose Anschlagsserie fortsetzt? Endlos wohl kaum. Aber hier komme ich zum zweiten Aspekt des Problems, mit dem wir es zu tun haben. In Europa wird eine Jugend produziert, die nichts mehr zu verlieren hat. Es gibt ein Randsegment von Jugendlichen, die davon überzeugt sind, dass sie vom System zurückgestossen werden. Daher werden sie Systemfeinde. Grundsätzlich ist das nichts Neues: 68 war auch eine Bewegung gegen das System. Und 68 war ebenfalls eine Jugendbewegung, die Revolution einer Jugendgeneration gegen ihre Eltern. Auch die 68er-Bewegung ist ja in ihren radikalsten Strömungen in den 70er- und 80er-Jahren in den Terrorismus abgeglitten. Es endete mit der Baader-MeinhofGruppe, Action Directe und den Roten Brigaden. Wollen Sie den islamistischen Terror mit dem europäischen Linksterrorismus der 70er-Jahre vergleichen? Der islamistische Terrorismus steht tatsächlich in einer Kontinuität zu diesen radikalen Jugendbewegungen, nur dass sich der Nihilismus noch einmal massiv verstärkt hat. Die RAF hat gezielte Attentate begangen. «Charlie Hebdo» war aus Sicht der Täter ein sehr gezieltes Attentat. Aber islamistische Terroristen nehmen beliebige «Kollateralschäden» in Kauf. Dasselbe galt für die Baader-Meinhof-Gruppe – nehmen Sie die Flugzeugentführungen. Wenn ich Sie richtig verstehe, betrachten Sie die Parallelen zum europäischen Linksterrorismus als aufschlussreicher für das Verständnis des heutigen islamistischen Terrors als die Verankerung im Islam. Zum Verständnis des heutigen Terrorismus ist die Erklärungskraft des Korans gleich null. Die Jugendrevolte, deren Ausdruck der heutige Terrorismus ist, hat aber eine Reihe von Parallelen zum alten Linksterrorismus. Natürlich liegt ein Unterschied darin, dass die Ideologie der RAF vom Marxismus und diejenige des islamistischen Terrors von der arabischen Geschichte und von religiösen Vorstellungen geprägt wird. Das Referenzsystem ist ein anderes, dennoch gibt es Parallelen: Beide Bewegungen betreiben Terror im Namen einer Weltre- volution. Beide verstehen sich als Speerspitze gegen den Imperialismus. Beide sind fanatisch antiamerikanisch und antisemitisch. Ein junger Mann, der sich der Fantasie anheimgeben will, er leiste gewaltsamen Widerstand gegen die «Weltherrschaft», konnte sich in den 70er-Jahren der RAF anschliessen. Heute bleiben nur noch al-Qaida oder der IS. Eine andere Alternative hat er nicht. Für den islamistischen Terror ist aber der Antiisraelismus viel zentraler. Der Antiisraelismus ist weniger wichtig, als angenommen wird. Nicht Israel ist der Feind, sondern die Juden als solche. In Paris wurde nicht eine israelische Einrichtung angegriffen, sondern ein koscherer Supermarkt, in dem französische Juden einkauften. Al-Qaida und IS sind erz-antisemitisch, aber ihr Antisemitismus ist nicht religiös motiviert, sondern er reproduziert den klassischen säkularisierten Judenhass. Die Juden repräsentieren das Kapital, den Kosmopolitismus, die Medienmacht, das Establishment. Deshalb müssen sie bekämpft werden. Dieses Feindbild hat eine lange Tradition, nicht nur in der europäischen Rechten, sondern auch in der europäischen Linken. Der Palästina-Konflikt spielt aber für den Islamismus eine zentrale Rolle. Das wird überschätzt. Al-Qaida führt einen globalisierten Kampf gegen den grossen Satan, es geht nicht um das palästinensische Territorium. Die Terroristen bekämpfen die Juden als imaginierte weltpolitische Macht, nicht den Staat Israel als solchen. Bin Laden hat nie einen antiisraelischen Terroranschlag veranstaltet. Das hatte keine Priorität. Ist nicht zu fürchten, dass der IS oder al-Qaida nun versuchen werden, in Europa einen spektakulären Anschlag durchzuführen? Das würde insofern Sinn machen, als der IS in Europa rekrutiert und er mit einem Anschlag sein Prestige erhöhen könnte. Allerdings würde es schlecht zur globalen Strategie des IS passen: Der islamische Staat unterscheidet sich darin von al- Qaida, dass er den Kampf territorialisiert hat. Er will nicht internationalen Terrorismus betreiben, er will ein Kalifat gründen, das heisst: ein Territorium besetzen, einen Staat errichten – und mit dieser Staatsmacht dann die Welt erobern. Aber der IS ist eine internationale Truppe. Das ist wichtig für seine Identität, die weniger vom Koran als von der politischen Geschichte des Islam geprägt wird. Der Grundmythos ist: Mohammed hat nicht zwischen den Stämmen unterschieden, sondern eine «internationale» Gemeinschaft gegründet. Diese «islamische Legion» hat sich mit der lokalen Bevölkerung – also den Einwohnern des arabischen Halbmondes – verbündet und konnte so in kürzester Zeit ein Weltreich errichten. Das ist der Grund, weshalb der IS eine aktive Heiratspolitik betreibt und für seine Kämpfer Ehen mit einheimischen Frauen arrangiert. Der internationale Terrorismus jedoch ist für den IS nur ein Nebenschauplatz. Hier besteht ein fundamentaler Unterschied zu al-Qaida. Warum kann der IS in Europa so viele Kämpfer rekrutieren? Man muss sich das Profil dieser Rekruten ansehen, das sehr stereotyp ist. Es sind muslimische Secondos oder Konvertiten, die 23 24 25 nicht religiös aufgezogen wurden und randständige Existenzen führen: Kleinkriminelle, Dealer, Arbeitslose aus den Banlieues. Die Radikalisierung erfolgt häufig im Gefängnis, und es ist nicht so, dass erst eine religiöse Phase und dann die Politisierung kommt, sondern beides geschieht gleichzeitig und in sehr kurzer Zeit. Im Vergleich zu den Mitgliedern von alQaida ist das soziale Niveau beim IS viel tiefer: Al-Qaida rekrutierte Mittelschichtskinder mit Studienabschluss. Der IS rekrutiert Outcasts. Was ist die Motivation dieser Rekruten? Sie betrachten sich als Opfer, als Bürger, die von der Gesellschaft betrogen werden und denen das «System» keine Chance gibt. Das ist das Leitmotiv aller Befragungen europäischer Jihadisten. Die Vorbilder, denen sie in ihrer Revolte nachleben wollen, sind nihilistische Heldenfiguren. Die Todesfaszination ist zentral. Es geht weniger darum, einen Krieg zu gewinnen, als andere Menschen umzubringen und selber dabei schnell und heldenhaft zu sterben. Auch wenn es sich nicht um Suizidattentate handelt, sind die Aktionen in der Regel so geplant, dass die Täter selber keine Chance haben zu überleben. Ist diese Todesfaszination nicht auch darin begründet, dass es sich um religiösen Fanatismus handelt? Nein. Es gibt keine muslimische Tradition des Suizidattentats. Bis Anfang der 80er-Jahre war das tabu. Wer behauptet, die extreme Gewaltbereitschaft gründe im Koran und in der muslimischen Theologie, der muss erst einmal erklären, weshalb sich diese Tendenzen während 1400 Jahren im Islam nicht manifestiert haben und erst heute auftreten. Natürlich ist es im traditionellen Islam heldenhaft und glorreich, im Kampf ge- gen die Ungläubigen zu fallen, aber den Tod zu suchen ist verboten. Darin unterscheidet sich der Islam nicht vom Christentum und vom Judentum: Suizid ist gegen den Willen Gottes. Aber im Koran gibt es zahllose Aufrufe zur Gewalt gegen Ungläubige. Darin unterscheidet er sich nicht von den anderen Monotheismen. Lesen Sie den alttestamentarischen «Exodus», der eine eigentliche Theorie des Genozids an den ungläubigen Bewohnern Palästinas enthält: Dann können wir uns über Gewalt in heiligen Texten unterhalten. Es gibt zwar Wirrköpfe, die aus dem «Exodus» die israelische Siedlungspolitik ableiten wollen, aber das ist natürlich Unfug. Genauso blödsinnig ist es, den IS mit ein paar Koransuren