Mit dem Schneemobil zum Nordkapp

Mit dem Schneemobil zum Nordkapp
Ein Reisebericht von Heidi Prochaska
Ein Schneemobil ist leicht zu fahren, auch für Frauen. Diese Information entnahm ich dem Internet
kurz vor Reisebeginn und lange nach meiner spontanen Zusage. Weitere Reiseauskünfte sind rar.
Kleidung für die Fahrt auf dem Motorschlitten wird gestellt. Eigene warme Unterwäsche ist sinnvoll,
genauso wie ein guter körperlicher Trainingszustand. Das mit der physischen Konstitution machte mir
ein wenig Sorge. Mit 40 war ich verdammt fit, nur ist das jetzt schon zehn Jahre her. Mich beruhigt
meine Fähigkeit, lange und mit hoher Aufmerksamkeit durchzuhalten. Meine drei Mitstreiter
bestehen aus zwei jungen Männern in der Blühte ihres Leben, strotzend vor Kraft und Energie und
einem Mann, dem seine kurzen grauen Haare ein markantes und verwegenes Aussehen geben und
dem ich alles zutraue.
„Freust du dich?“, fragten Freunde und Familie. Ich antworte kurz und einsilbig: „Ich bin gespannt“.
Im Flieger der Finnair von Zürich nach Helsinki bestelle ich Orangensaft und bekomme Blaubeersaft.
Das erste Zeichen, dass es Richtung Norden geht und sich Dinge ändern. Statt Beefburger essen wir
Rentierburger und sind überrascht vom guten Geschmack. Die leichte Wild Note unterscheidet das
Fleisch der einzig domestizierten Hirschart von unserem Rind. Rovaniemi, die Hauptstadt Lapplands,
ist Zielflughafen nach dem Zwischenstopp in Helsinki.
Meine neue Daunenjacke ist hier ein brauchbares Kleidungsstück. Die Temperaturen liegen deutlich
unter dem Gefrierpunkt und es liegt haufenweise Schnee. Amüsiert beobachten wir nackte Finnen,
die auf der gegenüberliegenden Flussseite ins eiskalte Wasser springen. Wir vermuten, dass ein
vorheriger Saunagang die entsprechende Motivation geliefert hat.
Deutlich interessanter sind circa 50 in Reih und Glied abgestellte Motorschlitten. Sie sehen aus wie
besonders dicke Motorräder auf drei Beinen. Genauer gesagt sind es zwei kurze Skier und ein
Kettenantrieb unter der Sitzbank. Wir favorisieren sofort die Schlitten mit der höchsten Kubikzahl
und einem Tacho, der bis 200 Stundenkilometer geht. Schließlich wollen wir vorwärts kommen und
Geschwindigkeit machen.
Ein bisschen Kultur muss sein.
Wir schlendern durch das
interaktive Museum Arktikum
von Rovaniemi und wissen ab
sofort, dass Elche gute
Schwimmer sind und fünf Meter
tief tauchen können.
Beeindruckend.
Auf dem Weg dorthin kommen
wir an der alten Fabrik des
finnischen Messerherstellers
Martiini vorbei. Jeder von uns
kauft ein originales
Lappenmesser. Natürlich mit der
scharfen, klassischen
Kohlenstoffklinge und nicht die
rostfreie Edelstahlversion.
Aufregend für alle Kinder und
amüsant für uns ist das wirkliche
Highlight von Rovaniemi. Das
Tor zum Norden ist Sitz der
Kammer des
Weihnachtsmannes mit
eigenem Postamt. Über 300.000
Briefe an den Weihnachtsmann
gehen hier weltweit ein und
werden selbstverständlich alle
beantwortet.
Wir warten brav vor einer
verzierten, großen Holztür bis
wir hinein dürfen. Dann nehmen
wir auf einem schlittenähnlichen
Gestell Platz. Der Weihnachtsmann sieht genauso aus, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe und
spricht zu meiner großen Überraschung deutsch. Der finnische Santa Claus ist halt ein Alleskönner.
Direkt am Santa Claus Village überschreiten wir die nördliche Polarkreislinie, den 66. Breitengrad.
Ein Kleinbus bringt uns 116 km nördlich nach Luosto, dem Startpunkt der Tour. Max, der Organisator
und Jüngste unseres Teams telefoniert mit Vidar, dem Wikinger, unserem Guide. Treffen ist am
nächsten Morgen um 8.00 Uhr beim Frühstück. Vidar macht einen sympathischen Eindruck. Ich
registriere aus den Augenwinkeln Mengen von Brot, Wurst, Fisch, Eier und Speck, die konzentriert
und zügig im Magen des drahtigen und normgewichtigen Wikingers verschwinden und mache mir so
meine Gedanken.
