TRENDS EAST ASIA (TEA) Studie Nr. 1 (August 2003) Wie stabil ist

TRENDS EAST ASIA (TEA)
©POA
Studie Nr. 1 (August 2003)
Wie stabil ist die Herrschaft der
Kommunistischen Partei Chinas?
Eine materialistische Klassenanalyse vor dem Hintergrund des
Wandels der Klassenverhältnisse
von
Felix Wemheuer
1
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
Abstract
Wie stabil ist die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas? Kann es der
chinesischen
Regierung
gelingen,
die
rasanten
gesellschaftlichen
Umwälzungen zu kontrollieren und zu kanalisieren oder wird China im Sog von
Urbanisierung, Migrantenströmen und sozialen Unruhen zerfallen? Heute ist es
noch weitgehend offen, ob der soziale Wandel in China zum Zerfall der
Gesellschaft führen oder gar die Chance einer Transformation der autoritären
Einparteien-Herrschaft der KP zu einer demokratischen Republik - sprich zur
bürgerlichen Gesellschaft - eröffnet wird. Diese Fragestellung soll anhand der
materialistischen Theorie von Barrington Moore untersucht werden.
Zum Autor
Felix Wemheuer, M.A., studierte von 1998 bis 2004 an der Ruhr-UniversitätBochum Politik Ostasiens und von 2000 bis 2002 an der Chinesischen
Volksuniversität
(Zhonguo
renmindaxue)
in
Beijing
„Geschichte
der
Kommunistischen Partei Chinas”.
Sein Schwerpunkthema ist "Erinnerungen an den Großen Sprung nach vorne."
Er ist zu erreichen unter: [email protected]
Kontakt
Sektion Politik Ostasiens
Ruhr-Universität Bochum
GB 1/49-51
44780 Bochum
Tel: +49/234/248884
Fax: +49/234/245328
Email: [email protected]
2
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
TEA–Studie Nr. 1 (August 2003)
Wie stabil ist die Herrschaft der
Kommunistischen Partei Chinas?
Eine materialistische Analyse vor dem Hintergrund des Wandels der
Klassenverhältnisse
Felix Wemheuer, M.A.
1
EINLEITUNG: KLASSENVERHÄLTNISSE UND STABILITÄT........................... 4
2
GEFAHREN FÜR DIE STABILITÄT DER HERRSCHAFT DER KP .................... 7
2.1
Arbeiterwiderstand zwischen Danwei (Arbeitseinheit) und Marktwirtschaft............ 7
2.2
Bauernunruhen und die Krise des Dorfes .................................................................. 9
2.3
Privatunternehmer und Mittelschichten als Triebkräfte einer demokratischen
Umwälzung?......................................................................................................................... 12
3 SCHLUSS: DIE STABILISIERUNGSSTRATEGIE DER KP UND IHRE
ERFOLGSAUSSICHTEN..................................................................................................... 15
3
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
1
Einleitung: Klassenverhältnisse und Stabilität
Die Volksrepublik China durchläuft gegenwärtig die Umwälzung von der Agrar- zur
modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft in historischer Rekordzeit. Trotz
Asienkrise und weltweiter Rezession boomt die chinesische Wirtschaft schon seit zwanzig
Jahren. In China findet eine der größten Umwälzungen von Klassenverhältnissen in der
Menschheitsgeschichte statt, da über 200 Millionen Bauern in nur einer Dekade urbanisiert
werden und in nicht-agrarische Berufe wechseln.
Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund ergibt, ist: Wie stabil ist die Herrschaft der
Kommunistischen Partei Chinas? Kann es der chinesischen Regierung gelingen, die rasanten
gesellschaftlichen Umwälzungen zu kontrollieren und zu kanalisieren oder wird China im Sog
von Urbanisierung, Migrantenströmen und sozialen Unruhen zerfallen?1 Heute ist es noch
weitgehend offen, ob der soziale Wandel in China zum Zerfall der Gesellschaft führen oder
gar die Chance einer Transformation der autoritären Einparteien-Herrschaft der KP zu einer
demokratischen Republik - sprich zur bürgerlichen Gesellschaft - eröffnet wird. Diese
Fragestellung soll anhand der materialistischen Theorie von Barrington Moore untersucht
werden.
Barrington Moore stellte in seinem 1966 erschienen Buch „Die sozialen Ursprünge von
Diktatur und Demokratie” die These auf, der Schlüssel zum Weg der Modernisierung eines
Landes sei im Wesentlichen in dem Charakter der Klassenverhältnisse begründet. Das
Kräfteverhältnis zwischen Bürgertum, Arbeiterklasse, Großgrundbesitzern und Bauernschaft
bestimme die Chancen der Durchsetzung einer bürgerlichen Demokratie. In der Tradition von
Karl Marx spielen bei Moore die Kultur und der subjektive Wille der Akteure nur eine
untergeordnete Rolle und sind eine Widerspiegelung der ökonomischen Verhältnisse.2
Klassen sind bei Moore keine inhaltsleeren Theoriegebilde, sondern besitzen jeweils einen
konkreten nationalen, historischen und politischen Charakter. Die Klassenverhältnisse eines
Landes werden durchaus als dynamisch begriffen und die historische Entwicklung ist
keinesfalls vorprogrammiert. Moore entwickelte drei Modelle: Im 18. Jahrhundert kam es in
Frankreich, England und den USA zu bürgerlichen Revolutionen unter Führung einer starken
Bourgeoisie. In Deutschland und Japan fanden hingegen laut Moore faschistische
Revolutionen von oben statt, da das schwache Bürgertum ein Bündnis mit den reaktionären
Großgrundbesitzer-Eliten schloss, um die Arbeiterbewegung niederzuhalten. In Russland und
1
2
verschiedene Krisenszenarien siehe Heilmann 1998.