zu erklären. Wir haben heute keinen Begriff mehr davon, was Religionen eigentlich sind, und deshalb ist den Leuten auch kaum mehr zu vermitteln, dass alle Religionen eine intolerante Dimension haben. Es geht in allen Religionen darum, Gläubige und Ungläubige zu trennen. Die Gläubigen werden erlöst, die Sünder und Ungläubigen kommen in die Hölle. Dass die Hölle existiert, hat auch kürzlich der Papst wieder bekräftigt. Im Katholizismus spielt zwar die göttliche Liebe eine Rolle, aber auch der Katholizismus lässt die Ungläubigen in der Hölle schmoren. Offenbarungsreligionen sind kein Wohlfühlprogramm. Die extreme Gewalttätigkeit des islamistischen Terrors muss man aus dem heutigen Kontext verstehen. Sie hat mehr zu tun mit den Amokläufen in amerikanischen Highschools – Colombine zum Beispiel – als mit der religiösen Tradition. Glauben Sie wirklich, dass die Gewaltbereitschaft so austauschbar ist? Es gibt eine Auffälligkeit, wenn man sich anschaut, aus welchen Städten Frankreichs die IS-Kämpfer und die islamistischen Terroristen stammen. Es ist nachvollziehbar, dass Städte mit hohem muslimischem Einwohneranteil übervertreten sind. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Marseille. Praktisch keine französischen Islamisten kommen aus Marseille. Wie erklärt sich das? Marseille hat eine sehr entwickelte Mafia- und Kriminalitäts-«Kultur», mit ihren Mythen, ihren Heldenfiguren, einem Identitätsangebot für gewaltfaszinierte Outcasts. Ein Jugendlicher in Marseille mit dem Profil eines potenziellen Jihadisten wird eher in den Drogenhandel einsteigen, mit einigen Freunden und Kalaschnikows ein paar Strassenzüge kontrollieren, ein grosser Hengst sein und nach kurzer Zeit von einem rivalisierenden Dealer erschossen werden – ein recht ähnlicher Lebensentwurf wie bei einem IS-Jihadisten. Und diese Gewaltfaszination hat sich verstärkt? Offensichtlich ist, dass die Gewaltfaszination in der Populärkultur heute viel präsenter ist. Die Soziologie interessiert sich schon lange dafür, dass der extrem gewalttätige Gangsterfilm «Scarface» in der französischen Banlieue absoluten Kultstatus hat. Man sieht den Enthauptungsvideos des IS ja deutlich an, welchen Vorbildern sie nacheifern. Zum einen natürlich Hollywood-Grossproduktionen wie dem Film «Seven», in dem man Folterungen und einen abgeschnittenen Kopf sieht. Solche Dinge sind im Mainstream-Kino relativ neu. Interessanterweise wird im Mainstream immer mehr «Gore», also immer mehr extreme Gewalt, und immer weniger Sex gezeigt. Zum anderen ist auch offensichtlich, dass sich die IS-Propaganda ihre «Inspiration» holt auf Websites, auf denen die mexikani- sche Drogenmafia ihre Gräueltaten vorführt. Auch dort werden Enthauptungen mit dem Dolch gezeigt. Das sind eindeutig Vorbilder. Zwischen Gewaltfilmen und realer Gewalt gibt es einen Unterschied. Sicher. Aber es werden Vorbilder geschaffen, Grenzen verwischt. Auch Ballerspiele leisten ihren Beitrag. Das FBI hat den Tweet eines Jugendlichen abgefangen, der sich dem IS an geschlossen hat und einem Freund schrieb: «Komm auch! Das ist wie ‹Call of Duty›, aber in echt.» Viele französische Kommentatoren machen die fortschreitende «Kommunitarisierung» in den Banlieues für die neue Gewaltbereitschaft verantwortlich. Sie sagen, die Muslime würden sich wieder mehr auf ihre traditionellen Gemeinschaften zurückziehen, sich abschotten und die Werte der Republik ablehnen. Diese Theorie hat keinen Bezug zur Realität. «Kommunitarisierung» würde bedeuten, dass starke soziale Bande existieren und dass religiöse Gemeinschaften ein intensives Sozialleben entwickeln. Wir stellen das exakte Gegenteil fest. Die Terroristen sind soziale Aussenseiter, randständig, isoliert. Häufig erfolgt ihre Bekehrung im Gefängnis, dem Ort der Desozialisierung par excellence. Es ist zwar richtig, dass es in den Banlieues das Phänomen eines verstärkten Rückzugs auf religiöse Identitäten gibt, dass der Schleier und die Halal-Läden sich ausbreiten. Aber mit dem Terrorismus und den IS-Rekruten hat das wenig zu tun. Dann einmal unabhängig vom Terrorismus: Was ist von dieser Rückkehr der Religion zu halten? 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VeRnÜnftiG finAnZieRen Die Kreditvergabe ist verboten, falls sie zur Überschuldung führt (Art. 3 UWG). cashgate AG, Hagenholzstrasse 56, Postfach 7007, 8050 Zürich «Eine tiefe und radikale Erörterung der menschlichen Sexualität – ein fantastischer Film!» Kino-zeit.de eIN FILM VON FRANÇOIs OZON mehrheitlich akzeptiert. Vor noch nicht langer Zeit wäre das undenkbar gewesen. Wenn es eine generelle Veränderung der religiösen Praxis gibt, weshalb entwickeln sich dann gewalttätige Bewegungen mehrheitlich im Rahmen des Islam? Es gibt, wie gesagt, zwei Besonderheiten des Islam, die diese Tatsache erklären. Da ist zum einen die schwere politische Krise des Mittleren Ostens und der arabischen Welt, in der fundamentale Verschiebungen im Gange sind. Zum anderen die Tatsache, dass es eine starke Einwanderung muslimischer Migranten nach Europa gegeben hat. Der Islam steht im Brennpunkt extremer gesellschaftlicher Spannungen. Daraus erklären sich die Radikalisierungstendenzen – nicht aus wilden Theorien über eine endogene Gewaltneigung der islamischen Theologie. In Ihrem jüngsten religionssoziologischen Werk betonen Sie, dass eines der frappierendsten Merkmale der heutigen Religionsausübung die wachsende Zahl an Konvertiten ist. Die Konversionen sind ein Schlüssel zum Verständnis der heutigen Religiosität. Sie werden favorisiert durch die immer stärkere Trennung von Religion und Kultur. Man schöpft heute seine Religion immer weniger aus einer Tradition, man erbt sie nicht mehr von seinen Vorfahren, sondern man benutzt sie, um sich gegen die Elterngeneration aufzulehnen. Die hohe Zahl von Konvertiten ist der schlagende Beweis, dass radikaler Islamismus nichts zu tun hat mit der Wiederkehr verschütteter Traditionen. Wie hoch ist diese Zahl? Laut den letzten Daten der Sicherheitsbehörden sind 22 Prozent der aus Frankreich stammenden IS-Kämpfer Konvertiten, also junge Männer, die mit dem Islam gar keine Berührung haben, bis sie eines Tages konvertieren und sich sehr schnell radikalisieren. Das ist enorm. Allerdings ist es kein neues Phänomen. Es lässt sich seit Mitte der 90er-Jahre beobachten. Zu al-Qaida haben wir keine so präzisen Zahlen, aber eine vernünftige Schätzung geht davon aus, dass dort die Konvertiten 15 bis 20 Prozent ausmachen. Dass ein beträchtlicher Teil der Terroristen ursprünglich keine Muslime sind, ist kein Medienthema. Allmählich wird die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, weil es ein paar spektakuläre Fälle von konvertierten IS-Kämpfern gegeben hat. Jetzt fallen alle aus den Wolken, dabei kennen wir das Phänomen schon lange. Aber selbst die Sicherheitsbehörden wollten es lange nicht zur Kenntnis nehmen. Ich kann mich gut an Streitgespräche mit dem damals obersten französischen Terrorismus-Ermittler Jean-Louis Bruguière erinnern, die im Jahr 2002 stattgefunden haben. Ich gehörte einer Gruppe von Beratern der Ermittlungsbehörden an. Bruguière sagte: Konvertiten interessieren mich nicht. Man wollte nicht sehen, dass es genau die Oberflächlichkeit der Bindung an den Islam ist, die den islamistischen Terror auszeichnet. Es wäre an der Zeit, dass wir uns für die echten Fragen interessieren. • heute jünger aussehen als gestern neu hydratisiert nachhaltig,reduziert Fältchen und das Spannungsgefühlt Permamed