Die abgeschnittenen Ohren von Micky Maus

SAMSTAG, 25. APRIL 2015
NORDWESTSCHWEIZ
KULTUR
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«Ich habe mir alles
reingezogen und mich
davon mitreissen lassen.»
Russel Brand (39) Britischer Comedian und Ex von
Katy Perry im Erstling «Revolution», warum Ruhm
und Geld nichts nützen, sondern nur ein Umsturz.
Abgeschnittene Ohren von Micky Maus
Kunst Martin Boyce nimmt Designklassiker auseinander und kombiniert sie zu paranoid wirkenden Skulpturen
VON SIMON BAUR
2009 zeigte er seine Arbeiten an der Biennale in Venedig, 2011 erhielt er den renommierten Turner-Preis und bis Mitte
August ist er in der ersten Einzelausstellung in der Schweiz zu sehen: der schottische Künstler Martin Boyce. Installationen, Fotografien, Collagen und Wandarbeiten aus einem Zeitraum von 14 Jahren zeigt er im Basler Museum für Gegenwartskunst. Wer diese Revue passieren
lässt, bemerkt rasch, dass er sich auf Designklassiker bezieht, spürt aber auch,
dass seiner Kunst ein komplexeres System
zugrunde liegen muss, das nicht im Vorübergehen geknackt werden kann.
Zeichenlabyrinth
Erst im dritten Raum finden sich erste
Erklärungen für seine verklausulierten
Systeme, und zwar in Form des Bildes
«Concrete Tree Typography». Der Titel
suggeriert bereits ein wiederkehrendes
Referenzsystem, das auf einer entfernten
Inspirationsquelle der Betonbäume beruhen muss. In der Tat bezieht sich Martin
Boyce auf vier kubistische Betonbäume
der Gebrüder Joël und Jan Martel (18961966), die diese 1925 für einen Teil des
Gartens des avantgardistischen Architekten Robert Mallet-Stevens konstruierten.
Eine Fortführung solcher Betonskulpturen kann man in den Spielplastiken aus
Beton sehen, wie sie der Basler Künstler
Michael A. Grossert fertigte und denen die
dänische Künstlerin Sofie Thorsen vor
drei Jahren im Kunsthaus Baselland eine
eigene Installation widmete.
Aus den Arbeiten der Gebrüder Martel
hat Martin Boyce eine Matrix entwickelt,
welche die plastischen Objekte in die
Zweidimensionalität
zurückverwandelt
und in der Ausstellung nicht nur als Raster auf dem obengenannten Bild, sondern
auch in den an der Decke hängenden Lamellen, in eingelassenen Lüftungsgittern
an den Wänden und am Boden verteiltem
Herbstlaub wiederkehren. Ein Tisch im
selben Raum zitiert zwar Elemente eines
Bibliothek-Tisches von Jean Prouvé, der
eingeritzte Text auf der Holztischplatte, es
handelt sich vielmehr um eine Text-Collage aus den Titeln der in der Ausstellung
versammelten Exponate, basiert auf dem
Schriftsatz, den Martin Boyce aus dem
martelschen Baummuster herausdestilliert hat.
Arne Jacobsens Stühle erinnern im ersten Moment an ein Mobile. Schaut man länger hin, sind Ohren von Micky Maus nicht mehr weit.
Bewegende Fragen
Wer solche internen Verflechtungen
über mehrere Arbeiten erkennt, versteht
das grossartige Mobile im zweiten Raum
plötzlich nicht mehr nur als das Flickwerk
aus zerrissenen Fragmenten eines schwar-
Martin Boyce.
zen Stuhles von Arne Jacobsen. Durch die
eingesetzte Sensibilisierung ist man plötzlich bereit, in den Elementen dieser ausladenden Geste, auch die archäologischen
Fragmente der Ohren von Micky Maus
oder der im Garten der Fondation Beyeler
in Riehen sich befindlichen, beweglichen
Arbeit «The Tree» von Alexander Calder
zu erkennen.
Was tun die Herbstblätter in der Ausstellung, die sich erst auf den zweiten
Blick als kleine Objekte zu erkennen geben, die weniger an Ahornblätter, dafür
an das Aussehen eines Tarnkappenbombers erinnern? Wollen sie vom imaginären
Wind aus den Lüftungsgittern in Bewe-
gung gehalten werden? Erich Kästners Gedicht «Sokrates zugeeignet» rattert zurecht durch die Sinne: «Es ist schon so:
Die Fragen sind es, aus denen das, was
bleibt, entsteht. Denkt an die Frage jenes
Kindes: Was tut der Wind, wenn er nicht
weht?»