Debatte um die Moore-Thesen siehe Wiener 1975.
4
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China eröffneten kommunistisch geführte Bauernrevolutionen den Weg in die Moderne.
Aristokratie und Bürgertum waren hier extrem schwach und außerdem mit dem ausländischen
Kapitalismus verbunden. Moore sah in dem Modell der bürgerlichen Revolution ein
Phänomen des 17. und 18. Jahrhunderts. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde aber
Südeuropa von einer Demokratisierungswelle erfasst, in den Achtzigern Südamerika und
schließlich in den 90er Jahren Osteuropa, Taiwan und Südkorea. Diese Entwicklung steht im
Zusammenhang mit der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus.
Vieles aus dem 1966 von Moore geschriebenen Buch kann man nicht auf das heutige China
übertragen. Dennoch sollen die Grundannahmen der Theorie angewandt werden:
1. „Ohne Bourgeoisie keine Demokratie”.3 Hat die wirtschaftliche Macht des Kapitals einen
gewissen Grad erreicht, fordert es auch politische Rechte und Beteiligung an der Macht. Das
Bürgertum spielt nicht automatisch die führende Rolle bei einer demokratischen Revolution
oder Transformation, sondern nur wenn es über ausreichende wirtschaftliche und politische
Selbständigkeit verfügt. Für die VR China stellt sich also die Frage, ob das durch die
Reformen neu entstandene Bürgertum zur Kraft einer demokratischen Umwälzung werden
kann oder ob es durch den Staat und den „Kaderkapitalismus” in das System eingebunden ist.
2. Die Entwicklung des Kapitalismus fördert das Anwachsen der Arbeiterklasse und der
städtischen Mittelschichten. Für Rueschemeyer/Stephens ist die Arbeiterbewegung der
eigentliche Motor einer demokratischen Entwicklung.4 Gerade in Polen spielten die Arbeiter
bei der Revolution gegen den Staatssozialismus eine wichtige Rolle. Deshalb sollen die
Arbeiterunruhen in China dargestellt werden und die Frage nach dem speziellen Charakter der
chinesischen Arbeiterklasse aufgeworfen werden. Rueschemeyer und Moore glauben, wenn
das Bürgertum seinen eigenen Status durch Mitspracheforderungen der Arbeiterbewegung
bedroht sieht, könnte es mit den herrschenden Eliten ein Bündnis gegen die Demokratie
schließen.5 Auch in China könnte diese Situation bei einem weiteren Erstarken der
Streikbewegungen entstehen. Könnte es zu einem dauerhaften Pakt zwischen KP und
Unternehmern kommen? Unterdrückt die Partei die Arbeiterbewegung und das Bürgertum
verzichtet dafür auf Mitspracherechte?
3. Unruhepotential auf dem Land und bäuerliche Protestbewegungen werden von Moore als
größte Gefahr für die Stabilität eines Systems, aber auch für die Errichtung einer Demokratie,
gesehen. In China führte eine kommunistisch geführte Bauernrevolution zur Gründung der
Volksrepublik 1949. Heute wird die bestehende Agrarordnung aber durch die Entwicklung
3
Moore 1969: 481.
Merkel 1999: 64.
5
Merkel 1999: 91.
4
5
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
des Kapitalismus zersetzt. Die Bauern, die einst die Kerntruppen für Maos Armee stellten,
könnten heute zur Bedrohung der KP-Herrschaft werden. Egal ob Marx6, Moore7 oder auch
der deutsche Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann8, sie alle billigen den Bauern eine
selbstständige Rolle in einer demokratischen Revolution nicht zu. Die Bauern bräuchten eine
Führung aus der Stadt und könnten nur die Fußtruppen für eine Massenbewegung stellen.
Eine andere Auffassung vertritt in diesem Zusammenhang Dorothy Solinger. Gerade die
Millionen Migranten und Wanderarbeiter aus dem Dorf könnten eine neue Form der
Zivilgesellschaft bilden, weil sie außerhalb des Staates und gegen ihn stehen würden.9
4. Eine starke halbfeudale Großgrundbesitzeraristokratie gilt sowohl für Moore als auch für
Rueschemeyer
als
Haupthindernis
einer
demokratischen
Entwicklung.
Durch
die
Bodenreform von 1947 bis 1952 wurde in China diese Klasse vernichtet. Insofern legte die
Revolution von 1949, von Mao Zedong als „neudemokratische Revolution” definiert10,
sowohl die Grundlage für eine bürgerlich-demokratische als auch sozialistische Entwicklung.
Diese Revolution war zwar im politischen Sinn nicht bürgerlich-demokratisch, sprich die
Errichtung einer demokratischen Republik, aber im ökonomischen Sinn, da mit der
Bodenreform Millionen neue Eigentümer geschaffen und die vorkapitalistischen Eliten
beseitigt wurden. Die egalitäre Agrarordnung, die heute immer noch besteht, steckt in einer
schweren Krise. Welche Auswirkung hat die neue Klassendifferenzierung auf dem Land für
die Stabilität des politischen Systems?
