Offener Brief - NachDenkSeiten

Sehr geehrte Herren Weise, Alt und Becker,
Ihre o.g. Mitteilung hat in den Jobcentern empörte Reaktionen
hervorgerufen. Reihenweise melden sich Kolleginnen und Kollegen, für
die es tagtägliche Realität ist, dass ihre Arbeit „anstrengend und
belastend“ ist und nicht nur „sein kann“ – und das ununterbrochen seit
Bestehen der Jobcenter und nicht nur temporär. Das wurde und wird
auch immer wieder zur Sprache gebracht, sowohl von den Kolleginnen
und Kollegen selbst, als auch von ihren gewählten Personalräten und
nicht zuletzt auch von der Arbeitsgruppe der Personalratsvorsitzenden
der Jobcenterpersonalräte.
Umso erstaunlicher muss es da erscheinen, dass „gute
Arbeitsbedingungen“, die Sie als Ihnen „wichtige Anliegen“ bezeichnen,
auch nach 10 Jahren Jobcenter noch immer nicht vorherrschen. Wenn
Sie schreiben, „ändern können wir nur die Dinge, von denen wir
wissen“, suggerieren Sie, Sie hätten von den in der o.g. Sendung zur
Sprache gebrachten Sachverhalten bisher nichts erfahren. Das wäre
allerdings noch verwunderlicher. Denn auf Personalmangel, hohe
Arbeitsbelastungen, hohen Krankenstand, Mängel in der Qualifizierung
des Personals, hohe Fluktuation und die Problematik der durch die
Befristungspraxis zusätzlich verstärkten Belastungen wurde von den
Personalräten immer wieder hingewiesen. Und dass die von den
Jobcentern eingekauften Maßnahmen nicht immer zielführend waren,
hat Ihnen bereits Ihr IAB ins Stammbuch geschrieben.
Abgesehen davon erschiene ein Vorstand, der nicht weiß, was in dem
von ihm zu verantwortenden Bereich vor sich geht, nicht gerade in
einem guten Licht. Das wäre auch nicht besser, wenn man annehmen
müsste, er wolle die Realität auch gar nicht zur Kenntnis nehmen.
Vielleicht bietet die o.g. Sendung ja die Chance, über grundlegende
Probleme endlich konstruktiv ins Gespräch zu kommen und zu
tatsächlichen Änderungen zu gelangen.
So „wünschen“ Sie sich „eine offene und sachliche Diskussion in den
Jobcentern, in den Medien, in Politik und Gesellschaft“. Diesem
Wunsch entsprechend geht diese Stellungnahme nicht nur an Sie,
sondern auch an die interessierte Öffentlichkeit. Die grundlegenden
Problemlagen sind aus Sicht der Jobcenterpersonalräte folgende:
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Das eingesetzte Personal reicht nicht aus, um die Aufgaben zu
bewältigen. Vor allem im Leistungsbereich wird das Personal
regelrecht verheizt. Permanente Überlastung führt zu hohen
Krankheitsraten und einer hohen Fluktuation. Die
Befristungspraxis verstärkt diese Probleme noch. Gleichzeitig
werden dem vorhandenen Personal immer mehr Aufgaben
bzw. Arbeitsanweisungen aufgeladen (Umstellung auf
ALLEGRO, 4-Augen-Prinzip, demnächst E-Akte). In der Folge
wird die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats faktisch in Frage
gestellt. Es gelingt immer seltener, allen Leistungsberechtigten
die ihnen zustehenden Mittel rechtzeitig und verlässlich zur
Verfügung zu stellen (von anderen Aufgaben des
Leistungsbereichs ganz zu schweigen).
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Auch im Bereich der persönlichen Ansprechpartner reicht
das Personal nicht aus, für alle Leistungsberechtigten eine
individuelle und qualifizierte Beratungsleistung zu erbringen.
Eine solche Beratungsleistung erfordert Zeit, auf die
individuellen Problemlagen angemessen eingehen und ein
Vertrauensverhältnis aufbauen zu können. Denn es ist in der
überwiegenden Zahl der zu Beratenden nicht mit einer reinen
Vermittlungstätigkeit getan. Zum Einen liegen die Erwartungen
der Arbeitgeber, die Stellenangebote unterbreiten, jenseits
dessen, was die von uns Beratenen auf absehbare Zeit zu
erfüllen vermögen und zum anderen stellt sich in einer
wachsenden Zahl der Beratungsfälle die Frage nach der
Integration in den Arbeitsmarkt nicht als vordergründige,
sondern allenfalls als Fernziel dar – zu sehr bestimmen andere
soziale Problemlagen Lebenswirklichkeit und Lebenseinstellung
der Beratenen.