Überlebensstrategien
Abgesehen von Sokrates und Kästner
erinnern diese imaginären Lüftungsgitter
natürlich auch an den Gully, gemeint die
gut schweizerdeutsche Dole, die sich im
Erdgeschoss des Museums, derzeit demontiert, in der Installation «Split Wall
with Drains» von Robert Gober befindet.
FOTOS: ZVG
Wer sich den zahlreichen, in die Werke
eingeschriebenen Assoziationsketten aussetzt und sich damit auch als Opfer eines
raffinierten Kunstsystems zu erkennen
gibt, erlebt dabei keinesfalls seine eigene
Stigmatisierung durch ihm fremde, aber
durchaus bleibende Zeichen. Er outet sich
vielmehr als ein kompatibles Wesen und
als mündiger Vertreter des Holozäns, um
mit einer gehörigen Portion Überlebenswillen und Humor der Referentialität unseres Alltags adäquat zu begegnen.
Martin Boyce Museum für Gegenwartskunst Basel. Bis 16. August.
www.kunstmuseumbasel.ch
Schweizer Vokalist Andreas Schaerer erhält «Echo Jazz»
Jazz Grosse Ehre für den
Schweizer Stimmakrobaten
Andreas Schaerer: Der
37-Jährige wird mit einem
«Echo Jazz» geehrt.
VON STEFAN KÜNZLI
Andreas Schaerer gewinnt den «Echo
Jazz» in der Kategorie «Sänger des Jahres international» und setzt sich damit
gegen die renommierten Sängerinnen
Rebekka Bakken und Somi durch. Seine Band «Hildegard lernt fliegen» mit
Schlagzeuger Christoph Steiner, Bassist
Marco Müller, Posaunist Andreas
Tschopp, Matthias Wenger am Alt- und
Sopransax sowie Benedikt Reising am
Baritonsax war ebenfalls nominiert.
Der «Echo Jazz» besteht seit 2010
und wird von der Deutschen PhonoAkademie sowie dem Kulturinstitut des
Bundesverbandes Musikindustrie vergeben. Die Preisträger werden von einer zwölfköpfigen Jury von Fachleuten
gewählt. Neben Andreas Schaerer zählen internationale Jazz-Stars wie Chick
Corea, Branford Marsalis, Pat Metheny,
Vincent Peirani und Emile Parisien zu
den diesjährigen Gewinnern.
Andreas Schaerer hat sich international einen Namen als furioser VokalAkrobat gemacht. Er singt nicht nur,
er scattet, imitiert Instrumente, über-
rascht als virtuoser Beat-Boxer und ist
ein Frontmann mit Entertainer-Qualitäten. Witz und Humor spielen in seiner extrovertierten Performance denn
auch eine wichtige Rolle.
Erfolgreiche Schweizer Jazzer
Schaerer spielte zunächst Gitarre in
einer Punkband und studierte danach
Jazz-Gesang in Bern bei Sandy Patton.
Für seine Sänger-Karriere entscheidend
waren aber vielmehr Vokalisten wie
Bobby McFerrin, David Moss oder Mike
Patton, die ihre Stimme auch abseits
des eigentlichen Singens als Instrument
oder Instrumental-Kopie einsetzen.
Andreas Schaerer ist nicht der erste
Schweizer Jazzmusiker, der mit einem
«Echo»-Gewinner Andreas Schaerer. KEY
Echo Jazz geehrt wurde. 2011 setzte
sich der Pianist Stefan Rusconi in der
Kategorie «Instrumentalist National»
durch, und zwei Jahre später wurde
seine Band RUSCONI sogar «Live-Act
des Jahres». Zudem wurde dem eingebürgerten Schweizer Paul Kuhn 2010
ein Echo Jazz für sein Lebenswerk
überreicht. Dazu kommt Jasmin Tabatabai, die 2012 als Sängerin in der
Band des Basler Musikers David Klein
geehrt wurde, sowie der in der Schweiz
lebende Max Frankl. Er wurde im
gleichen Jahr als bester nationaler
Gitarrist ausgezeichnet. Der neuerliche Preis für einen Schweizer Jazzmusiker bestätigt den exzellenten internationalen Ruf des Schweizer Jazz.