Moore
betrachtete
nicht
nur
die
einzelnen
Klassen
für
sich,
sondern
ihr
gesamtgesellschaftliches Verhältnis zueinander. Ein Kräftegleichgewicht in der Gesellschaft,
zum Beispiel zwischen Krone und Adel, hielt er für eine besonders günstige Voraussetzung
für eine demokratische Entwicklung.11 In China kann von einem Kräftegleichgewicht keine
Rede sein, da die KP autoritär herrscht und eine unabhängige Organisation oder der
Gesellschaft nicht zuläßt. Marx zeigte in seiner konsequentesten Anwendung der
materialistischen Geschichtstheorie, der Schrift „Der Achtzehnte Brumaire des Louis
Bonaparte”, dass gerade ein Kräftegleichgewicht zwischen den Klassen die Grundlage für
eine scheinbar über den Klassen stehende bonapartistische Diktatur sein kann.12 Nicht nur
eine schwache Gesellschaft, sondern auch gerade eine Pattsituation scheint für die Errichtung
6
Marx 1974: 117.
Moore 1969: 549.
8
Heilmann 1996: 115.
9
Cheng 1997: 112.
10
Mao 1968, Band II, S. 380 und S. 418.
11
Moore 1969: 480.
12
Marx, 1974: 114.
7
6
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
einer Diktatur günstig zu sein, weil keine Klasse in der Lage ist die Hegemonie über die
Gesellschaft auszuüben. Auch in China gibt es im Moment außer der KP keine
gesellschaftliche Kraft, die zur Hegemonie fähig wäre. Welche Entwicklung der Klassen und
Klassenverhältnisse könnten zur Bedrohung der Stabilität des politischen Systems werden?
2
Gefahren für die Stabilität der Herrschaft der KP
2.1
Arbeiterwiderstand zwischen Danwei (Arbeitseinheit) und Marktwirtschaft
Streikbewegungen und Arbeiterunruhen sind für die KP China von besonderer Brisanz.
Immer noch wird in der chinesischen Verfassung und dem Parteistatut die Arbeiterklasse als
führende Kraft der Gesellschaft bezeichnet. Obwohl diese Formel immer in erster Linie eine
Legitimation für die Ein-Parteienherrschaft war, gerät die Partei in ideologische
Legitimationsschwierigkeiten, wenn die „Avantgarde” gegen sie aufbegehrt. Während Streiks
und sogar in der Bewegung vom Platz des Himmlischen Friedens von 1989 benutzten
Arbeiter immer wieder das marxistische Vokabular gegen die Partei.13 Die polnische
Entwicklung in den 80er Jahren und der Widerstand der Gewerkschaft Solidarnosch wurde
von der KP China sehr aufmerksam verfolgt.14 Der polnische Alptraum drohte auch für China
wahr zu werden, als 1989 die Studentenbewegung von Arbeitern aus den Staatsbetrieben
unterstützt wurde.15 Bettina Gransow vermutet sogar, dass ein Grund für die brutale
Niederschlagung der Demokratiebewegung die Angst der Hardliner vor einer expandierenden
Arbeiterbewegung war.16 In den 90er Jahren nahmen Streiks und Unruhen zu. In den
nordöstlichen Industriestädten Liaoyang und Daqing kam es im Frühjahr 2002 zu
monatelangen Streiks. Millionen von Staatsarbeitern in der bankrotten Industrie werden im
ganzen Land entlassen. Gerade in den Zentren der alten Schwerindustrie kommt es zu
Massenprotesten gegen Arbeitslosigkeit und Verscherbelung der Renten- und Sozialkassen
der Betriebe.17
Die chinesische Arbeiterbewegung besitzt einen anderen Charakter als die europäische in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bei der chinesischen Staatsarbeiterschaft handelt es sich
nicht um „freie” Lohnarbeiter, die dem Kapital gegenüber stehen, sondern um
13
Walder/Gong 1993: 12.
siehe Aufsatz Wilson 1990.
15
Walder/Gong 1995: 15.
16
Hebel/Schucher 1999: 279.
17
Interview mit Han Dongfang, in: junge welt 28.9.2002. Regelmäßige Informationen zu Arbeitskämpfen in
China finden sich auf der Website: www.china-labour.org.hk.
14
7
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
„Dienstverpflichtete“ des Staates. Die Staatsarbeiterschaft war eine vom Staat über 40 Jahre
lang privilegierte und begünstigte Kaste. Für die große Mehrheit des chinesischen Volkes,
Bauern, Selbstständige und Wanderarbeiter (mingong) gab und gibt es weder Unfall- noch
Rentenversicherungen, billige Wohnungen und Kindergartenplätze. In China existieren keine
staatlichen Sozialleistungen, sondern jeder Staatsbetrieb versorgt seine Arbeiter selbst. Nun
sind ein großer Teil der schwerindustriellen Staatsbetriebe und damit auch der Sozialstaat der
Arbeitseinheiten (Danwei) bankrott.18 Deshalb sind die protestierenden Arbeiter auf den guten
Willen der Zentralregierung in Peking angewiesen. Ihre Betriebe können nur mit neuen
Subventionen aus Peking überleben.
Indem Arbeiter sich organisieren und streiken, fordern sie das System aber heraus. Streiks und
nicht staatlich organisierte Demonstrationen sind immer noch verboten. Zu einer wirklichen
Stoßkraft gegen die Parteienherrschaft können die Staatsarbeiter aber nur werden, wenn sie
alle Hoffnung auf Rettung durch den Staat verlieren und sich deshalb gegen ihn wenden.