Es ist Anprobe. Die arktistaugleiche Kleidung und die Helme werden vom Veranstalter gestellt. Nur
Peter hat seine eigenen Sachen mitgebracht, die sich schon bei seinen Gespanntouren im
winterlichen Norwegen bewährt haben. In einer großen Outdoortasche finde ich Helm, Latzhose,
Jacke, Sturmhaube, Handschuhe und Stiefel und kleide mich im Schichtsystem an. Nach drei Lagen ist
so etwas wie eine Figur kaum mehr zu erkennen, aber warm ist mir und das ist die Hauptsache. Vier
„Michelintönnchen“ wandern 100 Meter zu den Motorschlitten, die über Nacht per Anhänger nach
Luosto transportiert wurden.
Wir bekommen die typische Sicherheitseinweisung und erfahren das Geheimnis des
Motorschlittenfahrens. Gelenkt wird mit dem dicken Teil. Vidar klopft sich auf den Hintern und lacht.
Ich schaue ein bisschen befremdlich und denke, so dick ist meiner doch gar nicht. Egal! Hier geht es
nicht um Schmeicheleien, sondern um Technik. Das menschliche Hinterteil muss beim Kurvenfahren
aktiv eingesetzt werden.
Zum Glück reicht meistens ein beherztes Lenken. Die Schneemobile untersteuern deutlich, daher
muss man kräftig am Lenker reißen und abwarten, wann und wieviel passiert. Zudem rennen sie
jeder Spurrinne hinterher und wackeln dabei wie ein Lämmerschwanz. Also sollte man die Spur des
Vordermannes besser meiden.
Wenn man zu weit von der vorgefertigten Furche abkommt, gräbt sich die Kufe in den Tiefschnee ein
und das Fahrzeug driftet immer weiter weg vom Weg. In dieser Situation helfen nur die sofortige
Gewichtsverlagerung und ein kräftiger Lenkeinschlag. Wenn das nicht funktioniert, gräbt sich der
Skooter unweigerlich ein (oder kippt um) und muss ausgegraben werden. Das ist uns allen (außer
dem erfahrenen Guide) mindestens einmal passiert.
Mit der rechten Hand wird mittels Daumengashebel die Geschwindigkeit
reguliert. Links ist der Bremshebel. Doch der wird kaum gebraucht, denn
die Motorbremse ist stark. Vor dem Losfahren ziehen wir den
Notfallknopf nach oben und stellen sicher, dass bei einem möglichen
Unfall der Kontakt zwischen uns und dem Snowmobil mittels
Notfallschnur gekappt wird.
Auf geht’s. Ich bekomme den roten Sportflitzer. Ein Einsitzer und 30
Kilogramm leichter als die doppelsitzigen schwarzen Snowmobil-Tourer
der Männer. Minimales persönliches Gepäck, wie Waschbeutel und
Unterwäsche, verstauen wir in Taschen auf den Schlitten.
Ich drücke mit meinem Daumenballen langsam auf den Gashebel und mein rotes Gefährt setzt sich
mit einer Lautstärke, die einer Harley gleichkommt, auf der eigens gespurten Snowmobilroute in
Bewegung.
Die Routen in diesem touristisch erschlossenen Gebiet sind stark frequentiert und entsprechend
ausgefahren. In der Wüste heißt diese Fahrbahnstruktur Wellblechpiste. Quer zur Fahrtrichtung
liegende Bodenwellen, in diesem Fall aus Schnee und Eis.
Ich versuche ganz locker und entspannt zu fahren, die Arme hängen zu lassen, nicht zu verkrampfen.
Total konzentriert schaue ich weder rechts noch links, nur weit nach vorne. Bum, bum, bum, die
Wellen nehmen kein Ende. Jede
überfahrene Welle ist wie einen
Schlag durch meinen gesamten
Körper.
Die geraden, glatten
Streckenabschnitte, zwischen den
Buckelpisten, lassen uns erahnen,
wie geil Snowmobilfahren sein kann.
Da kommt, wenn auch nur kurz, Spaß
auf.
Plötzlich fährt Vidar aus der Spur in den Wald und dreht. Ich bleibe stehen und beobachte das
Geschehen. Er winkt und macht vor, in welche Richtung sich das Hinterteil bewegen soll. Ich mache
nach und es funktioniert. Er steckt die Faust nach oben. Das war top.
Nach einer Stunde machen wir fünf Minuten Pause. Die Männer verschwinden an den Waldrand und
färben den Schnee. Ich denke an meine drei Lagen und halte mich während der gesamten Fahrt
trinktechnik zurück. Gut, dass ich keine kleine Pennäler Blase habe.
Philipp, der Bruder von Max, erzählt mir, dass er überrascht ist, wie gut das Snowmobil die Buckel
abfedert. Er hat es sich schlimmer vorgestellt. Ich schaue ihn entgeistert an und erinnere mich an den
Vergleich Sportwagen und Tourer.