unterstützt mit jeder verkauften Packung Lubex anti-age® die Krebsliga Schweiz im Programm Brustkrebsprävention mit einem Franken. Bestellen Sie Mustersachets unter: erhältlich in Apotheken und Drogerien in Zusammenarbeit mit www.filmcoopi.ch Ab 26. März IM KINO 26 PHOtOs JeAN-CLAUDe MOIReAU IsILD Le BesCO AURORe CLeMeNt JeAN-CLAUDe BOLLe-ReDDAt COFIMAGE 25 FOZ MARS FILMS FRANCE 2 CINÉMA AVEC LA PARTICIPATION DE CANAL+ CINÉ+ FRANCE TÉLÉVISIONS EN ASSOCIATION AVEC MANON 4 LA BANQUE POSTALE IMAGE 7 COFIMAGE 25 CINÉMAGE 8 UNE COPRODUCTION MANDARIN CINÉMA SCÉNARIO ET DIALOGUES FRANÇOIS OZON LIBREMENT ADAPTÉ DE «THE NEW GIRLFRIEND» DE RUTH RENDELL BENOIT HILLEBRANT JEAN-PAUL HURIER MONTAGE LAURE GARDETTE MUSIQUE ORIGINALE PHILIPPE ROMBI SCRIPTE JOËLLE HERSANT SON GUILLAUME SCIAMA IMAGE PASCAL MARTI, AFC DÉCORS MICHEL BARTHÉLÉMY COSTUMES PASCALINE CHAVANNE CASTING ANTOINETTE BOULAT 1ER ASSISTANT RÉALISATEUR ARNAUD ESTEREZ SUPERVISION MUSICALE MARIE SABBAH DIRECTION DE PRODUCTION SERGE CATOIRE DIRECTION DE POST-PRODUCTION PATRICIA COLOMBAT PRODUIT PAR ÉRIC ET NICOLAS ALTMAYER RAPHAËL PeRsONNAZ UNE NOUVELLE AMI e MANDARIN CINÉMA UND FOZ PRäseNtIeReN DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Bevor Sie mit ihren Plänen loSlegen: machen Sie einen realiStiSchen Budget-check. Rückkehr ist das falsche Wort. Es gibt keine Rückkehr zu einer islamischen Tradition, sondern es wird ein neuer Islam erfunden – regelrecht zusammengebastelt –, der bisher nie existiert hat. Die neue Religiosität, auch der Salafismus, den man in den Banlieues beobachten kann, ist individualistisch und wird wie ein Baukasten für eigenständige Ausgestaltungen benutzt. Man übernimmt seine Religion nicht mehr von den Eltern. Man stellt sich selber ein konfessionelles Programm zusammen. Und was für eine Religiosität entsteht in diesem Baukastenverfahren? Es führt dazu, dass die Religion jede kulturelle Einbettung verliert. Alles muss neu beurteilt, neu kodiert werden, nichts ist selbstverständlich. Man sieht es auf den Websites, auf denen salafistische Muslime ihre Lebensprobleme diskutieren. Was sagt der Islam zum Camembert? Was sagt der Islam zur Kreditkarte? Alles muss im Detail erörtert werden, weil nichts mehr vorausgesetzt werden kann. Eine solche aus dem kulturellen Kontext losgelöste, «dekulturierte» Religion ist ein immer attraktiver werdendes Identitätsangebot im Zeitalter der Globalisierung, insbesondere für Migranten und Secondos. Aber es erzeugt eine sehr armselige Form der Religion, weil alles explizit kodiert und genau festgelegt werden muss. Der sogenannte neue Traditionalismus ist in Tat und Wahrheit ein synthetisches Kunstprodukt. Wie wird dieses Kunstprodukt an den Mann gebracht? Die britische Polizei hat kürzlich zwei junge Briten pakistanischer Herkunft abgefangen, die in den Jihad ausreisen wollten. In ihrem Gepäck hatten sie nur ein einziges Buch: «Islam for Dummies». Sie erklärten treuherzig, dass sie zwar den Jihad machen wollten, aber vom Islam keine Ahnung hätten. Sie wollten sich einlesen. Ist diese Wiederkehr der Religion – die also keine Wiederkehr, sondern eine Neuerfindung ist – im Islam besonders stark? Wird das Christentum deshalb vom Islam verdrängt? Im Weltmassstab ganz und gar nicht. Weit schneller als der Islam breiten sich die evangelischen Freikirchen aus, insbesondere die Pfingstgemeinden, die in Afrika und auch im stockkatholischen Südamerika stark expandieren. Auch diese Freikirchen bieten, was Religionen in der Globalisierung bieten müssen: schwache Bindungen an Traditionen und kulturelle Kontexte, eine sehr individualistische Spiritualität, den radikalen Bruch der Born-Again-Erfahrung. Religiosität zeichnet sich heute also generell dadurch aus, dass sie kontextfrei und damit auch «reiner» und fundamentalistischer wird? Die immer stärkere Trennung von Kultur und Religion ist frappierend. Während unsere Kultur immer laizistischer wird, wird die Religiosität tendenziell fundamentalistischer. Nehmen Sie die USA: 70 Prozent der Amerikaner, also eine deutliche Mehrheit, bezeichnen sich als praktizierende Gläubige, und trotzdem ist die amerikanische Kultur de facto extrem säkularisiert. Offenbar kann man mit diesem Widerspruch leben. Der gesellschaftliche Grundkonsens entfernt sich immer mehr von religiösen Werten. Trotz der sogenannten Wiederkehr der Religion sind heute aussereheliche Kinder oder die Schwulenehe DA N I EL BI N S WA NGER ist Redaktor bei «Das Magazin»; [email protected] Der Fotograf ROBERTO BA L DA S SA R R E lebt in Rom; www.robertobaldassarre.com 4106 Therwil www.lubexantiage.ch Filme machen lernt man nicht in der Schweiz Hinter jedem guten Film steht ein gutes Drehbuch. Bis auf Simon Jaquemet scheint das hierzulande aber niemand zu wissen. Besser als sein Jugenddrama «Chrieg» war Deutschschweizer Kino selten. Von Denise Bucher Bild Véronique Hoegger Abkommen der Schweiz mit der EU sistiert: Schweizer Filmschaffende können sich bis auf Weiteres nicht mehr an europäischen Filmförderprogrammen beteiligen. «Wenn du in der Schweiz die Fördergelder mal hast, kannst du in Ruhe arbeiten», sagt Jaquemet. Die Drehbuchförderung reicht für ein bescheidenes Leben, gejobbt hat er trotzdem, «man kann ja nicht immer nur schreiben». Jaquemet sass während drei Jahren an seinem Stoff, Christian Davi war präsent, liess ihm aber viel Freiheit. «Christian war sehr offen, hat seine Meinung gesagt, aber nie, wie ich es machen soll. Er setzt auf die Individualität seiner Autoren statt auf scheinbar bewährte Rezepte und Methoden», sagt Jaquemet dankbar. Christian Davi wiederum lobt den Regisseur dafür, dass er sich nicht zu schade gewesen sei, nochmals zur Schule zu gehen. Hättsch au nöd tänkt, dass es mal so ändet ... Nei. Jetz wär de Momänt, zom rechtig eis go suufe. Isch doch wahr. Alles, wonich druuf vertraut han, liit am Bode. D’Swiss air, mini Beziehig, mini Tröim ... (Sie schluchzt) Würsch mi aso bitte in Arm näh? (Er nimmt sie in den Arm.) Sorry. Ich muess sorry säge, Susanne. So wie in Michael Steiners «Grounding» (2006) klingt es fast immer, wenn Deutschschweizer Kino machen, denn zumeist ist alles entweder langweilig oder unbeholfen, was hier gedreht und produziert wird. Die Filme drücken sich um die Darstellung von Krisen und Konflikten oder nehmen sich ihrer bloss in satirischer oder parodistischer Form an. Sie verkaufen den Zuschauer für dumm, weil sie immer alles erklären. Mit Dialogen, die nach Dorftheater klingen, aber nicht so, wie Menschen normalerweise miteinander reden. Und jetzt kommt der junge Simon Jaquemet mit seinem Erstling «Chrieg» und zeigt allen anderen, wie man es macht. unerfahren, vieles kann schiefgehen. Mit «Chrieg» ging nichts schief. Der Film handelt vom 16-jährigen Matteo (Benjamin Lutzke), der nicht weiss, was er mit seinem Leben anfangen soll. Seine Eltern halten ihn für einen Querulanten, der auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss. Sie schieben ihn ab auf eine Alp, wo er durch harte Arbeit zur Besinnung kommen soll. Was ihn dort erwartet, ist aber nicht Arbeit. Es sind zwei Jungen, Anton und Dion, und das Mädchen Ali, die noch viel schlimmer sind als er. Bei Hugofilm mochte man die Prämisse, dass ein Jugendlicher ein Time-out braucht. Man fand die Idee stark, dass eine Figur über die Erfahrung von Gewalt eine positive Entwicklung durchmacht. Dass es kein Happy End gibt. Man traute Jaquemet zu, einen Film mit Jugendlichen zu machen, weil er für seine bisherigen Kurzfilme oft mit Jugendlichen gearbeitet hatte. «Er kennt dieses Milieu. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um eine Geschichte zu erzählen. Und Simon hat etwas zu erzählen», sagt Christian Davi. Trotz des schwierigen Stoffs bekam Simon Jaquemet früh Fördermittel für die Drehbuch- und Projektentwicklung: 20 000 Franken Treatmentförderung vom Migros-Kulturprozent, 5000 davon kamen von Hugofilm. 45 000 Franken aus dem Gefäss Drehbuch PLUS vom Bundesamt für Kultur, 60 000 Franken von der Zürcher Filmstiftung. Von MEDIA, einem Filmförderungsprogramm der EU, kamen 54 000 Franken. Aus heutiger Sicht war MEDIA ein Glücksfall: Mit der Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative wurde das DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 — BI L DE R : JOE L L E KO S T/H UG OF I L M Förderung des Mittelmasses Dass es in der Deutschschweiz seit Jahrzehnten kaum mehr aufregende Filme gibt, liegt einerseits an der Subventionsmentalität. Seit dem Wandel der Förderstrukturen in den 90erJahren und der Totalrevision des Filmgesetzes 2002 verlangt der Bund nach Filmen, die kommerziellen statt kulturellen Ansprüchen genügen. Man will kein künstlerisch anspruchsvolles Kino mit internationaler Strahlkraft mehr, sondern Filme, die ein breites einheimisches Publikum ansprechen. – Die Subventionen sollen sich rentieren. Das bedeutet: Unkonventionelle oder radikale Stoffe haben bei den Förderstellen wenig Chancen. Aktuellstes Beispiel: «Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» von Stina Werenfels. Der Film über das sexuelle Erwachen einer Behinderten erhielt von Bund und Kanton keine Unterstützung. Werenfels musste nach Berlin ausweichen. Jetzt, da der Film Preise gewinnt, bereuen die Förderstellen ihren Entscheid. Aber das eingereichte Drehbuch habe damals nicht überzeugt, heisst es. Das Drehbuch ist das andere grosse Problem. Es gibt in der Schweiz nur wenige Autorinnen und Autoren, die das Handwerk des Drehbuchschreibens beherrschen. Den meisten fehlt die Ausbildung. Während man sich in Deutschland, Österreich oder Dänemark seit Jahren zum Drehbuchautor ausbilden lassen kann, gibt es in der Deutschschweiz erst seit gut zwei Jahren qualifizierte Drehbuchlehrgänge. Anderen fehlt es wegen des kleinen Marktes an der nötigen Erfahrung. Oder an Talent. Simon Jaquemet, 36, Regisseur des mehrfach preisgekrönten und vieldiskutierten «Chrieg», hat Talent. Das fiel Christian Davi, Mitinhaber der Produktionsfirma Hugofilm, schon auf, als er 2005 Jaquemets Diplomfilm «Die Burg» sah. «Von da an hatten wir Simon auf dem Radar», sagt er. Christian Davi hat die Entwicklung von «Chrieg» von Anfang an unterstützt. Er produziert gern Erstlingsfilme. Aber solche Projekte brauchen Mut. Man kennt die Filmemacher noch nicht, sie sind Der ganze Arthouse-Kuchen Zuerst, das war 2010, nahm er mit Unterstützung des MigrosKulturprozents an einer Drehbuch-Masterclass teil. Kurz vor Drehbeginn konnten Regisseur und Produzent ihr «Chrieg»Projekt an der Berlinale vorstellen, am «Talent Project Market» im Rahmen der «Berlinale Talents». Zugelassen werden nur die Besten. Wer es schafft, findet sich am Ende des Workshops auf einer Bühne wieder, unter sich einen Saal voll wichtiger Leute aus dem Filmbusiness: Vertreter von Festivals, wichtige Verleiher und Produzenten. «Der ganze Arthouse-Kuchen», wie Jaquemet es nennt. Für Christian Davi war die Teilnahme an solchen internationalen Workshops genauso wichtig wie für Simon Jaquemet. So konnte er schon weit im Voraus auf «Chrieg» aufmerksam machen. «Wenn man bei einem ersten Film erst mit der Positionierung anfängt, wenn der Film als Rohschnitt vorliegt, ist es zu spät», sagt er. Am prägendsten für Jaquemet war die Teilnahme am «TorinoFilmLab». Vermutlich verdankt ihm «Chrieg» einen Grossteil seiner Qualität und seines Erfolgs: beim Publikum wie auch bei den Förderstellen, als es darum ging, Geld für die Herstellung zu bekommen. Das Torino-Lab ist ein internationaler Workshop für junge Talente, die ihren ersten oder zweiten Film realisieren. Finanziert wird es vom italienischen Kulturministerium, der Kulturförderung der Region Piemont und der Stadt Turin. Auch wichtige internationale Filmfestivals wie San Sebastián oder Cannes sind beteiligt. Es gibt jeweils Hunderte von Bewerbern aus aller Welt, nur ein Bruchteil schafft die Aufnahme. Im ersten Teil beschäftigen sich die Jungfilmer in drei übers Jahr verteilten Workshops mit der Stoffentwicklung, im zweiten Teil neben der Projektentwicklung auch mit Herstellung und Produktion. Man arbeitet in kleinen Gruppen an den Stoffen, Script-Consultants beraten. Simon Jaquemets Gruppe wurde von der Schwedin Marietta von Hausswolff von Baumgarten betreut, «eine crazy Adelige, die Drehbücher schreibt und, soweit ich das mitbekommen habe, eine ziemlich wilde Jugend hatte», sagt er. Er erinnert sich an den ersten Satz, den sie zu ihm gesagt hat: «Just write it and shoot it!» Mit einer so positiven Grundhaltung in den Stoffentwicklungsprozess einzusteigen habe ihm sehr viel Energie und Motivation gegeben. Ein internationaler Workshop wie das Torino-Lab hat wenig zu tun mit dem, was Jaquemet mit einem früheren Projekt an einem Schweizer Workshop erlebt hatte: «Dort wurde das amerikanische Schema gepredigt, eine rigide Drei-AkteStruktur. Ich kam nicht zurecht mit dem Ansatz, dass man einem Projekt ein vorgefertigtes Schema aufdrücken will. Ich treffe immer wieder auf Filmemacher, die glauben, wenn sie Regeln genau umsetzen und dem System folgen, dann werde der Film gut. Aber das ist nicht so.» Jaquemets Stoff wurde in der Torino-Gruppe kontrovers diskutiert. Das Feedback seines chilenischen Kollegen mochte er besonders: «Er hat meine vier Jugendlichen mit einer Hundemeute verglichen. Der neue Hund, der dazukommt, wird geplagt, bis er in der Hierarchie aufsteigen kann. Das habe ich beim Schreiben im Kopf behalten.» Etwas anderes, das ihm Eindruck machte: «Fast niemandem am Torino-Lab wurde das Drehbuch finanziert. Für die meisten ist klar, dass man das Buch zum Erstlingsfilm in seiner Freizeit schreibt. Im Ausland bedeutet Filmemachen oft Armut. Das Risiko, das man auf sich nimmt, ist viel grösser als hier.» Christian Davi hat die Zahlen dazu: In der Schweiz bekommt ein Autor, je nach Erfahrung, zwischen 50 000 und 80 000 Franken für ein Drehbuch. In Deutschland wären es etwa 18 000. «Für Unerfahrene. Erfahrene wiederum können in Deutschland viel besser verdienen als hier», sagt er. Im zweiten Teil des Torino-Labs betreute unter anderem der rumänische Autor, Regisseur und Drehbuchberater Razvan Radulescu Jaquemets Gruppe. Radulescu gehört zu den führenden Figuren der «Neuen Rumänischen Welle». Davi war Drehtag in den Bergen: Benjamin Lutzke, Sascha Gisler und Ste (Bild linke Seite). Hätte den Schweizer Filmpreis für sein Drehbuch verdient: Regisseur Simon Jaquemet (links). 