Daniel 9,4-6.16-19 - Martin-Luther

Rogate, 10. Mai 2015
Daniel 94-6.16-19
die Babylonier Jerusalem geschleift hatten – denn das ist die Zeit,
in der das Buch Daniel spielt. Es schimmert aber auch noch ein
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem
anderer Blick auf den Tempel durch. Den Tempel, so wie er zu
Herrn Jesus Christus. Amen.
der Zeit war, als das Buch Daniel aufgeschrieben wurde. Lange
nach der Zeit der Babylonier. Nein, keine Ruine mehr, sondern
Liebe Gemeinde,
ein Heiligtum! Und dennoch zerstört. Ganz und gar. Denn der
Ein See. Ein dunkler, tiefschwarzer See unter düsterem,
Herrscher hatte die jüdischen Gottesdienste verboten. Mehr noch:
undurchdringlichem Himmel. Ab-Grund, Loch ohne Boden.
Er hatte den Tempel umfunktionieren lassen. Zu einer Kultstätte
Dieser Ort ist in mir. In meinem Inneren. Und es ist auch nur
für Zeus.
mein Bild, meine Beschreibung.
So sieht wohl derjenige, der die Geschichten um Daniel
Ich verstehe diesen Ort nicht. Nicht ganz. Ich weiß nicht, woher
aufschreibt auch diesen Tempel. Ja, da liegen wohl die Steine
dieser See kommt, was da in mein Leben so ein Loch gesprengt
aufeinander – und doch ist es für jeden jüdischen Gläubigen eine
hat. Weiß aber: Dieser See bin ich, nicht ich ganz aber trotzdem
Ruine.
ich. Mein Dunkelstes, Finsteres. Mein gieriger Wille, dass die
Welt sich um mich und mich allein drehen soll. Meine
Mit Daniel blicken wir auf Wunden in der Identität Israels.
unerklärliche, aber reale Fähigkeit zu hassen. Meine Ängste auch
Daniel spricht aber nicht von der Bösartigkeit der babylonischen
und mein Verletztsein vom Leben schlägt da Wellen. Der Tod,
Herrscher. Nicht von der Gotteslästerung desjenigen, der ein
mein Vergänglichsein zieht in die Tiefe. Meine Bequemlichkeit,
Götzenbild dort hat aufstellen lassen, wo doch nur der eine
mein Selbstmitleid umhüllen mich dort. Ein dunkler See.
angebetet werden durfte, der unverfügbare Gott, der Gott, der
Israel aus Ägypten geführt hatte. Nein, Daniel schlägt nicht um
Das ist mein Bild.
sich im Zorn – vielleicht hat das wann anders seine Zeit.
Der Daniel, von dem das biblische Buch erzählt, hat ein anderes
Jetzt erkennt er die eigene Zerstörung. Das eigene Dunkel. Die
vor Augen. Eine Ruine. Das zerstörte, entweihte, geschändete
eigene Finsternis. Seine und die des Volkes und die der
Heiligtum. Die Trümmerwüste, die übrig geblieben ist, nachdem
Vorfahren: „Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos
Daniels Gebet ist eine Auslieferung. Eine Auslieferung im
gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten
völligen Vertrauen auf die Gnade Gottes. Darauf, dass sein Blick
und Rechten abgewichen. Wir gehorchten nicht deinen Knechten,
nicht sagt „Naja, … also gut …“ Sondern offen ist und uns
den Propheten, die in deinem Namen zu unsern Königen, Fürsten,
ansieht.
Vätern und zu allem Volk des Landes redeten.“
Ganz durchzogen ist Daniels Gebet vom DU. Von dem SichAusrichten auf IHN. Und von dem tiefen Vertrauen, dass Gott
Ich möchte mich mit Daniel gemeinsam hinknien und ihm beim
nicht etwas tut, weil wir gut oder schlecht wären, beten oder nicht
Beten zuhören. Ja, eigentlich nicht nur hinknien– in dem
– sondern weil er ist, wie er ist: „Ach, Herr, du großer und
Abschnitt, den wir gehört haben, heißt es ja sogar: „Wir liegen
heiliger Gott, der du Bund und Gnade bewahrst … Ach Herr, um
vor dir mit unserm Gebet …“
aller deiner Gerechtigkeit willen … Tu es und säume nicht – um
deinetwillen, mein Gott“
In meiner Jugendzeit habe ich in Amberg gewohnt, mitten in der
katholischen Oberpfalz – und wenn ich zurückblicke, merke ich,
Wissen Sie, was mir aufgefallen ist? Daniel bittet nicht um
wie stark damals das katholische Christsein das Leben in dieser
Vergebung. Er verspricht auch keine Besserung. Sein Bekenntnis
mittelgroßen Stadt geprägt hat. Und eines Tages war ein Foto in
ist nicht von der Art, wie wir es kennen, wenn wir genau wissen:
der Zeitung, ich glaube aus der St.-Martins-Basilika, von einer
Das, genau das habe ich falsch gemacht.