Kurz nach dem Anfahren fiebere ich bereits der nächsten Pause entgegen. Mir tut alles weh. Vidar
hält meine Motivation hoch, indem er uns bei jeder Gelegenheit die schwindenden Kilometer bis zur
Mittagspause vorrechnet. Dann biegen wir links ab, fahren noch drei Kilometer querfeldein, queren
eine Asphaltstraße und parken.
Ich schleppe mich ins Café. Die
Teller mit geräuchertem Lachs
und dampfendem Püree stehen
schon auf dem Tisch. Die ersten
100 km nach fünf Stunden
Motorschlittenfahrt liegen hinter
mir und ich kann mir kaum
vorstellen, heute noch weitere
120 km zu fahren. Ich rede kaum,
esse schnell und versuche mich
maximal auszuruhen. Max würde
am liebsten mit den Fingern essen. Weil seine Hand vom Dauer-Gas-Geben weh tut, kann er die
Gabel kaum halten. Wir grinsen und sind froh, dass in der Einöde von Lappland auf Etikettenregeln
kaum Wert gelegt wird.
Ich stöhne leise beim Aufsitzen. Max bietet mir seinen Motorschlitten an, doch ich winke ab. Auch
Vidar reagiert, doch die Offerte seinen Schlitten zu übernehmen ist mit reichlich Zögern verbunden.
Sein Snowmobil ist Baujahr 2015, also total neu und das Beste, was der Markt hergibt. Ich beiße die
Zähne zusammen und fahre mit meinem weiter. Ich werde es schon schaffen. Mir selber Mut und
Durchhaltekraft einzureden – darin bin ich gut.
Laut unserem Guide werden die Buckel im Laufe der Reise weniger. Je weiter wir in die Einsamkeit
des Nordens vordringen, desto weniger befahren sind die Strecken.
Vor einer Holzbrücke machen wir eine kurze Rast und Vidar demonstriert uns eine Tiefschneefahrt.
Nein, noch fahren wir nicht hinterher, sondern bleiben brav auf den vorgegebenen Wegen. Hier auf
der Holzbrücke ist beim letzten Mal ein Unfall passiert, daher sollen wir sehr vorsichtig fahren.
Dann kommt er zu mir und bietet mir ernsthaft
seinen „Porsche-Schlitten“ an. Ich nehme sofort an
und steige um. Still genieße ich eine deutlich bessere
Dämpfung und leisere Fahrgeräusche. Plötzlich bleibt
Vidar stehen. Er dreht sich um und auch ich blicke
zurück. Es ist niemand mehr da. Unsere beiden
Schlitten haben keinen Rückspiegel, so dass eine
ständige Beobachtung dessen, was hinter uns
geschieht, entfällt. Wir drehen und fahren mit Tempo
den Weg zurück.
Hinter einer Kuppe sehen wir unseren dritten Mann
neben einem umgestürzten Motorschlitten im
Tiefschnee liegen. Bei der Bergung versinken alle
weiteren Personen bis zum Bauchnabel im Schnee.
Vidar weiß genau was zu tun ist und gibt ruhig und
souverän klare Anweisungen. In Minutenschnelle ist
der Motorschlitten wieder frei. Es wird langsam
dunkel. Die Bäume werfen gespenstische Schatten
auf den im Mondlicht glitzernden Schnee.
Um 19.30 Uhr erreichen wir den Hotelkomplex Kultahippu, ein früheres Goldgräberresort. Wir
parken auf einem Schneewall vor dem Hoteleingang und ich lege entkräftet den Motorschlitten auf
die Seite. Max und Vidar sind ganz Gentleman und helfen beim Aufrichten ohne überflüssige
Kommentare.
Das Hotel heisst Aurea Borealis und ist spezialisiert auf die Beobachtung des Polarlichts. Wir
bekommen neben dem Zimmerschlüssel ein Nokia Handy, das uns in der Nacht mit einer SMS weckt,
sobald ein Polarlicht zu sehen ist.
Viele Hotelzimmer in Finnland haben eine eigene Zimmersauna, integriert ins Bad. Ich mache zwei
Gänge hintereinander, bevor ich das erste Bier zische. Das Abendessen ist exzellent, genauso wie der
finnische Wodka, der uns als must-have angeboten wird. Ich will nur noch ins Bett. Selbst die
Aussicht auf das Polarlicht interessiert mich heute nicht mehr. Ich ignoriere das Summen des Handys.
