Sein und Vergehen in Nepal: Yangjee Sherpa

Thema.
| Mittwoch, 29. April 2015 | Seite 2
Die Geschichte eines Lebens, das im Schutt der Katastrophe liegt
Sein und Vergehen in Nepal: Yangjee Sherpa
Von Evelyne Binsack
Dumpfes Glockengeklingel. Hufe, die
Staub aufwirbeln.
Ein schriller Pfiff,
der entschlossen
zischt, gefolgt von
Steinen, die
genauso entschlossen die Luft durchbeissen und gezielt einen Meter neben
einem Yak in den Berghang schlagen.
Das Rind, voll bepackt mit Expeditionstaschen, versteht die Warnschüsse
unverzüglich, reiht sich wieder in die
Herden-Karawane ein und trottet weiter. Das Yak wollte ausscheren, den
schmalen Pfad verlassen, der sich wie
eine Schlange durch die steile Schlucht
windet. Es hätte abstürzen und ein
anderes Tier mit sich reissen können.
Das passiert immer wieder. Die Warnschüsse wurden von einer jungen Frau
abgefeuert. Sie trägt ein staubiges,
ungewaschenes Gewand. Ich trete
bergwärts, um ihr und ihrer Rinderherde aus dem Weg zu gehen und sie
vorbei zu lassen. Als unsere Blicke sich
beim Kreuzen treffen, schenkt sie mir
ein breites, fröhliches und neugieriges
Lächeln. «Was für ein heiterer Mensch»,
denke ich, und lächle zurück.
An jedem der zwölf Marschtage von
Lhukla bis ins Everest-Basislager, beobachte ich diese junge Frau. Wenn sie
ihre Yaks mit Expeditionstaschen beladen, sie stundenlang durch steiles
Geröll- und Moränengelände bis zur
nächsten Tagesetappe getrieben, abgeladen und gefüttert hat, packt sie die
Rucksäcke und schweren Taschen der
Expeditionsbergsteiger und hievt sie in
die winzigen Zimmer einer Lodge.
Dann geht sie in die Küche und hilft der
Gastwirtin und dem Gastwirt, Essen für
die Touristen zuzubereiten. Jeden Tag.
Dabei pfeift und singt sie und ihr hüftlanges, pechschwarzes Haar tanzt im
Takt zu ihrer Musik.
Das war im Jahr 2005, als ich nach
meiner erfolgreichen Everest-Besteigung über die Nordroute 2001 nun
auch die nepalesische Südseite des
Mount Everest erkunden wollte.
Die junge Yak-Treiberin ist, wie ich
erst viele Jahre später erfahren soll,
selbst eine Getriebene.
Ende einer Kindheit
2013: Für die Multimedia-Dokumentation «ÜberLebensWille» begleite
ich Alpinisten mit der Kamera bis auf
den Gipfel des höchsten Berges der
Welt. Ich starte mein neues Projekt und
die Expedition am Everest gegen alle
Regisseur-Regeln ohne Drehbuch. Ich
vertraue meinem Instinkt, der mir sagt,
dass Alpinisten, abgesehen von den
paar Bergprofis, die eine Everest-Besteigung vorzüglich wegen des Ansehens
und für Geld tun, ihre ganz persönliche
Geschichte zu diesem Berg geführt hat,
der, für den kurzen Moment des Glücks
auf dem Gipfel, so viele Qualen, Entbehrungen und finanzielle Einschnitte
abverlangt.
Ich bin nicht alleine unterwegs.
Sherpas und Alpinisten, die ich aus
früheren Expeditionen kenne, und
Hunderte andere, steigen jetzt, im
April, in Richtung Basislager. Der Tag
ist grau und nass, die Tagesetappe ist
geschafft. Ich setze mich in einer Lodge
an einen Tisch und trinke Tee. Plötzlich
sagt eine Stimme hinter mir: «Wir
kennen uns. Wir haben uns vor einigen
Jahren gesehen. Erinnerst du dich?»
Ich muss zuerst meine Erinnerung
wachrufen, dann erkenne ich sie: Die
Yak-Treiberin! Sie trägt kein staubiges
Gewand mehr, sondern eng anliegende
Jeans und ein modisch, pinkfarbenes
Daunenjäcklein mit einer dazu passenden Bluse darunter. Yangjees Fröhlichkeit und ihren Willen, mehr aus sich zu
machen, als Yak-Treiberin zu bleiben,
hat ihr offenbar auch das Glück und die
Chance mitgebracht, Trekking-Führerin zu werden. Doch ich merke bald,
dass Yangjee noch ganz andere Pläne
hat, als sich mit ihrem Fortschritt
zufrieden zu geben. Yangjee will auf
den Gipfel des Everest, und das mit
einer energischen Ziel-Bewusstheit,
wie ich sie selten an einem Menschen
beobachten konnte, und mit einer
Determination wie die Steine, die sie
damals als Yak-Treiberin abgefeuert
hat. Yangjee hat mit dem Berg «eine
Rechnung offen».
