NORDWESTSCHWEIZ MONTAG, 4. MAI 2015 16 MEINUNG KOLUMNE über die Pflicht der Eltern, Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen Ein harter Hund Schulpflicht in Windeln? D er Kindergarten ist obligatorisch und in die Schulpflicht eingebunden. Damit setzt die Bildungspolitik ein Zeichen, dass sie die frühe Förderung ernst nimmt. Tatsächlich können viele Kindergärtler schon rechnen, lesen oder schreiben. Gelernt haben sie es im Förderkurs, von den Eltern oder beim grossen Bruder abgeschaut. Nur, Kindergärten haben eigentlich andere Probleme. In unseren Forschungsstudien klagen viele Lehrkräfte über massive Entwicklungsdefizite. Der Anteil der Kinder, die kaum mehr Treppen steigen, die Hände selbst waschen, den Reissverschluss der Jacke schliessen oder die Schuhe binden können, nimmt stark zu. Und es gibt immer mehr, die noch Windeln brauchen. gibt, riskiert, dass es nicht «kindergartenfähig» wird. ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● MARGRIT STAMM ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTERIN ● Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn Gemeinden Kriterien zusammentragen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Kinder beim Kindergarteneintritt verfügen sollten. Das hat kürzlich auch die Stadt Baden mit einem Merkblatt getan, doch hat dies bei den Eltern hohe Wellen geworfen. Aus einer pädagogischen Perspektive sind solche Kriterien jedoch in Ordnung, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist der Kindergarten darauf angewiesen, Kinder zu unterrichten, die ein grundlegendes Mass an Selbstständigkeit erreicht haben. Zweitens tun Eltern gut daran, ihr Kind auf dieses Ziel hin zu erziehen, denn ein erfolgreicher Übergang ist für den späteren Schulerfolg und für die Bewältigung aller weiteren Übergänge zentral. Margrit Stamm ist Professorin emerita für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern Eltern sind verantwortlich, Kinder «kindergartenfähig» zu machen Selbstverständlich kann man argumentieren, die Kinder seien noch so klein und aufgrund des Stichtages vom 31. Juli manchmal erst gut vier Jahre alt. Dies ist jedoch eine falsche Optik. Die Erziehung zur Selbstständigkeit beginnt schon im frühen Kindesalter. Väter und Mütter sind auf dem rechten Weg, wenn sie ihren Nachwuchs nicht überbehüten, ihm nicht dauernd alle Hindernisse aus dem Weg räumen und ihn vor jeder Gefahr schützen. Wer hingegen sein Kind auch mit drei Jahren noch im Buggy herumschiebt, weil es angeblich so schnell müde wird, es jede Treppe hochträgt, wenn es dies selbst nicht schafft, oder ihm aus Verletzungsangst keine Schere in die Hand DIE KOLUMNISTEN AUS KULTUR UND GESELLSCHAFT ALEX CAPUS, SCHRIFTSTELLER LUDWIG HASLER, PHILOSOPH UND PUBLIZIST SIBYLLE LICHTENSTEIGER, LEITERIN STAPFERHAUS MILENA MOSER, SCHRIFTSTELLERIN PETER ROTHENBÜHLER, JOURNALIST UND EDITORIAL DESIGNER MARGRIT STAMM, ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTERIN PEACH WEBER, KOMIKER SUSANNE WILLE, JOURNALISTIN UND MODERATORIN CAFÉ FÉDÉRAL Dies gilt auch für Kinder, die noch in die Windeln machen. Denn Trockenwerden ist nicht nur ein Kriterium der Reife, sondern ebenso eine Frage der Erziehung. Kleinen Kindern wird meist zwischen 18 und 36 Monaten der Drang bewusst, die Blase oder den Darm zu entleeren. Dies drücken sie mit ihrem Verhalten aus, mit Körper und Mimik, manchmal auch mit der Sprache. Damit signalisieren sie, dass sie jetzt bereit sind. Diese Eigeninitiative sollten Eltern zum Anlass nehmen, ihrem Sprössling durch ihre Vorbildfunktion, aber ohne Druck und Zwang zu zeigen, wie man auf den Topf oder die Toilette geht. Leider gibt es Laissez-faireEltern, welche diesen Zeitpunkt verpassen. Denn wer auf die Signale des Kindes mit einem lapidaren Satz «Kein Problem, du hast ja eine Windel an» reagiert oder ihm am Freitag- und Samstagabend Windeln anzieht, weil man länger schlafen will, der erzieht es geradezu zu einem Windelkind. Denn es versteht diese Botschaften logischerweise so, dass es auch anders geht und es normal ist, in die Windeln zu machen. Dann wird es ausserordentlich schwierig, dieses Verhalten wieder umzutrainieren. Für ein Kind ist es eine Schmach, mit Windeln schulpflichtig zu werden Natürlich ist ein gelingender Übergang ebenso vom Kindergarten und der familien-ergänzenden Betreuung (Kita, Tagesfamilie, Spielgruppe, Grosseltern etc.) abhängig, inwiefern sie mit den Eltern in der Erziehung zur Selbstständigkeit am gleichen Strang zieht. Trotzdem gehört die Windelfrage in den