30 31 Publireportage Ein Film über Gewalt – das sollen wir fördern? Die vielen guten Rückmeldungen von renommierten Filmemachern und Drehbuchberatern am Torino-Lab und in Berlin dürften «Chrieg» den Weg durch die Schweizer Förderstellen geebnet haben. Denn der Stoff, den Jaquemet und Davi dem Bundesamt für Kultur und der Zürcher Filmstiftung auf den Tisch legten, gleicht wenig dem, was sonst gern gefördert wird. Es geht um Gewalt. Die Gewalt wird nicht verurteilt. Es wird kaum geredet und wenig erklärt. Das Ende ist offen. «Bei den Förderstellen hiess es dann schon: Du musst doch als Regisseur einen Standpunkt vertreten. Du musst das, was diese Jugendlichen tun, verurteilen. Es braucht ein Happy End», erinnert sich Jaquemet. Aber das interessiert ihn nicht. Er will, dass etwas stehen bleiben kann, wie es ist, ohne dass er die Moral von der Geschichte mitliefern muss. «Mich interessieren ja auch die Filme, wo ich selber meine Schlüsse ziehen muss.» Solchen Forderungen von Kommissionen zu begegnen ist nicht einfach für Jungfilmer, die zum ersten Mal ein Projekt vorstellen und verteidigen müssen. Aber Hugofilm stand hinter Jaquemet, und schliesslich wurde ihnen der angefragte Förderbeitrag gesprochen: 700 000 vom BAK und 400 000 von der Zürcher Filmstiftung. «Ich weiss noch, dass das BAK als einzigen Negativpunkt angeführt hatte, es sei nicht immer klar ersichtlich, ob der Film gewaltverherrlichend sei. Das hat mir gefallen. Denn darum geht es mir ja», sagt Jaquemet und grinst. Dann ging es ans Casting. «Es war die Hölle, es dauerte Monate», sagt Christian Davi. Hugofilm hat 65 000 Franken dafür ausgegeben, normal wären 20 000. Zur Unterstützung hatten sie die Casting-Directorin Lisa Olàh aus Wien engagiert. «Wir hatten den Anspruch, möglichst authentische Darsteller zu finden», sagt Davi. Bis auf Ella Rumpf, die Ali spielt, fiel die Wahl auf lauter Laien. Die Ausgebildeten waren weniger überzeugend. Den Hauptdarsteller, den damals 16-jährigen So scharf sehen wie in Ultra-HD-Qualität Benjamin Lutzke, hat Simon Jaquemet am Zürcher Hauptbahnhof entdeckt. Bemerkenswert ist, wie die Darsteller das Drehbuch zu beeinflussen begannen. Mit ihren Erfahrungen, von denen sie erzählten – mancher hat eine ähnlich schwierige Vergangenheit wie seine Filmfigur –, aber auch mit ihrer Sprache: «Ich habe ihre Gespräche manchmal aufgezeichnet, sie transkribiert und gemerkt: Ah, stimmt, so spricht man ja in der Realität», sagt Jaquemet. Die grosse Authentizität der Darsteller und die niemals nach Drehbuch klingenden Dialoge gehören zu den grossen Stärken von «Chrieg». Der Dreh dauerte 36 Tage. «Es war gut, dass nicht immer mit dem ganzen Team gearbeitet werden musste, das kostet weniger – natürlich hat man immer zu wenig Geld», sagt Christian Davi. Es half, dass die junge Crew noch nicht in die hohen Lohnklassen gehörte. Und dass alle auf zehn Prozent ihres Gehalts verzichtet haben. Aber sie mussten trotzdem eine Zweiteingabe machen. Die Business Location Südtirol sprach ihnen rund 185 000 Euro. Unter der Bedingung, dass ein Teil von «Chrieg» in Südtirol gedreht und dort Geld ausgegeben wird. «Sie gaben uns ihre Steuergelder, also wollten sie auch was dafür haben», sagt Davi. Die Szenen in der Stadt, als die Teenager einen Porsche abfackeln und eine Villa zerstören, wurden dort gedreht. Das Schweizer Fernsehen war mit 200 000 Franken mit einem verhältnismässig kleinen Betrag dabei. «Was ich gar nicht schlecht finde», sagt Christian Davi. «Die Redaktion hätte sonst sicher mehr reingeredet, damit der Film ‹Primetime-tauglicher› würde.» Insgesamt hat «Chrieg» 2 Millionen gekostet. «2,3 wären ideal gewesen», sagt Davi. Aber viel besser hätte der Film kaum mehr werden können. «Chrieg» ist ein herausragender Erstlingsfilm, eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Filmwelt. Das liegt einerseits an der schauspielerischen Leistung von Benjamin Lutzke, Ella Rumpf, «Ste» und Sascha Gisler. Es liegt aber auch an Simon Jaquemets Talent und Kompromisslosigkeit im Erzählen. Er traut dem Zuschauer etwas zu. Und er nimmt seine Figuren ernst. Er zeigt sie, wie sie sind, er erforscht ihr Verhalten und deutet nichts. Er geht nicht zimperlich mit ihnen um, sondern führt ihre Probleme, ihre Dummheit und Verzweiflung vor. Man kann unmöglich zwischen Gut und Böse oder Richtig und Falsch unterscheiden, man pendelt stattdessen zwischen Sympathie und Abscheu. «Chrieg» gibt sich nicht gesellschaftskritisch, sondern verzichtet darauf, eine Haltung zu dem oft fragwürdigen Verhalten der Jugendlichen einzunehmen. Das ist gut so. Neu und schon eine Erfolgsgeschichte – die revolutionäre DNEye ®-Technologie bei Kochoptik Langsam aber sicher hat es sich herumgesprochen: Mit den High-Performance-Brillengläsern von Kochoptik ist absolut scharfes Sehen wie in Ultra-HD-Qualität möglich. 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Der Scan dauert übrigens nur kurz und ist selbstverständlich schmerzfrei und vollkommen ungefährlich. • DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 manchmal dabei in den Workshops: «Von Radulescu habe ich etwas Wichtiges gelernt: Wenn du als Autor über die Motivation einer Figur nachdenken musst, hast du den Fehler bereits gemacht – dann steht die Figur nicht im richtigen Konflikt oder in der richtigen Konstellation. Wenn alles stimmig ist, muss die Figur handeln, wie sie es tut, sie kann gar nicht anders.» Jaquemet sagt, so technisch denke er gar nicht beim Schreiben. Er arbeitet intuitiv. «Manchmal machen meine Figuren Dinge, von denen ich gar nicht weiss, warum sie sie tun.» Die Szene, in der Matteo mit seinem kleinen Bruder in den Wald verschwindet, ist so eine. «Es ist schwierig nachzuvollziehen, warum Matteo das macht. Ich könnte es nicht rational erklären. Aber das Gefühl sagte mir, dass es für den Handlungsbogen und für die Figurenzeichnung sinnvoll war. Solche Momente sind wichtig, um Figuren real zu machen. Man beobachtet im echten Leben ja auch Menschen bei Handlungen, die man nicht versteht. Oder tut selbst Dinge, die man sich nicht erklären kann.» Darum findet er es wichtig, dass solche Szenen im Film drinbleiben. «Mancher Drehbuchberater würde das rausstreichen, weil es angeblich nichts mit der Geschichte zu tun hat. Dabei ist es für die Stimmung wichtig.» Weitere Pluspunkte Mit den neuen Brillengläser ist nicht nur schärferes Sehen gewährleistet, sondern auch ein ✃ <wm>10CFXLKw7DQAxF0RV59Dz-x7AKiwqq8iFVcPaPqoYVXHbucbQN3D3253t_NYNVSQKZ3lY2Zjh3IkaGlDeEfYJtY-gUVNTfQqo5DVg_QxBiXwxSkNVij3F9zi9J_k4xdQAAAA==</wm> breiteres Sehfeld und eine höhere Kontrastwahrnehmung. Dies ist vor allem im Strassenverkehr von Vorteil, weil es die Sicherheit erhöht. Doch auch vor dem Computer oder in der Freizeit bestechen die neuen High-Performance-Brillengläser von Kochoptik durch einen nie dagewesenen Sehkomfort. Schweizer Qualität mit Service Intelligente Technologie allein kann einen guten Service nie ersetzen. Darum stehen bei Kundenumfrage bestätigt Vorteile In einer gross angelegten Kundenumfrage hat Kochoptik über 220 Kundinnen und Kunden zu ihren Erfahrungen betreffend Brillengläser mit DNEye®-Option befragt. 