Am nächsten Morgen spüre ich zwar Muskeln, die ich schon lange nicht mehr bewegt habe, doch es
geht mir gut und ich bin hungrig. Heute ist nicht nur unser zweiter Tour Tag, sondern auch Max
Geburtstag. Wir singen beim Frühstück ein Ständchen und die Gäste an den anderen Tischen
stimmen beherzt mit ein. Max bekommt seinen ersten kleinen Geburtstagskuchen.
Wir fahren heute gute 130 km über einen der größten Seen Lapplands, den Ivalu-See. Eine Eisschicht
von über einem Meter macht’s möglich. Endlich können wir Gas geben. Die Tachonadel steigt auf 80,
100, 120 Stundenkilometer. Max reckt die Wikingerfaust nach oben und kommt auf stolze 153 km/h.
Drei Rentiere auf dem Eis nehmen von uns kaum Notiz.
Mitten im See halten wir an einer besonderen Insel. Es ist eine alte Kultstätte der Saamen, den
Ureinwohnern Lapplands. Normalerweise sind die Inseln, die wir umfahren, von Wasser umspült.
Nach zwei Stunden machen wir Pause am Kulturzentrum Siida, trinken Kaffee und essen finnisches
Gebäck mit Blaubeeren. Heute ist es dort sehr voll. Es ist Goldgräberkongress.
Auf dem See wechseln innerhalb
von Minuten die Sichtverhältnisse.
Es wird diesig, neblig und grau. Ich
kann Boden und Himmel nicht
mehr unterscheiden. Alles geht in
einander über. Einzig und allein die
orangefarbene Jacke von Vidar gibt
mir die Richtung an. Mit 80
Stundenkilometer sause ich ins
graue Nichts. Ich schwanke
zwischen beten und fluchen und
entscheide mich für aufmerksames,
ruhiges und konzentriertes Fahren.
Vidar ist ein bisschen nervös. Er hat ein Mittagessen für uns bestellt, weiß aber nicht, ob es
tatsächlich klappt. Sein Gesprächspartner klang um zwei Uhr am Nachmittag so, als wäre er gerade
erst aufgestanden nach einer harten Nacht.
Um 16.00 Uhr sitzen wir in der großen
Wohnküche einer Campinganlage. Der
Besitzer hat eine eigene Rentierzucht
und fährt Rentierrennen mit. Dabei
wird ein Treiber auf Skiern von einem
Rentier gezogen. Ein sehr populärer
Sport in Lappland. Natürlich verwertet
er auch das Fleisch. An seiner Scheune
hängen Rentierherzen zum Trocknen.
Sie sind für die Lappen ein gehaltvoller
Snack für unterwegs.
Vor uns stehen große Schüsseln mit
Püree, sautiertem Rentierfleisch,
Gewürzgurken, Blaubeermarmelade und Preiselbeeren. Wir essen, als hätten wir tagelang nichts
bekommen. Ich weiß nicht was mich veranlasst die dritte Portion Rentierfleisch zu essen. Hunger
bestimmt nicht. Vielleicht Gier, oder reine Gelüste oder die nachhaltige Aufforderung von drei Finnen
ja nicht mit dem Essen aufzuhören. Zum Nachtisch gibt es Waffeln mit Erdbeermarmelade, eine
Spezialität. Max hält den Rekord mit fünf Waffeln nach drei Portionen Hauptspeise.
Berge nennen die Finnen ihre 400 Meter hohen Hügel. Wir verlassen die Ebene und fahren eine
landschaftlich abwechslungsreiche Strecke in völliger Einsamkeit. Niedrige Büsche, Felsen und ein
paar verschneite Zäune säumen unseren Weg. Ein geschwisterliches Überholmanöver endet im
Tiefschnee.
Philipp kriecht unter dem umgekippten Snowmobil hervor, weiß wie ein Schneemann. Max und Peter
stemmen sich gegen die Sitzbank, zerren die beiden Skier in Fahrtrichtung und stampfen den
weichen Pulverschnee fest. Gefühlvoll gibt Philipp Gas und lenkt den Schlitten mit vollem
Körpereinsatz wieder in die Spur.
Der Tag scheint kein Ende zu nehmen. Langsam wird es dunkel. Ruckartig hält Vidar an und zeigt
aufgeregt nach links. „Schaut an den Horizont, dort stehen Elche“. Ich blicke angestrengt in die
Richtung und sehe nichts außer Schnee und niedrige Bäume. „Verdammt“, denke ich, „wieso kann
ich nichts erkennen“.
In dem Moment fährt Vidar los und zwar querfeldein, über Sträucher, Büsche und Schneefelder. Und
dann stehen sie vor uns. Vier majestätische Tiere, schön in einer Reihe. Wir fahren noch näher heran
und schließlich neben ihnen her. Die lange Schnauze und der massive Körper sind gut zu erkennen.
