KULTUR | HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG Über Gott und die Welt Frau Schrank, Herr Herd Möbeltheater mit James & Priscilla im Kindertheaterhaus Von Ronald MeyeR-aRlt Auf der Bühne kann Unmögliches geschehen, und wir akzeptieren es und verstehen es und es hilft uns, wenn wir über uns und die Welt nachdenken. Das ist die Magie von Theater. Es kann uns ganz fremd sein und trotzdem ganz nah. Die freie Hildesheimer Theatergruppe James & Priscilla war jetzt mit „Nightcalls“, einem recht wunderlichen Stück, im hannoverschen Kindertheaterhaus zu Gast. Es ist eine traurige, etwas an den Disney-Film „The Beauty and the Beast“ angelehnte Liebesgeschichte: Ein junger Mann (Felix Scheer) und eine junge Frau (Mila Dargies, früher beim hannoverschen Schauspiel tätig), die gern gemeinsam durch fremde Gärten klettern, dringen in ein Schloss ein und treffen dort auf Herd, Schrank und Sessel – sprechende Möbel. Die Möbel spielen gern Fragespiele, das Mädchen mag die Möbel, der Junge will lieber weiter durch Gärten klettern. Sie gehen unterschiedliche Wege, und ihre Liebe geht dabei ein bisschen verloren. Es ist eine ganz bezaubernde, sehr traurige und sehr komische Geschichte, und sie eignet sich genauso gut für Kinder wie für Erwachsene. Es geht um große Fragen: Warum sind wir überhaupt mit jemandem zusammen? Wie sind wir noch bei uns, wenn wir mit jemandem zusammen sind? Wie viel Nähe zwischen zwei Menschen ist richtig? Und wie ist das mit der Freiheit? Bemerkenswert ist der Mut der Hildesheimer Theaterleute. Möbel wie Herd (Janis Fisch), Sessel (Karoline Kähler) und Schrank (Clara Minckwitz) sprechen und singen zu lassen, ist auf der Der Liedermacher Achim Reichel geht wieder auf Tour. Mit 71 Jahren. Alt fühlt er sich nicht. Von KathaRina deRlin G leich ein wunder Punkt“, kommentiert Achim Reichel das Gastgeschenk. Briefpapier. Zu selten beantworte er Briefe, zu lange brüte er über richtige Formulierungen. „Der olle Jörg Fauser war so einer, der konnte so abgehackte Sätze“ – diese gekonnte Nachlässigkeit, die er für einen schnellen Brief bräuchte, liege ihm nicht. Fauser ist das Stichwort: Für das neue Album „Raureif“ vertonte Reichel einen Text des verstorbenen Beat-Autors, der lange mit ihm zusammenarbeitete. Das ans Wohnhaus angegliederte Parterre-Studio im Norden Hamburgs wirkt überfrachtet. „Hier ist Chaos, das ist immer so, wenn ich mich vor einer Tour erst wieder finden muss“, sagt er entschuldigend. Doch es ist gemütlich: marokkanisch anmutender Wandteppich, erdfarbene Decken als Sofaüberzüge, eine Glasfront mit Blick auf den weitläufigen Garten, zu dem sich das Mischpult richtet. Gitarren allerorten. Sein ganzes Leben hat Reichel im Norden verbracht, in Wentorf bei Hamburg geboren, auf St. Pauli aufgewachsen, nun in einem stattlichen Anwesen im Norden Hamburgs. Heimat ist ihm wichtig. Dazu zählten für ihn aber nicht nur Sachsenwald und Elbe, sondern auch alte Melodien und Dichter. Vieles davon hat er in den letzten 50 Jahren musikalisch verarbeitet: Begonnen mit der Beatmusik bei den Rattles über Shantyalben wie „Der Klabautermann“ bis zu Vertonungen deutscher Gedichte von Goethe, Heine und Storm auf der LP „Regenballade“ von 1978 und dann noch mal auf dem Album „Wilder Wassermann“ von 2002. Das waren alles keine massenwirksamen Themen. Funktioniert haben sie trotzdem. Immer raus aus der Langeweile, nicht stagnieren: Reichel mag keine Routine. Und bloß nicht irgendwelchen Erwartungen gerecht werden: „Ich habe mich vor Langem dafür entschieden, einfach nur noch das zu machen, wonach mir ist, und keinem falschen Herren zu dienen.“ Schlimm sei es, welchem Markt sich heute junge, talentierte Liedermacher stellen müssten. „Die haben es irre schwer, weil sie auf eine feindliche Medienlandschaft treffen.