Ihre Kindheit endete seinetwegen
abrupt mit 13 Jahren. Seither wird
ihr Glück immer wieder vom Unglück
überschattet. Zuletzt am letzten
Samstag.
Die unermüdliche
Geliebte der Berge
Evelyne Binsack (47) ist die bekannteste Bergsteigerin der Schweiz. 2001
stand sie als erste Schweizerin auf
dem Mount Everest. Binsack ist eine
Abenteurerin, die mit dem Rad von der
Schweiz nach Patagonien fuhr und
anschliessend zum Südpol lief, sie ist
Hubschrauberpilotin, Skilehrerin,
Bergführerin, und sie ist die Geliebte
der Berge. Sie will Berge nicht bezwingen, sie will sich selbst finden auf dem
Weg zum Gipfel, will in jene Bereiche
ein- und aufsteigen, in denen «kein Gut
und kein Böse, sondern einzig das
Sein existiert, jenseits von Emotion,
jenseits von Urteilen, jenseits von
Zeit». Sie sehnt sich nach jenen Orten,
an denen nichts Menschliches mehr
ist, um sich dort in einer fast horizontlosen Einsamkeit, dort, wo sich Leben
und Tod ganz nahe sind und ähnlich
auch, ihre Seele zu vermessen. Um an
«innere Grenzen zu stossen», sie zu
überschreiten und jenseits davon
einen Teil von sich zu finden, den man
zuvor noch nicht gekannt hat. Einer
ihrer Lieblingssätze ist: «Wer es wagt,
kann verlieren. Wer es nicht wagt, hat
schon verloren.» mib
Keine Hilfe weit und
breit. Nur Verzweiflung.
Das Leben, Träume –
ein Trümmerhaufen.
Ich hatte nicht im Sinn, Yangjee mit
der Kamera zu porträtieren. Es war
Zufall, Fügung vielleicht, dass es dazu
kam. Ich wollte ihre Kundin, die
16 Jahre junge Kenianerin Maya interviewen, die von ihrem ehrgeizigen
Vater angetrieben wurde, den Mount
Everest zu besteigen, obwohl die junge
Maya eine so unbegabte Bergsteigerin
ist wie ein Schwinger Ballett-Tänzer.
Ich wollte von ihr wissen, wie sie zu
diesem mörderischen Auftrag ihres
Vaters steht, wie sie sich fühlt, ob sie
glaubt, es zu schaffen. Um ihr die Angst
zu nehmen, stellte ich die Fragen zuerst
Yangjee, ihrer Trekking-Führerin, die
Maya zum Filminterview begleitete. Sie
hatte von Mayas Vater den Auftrag,
seine Tochter bis ins Everest-Basislager
zu begleiten und auf das minderjährige
Mädchen aufzupassen.
Was ihr Lebensziel sei? Fragte ich
zuerst Yangjee vor laufender Kamera.
Und diese Frage war der Moment, in
dem Yangjee ihre Lebensgeschichte
nicht mehr zurückhalten konnte. Es war
zu viel, jahrzehntelang eine Geschichte
für sich und im engen Kreis zu behalten,
die so schmerzhaft ist.
Das damals 13-jährige Mädchen
lebt im abgelegenen Bergdorf,
Khumjung, ein 150-Seelen-Dorf, das im
Everest-Tal (dem Khumbu-Tal) auf
3700 Metern liegt. Die Familien sind
dort alle Selbstversorger. Um die siebenköpfige Familie besser über die
Runden zu bringen, arbeitet Yangjees
Vater während der Saison als Träger
und unterstützt die Everest-Bergsteiger,
damit sie ihr Lebensziel erreichen.
Yangjees Vater wird zum anerkannten Sherpa-Bergführer, er besteigt meh-
Aufsteigerin. Yangjee Sherpa (34), die als Yak-Treiberin begann, um irgendwann
auf den Mount Everest zu kommen, wo ihr Vater als Sherpa das Leben liess.
rere 8000er mit Gästen, den Makalu,
den Dhaulagiri, den K2, steht mehrere
Male auf dem Gipfel des Mount Everest, bis er eines Tages in der berüchtigten Lhotse-Flanke in der Höhe des
Lagers 3 von einer Lawine erfasst und
mitgerissen wird. Sein Körper wurde
vom mächtigen Gletscher verschlungen. Er blieb verschollen. Yangjee
konnte ihren Vater nie verabschieden.