95% aller Befragten haben vorher bereits eine Brille getragen und können die Veränderungen gut beurteilen. So sehen 87% der Befragten mit DNEye®-Gläsern besser als mit den alten und 91% würden die neuen Gläser weiterempfehlen. Kochoptik immer eine individuelle Beratung und ein Top-Service an erster Stelle – seit Generationen. Denn Kochoptik ist ein Schweizer Optiker, dessen erstes Geschäft 1909 an der Zürcher Bahnhof- Gutschein für eine kostenlose Messung mit dem DNEye® Scanner. Bitte vereinbaren Sie mit uns einen Termin – jetzt auch online möglich über www.kochoptik.ch DEN I SE BUCH ER schreibt regelmässig für «Das Magazin»; [email protected] Die Fotografin V ÉRON IQU E HOEG GER lebt in Zürich; www.ver.ch 32 strasse eröffnet wurde und der mittlerweile mit 23 Geschäften im Raum Zürich, Basel, Fribourg und Bern zu den führenden Optikern in der deutschsprachigen Schweiz zählt. Gültig bis 20.4.2015 www.kochoptik.ch Gratisnummer 0800 33 33 10 CHR ISTIAN SEILER WIE MAN EINE MAHLZEIT IM R ESTAUR ANT GENIESST 1 — Wählen Sie das richtige Lokal. Wenn Sie Lust auf eine Pizza haben, sollten Sie nicht in die Kronenhalle gehen. Und wenn Sie sich auf klassische Küche in kulturaffinem Rahmen freuen, dann ist «René’s Kebabparadies» vermutlich der falsche Ort. Klingt banal? Eh, aber viele misslungene Mahlzeiten kranken daran, dass man mit falschen Erwartungen ausgegangen ist. 2 —Haben Sie keine Erwartungen. Wer ein Restaurant, das zum Beispiel eben mit dem ersten Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, genau deshalb besucht, darf sich nicht beschweren, wenn er nachher das unbestimmte Gefühl hat, nicht bekommen zu haben, was er sich vorstellte. Warum? Weil Sie mit der Erwartung ausgegangen sind, etwas Besseres zu bekommen – so gut kann, was man Ihnen vorsetzt, gar nicht sein. 3 —Denken Sie nicht über das Geld nach. Gute Restaurants kommunizieren auf ihren Websites sehr klar, was Menü und Weinbegleitung kosten. Sie können also genau kalkulieren, wie viel Geld Sie ausgeben müssen, um im Restaurant Ihrer Wahl ausführlich zu essen und zu trinken (oder zu Mittag schnäppchenmässig einen Eindruck von der Kunst der Küche zu gewinnen). Sobald Sie sich entschieden haben, diese Summe auszugeben, denken Sie nicht mehr darüber nach. Nichts ist giftiger als der Gedanke, dass man gerade für ein Abendessen eine Summe ausgegeben hat, für die andere in die Ferien fahren (kurze Ferien, okay, aber Ferien). Warum die Summe so hoch ist, erklärt sich bei einem Blick in die Küche (viele, viele Köche) und auf die Zutatenliste. Sie haben mehr Freude am Essen, wenn dieses Thema bereits abgehakt ist, bevor Sie sich für den Abend in Schale werfen. 4 —Ziehen Sie sich angemessen an. Wenn Sie ein schickes Restaurant besuchen, sollten Sie dort nicht auffallen: weder durch eine Aufmachung, als würden Sie später noch auf dem Opernball erwartet, noch durch eine Lässigkeit, die Ihnen plötzlich unangenehm ist. Sobald Sie im Restaurant anfangen, über die Kleiderordnung nachzudenken, wird zwangsläufig Ihre Aufmerksamkeit für das Essen darunter leiden. 5 — Lassen Sie Ihre Kompetenz zu Hause. Keine Frage: Sie wissen, was gut, teuer und angesagt ist. Aber ziehen Sie für einen Moment in Betracht, dass der Küchenchef das auch weiss. Machen Sie es sich also einfach: Delegieren Sie den Sachverstand an die Gastgeber. Kann sein, dass selbst Sie von einem geglückten Gericht, einer geglückten Kombination, einer geglückten Überraschung erreicht und verzaubert werden. 6 —Erklären Sie nicht dem Sommelier die Weinkarte. Lassen Sie sich die Weinkarte vom Sommelier erklären. 7 — Lassen Sie das Handy zu Hause (oder geben Sie es wenigstens mit dem Mantel an der Garderobe ab). 8 —Bewerten Sie eine Küche nach ihren Höhepunkten, nicht nach ihren Fehlern. Moderne Degustationsmenüs sind höchst komplexe Kreationen. Es reicht nicht, wenn Köche Klassisches pflegen, sie müssen die Grenzen des Bekannten und Erlaubten sprengen, damit sie Begeisterung ernten. Wenn das gelingt, kommt das einer Komposition gleich, die Sie nicht mehr aus dem Ohr bekommen. Aber wer komponiert ausschliesslich Hits? Wenn Sie mit ein, zwei Geschmäckern auf der Zunge nach Hause gehen, von denen Sie inspiriert wurden – etwa die grossartige, fein geschnittene Sellerie, die in brauner Butter gegart und mit mildem Obstessig veredelt wurde, wie im Oaxen Krog in Stockholm –, dann war der Abend auf jeden Fall ein Erfolg und wird Sie über den Tag hinaus bereichern (nach Abzug der Rechnung; aber über Geld, haben wir gesagt, sprechen wir heute nicht mehr). Mehr von CH R I S T I A N SEI L ER immer montags in seiner «Montagsdemonstration» auf blog.dasmagazin.ch Illustration A L E X A N DR A K L OBOU K 34 DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 Es könnte ja ganz einfach sein. Ein Vademecum für den Restaurantbesuch DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 — L EON G OLU B: I N T ER RO G AT ION I I I, 1981; M ERC ENA R I E S I V, 1980; T H E G O -A H E A D, 198 5 – 6 / PRO L I T T ER I S Z Ü R IC H 201 5. C OU RT E S Y SER PEN T I N E G A L L ERY, L ON D ON. FO TO: R E A D S Vor der Gewalt in Leon Golubs monumentalen Bildern wirkt jeder Betrachter klein und verletzlich. HANS ULR ICH OBR IST DER MALER AKTIVIST Letztes Jahr an einem Oktobermorgen sass ich im Café und las Zeitung, ich glaube, es war der «Guardian». Es ging um den Bürgerkrieg in Libyen, die Schlachten in Syrien, die Rassenauseinandersetzungen in den USA. Zu den Texten sah ich Fotos von Mord, Folter und Guerillakämpfern, und plötzlich erschien vor meinem inneren Auge eine ganze Ausstellung mit Bildern eines Künstlers, der den Schrecken, die Gewalt und die Willkür des Militärs auf eine Weise festhielt wie kein anderer seiner Zeit. Der Künstler heisst Leon Golub. In den 80er-Jahren gehörte er zu den bedeutendsten Malern, doch seit seinem Tod vor zehn Jahren wurde er so gut wie gar nicht mehr ausgestellt. Golub war immer der Überzeugung, ein Maler müsse ein Aktivist sein, der mit seiner Kunst gegen Unterdrückung antritt. Denn woher sonst, fragte er, sollte die Kunst ihre Relevanz beziehen? Golub schloss sich schon in den 50er-Jahren als Student in Chicago einer Bewegung namens Monster Roster an, die sich gegen den damals übermächtigen abstrakten Expressionismus aussprach, der alle gegenständliche Malerei mit dem Hinweis ablehnte, sie sei Ausdruck totalitärer Regimes und von Hitler, Mussolini und Stalin instrumentalisiert worden. Doch Golub stellte dieser Auffassung eine figürliche Malerei entgegen, die sich nicht vereinnahmen lässt. Zunächst bediente er sich noch bei antiken Figuren und stellte mit ihnen universale Szenen der Erniedrigung und Unterdrückung dar; doch bald wurde er sehr konkret, zeigte Elend und Unrecht des Vietnamkriegs, der Guerillakämpfe in Lateinamerika oder des alltäglichen Rassismus und entwickelte eine ganz eigene Art des Historienbildes. Die Ausstellung, die letzten Herbst vor meinem Auge entstand, haben wir Golub nun in den Serpentine Galleries auch wirklich ausgerichtet. Die Wirkung der riesigen Bilder übertrifft meine Erwartungen sogar noch um einiges. Die Gemälde gleichen eher Wandmalereien, so episch ist ihre Wucht. Wenn überhaupt, dann kann man sie mit den Grossgemälden David Alfaro Siqueiros’ vergleichen, eines Hauptvertreters des mexikanischen Moralismus, dem sich Golub immer sehr nahe fühlte. Neben seinem Wunsch nach einer gewaltfreien Welt wollte er, wie er mir oft sagte, auch unbedingt einmal eine Solo-Ausstellung in Mexiko. Ich bin glücklich, dass ich ihm wenigstens einen dieser beiden Wünsche erfüllen konnte, wenn die Schau anschliessend ins Museo Tamayo in Mexiko-Stadt weiterziehen wird. www.serpentinegalleries.org H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London. 