Priesterweihe. Ein Bild davon, wie die Männer, die geweiht
Sondern er bekennt sich dazu, dass er und sein ganzes Volk in ein
werden sollten ausgestreckt, mit dem Blick zum Boden im
Dunkel verstrickt sind. Tiefer als die eigenen Entscheidungen.
Altarraum lagen. Ein berührendes, enorm starkes Bild. Hier
Und dass er deswegen nicht sagt: „Bitte vergib“ – sondern eher:
liefern sich Menschen ganz aus – im Vertrauen auf Gott. Im
„Schau her. So ist es. So sind wir. So bin ich – und kann mich
Vertrauen auf Jesus. „Wir liegen vor dir“.
nicht ändern.“
Das ist ja kein einfacher Satz. Wir leben in einer
So wie ich, der ich manchmal in einer Weise handele die mir
Selbstoptimiererzeit – wer soll denn da sagen „So bin ich“? Eher
nicht verständlich ist. Aus dem Dunkel, dem Finsteren heraus.
noch schlägt die Abwehr zu: „Ja, so bin ich – aber ich kann auch
Und dennoch bin es ich. Nicht die Schuld meiner Eltern, der
nichts dafür, die Gene, die Biographie, die Umstände …“
Gesellschaft ist es oder das meines Gegenübers, dem ich die
Warum dieses Bekenntnis von Daniel?
Schuld zuschieben möchte.
Oder so wie wir, wenn wir am Beginn des Gottesdienstes nicht
Der Theologe Winfried Härle hat einmal eine Unterscheidung
sagen „Da und dort habe ich gesündigt, bitte vergib mir“ –
getroffen, die mir gedanklich sehr hilft. Er sagt, dass es auf der
sondern „Gott, sei mir Sünder gnädig“.
einen Seite Dinge in unserem Leben gibt, für die wir „ethisch
verantwortlich“ sind. Da geht es um Handlungen, bei denen ich
Puh. Schwere Predigt, oder?
entscheiden kann, in freier Wahl. Das kennen wir. Und wenn ich
Aber nur vorübergehend.
schuldig werde, dann werde ich schuldig – ehrlich und demütig
Und leichter, als wenn wir vor der Wirklichkeit weglaufen
sollte ich dann um Vergebung bitten.
würden.
Freilich: Der See in meinem Inneren hat ein Ufer, hat ja jeder See.
Aber er beschreibt, dass es noch eine andere Art von
Und darum kann ich weggehen. Landeinwärts. Dorthin, wo es
Verantwortlichkeit gibt. „Existentiell“ nennt er sie – die ganze
hell ist. Dorthin, wo meine Kraft ist und meine Stärken, mein
Existenz, die ganze Person, das ganze Sein umfassend. Wo wir
Können und meine nette Seite. Und auch das bin ja ich, das
die Verantwortung auch für das übernehmen, was unser Leben an
gehört zu mir, das stimmt ja!
Dunklem ausmacht – ohne dass wir eine Wahl hätten.
Könnte ich nicht dort ein Haus bauen? Ein Haus mit Balken aus
dem, was ich gut kann und mit Fenster in das, was schön
So wie Daniel, der die Sünden seiner Väter und Könige und
anzusehen ist an mir? Und irgendwann drehe ich mich dann um
Fürsten nicht rückgängig machen kann.
und das Loch im Leben wäre nicht mehr da?
Illusion. Der See bleibt.
Darum kenne ich keinen anderen Weg als den, den Daniel uns
vormacht. Wenn ich neben ihm knie, merke ich, dass da Halt ist,
der nicht mit dem Verstand zu fassen ist. Dass sein Blick nicht
von den Ruinen aufgesogen wird und nicht von dem Versagen
seines Volks und seinem eigenen.
Sondern sein Blick ist ganz und gar auf Gott gerichtet: „Wir
liegen vor dir im Gebet und vertrauen nicht auf unsre
Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
Nicht auf die Trümmer blickt er, sondern bittet um Gottes Blick.
„Lass leuchten die Antlitz“, betet er. Das heißt doch: Wende dich
uns zu! „Neige dein Ohr“, betet er. Und: „Tu deine Augen auf
und sieh an unsere Trümmer“. ER, Gott soll die Trümmer
ansehen. Den See. Das Dunkel. All das, was ja bleibt, wir
ignorieren es nicht.
Aber über all dem geht der Himmel auf. Die Sonne, der Anblick
Gottes kommt heraus und bescheint und erhellt und wärmt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.