Dass aus unserem Wunsch Elche in freier Wildbahn zu sehen so schnell Wirklichkeit wird – wer hätte
das gedacht. Die Grenzüberschreitung nach Norwegen bekommen wir kaum mit. Vidar sieht glücklich
aus. Als echter Norweger ist er endlich wieder in heimatlichen Gefilden.
Wir übernachten in einfachen, ordentlichen Holzhütten mit schmalen Betten. Das Abendessen gibt es
in einem Holz Iglu. Sehr schön geschmückt mit echten Kerzen und einer Atmosphäre zum
Dahinschmelzen. Frischer Dorsch auf einem Gemüsebeet, das ist unser heutiges Mal. Eigentlich sind
wir noch satt. Doch wir bringen es nicht übers Herz, das Essen, was eigens für uns gekocht wurde,
stehen zu lassen.
Die Torte, extra für Max gebacken
(seine zweite an diesem Tag), aus
Sahne, Creme und frischen Früchten
ist das kulinarische i-Tüpfelchen.
Der kurze Abendspaziergang dient
nur in zweiter Linie der Verdauung.
Wir sehen endlich Polarlichter.
Nicht so bunt wie auf den
zahlreichen Fotos, die überall
hängen, dennoch deutlich und klar
am Nachthimmel erkennbar.
Heute Morgen ist es saukalt und
ich ziehe einen dritten Pullover an.
An einer Tankstelle erstehen Peter
und ich gelbe Schutzbrillen, die
bei Schnee mehr Kontraste und
damit eine bessere Sicht bieten,
als reine Sonnenbrillen. Unser
heutiges Programm heißt 200 km
durch Norwegen.
Die Landschaft ändert sich. Es wird
bergiger und Vidar gibt uns weitere Fahrinstruktionen. Beim Hangfahren ist die aktive Fahrweise mit
Körpereinsatz besonders wichtig, genauso wie das Nutzen der Fliehkräfte. Anders ausgedrückt:
Beweglichkeit und Schnelligkeit bringt Sicherheit.
Die Landschaft wird karger.
Vidar hält unvermittelt an
und zeigt auf etwas, was auch
er hier noch nie gesehen hat.
Ein dunkler Seeotter (ich
glaube, dass es nach
Recherchen ein Fischotter
war) rennt über die Schneeund Eis Piste, rutscht aus,
fängt sich wieder und rast
weiter. Vidar fährt von hinten
an ihn heran und zwingt ihn
so in unsere Richtung. Er
kommt immer näher und wir
können ihn aus kurzer Distanz
beobachten. Dieses schlanke,
lange, wendige Tier ist nur
noch wenige Meter von uns
entfernt. Warum sich ein Seeotter statt am Wasser hier in dieser Schneelandschaft aufhält – das
weiß wahrscheinlich nur der „Geier“.
Trotz Ankündigung sind wir überwältigt von der weißen Wüste oder den great white planes, einem
der extremsten Gebiete Europas. Es gibt weder Büsche, Felsen oder Gräser, nur 50 Kilometer Schnee
und Eis. Wir fahren in einer V-Formation und haben richtig Spaß. Wir strecken die Wikingerfaust in
die Luft und schreien „Hey“.
Innerhalb von Minuten ändert sich mal wieder das Wetter. Es wird dunstig. Die Sicht verschlechtert
sich rapide. Trotz gelber Brille kann ich keine Bodenwelle mehr erkennen. Ich gebe Gas, um Vidar,
der vor mir fährt, nicht zu verlieren. Denn das wäre das Aus. Ich hoffe, dass ihn als norwegischer
Wikinger ein innerer Kompass führt.
Schließlich bleibt er stehen und gesteht, dass auch er nicht mehr genau weiß, wo wir sind. Wir beide
wechseln das Snowmobil, da ich als Einzige ein Navigationssystem an Bord habe. Schließlich fahre ich
das Führungsfahrzeug. Vidar fährt zur Orientierung kreuz und quer. Dann sehen auch wir kleine
Pünktchen am Horizont. Es sind die Strommasten, an denen wir vor gut einer Stunde schon mal
vorbei gefahren sind.
Wow, was für ein Bild, denke ich, die Augen gerade aus aufs Wasser gerichtet. Wir erreichen den
ersten Fjord und lassen uns faszinieren von der arktischen Schönheit Norwegens. Jetzt weiß ich,
warum ich schon immer mal nach Norwegen wollte. Hier ist es deutlich wärmer, dank des
Golfstroms.
Auf einem zugefrorenen Flussbett rasen wir zu Vidars eigenem Sommerhaus, natürlich nicht ohne
einen Abstecher zum Fjord zu machen für ein cooles Foto. Direkt am Wasser platzieren wir uns mit
unseren Motorschlitten. Die Handys klicken.