35 DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 — L EON G OLU B: I N T ER RO G AT ION I I I, 1981; M ERC ENA R I E S I V, 1980; T H E G O -A H E A D, 198 5 – 6 / PRO L I T T ER I S Z Ü R IC H 201 5. C OU RT E S Y SER PEN T I N E G A L L ERY, L ON D ON. FO TO: R E A D S Vor der Gewalt in Leon Golubs monumentalen Bildern wirkt jeder Betrachter klein und verletzlich. HANS ULR ICH OBR IST DER MALER AKTIVIST Letztes Jahr an einem Oktobermorgen sass ich im Café und las Zeitung, ich glaube, es war der «Guardian». Es ging um den Bürgerkrieg in Libyen, die Schlachten in Syrien, die Rassenauseinandersetzungen in den USA. Zu den Texten sah ich Fotos von Mord, Folter und Guerillakämpfern, und plötzlich erschien vor meinem inneren Auge eine ganze Ausstellung mit Bildern eines Künstlers, der den Schrecken, die Gewalt und die Willkür des Militärs auf eine Weise festhielt wie kein anderer seiner Zeit. Der Künstler heisst Leon Golub. In den 80er-Jahren gehörte er zu den bedeutendsten Malern, doch seit seinem Tod vor zehn Jahren wurde er so gut wie gar nicht mehr ausgestellt. Golub war immer der Überzeugung, ein Maler müsse ein Aktivist sein, der mit seiner Kunst gegen Unterdrückung antritt. Denn woher sonst, fragte er, sollte die Kunst ihre Relevanz beziehen? Golub schloss sich schon in den 50er-Jahren als Student in Chicago einer Bewegung namens Monster Roster an, die sich gegen den damals übermächtigen abstrakten Expressionismus aussprach, der alle gegenständliche Malerei mit dem Hinweis ablehnte, sie sei Ausdruck totalitärer Regimes und von Hitler, Mussolini und Stalin instrumentalisiert worden. Doch Golub stellte dieser Auffassung eine figürliche Malerei entgegen, die sich nicht vereinnahmen lässt. Zunächst bediente er sich noch bei antiken Figuren und stellte mit ihnen universale Szenen der Erniedrigung und Unterdrückung dar; doch bald wurde er sehr konkret, zeigte Elend und Unrecht des Vietnamkriegs, der Guerillakämpfe in Lateinamerika oder des alltäglichen Rassismus und entwickelte eine ganz eigene Art des Historienbildes. Die Ausstellung, die letzten Herbst vor meinem Auge entstand, haben wir Golub nun in den Serpentine Galleries auch wirklich ausgerichtet. Die Wirkung der riesigen Bilder übertrifft meine Erwartungen sogar noch um einiges. Die Gemälde gleichen eher Wandmalereien, so episch ist ihre Wucht. Wenn überhaupt, dann kann man sie mit den Grossgemälden David Alfaro Siqueiros’ vergleichen, eines Hauptvertreters des mexikanischen Moralismus, dem sich Golub immer sehr nahe fühlte. Neben seinem Wunsch nach einer gewaltfreien Welt wollte er, wie er mir oft sagte, auch unbedingt einmal eine Solo-Ausstellung in Mexiko. Ich bin glücklich, dass ich ihm wenigstens einen dieser beiden Wünsche erfüllen konnte, wenn die Schau anschliessend ins Museo Tamayo in Mexiko-Stadt weiterziehen wird. www.serpentinegalleries.org H A N S U L R ICH OBR I ST ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Galleries in London. 35 TRUDY MÜLLER-BOSSHAR D 1 6 7 12 3 2 8 14 13 22 31 36 24 28 33 32 Das Zeug mit den Jugos ist ja, dass sie sich nicht wirklich eingliedern wollen. Zwi schen der schweizerischen und der jugo slawischen Kultur ist der Graben zu tief. Damit will ich aber nicht sagen, dass wir besser als die Jugos sind; wir sind einfach anderst. Genau, wir sind einfach anderst. Unterhalb meiner schönen Woh nung hat sich da ein junger Jugo eine Ga rage eingerichtet. Normalerweise – eben, Schweizer Kultur – kommt man nach oben, stellt sich vor und verspricht, kei nen Lärm zu verursachen. Das hat der auch nach ein paar Tagen erst gemacht und läutet genau in dem Moment, wo die «Tagesschau» beginnt! Seinen Namen habe ich gleich wieder vergessen, irgend etwas mit Imre Nervic. Der Mann stellt sich vor, und da habe ich gleich gemerkt, dass der keine Matura hat. Ich verschrän ke die Arme und sage erst mal: «Aha». 20 23 27 11 17 16 19 21 26 10 15 18 5 4 9 FR ENKEL DIE JUGOS UND WIR 25 30 29 34 35 38 37 39 40 41 43 42 WORUNTER EINK AUFSTOURISTEN LEIDER NICHT LEIDEN: Die Lösung ergibt sich aus den grauen Feldern waagrecht fortlaufend. Nach einem Jahr dann plötzlich mega Lärm! Wir sitzen oben vor dem Fernse her und gucken «Wetten, dass..?». Ich schreie «Fuck!» und renne nach unten. Wie ein Berserker hämmere ich an die Garagentür des Jugos. Da macht ein Freund von ihm die Türe auf, und ich er blicke ein ganzes Rudel junger Jugos. «Ab 22 Uhr herrscht in dieser Liegen schaft Zimmerlautstärke!» Ein grosser, kräftiger Freund von Nervic kommt zu mir und entschuldigt sich. Er habe einen neuen Töff gekauft und wollte das mit seinen Freunden feiern. Sie würden aber gleich die Musik leiser stellen. Ob ich ein Bier wolle. Ich? Ein Jugo-Bier? Nein, danke! Wieder oben angekommen, musste meine Frau mich zuerst beruhigen. «Wenn der sich morgen früh nicht ent schuldigt, dann gehe ich zur Verwal tung», dampfte ich (zu Recht). Am nächs ten Tag hat sich der Jugo dann tatsäch lich entschuldigt. Kam sogar mit Blumen vorbei und Süssigkeiten für die Kinder. «Wir geben unseren Kindern keine Süs sigkeiten!», sagte ich ihm und verwies ihn auf die für alle gültige Hausordnung. Jetzt grüsst er mich immer so devot und oberhöflich. Das kann ich so nicht haben! «Der soll zuerst mal Matura ma chen oder wenigstens in die Rekruten schule gehen», denke ich mir stets. Da lernt man gleich, was sich für einen Schweizer gehört und was nicht. Aber eben, zwischen den beiden Mentalitä ten liegen unüberbrückbare Gräben. BEN I F R EN K EL ist freier Autor und lebt in Zürich. HELPLINE FÜR RATLOSE: Sie kommen nicht mehr weiter? Wählen Sie 0901 591 937 (1.50 Fr. / A nruf vom Festnetz), um einen ganzen Begriff zu erfahren. Wenn Sie nur den Anfangsbuchstaben wissen möchten, wählen Sie 0901 560 011 (90 Rp. / A nruf vom Festnetz). WA AGRECHT (J + Y = I): 6 Seine Hauptperson kommt blasend kaum ausser Atem. 12 Klarer Fall von Sichtbremsmanöver 18 Sozusagen der Kerl im Schlag. 19 War in Bari ist dort auch Epoche. 20 Was Basa zum Petersdom fehlt: auf dem Balkan geläufiger Name. 21 Zoff im Niederdorf. 23 Agrochemievertreter macht einen Bogen drum. 26 Das Berühren der Figüren ist beim Putzen geboten. 28 Wär im Diminutiv ein immergrüner Bär. 29 Über dem Äquator parkierte ESA-Satelliten. 31 Einst Discos beschallende Aussie-Sippe 32 Geht bei Stand und Wand, nicht aber bei Sand. 33 Homonym von Astaires Parade disziplin. 35 Die Grünen in den Kinderschuhen – altern andersrum. 36 Ihr Manager kassiert keine Prozente. 37 Anfänglich zum Schiessen, die belesene Kübler. 38 Kommt alle Tage, Heilig alle Jahre wieder. 39 Was dabei geschmiert wird, ist drin integriert. 40 Piemonteser Torrente, deckt sich ebenda weitgehend mit Schnee. 41 Hatte beruflich und privat Bliggkontakt. 42 Geht am Bodensee über Landesgrenzen hinaus. 43 Blumenkistchenerde? Ekliger Ab- LÖSUNG RÄTSEL Nº 11: PA ARTHERAPIE WAAGRECHT (J + Y = I): 6 SPIONAGETHRILLER. 12 PALASTREVOLUTION (Thron wackelt). 18 LASTERLEBEN. 19 BAHNEN. 20 VESPA (ital. für Wespe). 21 Henrik IBSEN («Peer Gynt»). 22 TRUNK (engl. für Rüssel). 24 DROMEDAR (Höcker/Hocker). 27 ARISTIDE. 28 TOULON. 31 RUSSEN (Kaminfeger). 32 EULE in H-eule-r. 33 INITIALE. 34 Benjamin HUGGEL (Muggel/Mensch ohne magische Begabung in den Harry-Potter-Romanen). 36 RED TOP (engl. ugs. für Boulevardzeitung). 37 MIELE (ital. für Honig). 38 Martin SUTER («Montecristo»). 39 REINPASSEN. 40 ÉSERA (Isère). SENKRECHT (J + Y = I) : 1 (J.M.) BARRIE (Peter Pan). 2 RÊVES (franz. für Träume). 3 AHLEN. 4 MITBRINGSEL (Bouquet des Weins). 5 Sean PENN («The Pledge»/«Es geschah am hellichten Tag»). 6 (San) SALVATORE (ital. für Retter/Erlöser). 7 PLAEDOYER. 8 JASSRUNDE. 9 OSTPOLITIK. 10 GELB (vor Neid). 11 LOHNTUETE. 13 «The TEAM» (neue TV-Krimiserie). 14 OBERSEE (Teil des Bodensees). 15 UNTREUE. 16 JAUSE. 17 WEIDEGRAS. 23 KILLER. 25 DRAMA. 26 «Iphigenie in AULIS». 27 ASHLEY («Vom Winde verweht»). 29 O-TON. 30 NIPPE(!). 35 GUS Van Sant (Filmregisseur). gang im Önologenslang! SENKRECHT (J + Y = I): 1 Zweibeinige Lämmer sind seine Empfänger. 2 Wird am Ganges unterjocht. 3 Der Teil fliegender Kiste berührt zuletzt die Piste. 