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Schon in der von Ihnen vorgegebenen Zielorientierung mit der
Fokussierung auf die Arbeitsvermittlung liegt daher ein
gewisses Maß an Negierung der Realitäten. Das führt bei den
persönlichen Ansprechpartnern zu einem ständigen Zielkonflikt
und stellt, wie z.B. die abba-Befragung in einigen Jobcentern
gezeigt hat, einen hohen psychischen Belastungsfaktor in
diesem Bereich dar. Die Implementierung des Vier-PhasenModells in die Software Verbis und die darauf aufbauende
Schulungsreihe Beko haben das nicht besser gemacht. Schon
die Vorstellung, man könne in individuelle Beratungsgespräche
auf sinnvolle Weise zentral steuernd eingreifen, entbehrt nicht
einer gewissen Absurdität. Die Vorstellung, man könne auf der
Grundlage subjektiver Profilingeinschätzungen, die persönliche
Ansprechpartner im Gespräch mit den von Ihnen Beratenen
treffen, belastbare objektive Planungen anstellen und
Steuerungsentscheidungen treffen, grenzt an organisierten
Selbstbetrug.
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Gleiches gilt für das Steuerungssystem der BA, das auch den
Jobcentern übergestülpt wurde. Die Orientierung an scheinbar
objektiven Zielzahlen und statistischen Erfolgswerten, führt
mindestens im Beratungsbereich zu einer Fehlorientierung,
denn eine gute Beratungsleistung lässt sich nicht in
Massenzahlen abbilden. Gleichzeitig sorgen Zielvorgaben und
parallel dazu die Ausrichtung der Führungskräfte auf die
Erfüllung dieser Zielvorgaben über Beurteilungssystem und
Leistungsprämien dafür, dass auf die Beschäftigten ein
irrationaler Druck ausgeübt wird. Neu ist dieses Thema nicht.
Auch der Bundesrechnungshof hat sich ja bereits dazu
geäußert.
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Darüber hinaus muss dieses, der gewerblichen Wirtschaft
entlehnte und für unsere nicht marktfähigen sozialstaatlichen
Aufgaben ungeeignete Steuerungssystem zwangsläufig zu
einem gewissen Realitätsverlust an der Spitze führen. Wer von
seinen Untergebenen im Sinne einer selbsterfüllenden
Prophezeiung nur erwartet, die eigenen Zielerwartungen erfüllt
und damit bestätigt zu sehen, umgibt sich mit bezahlten
Claqueuren und darf sich nicht wundern, wenn sich von diesen
keiner traut, festzustellen, dass der König nackt dasteht, statt
im schönen neuen Gewand.
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Diesem fehlgeleiteten Steuerungssystem ist es auch zu
verdanken, wenn eingekaufte Maßnahmen von den
Teilnehmern als wenig zielführend oder gar kontraproduktiv
erlebt werden. Es ist durchaus vorstellbar, dass es arbeitslose
Menschen gibt, die aufgrund schlechter Erfahrungen ein stark
negatives Selbstwertgefühl entwickelt haben und mit sozialen
Ängsten beladen sind, für die es ein sinnvoller Ansatz sein
kann, Lamas durch die Landschaft zu führen, damit sie über die
Verantwortung für das Tier wieder Zutrauen zu sich selbst
entwickeln und in der Interaktion mit den anderen Teilnehmern
ihre Ängste überwinden können. Für jeden Arbeitslosen ist das
allerdings nichts. Es kommt also auf die Passgenauigkeit des
Maßnahmeangebots an. Kann die nicht gewährleistet werden,
weil die Zeit für ein individuelles Beratungsgespräch nicht da ist
oder weil es einen Druck gibt, eingekaufte Maßnahmeplätze
auch zu besetzen, selbst wenn aktuell nicht der passende
Bewerber am Schreibtisch sitzt, kommt es notwendigerweise zu
Fehlbesetzungen und in der Summe zu Misserfolgen.
Uns ist bewusst, dass die Ursachen für die geschilderten Problemlagen
unter anderem auch in der Politik zu suchen sind. Wir hoffen dennoch,
durch diese nur knapp umrissene Aufzählung den Teil der
Verantwortung verdeutlicht zu haben, den wir bei Ihnen sehen.
Grundlegende Veränderungen sind aus unserer Sicht überfällig. Um
auf Ihre o.g. Mitteilung zurück zu kommen: wir sind gern bereit,
„gemeinsam mit Ihnen nach guten Lösungen“ zu suchen.
Mit freundlichen Grüßen
Barbara Oer-Esser
stellv. Vorsitzende
der Jobcenterpersonalräte
Mitglied des
geschäftsführenden Vorstandes
der Jobcenterpersonalräte
Gerd Zimmer
Eva Schmauser
Moritz Duncker
Mitglieder des
geschäftsführenden Vorstandes
der Jobcenterpersonalräte