Ein Sommerhaus mitten im Schnee
ist für unsere Verhältnisse etwas
merkwürdig, in Norwegen aber ganz
normal. Auch, dass die Toilette ein
ganz eigenes Häuschen hat und hier
mit Streu statt mit Wasser gespült
wird, ist norwegischer SommerhausStandard. Das Wasser kommt aus
dem Fluss und wird in einer Zisterne
gesammelt. Vidar kocht uns
italienische Gemüsesuppe mit 15
kleingeschnittenen Würstchen als Einlage. Hungrige Mäuler wollen schließlich gestopft werden.
Das hellbraune Ledersofa nimmt viel Platz ein im Wohn-Essraum und wird von uns belagert. Max
kann seine Hand immer noch nicht richtig nutzen, daher trägt sich Philipp ins Gästebuch ein. Wir
ruhen uns kurz aus, bevor wir die letzten 60 km des Tages in Angriff nehmen.
Das Ziel ist Mehamn, die nördlichsten Stadt Europas, sowie die nördlichste Anlaufstelle der
traditionellen Postschifflinie. Der Ort hat 850 Einwohner und ist Geburtsort und Heimatstadt unseres
Guides. Dort hat er seine Gesellschaft. So nennt er sein Office, das Restaurant, die Zimmer und
Holzhäuser für Übernachtungsgäste. Als wir das Polarmeer sehen wissen wir, dass das Ziel nicht mehr
weit ist.
Eine Stunde später stehen wir vor dem Hafen von Mehamn und blicken auf unser Hotel an der Mole.
Das Ziel ist erreicht.
Max und Philipp nutzen die Sauna und springen zum Abkühlen ins Meer. Den Kopf unterzutauchen
war sehr hart und ist mit Eisspitzen vergleichbar, die sich in den Kopf bohren, erzählen sie heldenhaft
beim Essen. Vidar verrät, dass der Schädel niemals unter Wasser kommt, beim Baden in der
Barentsee. Gut zu wissen, grinst Philipp und merkt sich den Tipp für die Ewigkeit.
Zum Feierabendbier gibt es eine Delikatesse. Riesig, rot, lecker und sehr selten. Das ist der Steckbrief
der Königskrabbe, ein Exot, den es in Deutschland nur in erlesenen Restaurants gibt. Mit ihrer Größe
von bis zu einem Meter nennt man sie wenig schmeichelhaft auch Monsterkrabbe. Stacheln und
spitze Klauen an den Beinen sorgen nicht gerade für ein friedfertiges Aussehen.
Gierig schneiden wir die 30-40 cm langen Beine mit einer Werkzeugschere an beiden Seiten auf.
Innen erwartet uns zartes, weißes, intensiv nach Krustentier schmeckendes Fleisch. Dazu gibt es Brot,
Gurken, Tomaten und reichlich schaumig geschlagene Remoulade.
Der nächste Tag beginnt entspannt. Noch nie hatten wir anderthalb Stunden Zeit fürs Frühstück. Wir
bleiben heute auf der Halbinsel Nordkinn, dem nördlichsten Ende des europäischen Festlandes. Erst
1989 wurde die Halbinsel an das norwegische Straßennetz angeschlossen. Und welche
Verbindungswege gab es davor, fragen wir verdutzt unseren Guide? „Schiffe“, antwortet Vidar so, als
wäre die Antwort selbstverständlich.
Dieses Jahr liegt wenig Schnee in
Mehamn, so dass wir mit den
Snowmobils erst über Stock und Stein
fahren. Dann sucht Vidar ganz eigene
Wege und zeigt uns, was seine
Heimathalbinsel an faszinierenden
Landschaften und herausfordernden
Strecken für Snowmobile zu bieten
hat.
Vidar hält mitten auf einem zugefrorenen See
und öffnet den großen Karton, den Peter
transportiert hat. Geschickt baut er eine
Metallspirale zusammen und beginnt neben
seinem Snowmobil ein Loch ins Eis zu bohren.
Durchmesser ca. 10 cm. Nach ungefähr 130
cm Eisschicht stößt er auf Wasser. Dann
bekommt Max den Eisbohrer, danach Philipp
und schließlich ich.
Wir löchern in Abständen von 4-5 Metern die
Eisdecke und bekommen eine kurze Angelrute
aus rote/blauem Plastik. An den Harken
kommen ein Blinker und leckere Maden –
natürlich nur für die Fische. Dann rollen wir
knapp zwei Meter Nylonschnur ab und schon
beginnt das Eisfischen. Wenn es an der Angel
zupft, hat ein Fisch angebissen erklärt man
einem Nichtangler wie mir. Max fängt den
ersten Fisch. Einen Saibling. Vidar nimmt ein
Messer und macht einen gekonnten
Kopfschnitt, die schnellste Methode einen
Fisch zu töten.