Der Entwicklung einer einheitlichen politischen Arbeiterbewegung über die Danwei hinaus
stehen in China strukturelle Schranken gegenüber. Neben dem privilegierten Staatsproletariat
gibt es die Millionen völlig rechtloser Wanderarbeiter. Mit der Entwicklung des Marktes und
Lockerung des Wohnsitz-Systems (Hukou) Anfang der 90er Jahre ist die Trennung zwischen
städtischer
und
ländlicher
Gesellschaft
erdrutschartig
zusammengebrochen.
Die
Wanderarbeiter kommen nicht als gleichberechtigte Bürger in die Städte, sondern auf dem
Boden des aus der Planwirtschaftsära übriggebliebenen Hukou-Systems. Wer den BauernPass (nongye hukou) oder den einer anderen Stadt hat, kann sich z.B. in Peking nicht
langfristig niederlassen, seine Kinder können weder einen Kindergarten noch eine staatliche
Schule besuchen, es ist unmöglich einen Arbeitsplatz in einer staatlichen Arbeitseinheit mit
Sozialleistungen zu bekommen.
Die Wanderarbeiter (mingong) werden häufig durch ein Kontraktsystems angeworben und
nach Ende der Bauprojekte oder einigen Jahren wieder auf das Dorf zurück geschickt.19 Die
rechtlosen Wanderarbeiter protestieren seltener als die Staatsarbeiter.
Nicht wenige Städter, auch die Staatsarbeiter, sind gegen die Abschaffung des Hukou, da sie
die Konkurrenz aus dem Dorf und den Anstieg der Kriminalität fürchten.
Die Arbeiter sind durch das Hukou-System bis heute in viele Teile gespalten. Wie Elizabeth J.
Perry in ihrer Darstellung der Streikbewegungen von 1957, der Kulturrevolution und 1989
zeigt, gab es immer große Konflikte zwischen den mit der „eisernen Reisschüssel”
18
19
8
Heilmann 1996: 94.
Hebel/Schucher 1999: 189.
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privilegierten Arbeitern und den Vertragsarbeitern.20 Mit dem Bankrott der Staatsindustrie
wird der Abstand zwischen beiden Teilen der Arbeiterklasse geringer. Ob die
Arbeiterbewegung in China zu einer Bedrohung der Stabilität des politischen Systems wird,
hängt davon ab, ob sich die Arbeiter über alle Grenzen hinweg sich für ökonomische und
politische Forderungen (Streikrecht, unabhängige Gewerkschaften) zusammenschließen
können oder ob die „Staatsarbeiter” den nicht mehr zu haltenden Status quo gegen den Rest
der Gesellschaft verteidigen wollen.
Eine Stabilisierungsstrategie zur Lösung der Krise der Staatsindustrie besitzt die KP nicht.
Die finanziellen, aber auch die gesellschaftlichen „Stabilisierungsdeckungskosten” zur
Sanierung
der
Betriebe
kann
die
chinesische
Regierung
nicht
aufbringen,
ein
flächendeckendes Sozialsystem ist auch in Zukunft nicht in Sicht und der expandierende
Privatsektor wächst nicht schnell genug, um alle Arbeitslosen aus den Staatsbetrieben
aufzunehmen. Millionen Industriearbeiter stehen in China vor dem Nichts. So stellt die
Arbeiterbewegung eine große Gefahr für die Stabilität der KP-Herrschaft dar.
2.2
Bauernunruhen und die Krise des Dorfes
Neben der Arbeiterbewegung stellten Unruhen auf dem Land eine große Herausforderung dar.
Trotz rasanter Verstädterung und Proletarisierung von Millionen Bauern blieb das Dorf,
abgesehen von lokalen Unruhen, seit 20 Jahren relativ stabil. Der Grund dafür ist meines
Erachtens die egalitäre Agrarordnung (jiating lianchan chengbao jingguan). Diese staatlich
gesicherte, bäuerliche „Gleichmacherei” auf dem Dorf bildet den Gegenpol zum rasanten
Kapitalismus der Stadt. Jeder chinesische Bauer bekommt von der Dorfregierung ca. 1 Mu
(1/15 Hektar) Land zugeteilt. Die Familie besitzt das Nutzungsrecht für 30 Jahre, das Dorf das
Eigentums- und der Staat das Verwaltungsrecht. Dieses Stückchen Land ist die
„Lebensversicherung“ gegen Hunger und die totale Verelendung für den einzelnen Bauern.
Fast alle Bauern, die in der Stadt als Tagelöhner arbeiten, lassen den Rest der Familie zu
Hause das Feld bestellen. Dieses System ist meiner Meinung nach der chinesische
„Sozialstaat” des Dorfes.
Die Bauern waren Anfang der 80er Jahre sowohl die Wegbereiter als auch die Gewinner der
Reformen. Spontan lösten Bauern ab 1978 gerade in den ärmsten Regionen die
Volkskommunen auf und verteilten das staatliche Land unter den Familien. Durch den
Bevölkerungswachstum, die hohe Steuerlast und die niedrigen Getreidepreise stößt dieser
„Bauernsozialismus“ immer mehr an seine Grenzen. Allein schon vor dem Hintergrund der
20
9
siehe Aufsatz Perry, in: Davis/Perry 1995: 302-325.
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demographischen Entwicklung und den geographischen Bedingungen kann man die
Zukunftsfähigkeit
des
heutigen
Agrarsystems
bezweifeln.