“ Englische Musik sei eben gefragter. Manchmal redet er von sich in der dritten Person. Das muss am Erzählen liegen. Er ist durch und durch ein Geschichtenerzähler, er könnte ebenso gut Schrank mit Klang: Clara Minckwitz als Musikmöbel. Foto: Tim Klausing Bühne viel schwieriger als im Zeichentrickfilm. Aber hier gelingt es mit einer wunderbaren Leichtigkeit. Überdies sind die Möbel auch Musikinstrumente: Auf den Herdplatten kann man Schlagzeug spielen, Schrank und Sessel sind mit diversen Tasten versehen, die bei Druck Töne erzeugen. Es wird viel musiziert und viel und schön gesungen. Markenzeichen der Gruppe James & Priscilla und Referenzrahmen vieler ihrer Produktionen ist die Popmusik. Pop dient nicht nur als Begleitung für Geschichten, Pop erzählt auch. Das Ensemble singt viele Lieder (meist in Moll), und man kokettiert dabei auch ein bisschen mit der eigenen Zaghaftigkeit. Die Produktionen der Gruppe sind zart, poetisch, unvollkommen und von einer merkwürdigen herben Schönheit. James & Priscilla gehört zu den aufregendsten freien Theatergruppen der Region. Das hat sie mit ihrem neuen Stück wieder eindrucksvoll bewiesen. Im Dezember wird „Nightcalls“ in Hildesheim gespielt. Die Gruppe hat sich auch für das „Best Off“-Festival des freien Theaters in Hannover beworben. Dort werden im April 2016 herausragende niedersächsische Produktionen gezeigt. SONNABEND, 18. APRIL 2015 | NR. 90 Foto: Franck/Klatt 8 mit einer Pfeife am Hamburger Hafen sitzen und dort reden, und man würde es ihm abnehmen. Er erzählt von seiner Selbstfindungsreise um seinen Siebzigsten herum, wie er am Mittelmeer anfing, wieder Texte zu schreiben: „Als ich merkte, dass die Songs von selber anklopften, habe ich es einfach zugelassen.“ Lieder, die weniger mediterran, vielmehr nordisch klingen mit dem Ak- kordeon, den Männerchören und der Mundharmonika. Seine Herkunft lässt ihn musikalisch nicht los, aber genau das haben seine Fans auch zuletzt mit Mails und Briefen eingefordert. Dem ist er dann doch nachgekommen, entgegen dem sooft geäußertem Anspruch, Erwartungen, zu unterlaufen. Er ist auch kritisch geworden mit der Welt. Er erzählt von seinem Glauben an Gott und seiner Nähe zu Naturreligionen, klassifiziert die Kirche als Wirtschaftsunternehmen. Er erzählt von der Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und dass nicht jedes Volkslied zum Dritten Reich geführt habe. Über seine Vorstellung vom Paradies (immerhin stammt von ihm der berühmte Paarreim: „Ich hab das Paradies gesehen / Es war um 1910“): wertvolle Momente, die in einem stattfinden. Er findet sie manchmal beim Yoga: „Eine Übereinkunft mit mir und Welt.“ Im Januar ist Reichel 71 Jahre alt geworden. „Als 70-Jähriger ist man doch echt ein Greis. Und das bin ich nicht. Und das irritiert mich“, sagt er, und man versteht dieses Gefühl beim Anblick seines schelmischen Gesichts, umrahmt von weißblondem Strubbelhaar und Dreitagebart. Er wirkt sichtbar jünger als 71. Wenn es um seine Texte geht, ist das aber problematisch: Nicht mehr jedes Thema sei kleidsam. „Wenn ich den Don Juan raushängen lasse, ist das doch etwas paradox. Das wirkt doch sofort larmoyant oder kokett“, sagt er und wirkt dabei im Gespräch genau so: kokett. Der Titel seines Albums, „Raureif“, soll seine Person widerspiegeln. „Einen reifen Kerl, der in gewisser Weise noch rau geblieben ist“, sagt er schmunzelnd. Dass das Album ebenso gut einen Zwischenzustand bezeichnet, zeigt sich am Lied „Herz der Dinge (Wach auf, wach auf)“: Eben jener Fauser-Text erinnert an den Rilke’schen Panther. Nur dass dieser hier ausbricht. „Wer weiß, wie lange wir noch haben“, heißt es bei Reichel. Mit „Reise Reise“ wird das Album nach hinten raus schwermütiger, ruft aber ebenso zum Aufbrechen und Segelsetzen auf. Ob Reichel auch noch einmal loszöge, in die Welt hinaus? Immerhin stammt er aus einer Seefahrerfamilie. „Das Leben lässt einem ja keine andere Wahl: Es ist endlich“, sagt er. „Das ist dann wahrscheinlich die größte Reise überhaupt.