Unsere Ausbeute: 2 Forellen und vier
Saiblinge. Und das verrückte: Jeder von uns
hat mindestens einen Fisch gefangen. Ich
schaue Vidar durchdringend an und frage mich
wie er das gemacht hat. Sitzt jemand unter der
Eisfläche und verteilt die Fische an
Angelharken oder ist es nordische Magie, mit
einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit?
In Gamvikbukta, einem Ort im Nordosten der Halbinsel, direkt am Meer, mit 230 Einwohnern,
trinken wir Kaffee und rote Limonade und essen Brot, Lammwurst, Krabbensalat, norwegisches
Schichtgebäck und Käse in dicken Scheiben. Der Dauerhunger treibt es hinein. Hier erfahren wir, dass
eine fleißige Frau gut 4000 Euro verdienen kann, wenn sie handwerklich geschickt ist und für die
fischverarbeitende Industrie arbeitet. Eine Antwort auf die Frage, wie wohl der Alltag der Menschen
aussieht, die hier leben.
Hier sehen wir auch den wohl nördlichsten Friseursalon Europas. Der ist in dem einzigen
Lokal/Supermarkt/Post/Restaurant des Ortes.
Eigentlich hatten wir vor, zum nördlichsten Leuchtturm Europas weiterzufahren, dem Slettnes fyr.
Aber der milde Golfstrom hat für Tauwetter gesorgt, so dass der Schnee nicht ausreicht, um mit dem
Schneemobil dahin zu gelangen.
Vidar erkennt, dass Max und Philipp den Grenzbereich des Snowmobilfahrens ausloten wollen und
gibt Gas. Die beiden folgen ihm dicht an den Fersen. Aus der Talsohle heraus mit Speed auf die Hänge
und wieder abwärts. Die dabei aufgewirbelte Pulverschneewolke verwandelt für einen kurzen
Moment dunkel gekleidete Abenteurer in helle Lichtgestalten.
Ich bin etwas zögerlich und spüre deutlich, dass zu wenig Geschwindigkeit die Fliehkräfte reduziert
und die Aktion schwierig, ja sogar gefährlich macht. Mit Tempo auf Hangkanten zuzufahren kostet
mich Überwindung, vor allem, weil ich nicht sehe, wie es dahinter weitergeht. Auch wenn mir
manchmal das Herz stehen bleibt – cool ist es.
Vidars Koch hat unseren selbstgefangenen Fisch in eine knusprige Panade gehüllt und serviert ihn mit
offenem Maul. Meine Geschmacksnerven schlagen Purzelbäume, falls es so etwas gibt.
Wir gehen früh schlafen.
Am nächsten Morgen gibt es bereits um 6.30 Uhr ein kurzes Frühstück. Mit Sack und Pack steigen wir
in einen Kleinbus. Rasant ist die Fahrt am Fjord entlang auf spiegelglatten, verschneiten Straßen.
Dank der Winter Spikes fahren wir auch in diesem Fahrzeug so sicher wie auf Kufen zu einem kleinen
Hafen.
Vidar macht uns auf einen qualitativ hochwertigen Streckenabschnitt aufmerksam. Er hat mit seinem
Vater an dieser Straße mitgebaut und kann sich noch genau an eine Terrasse erinnern, auf der eine
junge, wohlgeformte Frau im Bikini lag. Hier hat er sich als 19-jähriger besonders ins Zeug gelegt.
Und er zeigt uns auch den Ort, wo er zwei seiner Finger verloren hat. Es war Silvester und Wodka und
Dynamitstangen haben da eine bedeutende Rolle gespielt.
Wir fahren die ersten 100 km des Rückwegs
auf dem Seeweg. Auf dem Katamaran ist
Platz für 90 Personen. Obwohl wir die
einzigen Passagiere sind, brauchen wir so
viel Platz. Die Motorschlitten werden mit
einem Kran auf das Deck verladen.
Schwebende Motorschlitten – das sieht
irgendwie lustig aus. Die Handys sind im
Dauereinsatz und jeder von uns macht zig
Fotos.
Heute müssen wir Tempo machen. Es ist die längste Etappe von gut 300 Kilometern. Die Sicht ist
schlecht. Macht nichts. Die Geschwindigkeit wird nicht gedrosselt. Langsam profitieren wir von
unseren Erfahrungswerten beim Schlittenfahren.
Trotzdem denke ich fortwährend, wie schön entspannt es wäre, nicht dauernd am gefühlten Limit
zufahren. Mit weniger Tempo wäre das Fahren deutlich bequemer. Aber nein, persönliche
Vorstellungen und Einschätzungen sind dem Team und dem Ziel unterzuordnen – das ist in dieser
Phase Pflicht.