Trotz
fortschreitender
Urbanisierung und Industrialisierung wuchs die Zahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft
von 1950 bis 2000 von 180 Millionen auf 540 Millionen.21 Gleichzeitig nimmt die
landwirtschaftlich kultivierte Fläche immer mehr ab. Um das Ausmaß des Problems zu
verdeutlichen: China besitzt nur die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens der USA,
aber 120 Mal so viele Bauern.22 Das Agrarsystem der gleichen Verteilung des Landes an die
Familien ist zwar sozial gerecht und verhindert das Aufkommen einer neuen
Großgrundbesitzerklasse. Ökonomisch gesehen ist es sehr unproduktiv. Obwohl mindestens
noch die Hälfte der Chinesen Bauern sind, produzieren sie nicht mal ein Fünftel des
Bruttosozialproduktes.23 Wer in Zukunft China ernähren soll, ist eine brennende Frage.24 Der
Autor Cheng Li stellt sogar die These auf, dass China mindestens 200 Millionen
„überflüssige” Arbeitskräfte auf dem Land hat.25
Im Zuge dieser Entwicklung haben sich auf dem Dorf neue Schichten herausgebildet. Im
Bericht der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften zur Entwicklung der Schichten
der Gesellschaft heißt es: Nur noch ca. 55 Prozent der Dorfbewohner sind selbständige
Bauern. Schon über 30 Prozent der Bevölkerung auf dem Land müssen als Tagelöhner und
Gelegenheitsarbeiter über die Runden kommen. Das Einkommen dieser Schichten hat sich in
den letzten 10 Jahren nicht verbessert. Heute gibt es außerdem nicht viel mehr
Dorfintellektuelle als Anfang der 90er Jahre.26 China steckt heute in seinem alten Dilemma,
dass die Anzahl der überschüssigen Arbeitskräfte auf dem Dorf schneller wächst als die
Industrie- und Dienstleistungsbetriebe in den Städten.
Die Krise des Dorfes hat aber auch politische Ursachen. Heberer und Taubmann listen als
Gründe für den Unmut der Bauern Folgendes auf: Stagnierende Einkommen, gewaltige
Kostensteigerung des landwirtschaftlichen Inputs, wachsende Abgabenlast (nongmin fudan
wenti)27, Korruption der ländlichen Kader, Umwandlung von agrarischer Nutzfläche in nichtagrarische, unentgeltliche Arbeitsverpflichtung für öffentliche Projekte, Konflikte bei der
Durchsetzung der Geburtenplanung, zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich.28
So werden auch in chinesischen Publikationen die Beziehungen zwischen Bauern und Kadern
21
Cheng 1997: 115.
Cheng 1997: 114.
23
Cheng 1997: 117.
24
siehe z.B. Smil 1995 oder Brown 1995.
25
Cheng 1997: 111.
26
junge welt 25.9.2002.
27
junge welt 4.9.2002.
28
Heberer/Taubmann 1998: 374.
22
10
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
in vielen Gegenden ganz offen als äußerst angespannt (feichang jinzhang) bezeichnet.29 In den
90er Jahren nahmen illegale Demonstrationen, Unruhen und Beschwerden der Bauern bei
höheren Stellen (shangfang) zu. Die Widerstandsformen sind sehr vielfältig und reichen von
tätlichen Angriffen auf Kader, über kollektiven Raub bis hin zur Bildung von Clans und
Geheimgesellschaften.30
Kann die Unzufriedenheit der Bauernschaft die Stabilität des politischen Systems bedrohen?
In China existiert im Gegensatz zu Russland und Mexiko im 19. Jahrhundert keine
Dorfgemeinde, sondern die Familie ist die zentrale Einheit des Lebens, der Produktion und
des Konsums. Moore vertrat deshalb die Auffassung, die Solidarität innerhalb des Dorfes sei
nur schwach ausgeprägt und die Äußerung Sun Yat-Sens, China sei wie ein loser Haufen
Sand, deshalb nicht nur politische Rhetorik.31 Auch Taubmann und Heberer kommen bei
ihren Umfragen zu dem Ergebnis, dass die Familie wieder oberste Priorität im Denken und
Handeln der Bauern hat.32 Trotz des Unmuts entwickelt sich kollektiver Widerstand gegen das
System nur schwer über die verwandtschaftlichen Grenzen oder sogar das Dorf hinaus.
Karl Marx schrieb über die wirtschaftlich isolierten französischen Parzellenbauern, sie seien
in der Masse nur die einfache Addition gleichnamiger Größe, „wie etwa ein Sack von
Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet”.33 Genau diesen Vergleich greift auch der chinesische
Autor Cao Jinqing in seinem Buch über die Bauern am gelben Fluss (Huanghe bian de
zhongguo) wieder auf. Cao bemängelt die schwache Solidarität unter den Bauernfamilien
natürlich nicht in Bezug auf den Widerstand gegen Partei, sondern weil kaum noch kollektive
Projekte in den Dörfern organisierbar sind.
Obwohl es schwierig sein wird, dass sich in China eine nationale Bauernbewegung gegen die
Herrschaft der Partei bildet, so ist es doch nicht unmöglich. Schließlich gelang es auch der KP
in den 40er Jahren den „losen Haufen Sand” im Kampf zusammenzuschweißen. Auch heute
noch gilt die Auffassung von Mao Zedong, dass China nur der verändern kann, der die Bauern
hinter sich hat.34 Die Studentenbewegung von 1989 und auch viele Dissidenten haben die
Interessen der Bauern und damit die Mehrheit des chinesischen Volkes ignoriert.