Verantwortungsbereich des Elternhauses. Zwar gibt es immer besondere Fälle – beispielsweise, wenn ein Geschwisterchen geboren wird und das grössere Kind wieder ein Babyverhalten annimmt oder wenn familiäre Spannungen vom Kind auf diese Weise bewältigt werden – doch ist der Kindergarteneintritt der späteste Zeitpunkt, an dem ein Kind windelfrei sein sollte. Und weil es durchaus auch schwierige Kinder gibt, sollten unsichere Eltern verstärkt Familienbildungsangebote in Anspruch nehmen können, welche sie auf dem Weg zur Kindergartenfähigkeit ihres Sprösslings unterstützen. Für ein Kind ist es eine Schmach, mit Windeln schulpflichtig zu werden. L ieber Michael Ambühl, seit Ihrem Abgang als Staatssekretär in Bern sind bald zwei Jahre vergangen. Doch in der politischen Diskussion sind Sie präsenter denn je. Der wissenschaftliche Elfenbeinturm ist Ihnen zu eng. Vom ETH-Lehrstuhl für Verhandlungsführung herab erklären Sie Ihren Nachfolgern im Aussen- und Finanzdepartement regelmässig, wie man mit der EU feilschen muss. Zuerst brachten Sie die Schutzklausel ins Spiel. Eine angebliche Wunderformel zur Begrenzung der Zuwanderung, ohne die EU vor den Kopf zu stossen. Das von Stefan Schmid Ex-Staatssekretär Ambühl fordert von seinen Nachfolgern mehr Härte in den Verhandlungen mit der EU. Problem: In Brüssel hat bisher niemand gemerkt, wie genial diese Formel ist. Ernüchterndes Resultat: Eine Schutzklausel wird es wohl nicht geben. Nun rufen Sie Ihre Nachfolger auf, härter, unnachgiebiger, kompromissloser, unschweizerischer vorzugehen und Dossiers miteinander zu verknüpfen. Ein Schachzug, auf den die flügellahmen Diplomaten in Bern selber kaum gekommen wären. Da kommt mir in den Sinn, wie Sie einst als knallharter Unterhändler die Amerikaner im Steuerstreit herausgefordert haben. Anstatt sich von den Amis ständig die Verfehlungen von UBS und CS und die vielen Schweizer Steuerschlupflöcher vorhalten zu lassen, drehten sie den Spiess kurzerhand um und forderten Transparenz im US-Steuerparadies Delaware. Solange dort alles erlaubt sei, gebe es für die Schweiz keinen Grund, reinen Tisch zu machen, warfen Sie Ihren mächtigen Gesprächspartnern keck an den Kopf. Sie erinnern sich sicher noch, was Ihnen die Amerikaner geantwortet haben: Dear Mike, our problem is Switzerland, not Delaware! Anschliessend wurden Ihnen und den Schweizer Banken die Hosen heruntergezogen. @ [email protected] POLEMIK Keine Angst vor dieser Mode D ie Modetrends für Frühjahr und Sommer sind in diesem Jahr so unklar wie stets in letzter Zeit. Safariund Armeelook werden propagiert, gleichzeitig aber auch nette Blumenprints und – welch Erheiterung – ein Revival der 70erJahre. Da grinse ich innerlich. Denn die habe ich erlebt. Es gab da ein bisschen schicke, geometrische Muster gerade aus der Op-Art entsprungen, aber sonst viel Orange, Braun und überhaupt und vor allem Farbe. Denn 70er-Jahre hiess Hippie-Zeit, Flower-Power für alle. Die Kleider schlabberten und wallten und leuchteten in allen Tönen. Mann und Frau gaben sich offenherzig, experimentierfreudig, und die Haare der Männer waren richtig lang. Eigentlich war es eine Nicht-Mode, eine Anti-Mode, die damals Mode wurde. Und Anti war auch das Signal, das diese Mode aussandte. Man war dagegen. Grundsätzlich. Gegen das Business, gegen das bürgerliche Establishment, gegen die Leistungsgesellschaft, gegen Normen allerart. Wer nun die nächste Revolution fürchtet, kann sich beruhigen. Heute bringen Kleider, bringt ein Modetrend die Welt nicht mehr durcheinander. Eigentlich schade. ANSICHTSSACHE von Max Dohner ✒ Sabine Altorfer Was ist Ihre Meinung? Diskutieren Sie online mit. Stichwort Polemik. «Mach ein Stimmungsbild zur Gegenwart!» Schriebe man einen solchen Wettbewerb aus – Hunderte von ganz verschiedenen Fotos träfen ein zur Gemütslage im Jahr 2015. Ein einzelnes Bild trifft das Ganze nie – das ist klar. Dieses Bild aus Peking wäre für mich trotzdem ein Favorit. Die junge Lady hält sich fit und weiss im Letzten nicht, wozu. Und das in einer Umgebung, die künstlicher kaum mehr sein kann. Pappwände, zugeklebt mit Werbung, eine Wirklichkeit, die uns in zunehmender Enge buchstäblich umstellt. Da erscheint ein Galan und richtet nicht etwa ein Wort an die Frau. Er drückt bloss ab und weiss im Letzten auch nicht, wozu. Alles läuft am Ende auf eins hinaus: Die Einkaufstüten in der Hand müssen stetig voller werden bei den traurig banalen Märtyrern des Konsums. FOTO: MARK SCHIEFELBEIN/KEY
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