Verschüttete Träume
Ihre Kindheit endet abrupt mit der
Tragödie, sie wird mit 13 Jahren zur
Ernährerin der Familie. Sie ist Bergbäuerin, Köchin, Mutterersatz, Schwester, sie wird zur Yak-Treiberin, Touristenführerin und ist so erfolgreich, dass
sie ihre beiden kleineren Schwestern
zur Schule schicken kann. Yangjee selber lernt Englisch im Selbststudium
und begeistert ihre Mitmenschen, Touristen mit ihrem Wesen und ihrem Einsatz. Ihre Mutter lernt inzwischen
einen neuen Mann kennen und
bekommt die Chance für ein neues
Leben. Seither kümmert sich Yangjee,
wenn sie zurück in ihrem Dorf ist,
zusätzlich um ihre 94-jährige, erblindete Grossmutter.
Hilfe erreicht abgelegene Orte
Die Zahl der Todesopfer steigt auf über 5000 – die Regierung ist überfordert
Kathmandu. Nach dem schweren Erdbeben in Nepal hat gestern Erste Hilfe
auch die abgelegeneren Gebiete
erreicht. Die Regierung räumte ein, dass
die Behörden mit der Katastrophe überfordert seien. Ein erster Helikopter aus
Indien landete in dem schwer getroffenen Bezirk Gorkha, in dem die Menschen seit dem Beben am Samstag auf
sich allein gestellt waren. Mit ausgestreckten Armen rannten Einwohner auf
den Helikopter zu, baten um Wasser und
Nahrung und darum, in Sicherheit
gebracht zu werden. Das Beben am
Samstag hat ganze Dörfer in dem Gebiet
ausgelöscht. Bei einer Krisensitzung
aller nepalesischen Parteien sagte
Regierungschef Sushil Koirala, die
Behörden unternähmen alles, um die
Bedürftigen mit Zelten, sauberem Wasser und Lebensmitteln zu versorgen.
Drei Tage Staatstrauer
Sie seien aber von der Zahl der Hilferufe aus den entlegenen Himalaja-Dörfern überwältigt: «Von überall treffen
Bitten um rasche Hilfe ein, aber wir sind
nicht in der Lage, überall gleichzeitig
Rettung zu organisieren, da uns Ausrüstung und Experten fehlen», erklärte
Innenminister Bam Dev Gautam im
staatlichen Fernsehen. Die Behörden
hätten Schwierigkeiten, die Krise zu
meistern. «Wir waren auf ein Desaster
dieses Ausmasses nicht vorbereitet.»
Nepal ordnete drei Tage Staatstrauer an.
Die Zahl der Opfer stieg weiter an. Nach
Angaben des Innenministeriums starben
in Nepal mehr als 5000 Menschen. Die
Zahl der Verletzten stieg auf über 10 000.
Insgesamt sind nach Einschätzung der
Vereinten Nationen rund acht Millionen
Menschen betroffen. Gestern kam es zu
einem weiteren Lawinenabgang. Die
Lawine raste nach Behördenangaben in
Ghodatabela an der beliebten TrekkingRoute Langtang ins Tal. Dabei wurden
250 Menschen verschüttet.
In der Schweiz organisiert die
«Glückskette» mit der SRG am 5. Mai
einen nationalen Solidaritätstag. SDA
Yangjee spricht leise, kneift die
Augen zu, fährt mit dem Handrücken
über ihre Nase, sucht ein Taschentuch
in ihrer Daunenjacke, seufzt, setzt zum
Weitererzählen an. Sie sagt, dass sie in
die Fussstapfen ihres Vaters treten
möchte, dass sie auf den Everest steigen
wolle, dass sie den Ort sehen wolle, wo
ihr Vater zu Tode gekommen sei. Deswegen wolle sie auf den Mount Everest.
Yangjee kann nun ihre über Jahre
zurückgehaltene Trauer nicht mehr
zurückhalten und bittet mich mit Tränen in den Augen, die Kamera jetzt auszuschalten.
Ihr Traum, in die
Fussstapfen des Vaters
zu treten, um von ihm
Abschied zu nehmen.