Eine Bauernbewegung gegen das System kann auch autoritären Charakter annehmen. Im
Moment findet der Zerfall des Dorfes aber unter einem autoritären Regime statt. Auf Grund
dieser Erfahrungen ist es auch möglich, dass die Bauern sich unter demokratischen
29
Zhang 1999: 25.
Taubmann/ Herberer 1998: 379.
31
Moore 1969: 248.
32
Taubmann/ Heberer 1998: 364.
33
Marx 1974: 117 Auch Moore stützte sich auf diese Äußerung: Moore 1969: 547.
34
Maos Auffassung von der Rolle der Bauernschaft in der Revolution siehe: Mao 1968, Band I, S. 21-63.
30
11
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
Vorzeichen gegen die KP wenden und unabhängige Verbände und Mitspracherechte auf dem
Dorf fordern. Es hängt auch mit den Erfahrungen der „Dorfdemokratie” zusammen, ob die
Bauern die Ausdehnung der demokratischen Rechte fordern werden oder nicht. In den
Dörfern können die Bauern seit 1988 theoretisch den Dorfvorsteher (cunzhang) demokratisch
wählen. Oft geht es nicht demokratisch zu und die Partei hat meistens immer noch das letzte
Wort.35
Der Partei ist die große Gefahr von Bauernunruhen bewusst. Die Frage ist aber, ob sie
wirklich über eine Stabilisierungsstragetie verfügt und die „Stabilisierungsdeckungskosten”
aufbringen kann. Trotz zahlreicher Regierungsbeschlüsse zur Minderung der Steuerlast oder
Durchsetzung der neunjährigen Schulpflicht hat sich die Lage auf dem Dorf nicht
grundlegend geändert. Die Stabilität der Herrschaft der KP beruht gerade darauf, die egalitäre
Agrarordnung aufrecht zu erhalten und „Bauernlegen“ zu verhindern. Der Preis dafür ist ein
völlig unökonomisches Zwergbauerntum. Reformen sind gefährlich, könnten aber in
absehbarer Zeit unabwendbar werden. Mit einem Angriff auf die egalitäre Agrarordnung
könnte sich die Partei den Boden unter den eigenen Füßen wegziehen.
2.3
Privatunternehmer und Mittelschichten als Triebkräfte einer demokratischen
Umwälzung?
Ohne ein starkes Bürgertum keine Demokratie - war eine der zentralen Thesen von Moore.
Die
Vertreter
von
Modernisierungstheorien
glauben,
dass
die
Entwicklung
der
Marktwirtschaft und das Wachstum der Mittelschichten letzten Endes die Transformation zu
einem demokratischen System nach sich ziehen wird.36
In der chinesischen Geschichte gibt es aber keine mit Europa vergleichbare Tradition eines
unabhängigen Bürgertums und sich selbstverwaltender Städte.37 Auch die mit den Reformen
neu entstehende Kapitalistenklasse war und ist mit dem Staat eng verbunden. Sebastian
Heilmann verwendet deshalb den Ausdruck des „Kaderkapitalismus”.38 Für den Erfolg eines
Unternehmens ist die Verbindung zur Bürokratie von zentraler Bedeutung. Oft werden
Unternehmen als Ableger von Behörden oder von Kadern selbst gegründet. Nach einer
Erhebung von 1994 stammen 22 Prozent der Privatunternehmer in den Städten aus dem
Funktionärsbereich.39 Doris Fischer nennt niedrigere Zahlen als Heilmann, ca. 15 Prozent der
35
Taubmann/Heberer 1998: 286.
Merkel, 1999: 83f.
37
Osterhammel 1997: 36.
38
Heilmann 1996: 91.
39
Heilmann 1996: 96.
36
12
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
Privatunternehmer seien Mitglied in der Partei.40 Gemäß einer Erhebung von 2000 soll der
Anteil von ehemaligen Kadern bei Unternehmern mit einer Kapitalausstattung von über 100
Millionen RMBY bei 46 Prozent liegen.41 Besonders auf dem Dorf und in den
Gemeindeunternehmen
(xianzhen
qiye)
ist
der
auf
Beziehungen
beruhende
„Kaderkapitalismus” stark ausgeprägt.42 Die lange Tradition des Staatskapitalismus oder
„bürokratischen Kapitalismus” (guanliao zibenzhuyi), wie ihn Mao Zedong nannte, setzt sich
vom Kaiserreich über die Republik bis heute fort. Mit dem Wirtschaftsboom in den 90er
Jahren entsteht neben den „Kaderkapitalisten” aber eine breite Schicht von unabhängigen
Unternehmern. Die Frage ist, ob Unternehmer nur unter einer bestimmten Größe unabhängig
und nicht mehr Teil des „bürokratischen Kapitalismus” sein können.