4 Setzt ein Ostfriese bei Dickhäutern anstelle von Ele. 5 Ist, am Ball verwertet, entscheidend. 6 Ein Berufsmann, der in England auch zaubern kann. 7 Rockt, kommt Mix aus Red und Blue hinzu. 8 In denen tätige Leser bedienen die Presse. 9 Bringt Franzosen und Briten einander schneller näher. 10 Wovon verknallte Chefs, Madrilenen, zu viel nehmen. 11 Bankverbindung mit hohem Verkehrsaufkommen. 13 Verdankt Fredericks (Frank) den bislang einzigen Olympiaplämpel. 14 Für den Workaholice das Dolcefarniente. 15 Vom Multitasker beherrschte Machart. 16 Dem Namen nach das perfekte Wutbürgerhabitat. 17 Freizeitvertreib ohne Blickrichtungswahl. 22 Eine seiner Attraktionen: das weltwundersame Artemision. 24 Missionierte Halbkugelbewohner. 25 Longbottoms namentliches Begehr: Armeen gebens her. 27 Mit Rabatz kam die Katz in Moskau in den Knast. 30 Hört auch auf Dinkel oder Schwabenkorn. 34 Der Garbo Beiname für einen Lateiner. «DAS MAGAZIN» ist die wöchentliche Beilage des «Tages-Anzeigers», der «Basler Zeitung», der «Berner Zeitung» und von «Der Bund». HERAUSGEBERIN Tamedia AG, Werdstrasse 21, 8004 Zürich Verleger: Pietro Supino Kinderlachen Schenna in Südtirol - ein Paradies für Familien: Natur hautnah erleben, Spaß und Abwechslung für Kinder, Entspannung für Eltern. 36 DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 REDAKTION Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 45 01 Telefax 044 248 44 87 E-Mail [email protected] Tourismusbüro Schenna I-39017 Schenna - Südtirol T +39 0473 945669 www.schenna.com Chefredaktor: Finn Canonica Redaktion: Sacha Batthyany, Sven Behrisch, Daniel Binswanger, Anuschka Roshani Artdirektion: Michael Bader Bildredaktion: Frauke Schnoor, Christiane Ludena / Studio Andreas Wellnitz Berater: Andreas Wellnitz (Bild) Abschlussredaktion: Isolde Durchholz Redaktionelle Mitarbeit: Anja Bühlmann, Miklós Gimes, Max Küng, Trudy Müller-Bosshard, Paula Scheidt, Christian Seiler, Thomas Zaugg Honorar: Claire Wolfer VERLAG Das Magazin Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich Telefon 044 248 41 11 Verlagsleiter: Walter Vontobel Lesermarkt: Bernt Maulaz (Leitung), Nicole Ehrat (Leitung Leserservice) Werbemarkt: Walter Vontobel (Leitung), Jean-Claude Plüss (Anzeigenleitung), Claudio Di Gaetano, Catherine Gujan (Gebietsverkaufsleitung), Michel Mariani (Agenturen), Katia Toletti (Romandie), Esther Martin-Cavegn (Verkaufsförderung) Werbemarktdisposition: Jasmin Koolen (Leitung), Selina Iten Anzeigen: Tamedia AG, ANZEIGEN-Service, Das Magazin, Postfach, 8021 Zürich Telefon Deutschschweiz 044 248 41 31 Telefon Westschweiz 044 248 52 72 [email protected] www.mytamedia.ch Trägertitel: «Tages-Anzeiger», Werdstrasse 21, Postfach, 8021 Zürich, Tel. 044 404 64 64, [email protected]; «Berner Zeitung», Tel. 0844 844 466, [email protected]; «Basler Zeitung», Tel. 061 639 13 13, [email protected]; «Der Bund», Tel. 0844 385 144, [email protected] Nachbestellung: [email protected] Ombudsmann der Tamedia AG: Ignaz Staub, Postfach 837, CH-6330 Cham 1 [email protected] Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen der Tamedia AG i.S.v. Art. 322 StGB: 20 Minuten AG, 20 minuti Ticino SA, Aktiengesellschaft des Winterthurer Stadtanzeigers, Berner Oberland Medien AG BOM, car4you Schweiz AG, CIL Centre d’Impression Lausanne SA, Distributions kompagniet ApS, Doodle AG, DZB Druckzentrum Bern AG, DZO Druck Oetwil a.S. AG, DZZ Druckzentrum Zürich AG, Edita S.A., Editions Le Régional SA, Espace Media AG, FashionFriends AG, homegate AG, JobCloud AG, Jobsuchmaschine AG, LC Lausanne-cités S.A., LS Distribution Suisse SA, MetroXpress Denmark A/S, Olmero AG, Schaer Thun AG, search.ch AG, Société de Publications Nouvelles SPN SA, Soundvenue A/S, Starticket AG, Swiss Classified Media AG, Tagblatt der Stadt Zürich AG, Tamedia Publications romandes SA, Trendsales ApS, tutti.ch AG, Verlag Finanz und Wirtschaft AG, Zürcher Oberland Medien AG, Zürcher Regionalzeitungen AG 37 FABIAN CANCELLAR A, 34, Radrennfahrer, fiel das Training schwer, als seine Tochter geboren wurde. Den einen besonderen Tag in meinem Leben – den gibt es nicht. Ich hatte so viele Wendepunkte, so viele Schlüsselmomente, dass ich den einen, der alles verändert hätte, nicht benennen kann. Und ich versuche ohnehin, jeden Tag als einen besonderen zu nehmen. Bevor ich schlafen gehe, schaue ich auf meinen vergangenen Tag zurück – sehr häufig kann ich dann festhalten, dass es einer war, an dem ich etwas Gutes gemacht habe. Das muss gar nicht unbedingt immer ein Erfolg sein, den ich verbuchen kann – aber ich finde, das Leben ist zu kurz, um schlechten Wein zu trinken. Man sollte deshalb versuchen, jede Sekunde zu geniessen. Bewusst leben. Auch wenn für mich als Sportler der tägliche Kampf dazugehört. Ich arbeite ständig auf etwas hin, und mal klappt einfach alles – da sag ich mir am Ende des Tages: Hey, so ist es schön! Aber dann gibt es auch viele Tage, an denen nicht immer alles tipptopp ist, wo alles schwergängig ist – eine einzige grosse Challenge. Doch auch die schlechten, die mühsamen Erfahrungen machen einen nur stärker: Der Sport ist eine ech- Protokoll A N U S CH K A RO SH A N I 38 te Lebensschule. Dadurch habe ich früh erfahren, dass man zum Beispiel Ausdauer entwickeln muss, dass man über innere Widerstände, über äussere Hürden springen muss – sonst würde man nicht erreichen, was man sich vorgenommen hat. Ich war durchs Radfahren schon als Bub vor allem mit Älteren zusammen, abgesehen vom Trainer. Das hat mir viel gegeben und mich wohl früher reifer werden lassen. Heute versuche ich, das meinen beiden kleinen Töchtern weiterzugeben, meine eigenen Werte. Ich will ja, dass was aus ihnen wird – sie sollen lernen, beispielsweise für ihre Schulzeit, etwas durchzustehen. Ich spiegele ihnen, dass es nicht immer einfach ist – und man etwas dafür tun muss, damit es läuft. Aber auch, dass alles vorbeigeht, das Gute wie das Schlechte. Und zum Glück ist man nicht allein. Als meine erste Tochter 2008 geboren wurde, war das natürlich wie für alle frischgebackenen Eltern eine riesengrosse Umstellung für mich – und ich musste meine Motivation für meine sportliche Karriere neu finden. Aber es war auf jeden Fall eine schöne Zeit, die wir durchlebten, und natürlich auch eine dieser vielen Schlüsselsituationen. Ich bin der Meinung, jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich. Ich kann mich wirklich nicht beklagen – ja, ich würde schon sagen, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Ich möchte zumindest mit niemandem tauschen. Man kann doch sehr glücklich sein über seine Situation – und das ist keine Binsenwahrheit, sondern als Profisportler erfahre ich das jeden Tag aufs Neue: Gesundheit ist das wichtigste Geschenk überhaupt – darauf baut tatsächlich alles auf. Denn irgendwo in meinem Hinterkopf lauert wie vielleicht bei vielen Menschen, auch bei denen, die keine Profisportler sind, der Gedanke, dass irgendwann ein Tag kommen wird, wo es vorbei sein kann. Umso mehr fühle ich die Verpflichtung, trotz allen wiederholten Kämpfen das Leben auszukosten. Und meistens gelingt mir das auch ziemlich gut. #visitaustria Manchmal will man auch nur seine Ruhe. Aber wer sagt, dass man dabei alleine sein muss. w w w. a u s t r i a . i n f o DA S M AGA Z I N 1 2/201 5 — BI L D: LU K A S M A E DE R / 1 3 PHO T O TAG IM LEBEN Ihre persönliche Ferienberatung gebührenfrei unter 00800 400 200 00.
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