Yangjees Geschichte des Lebens
berührt. Ich vertraue ihre Geschichte
dem Everest-Logistiker, Everest-Operateur und Neuseeländer Russel Brice an,
für den Yangjee bereits 2005 ihre Yaks
mit dem Gepäck seiner Everest-Bergsteiger ins Basislager geführt hatte. Er
kennt ihre Lebensgeschichte nicht und
ist erstaunt. Denn normalerweise, sagt
er mir, offenbaren Sherpas ihre privaten Geschichten nie. Und obwohl er für
alle seine Sherpa-Arbeiter ein guter
Patron ist, bleibt da doch diese
Schranke.
Das Blatt soll sich jetzt für Yangjee
unter Russels Federführung wenden.
Ein australisches DokumentarfilmTeam möchte einen Film über die
Sherpas drehen und wendet sich an
Brice. Der wiederum vertraut Yangjees
berührende Geschichte der Regisseurin
an. Und diese wiederum entscheidet,
dass Yangjee’s «Story» perfekt ins Drehbuch passt. Sie wird eingeladen, im
nächsten Jahr (2014) auf den Spuren
ihres Vaters den Mount Everest zu
besteigen. Sie wird Protagonistin für
den Dokumentarfilm.
Ein Jahr später, der Dokumentarfilm wird gedreht, geraten im Aufstieg
zum Lager 2, 16 Sherpas im Khumbu-
Eisfall in eine Eislawine und sterben.
Es sind keine Sherpas aus Russels Team
bei den Verunglückten, trotzdem
entscheidet Russel in Anbetracht der
Tragödie im Eisfall, die Expedition
unverzüglich abzubrechen. Ein paar
Tage später wird die gesamte EverestSaison von allen Teams abgebrochen.
Das Filmteam kehrt nach Australien, Yangjee zu ihrem Bergdorf
Khumjung zurück. Ihre Chance, den
Everest zu besteigen, ist begraben,
denn ohne Einladung kann sie die
Kosten für den Gipfel nie und nimmer
auftreiben.
Doch 2015 ist Yangjee erneut am
höchsten Berg und schickt mir Grüsse
vom Lobuche-Peak, einer Akklimatisations-Tour als Vorbereitung für den
Mount Everest. Sie hat Bergsteiger hinaufgeführt, ich glaube ein Amerikanisches Team hat sie als Bergführerin eingeladen. Nichts steht jetzt dem Glück
der inzwischen 34-jährigen Frau im
Weg, endlich am Berg der Berge zu
arbeiten. Ihrem Traum, endlich in die
Fussstapfen ihres Vaters zu treten,
Abschied zu nehmen von ihm und
selbst auf dem Haupt des Chomolungma, des Everest, zu stehen.
Zwei Wochen später: Das
Erdbeben erschüttert und zerstört die
Hauptstadt Nepals, Kathmandu, sowie
anliegende Dörfer und selbst das
Everest-Basislager. Die Tragödie des
Erdbebens, wir wissen es, erleben
viele in Nepal lebende Menschen,
Tausende werden obdachlos, Tausende
sterben.
Yangjee überlebt. Sie bricht wie
alle anderen die Expedition ab, kehrt
zurück in ihr Dorf und findet ihre
94-jährige Grossmutter und ihre
Schwestern in einem Zelt. Ihr Haus ist
zwar nicht komplett eingestürzt, aber
durch das Erdbeben unbewohnbar
geworden. Mauern sind eingestürzt,
Staub und Steine liegen überall, Yanjee
ist verzweifelt. Keine Hilfe weit und
breit. Zurückgeworfen, wie Tausende
ihrer Landsleute, die vorwärts wollen,
steht sie vor einem Trümmerhaufen.
90 Sekunden, die das Leben vieler
Menschen ausgelöscht oder sie in
lebensbedrohliche Not versetzt hat.
Jetzt ist es nicht nur die korrupte
Regierung, welche die Landsleute von
einem vorwärtsstrebenden Leben
zurückbinden, sondern die Mutter
Erde selbst, die nicht nur sich selbst,
sondern Tausende Menschenleben
durchschüttelt und unter sich begräbt.
Als ob sie nicht schon genügend
Probleme hätten.
Yangjee ruft über Facebook um
Hilfe. Jetzt ist nicht mehr der Everest
ihr nächstes Ziel, sondern das Bewältigen des Schocks, das Anpacken und
helfen, die Unterstützung für die Überlebenden, die Verwandten, Freunde,
Bekannten und liebgewonnenen Menschen im Land.
www.gofundme.com/szmcrs