“ „Wasteland“ aus Göteborg bei Movimentos Von Ronald MeyeR-aRlt Wie wenig zeitgenössisches Tanztheater mit kreatürlichem, dem Sog der Musik folgenden Tanz zu tun haben kann, zeigte die zweite Tanzproduktion der Movimentos Festwochen in der Autostadt. Die Göteborgsoperans Danskompani präsentierte „Wasteland“, eine Choreographie von Ina Christel Johannessen, bei der auch zwei Livemusiker auf der Bühne zugegen sind. Einer der beiden bewegt sich sehr ausgelassen, aber dabei doch ziemlich cool vor seinem Keybord. Sein Oberkörper wippt hin und her, er swingt und federt, er ist getrieben von der Musik und doch ganz in ihr. Er tanzt für sich, er folgt keiner Choreografie. Das aber machen die sechs Tänzerinnen und acht Tänzer der Compagnie, und sie buchstabieren dabei das Bewegungsrepertoire des modernen Tanzes durch: Einknicken und Niedersinken, Arme schwenken, aufeinander herumklettern, über den Boden rutschen. Weil aber im Hintergrund der entfesselte Musiker zu sehen ist, wirkt ihr Tanz – trotz aller vorhandenen Artistik – eher kalt und technisch. Vielleicht ist das ja Absicht. Denn in „Wasteland“, das auch Zeilen des gleichnamigen Gedichts von T. S. Eliot zu Gehör bringt, geht es um Müll, Hoffnungslosigkeit und Tod. In der Waschkaue einer Zeche (die sehr realistisch nachgebaut ist) tanzen die 14 Darsteller eine Art Endtanz. Vergammelte Plastikfolien werden herbeigeschafft und am Ende fortgeräumt. Im ersten Stock pflanzt jemand Gemüse an. Sind alle grünen Blätter in den Körben der Waschkaue untergebracht, ist das Stück zu Ende. Mittwoch, 22. April, kommt Achim z Am Reichel ins Theater am Aegi, Beginn ist um 20 Uhr. Tickets kosten 39 bis 52 Euro. Die Macht, was zu machen Die Hannah-Arendt-Tage beschäftigen sich in diesem Jahr mit der Nutzung des öffentlichen Raumes Von KathaRina deRlin Wem gehört die Stadt? Die einfachsten Fragen erfordern oft die umfassendsten Antworten. Gehört die Stadt den Politikern und der Stadtverwaltung, den Unternehmern und Händlern, den Kulturmenschen und Ehrenamtlichen oder schlichtweg allen Bewohnern der Stadt? Die Hannah-Arendt-Tage, die nun zum 18. Mal stattfinden, widmen sich in Veranstaltungen von April bis Oktober genau jener Frage. Die Hannah-Arendt-Tage versuchen seit 1998, greifbare Bezüge zwischen politischer Theorie und Lebenswirklichkeit herzustellen. 2014 ging es bei der „Tischgesellschaft der Zukunft“ um die Ethik der Ernährung, 2013 wurde unter dem Titel „Verbotene Liebe?“ das Verhältnis von Wirtschaft und Politik analysiert. Nun aber wird es bodenständig. Das diesjährige Thema knüpft an den Stadtdialog „MeinHannover2030“ an, der zur Beteiligung der Bürger an der Stadtentwicklung aufruft. Beim Auftakt sollten keine Antwor- ten geliefert werden; vielmehr warfen die Gäste durch kurze Sätze über ihr Engagement ein Schlaglicht auf die Soziokultur Hannovers. Oberbürgermeister Stefan Schostok lobte die bekannten Vorzüge der Stadt: ihre grünen Flächen, den Freizeitwert, die exzellente Wissenschaft. Thomas Posth, Dirigent und Leiter des Orchesters im Treppenhaus, das den Abend zudem musikalisch begleite- te, findet es toll, „in Hannover Kunst zu machen“. Ganz viel passiere im Kulturbereich dieser Stadt. „Es gibt da ein intensives Netzwerk“, sagte Posth. Mit seinem Orchester bietet er eine ungewöhnliche Form des gesellschaftlichen Miteinanders: In dem Projekt Notfallkonzert hören sich die Musiker Probleme von Menschen an und entgegnen unmittelbar mit einem Musikstück. Das Die nächsten Termine ■ Das Recht auf Stadt: Der nächste Ter- min ist bereits kommenden Mittwoch, 22. April, im Schloss Herrenhausen. Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm von der Humboldt-Universität Berlin beobachtet, dass nicht mehr nur Politik und Verwaltung, sondern alle, die in der Stadt leben und wirken, am urbanen Geschehen beteiligt sind. ■ Nachbarschaft in der Stadt: Prof. Erol Yildiz von der Universität Innsbruck spricht am 20. Mai im Schloss Herren- hausen über Integration und die Bereicherung eines kulturellen Miteinanders. ■ Stimmen der Stadt: Am 10. Juni diskutieren Rapper mit amerikanischen Professoren im Pavillon über das Miteinander im städtischen Raum. ■ Die Stadt von morgen: In der Abschlussdebatte am Freitag und Sonnabend, 9. und 10. Oktober, wird über Zukunftsfragen gesprochen. Die Veranstaltungen beginnen jeweils um 18 Uhr, der Eintritt ist frei. vermittle Verständnis füreinander, sagt Posth. Heiko Geiling, Politologe an der Leibniz Universität Hannover, beobachtet hingegen soziale Unstimmigkeiten. Gleichwohl schaffe es Hannover, „bei gleichzeitiger Urbanität die vollständige Anonymität und Hektik zu vermeiden“. An dem Gespräch beteiligten sich unter anderem Stadtteilmutter Mahiyar Onayli, Björn Vofrei von der Identitätsstiftung, die Kinder im Krankenhausalltag betreut, und Eberhard Irion, der Integration über die Internationalen Stadtteilgärten fördert. Sie alle engagieren sich für ihr Umfeld und für das soziokulturelle Gesicht der Stadt. Auf die Frage, welcher Lebensentwurf hinter einem solchen Engagement stünde, gab Sebastian Dymala vom Wohnprojekt Fröbelgrundschule gleich zwei Sentenzen zum Besten: „Wer was macht, hat die Macht, was zu machen.“ Und: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Nicht stillsitzen sei also der Antrieb, jedoch ohne beliebig im Handeln zu werden. Dunkler Adler Schwermut Von daniel alexandeR Schacht Foto: Andreas Hartmann M Ka im Schneegedicht: Moritz Nikolaus Koch. belpreisträgers Orhan Pamuk, dessen Roman „Schnee“ Grundlage der Inszenierung des Theaters für Niedersachsen ist. Denn Pamuk nimmt sich in seinem 512 Seiten starken, 2002 erschienenen, doch höchst aktuellen Roman nicht nur alle Widersprüche der Türkei vor. Er schildert sie auch in doppelter Brechung, zum einen durch die Erzählerfigur Orhan, zum anderen durch dessen Freund Ka. Wie inszeniert man solch einen gewichtigen Stoff – ohne daraus ein schweratmiges Thesenstück zu machen? Versucht wurde es mehrfach, zuerst von LarsOle Walburg an den Münchener Kammerspielen im Jahr 2008, ein Jahr bevor er Intendant in Hannover wurde. Vor gut einer Woche ist überdies eine Inszenierung am Berliner Gorki-Theater gestartet. Für das Theater für Niedersachsen bringt Gastregisseur Martin Süß eine von ihm mit Kerstin Grübmeyer erstellte Dialogfassung mit starken inszenatorischen Ideen auf die Bühne. Etwa mit dem Einfall, Kas Schneegedicht statt in Worten durch Schneegeriesel zum Ausdruck zu bringen. Oder mit der Entrückung von Gewaltszenen in Live-Videos. Und nicht zuletzt mit den Klanginstallationen von Thomas Strecker, der mit Glocken- und Saitentönen aus der zitherartigen Kanun westliche und orientalische Klänge ver- mischt – und nebenbei den alles belauschenden Geheimdienstler gibt. Denn auf nichts und niemanden kann man hier vertrauen. Weder auf Turgut (Dieter Wahlbuhl), den früheren Kommunisten, der sich mit den Militärs arrangiert, weil die gegen die Islamisten kämpfen. Noch auf dessen schöne Tochter Ipek (Joelle Rose Benhamou), der Ka das Versprechen abringt, mit ihm nach Frankfurt zu gehen. Oder auf Ipeks Schwester Kadife (Michaela Allendorf), die öffentlich ihr Kopftuch abzulegen plant, um den geliebten Lapislazuli aus der Haft zu befreien – und so entweder ihren Prinzipien oder ihrem Geliebten untreu wird. Dass die Figuren dieser Inszenierung nicht nur abstrakte Prinzipien, sondern auch konkrete Personen