Daher fluche ich das ein oder andere Mal still vor mich hin. Nach außen dringt davon nichts. Sobald
wir stehen und das Visier hochklappen lächle ich und wirke gutgelaunt. Je öfter ich mir klar mache, in
welch außergewöhnlicher und einmaliger Situation ich hier in Finnland bin, desto häufiger grinse ich
auch in den unbeobachteten Momenten. Schließlich lache ich laut über mich selber und
Scheinwirkung und Realität reichen sich versöhnlich die Hand.
Mit 100 Stundenkilometern über die nebelige Ebene. Oh Gott! Ein Schrei! Ich sehe Philipp fliegen und
kann dem schanzenähnlichen Hügel genauso wenig ausweichen wie er. Automatisch umschließen
meine Hände die Griffe am Lenker fester. Dabei gebe ich ungewollt Gas, was meinem Sprung noch
mehr Power gibt. Dank des Klammergriffs ziehe ich den Rest meines Körpers, der sich beim Sprung
vom Schlitten löst, auf den Sitz zurück und setze die Fahrt vor.
Beim Mittagessen erzählen Philipp und ich von unserem Sprung und erfahren, dass Peter den Buckel
elegant umfahren hat. Beim zweiten Tankstopp sind wir schon ziemlich müde und müssen Energie
und Aufmerksamkeit noch mal richtig aktivieren für die letzten 60 Kilometer bis zum Hotel. Ich
genieße ein butterzartes Lachsfilet bevor ich um 22.00 Uhr ins Bett falle. Lächelnd schlafe ich heute
ein. Das Ausdehnen meiner Komfortzone, so wie ich es heute wieder erlebt habe, macht mich besser
und so richtig zufrieden. Nichts anderes will ich. Punkt.
Der letzte und sechste Tag unserer Tour beginnt mit Plusgraden und leichtem Schneeregen. Fünfmal
bleiben wir stehen, weil Rentiere unseren Weg kreuzen. Wir fahren Waldwege, die dank Neuschnee
und Pistenraupe gut präpariert sind. Aus der Kurve heraus Gas geben erinnert mich an meine Harley
und sonnige Alpenstrecken.
Wie auf einer Schnur aufgereiht stehen wir mit unseren Schlitten am obersten Punkt einer Skipiste
und schauen den wenigen Skifahrern zu.
Cloudberry-Teilchen und Kaffee versüßen uns die erste Pause. Die mir völlig unbekannten gelben
Beeren (zu Deutsch auch Moltebeere, Schellbeere oder Sumpfbrombeere genannt) sind eine
nordische Spezialität und eine Vitamin C Bombe zugleich.
Meine behandschuhte linke Hand dient mir als Scheibenwischer fürs Visier. Die warme Atemluft
sorgt für Zusatznebel. Wir sind froh, dass es die meiste Zeit kälter war. Dank perfekter Schutz- und
Wärmekleidung haben wir die Temperaturen im Minusbereich gut verkraftet.
Je näher wir zum Ausgangspunkt kommen, desto holpriger wird die Strecke. Und desto mehr junge
Snowmobilfahrer kommen uns entgegen. Manche Geräte sehen extrem sportlich aus und sind
entsprechend getunt. Max und Philipp schauen ihnen mit „will haben“ Blicken nach. Ob diese laut
brüllenden Maschinen auch für Sechstagetouren geeignet sind, wage ich als „bejahrte“ Frau zu
bezweifeln.
Wir fahren auf einen Parkplatz und Vidar gibt noch mal richtig Gas, saust an einem LKW vorbei,
hinauf auf einen Schneehügel, mit Speed wieder runter – und unterschätzt den Bremsweg. Er knallt
auf die Stoßstange eines parkenden Autos. Mehr passiert nicht. Der Schaden ist schnell mit dem
Besitzer ausgehandelt. Ich gehe auf ihn zu, lächle und weiß nun endgültig, dass es eine gute Idee war
mir seinen funkelnagelneuen Motorschlitten auszuleihen.
Die Fahrt ist zu Ende. Gemeinsam bekräftigen wir, dass diese Woche eine großartige Erfahrung war,
anstrengend, ereignisreich und wundervoll. Vidar, der Wikinger nimmt mich zum Schluss in den Arm
und meint: „Du hast einen Orden verdient Heidi, du bist die erste Frau, die Arctic Extreme
mitgefahren ist!“
© 2015 Heidi Prochaska
Arctic Extreme – eine außergewöhnliche Schneemobil Safari in den extremen Bereichen des
europäischen Kontinents
Gebiet: Lappland und Finnmark, die nördlichste Spitze Norwegens
Zeit und Distanzen: 27. März – 01. April 2015, insgesamt 1400 km
Personen: ein Guide, vier Teilnehmer - drei Männer, eine Frau
Reiseanbieter: Nordic Safari Wildlife Adventures AS - Snowmobile