Der nichtstaatliche Sektor erwirtschaftet heute schon 43 Prozent des Bruttosozialproduktes,
im Küstengebiet Südchinas sind es sogar 80 Prozent.43 Vor zehn Jahren erwirtschaftete der
Privatsektor nur ein Prozent des Bruttosozialproduktes. So wird auch schon von einer neuen
parteiunabhängigen „neuen Mittelklasse” aus Privatunternehmern, höheren und mittleren
Beamten, Teilen der Intelligenz und freien Berufen gesprochen, die die Grundlage für eine
„Zivilgesellschaft” bilden könnten.44 In den Großbetrieben des Privatsektors haben die
Unternehmer auch keinen niedrigen Bildungsstand, wie oft angenommen wird.45
In Bereich der Privatbetriebe hat die Partei an Boden verloren. Ex-Staatspräsident Jiang
Zemin geklagte, dass 86 Prozent der Privatbetriebe keine Parteimitglieder und nur 0,9 Prozent
ein Parteikomitee haben.46 Auch bei den Arbeitern der Privatbetriebe fern ab von Peking hat
die Partei kaum noch Einfluss. Während den Untersuchungen und Befragungen von
Industriearbeitern in der Boom-Metropole Shenzhen fanden die Sozialwissenschaftler der
chinesischen Akademie kein einziges Parteimitglied.47 Um diesen Teil der Gesellschaft
wieder stärker einzubinden, sollen Kapitalisten als Parteimitglieder geworben werden und die
Massenbasis der Partei vergrößern. Jiang bezeichnete die Privatunternehmer sogar als
„großartige Erbauer des Sozialismus mit chinesischer Besonderheit”48 (zhongguo shehuizhuyi
weidade jianshezhe).
40
Fischer 1995): 315.
Holbig 2001: 744.
42
Taubmann/Heberer 1998: 415.
43
Radio China International 29.11.2002.
44
Taubmann/ Heberer 1998. 417.
45
Taubmann/ Heberer 1998: 418.
46
junge welt 10.4.2002.
47
junge welt 25.9.2002.
48
junge welt 10.4.2002.
41
13
Ruhr-Universität Bochum – Sektion Politik Ostasien
Ob diese Einbindungsstrategie Erfolg hat, bleibt abzuwarten. Wenn nicht, kann die neue
unabhängige Bourgeoisie die Stabilität des Systems bedrohen?
Die Privatunternehmer gehören zu den Gewinnern der derzeitigen Entwicklung. Ihr
Unzufriedenheitsgrad ist deutlich niedriger als bei Bauern und Arbeitern. Dass das Verhältnis
zwischen Partei und Unternehmern gespannt sei, konnte man in der Untersuchung der
Akademie der Sozialwissenschaften nicht lesen. Sicherlich gibt es auch bei den Unternehmern
Unzufriedenheit mit Korruption, Rechtsunsicherheit und unberechenbarer Steuerpolitik. In
China könnte aber auch die Klassenkonstellation eintreten, die zum Bündnis der schwachen
Bourgeoisie mit dem autoritären Staat gegen die Arbeiter und Bauern führt. Aus Angst vor
diesen Bewegungen könnten sich die Unternehmer und die Mittelschichten an den Staat
wenden. Schließlich nutzt es den Unternehmern, dass es in China kein Streikrecht und keine
unabhängige Gewerkschaften gibt und dass sie mit den rechtlosen Wanderarbeitern über
billige Arbeitskräfte verfügen. Vielleicht tritt die Situation ein, in der nur die KP China in der
Lage ist, das Privateigentum zu schützen. Ähnliches gilt auch für das ausländische Kapital.
Die westlichen Regierungen haben ein Interesse, die Milliardeninvestitionen der
Unternehmen ihrer Länder in China zu schützen. Dafür ist Stabilität notwendig, die durch die
Bewegungen der Arbeiter und Bauern bedroht werden könnte. Kommt es wirklich zu großen
sozialen Konflikten und droht der Zerfall des chinesischen Staates, so könnte das
internationale Kapital und die Regierungen der westlichen Industrienationen zu wichtigen
Stützen des autoritären Regimes werden. Immer mehr ausländisches Kapital ins Land zu
holen, ist auch Teil der „Stabilisierungsstrategie” der KPCh.
Wie die Entwicklung einer demokratischen Bewegung auch sein wird, Aussichten auf Erfolg
hat sie nur, wenn die Fehler von 1989 nicht wiederholt werden. Die Studentenführer vom
Tiananmen hinderten damals nicht nur am Anfang die streikenden Arbeiter daran, auf den
Platz des Himmlischen Friedens zu kommen, sondern verboten ihnen sogar zum Generalstreik
aufzurufen.49 Für die Probleme der Bauern interessierten sie sich gar nicht. So konnte die
Bewegung leicht niedergeschlagen werden. Eine demokratische Massenbewegung hat in
China nur eine Chance, wenn sie sich auf ein Bündnis von Arbeitern, Bauern und
Intellektuellen stützt. Das ist die Lehre vom Platz des Himmlischen Frieden, für die das
chinesische Volk ein hohes Lehrgeld bezahlen musste.
49
Walder/ Gong 1993: 24.
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3
Schluss: Die Stabilisierungsstrategie der KP und ihre Erfolgsaussichten
Mittlerweile gibt es keine Rede eines Parteiführers mehr, in der nicht die Stabilität (wending)
des Landes beschworen wird. Die chinesische Regierung ist sich durchaus der Gefahr einer
Arbeiterbewegung und Bauernunruhen gegen das System bewusst. Die Veränderung der
Klassenverhältnisse wird seit den 90er Jahren in regelmäßigen Schichten-Berichte (jieceng
baogao)
beobachtet
und
analysiert.50
Die
Sozialwissenschaftler
benutzen
ein
Schichtenmodell, weil sich die Gesellschaft stärker ausdifferenziert habe. Tatsache ist jedoch,
dass an Stelle des staatlich zugeteilten Klassenstatus (jieji shenfen) im Rahmen eines
kastenähnlichen Hukou-Systems, eine „natürliche” Klassen- und Schichtenspaltung der
Gesellschaft durch die Entwicklung der Marktwirtschaft getreten ist. Die staatliche
inszenierten „Klassenkampfkampagnen” der Mao-Ära sind heute durch wirkliche soziale
Konflikte der Gesellschaft abgelöst worden.