verkörpern, liegt am engagierten Spiel der Akteure. Dennis Habermehl als Orhan hat nicht sehr viel Text, ist aber permanent pantomimisch präsent. Moritz Nikolaus Koch spielt den Ka als Repräsentanten des hilflosen Westens mit hängenden Schultern. Martin Molitor tritt wie gewohnt kraftvoll Endtanz: Göteborgsoperans Danskompani. Foto: Bengt Wanselius Die Musik des Duos Stray-Dogs war stark, das Bühnenbild war stark, der Tanz hatte starke artistische Momente. Aber das Ergebnis war doch enttäuschend. Vielleicht sperrt sich Abfall einfach dagegen, vertanzt zu werden. 22. bis 24. April ist Shaun Parker & zVom Company bei den Movimentos Festwochen. Bitterböse Blödeleien C. Heiland zwischen Flachwitz und Metaebene Von KathaRina deRlin Starker Stoff, starkes Ensemblespiel: Martin Süß inszeniert Orhan Pamuks „Schnee“ im Theater für Niedersachsen it gellendem Jaulen rast der Erzähler Orhan zum Bühnenrand, wirft sich den Schriftsteller Ka über die Schulter, kreist mit ihm um die eigene Achse, wirbelt Ka durcheinander. Durcheinander wird Vieles gewirbelt in diesem Stück – der Schnee, der die Kleinstadt Kars im äußersten Osten der Türkei von der Außenwelt abschneidet, und die Grundkoordinaten der türkischen Gesellschaft. Die droht hier zerrieben zu werden zwischen Ost und West, Islamismus und Militarismus, Moderne und Tradition. „Heute“, klagt der Islamist Lapislazuli gegenüber Ka, sei die Tradition vergessen, „vor lauter Bewunderung für den Westen“. Und Ka, der aus seinem Exil in Frankfurt nach Kars zurückgekehrt ist, um die merkwürdigen Selbstmorde der Kopftuchmädchen aufzuklären, hat Lapislazuli nichts entgegenzusetzen. In der kleinstädtischen Enge sind die Weltanschauungen so verwirrend verschachtelt wie die Erzählweise des No- Ein Tanz vom Ende auf und stilisiert damit den Lapislazuli zum ziemlich machistischen Haudrauf. Und Gotthard Hauschild changiert zwischen selbstgefälligem Dandy und selbstherrlichem Militär und macht so die Nebenfigur des Schauspielers Sunay zu einer Hauptfigur. Die Bühne ist übrigens von einem Dachrand umgeben, so dass man sich das Ganze wohl als Flachdach vorstellen muss und im winterlichen Kars damit verschneit und vereist (Bühne und Kostüme: Ilka Kops) – winterliche wird hier zur sozialen Kälte. Kein Wunder, dass der Erzähler Orhan den „dunklen Adler Schwermut“ seine Schwingen erheben sieht – und am Ende ausgerechnet Ka als Verräter kenntlich wird. Kein Kompliment für den vermeintlichen Aufklärer. Doch eine starke Inszenierung eines starken Stoffes. Nächste Termine: heute, Aula der IGS z Meyenfelder Straße Garbsen, 21. April Stadttheater Wunstorf, 29. April Theatersaal Langenhagen. Beginn jeweils 20 Uhr. Mit Flachwitzen lässt sich, das bewies C. Heiland im Tak, ein ganzer Abend füllen. Dem 33-jährigen Kabarettisten gelingt mit seinem Programm „Ich bin in der Brigitte“ eine unterhaltsame EinMann-Bühnen-Show. Verpackt sind die teilweise recht niveaulosen Witze („Memory für Alzheimer-Patienten? Hat nur eine Karte!“) in Erzählungen über seine Freundin, die seit einem Meteoriteneinschlag auf dem Berliner Alexanderplatz vermisst wird. Im Laufe des Abends lässt sich erahnen, dass der Verlust wenig schlimm ist. C. Heiland reiht sich ein zwischen Bodo Wartke und Rainald Grebe, wenn er mit seiner Stimme und einem Omnichord – ein elektronisches Tasteninstrument aus den 80ern, dessen Sound dem eines Keyboards jener Jahre ähnelt, mit Liedern durch die Geschichte führt. Er brilliert vor allem dort, wo er auf das Publikum reagiert: „Darüber lacht ihr? Das sagt alles über das intellektuelle Niveau heute Abend.“ Publikumsbeschimpfungen, das wusste Handke schon, funktionieren eben. Der nächste Kabarettist im Tak ist Rainer Kröhnert. Die Vorstellung am heutigen Sonnabend beginnt um 20 Uhr.
© Copyright 2024 ExpyDoc