Der letzte Bericht der Akademie der Sozialwissenschaften ist auch als wissenschaftliche
Rechtfertigung der Theorie der „Drei Vertretungen” (sange daibiao) von Jiang Zemin zu
betrachten. Die Theorie der „Drei Vertretungen” von Jiang Zemin besagt, die KPCh vertritt:
1. Die fortschrittlichen Produktivkräfte 2. eine sozialistische Kultur, die das fortschrittliche
Erbe der gesamten chinesischen Geschichte beinhaltet und 3. die Interessen des chinesischen
Volkes. Um dauerhaft das System stabilisieren zu können, stellt die Akademie folgende
Überlegungen an51: Chinas Gesellschaftsstruktur gleicht einer Pyramide - hat also eine kleine
Oberschicht und eine riesige Unterschicht. Diese Struktur soll sich in eine Olive (ganlan)
verwandeln- das Entstehen einer breiten Mittelschicht soll das System stabilisieren.52 Die
Lage auf dem Land soll durch die Verminderung der Steuerlast der Bauern und die weitere
Lockerung des Hukou-Systems verbessert werden. Durch die Aufnahme der neuen
Unternehmerschicht in die Partei soll sich ihre Massenbasis vergrößern und diese Kräfte ins
System integriert werden. Die KP versteht die Entwicklung von Mittelschichten als eine
Chance zur Stabilisierung, während die westlichen Modernisierungstheoretiker darin gerade
die größte Bedrohung für das autoritäre System sehen.
Reicht diese Strategie der „Drei Vertretungen” aus, um das System dauerhaft zu stabilisieren?
Sollte es wirklich gelingen die erfolgreichen Privatunternehmer an die Partei zu binden, so ist
damit nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft gewonnen. Dies wird kaum ausreichen,
wenn sich immer mehr Arbeiter und Bauern vom System abwenden. Mit den „Drei50
so zum Beispiel Zhu 1998 und Zhongguoshehuikexueyuan 2002.
junge welt 25.9.2002.
52
Der gleiche Gedanke findet sich auch in: Ding 2001: 1.
51
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Vertretungen” und Schichten-Berichte bereitet sich die Partei auch ideologisch auf Unruhen
vor. Mit den Begriffen „Schichten” und „Vertretung der fortschrittlichen Produktivkräfte”
streicht die KP die letzte marxistische Klassenkampfrhetorik aus dem Programm, die eine
Arbeiterbewegung auch gegen die Partei wenden könnte und macht damit deutlich, dass sie
weiterhin alle unabhängigen gesellschaftlichen Bewegungen für illegitim und gefährlich hält.
Es wird aber nicht ausreichen, die Streikbewegungen in den Staatsbetrieben und den
Widerstand der Bauern zu kriminalisieren und zu unterdrücken, wenn die Regierung keine
Lösung für die Arbeiter in der bankrotten Staatsindustrie und das in die Krise geratene
Agrarsystem hat. Die Partei sitzt auf einen Pulverfass und steckt in Bezug auf die
Staatsindustrie und Agrarordnung in einem Dilemma: Führt sie grundlegende Reformen
durch, droht Instabilität - erhält sie den Status quo, dann droht sie auch. Vor diesem
Hintergrund könnte die Parole des 16. Parteitages vom Aufbau einer „Gesellschaft des
bescheidenen Wohlstands” (xiaokang shehui) zur hohlen Phrase zu werden.
Als Fazit bleibt: Vor dem Hintergrund der gewaltigen sozialen Probleme Chinas ist es
notwendig, materialistische Theorien, wie von Barrington Moore, anzuwenden, um die
Bedrohung der Stabilität des Systems durch Veränderung der Klassenverhältnisse und des
Klassenkampfs zu analysieren. In den Demokratien Mitteleuropas ist zwar der offene Kampf
zwischen den Klassen und der Kampf zwischen Gesellschaft und Staat momentan weitgehend
ersetzt wurden durch Formen der Kooperation. China verfügt nicht über diesen
Steuerungsmechanismus
und
diese
Tradition.
So
können
Arbeiterbewegung
und
Bauernunruhen das System grundlegend erschüttern. Mao Zedongs Warnung „Niemals den
Klassenkampf vergessen” könnte im China des 21. Jahrhunderts wieder aktuell werden, wenn
auch in einem ganz anderen Sinn als der Staatsgründer meinte.
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TRENDS EAST ASIA (TEA)
©POA
Die Online-Publikationsreihe "Trends East Asia" (TEA) der Sektion Politik
Ostasiens möchte interessierte Wissenschaftler/innen sowie Vertreter/innen
aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien über Trends in Ostasien informieren. In regelmäßig erscheinenden Kurzanalysen und längeren,
vertiefenden Beiträgen werden aktuelle und zukünftige Dimensionen
politischer Entwicklungen in Ostasien aufgezeigt.
TEA soll eine Brücke zwischen Lehre und Forschung der Sektion Politik
Ostasiens einerseits und einer interessierten Öffentlichkeit andererseits
schlagen: Mitarbeiter/innen und fortgeschrittene Studierende der Sektion
haben die Möglichkeit, innovative Analysen kurzfristig einem größeren
Publikum zu präsentieren. In oder in Bezug auf Ostasien tätige Personen
können leicht auf aktuelle und kompakte Informationen zurückgreifen.
Die neuesten TEA-Publikationen finden Sie unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/oaw/poa/tea/
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