tagesschau.de: Wie bewerten Sie das Urteil des - Thomas Dyhr

tagesschau.de: Wie bewerten Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?
Hans-Christian Ströbele: Die Richter haben eine ganz klare Sprache gesprochen. Sie sprechen von
Folter und unmenschlicher Behandlung. Wir haben es damals im Untersuchungsausschuss zu dem
Fall übrigens genau so gebrandmarkt. Es war eine durch nichts zu rechtfertigende Behandlung eines
deutschen Staatsbürgers, der sich ja nichts anderes zu Schulden hat kommen lassen, als damals
Sylvester nach Mazedonien einzureisen und dann, offenbar aufgrund einer Verwechslung,
festgenommen wurde.
Mit diesem Urteil holt uns – die USA, Mazedonien und auch Deutschland – die Vergangenheit ein.
Es ist eine große Schande, die diese drei Länder auf sich geladen haben. El Masri wurde in
Mazedonien durch den CIA gefoltert und später dann noch einmal fast ein halbes Jahr in
Afghanistan.
tagesschau.de: Und wo liegt eine deutsche Mitverantwortung?
Ströbele: Die rot-grüne Bundesregierung, so muss ich leider sagen, hat el Masri nach seiner Rückkehr
nach Deutschland nicht zur Seite gestanden. Im Gegenteil: Sie hat zugelassen, dass anderthalb Jahre
zunächst lange niemand den Erzählungen el Masris Glauben schenkte. Dabei wusste die
Bundesregierung es besser. Schon bevor el Masri zurück nach Deutschland kam, war der
Innenminister durch den US- Botschafter und einen Geheimdienstmann von dem Fall informiert
worden. Dieses Wissen hat die Regierung für sich behalten und el Masri wie einen Deppen durch
Deutschland laufen lassen und dadurch sein Leid noch einmal erhöht. Niemand wollte ihm glauben,
bis die Staatsanwaltschaft durch ein Gutachten eine Bestätigung fand und dann die Sache
aufgeflogen ist.
tagesschau.de: Warum hat sich die Bundesregierung damals so verhalten?
Ströbele: Das ist für mich bis heute unbegreiflich. Offenbar wurde dem US-Botschafter
Vertraulichkeit zugesichert. Und man hat dabei vernachlässigt, dass da einem unschuldigen
deutschen Staatsbürger schwerstes Unrecht geschehen war. Der ganze Fall ist nur zu erklären mit der
Hysterie, die damals nach den Anschlägen vom 11. September 2001 herrschte. Da war Recht nicht
mehr Recht – Menschenrechte galten nicht mehr. In der Verfolgung und Behandlung vermeintlicher
oder auch tatsächlich Beteiligter hat man jedes Maß verloren und hat Grundprinzipien der
Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit völlig außer Acht gelassen.
tagesschau.de: Es wurde ja immer wieder spekuliert, ob die Festnahme el Masris auch durch die
Weitergabe deutscher Geheimdienstinformationen erfolgte. Deutet das damalige Verhalten der
Bundesregierung auf eine Verstrickung deutscher Geheimdienstbehörden in den Fall?
Ströbele: Ob die Festnahme el Masris durch Informationen aus Deutschland gefördert oder gar
veranlasst wurde, haben wir im Untersuchungsausschuss damals nicht mit letzter Sicherheit
feststellen können. Wir wissen aber, dass in der Folterhaft in Kabul auch ein Deutsch sprechender
Mann an der Seite der CIA-Vernehmer aufgetreten ist. Wir haben bis zuletzt leider nicht klären
können, wer dieser Mann war. Die Frage der Verstrickung deutscher Behörden ist noch nicht restlos
geklärt.
tagesschau.de: Sind denn 60tausend Euro Schmerzensgeld angesichts der Schwere und Länge der
Folter verhältnismäßig?
Ströbele: Das ist ein symbolischer Betrag. Wichtig ist, dass die Richter von Folter und unmenschlicher
Behandlung sprechen. Das Schmerzensgeld ist darüber hinaus eine materielle Anerkennung dessen,
was ihm da zugefügt wurde. Aber natürlich kann dieser Geldbetrag das menschliche Leid nicht
aufwiegen. Dieses Urteil richtet sich ja nur gegen mazedonische Behörden, die el Masri
festgenommen und ausgeliefert haben und an der Misshandlung in Skopje beteiligt waren. Wenn es
in den USA zu einem Entschädigungsverfahren gekommen wäre, dann wären das natürlich ganz
andere Beträge gewesen.
tagesschau.de: Warum werden die USA in diesem Urteil nicht in die Pflicht genommen?
Ströbele: Das Europäische Gericht hält sich wohl in Bezug auf die USA nicht für zuständig. El Masri
hatte ja versucht, in den USA die Verurteilung der CIA durchzusetzen und Schadenersatz zu
bekommen. Das wurde abgewiesen, wohl weil in den USA die Interessen des Geheimdienstes über
die des Opfers gestellt wurden. Ich kann der CIA und der US-Regierung jetzt nur raten, das Urteil
ernst zu nehmen und endlich das zu tun, was sie schon lange hätten tun müssen und sich ganz
öffentlich und von höchster Ebene aus bei el Masri zu entschuldigen und ihm auch in den USA einen
Schadensersatz zu gewähren.
tagesschau.de: El Masri hatte nach seiner Rückkehr nach Deutschland Kontakte zur extremistischen
Szene. Und er hat eine ganze Serie von Straftaten begangen, weshalb er derzeit inhaftiert ist. Sein
Anwalt begründete die späteren Straftaten mit der schweren Traumatisierung seines Mandanten.
Muss dieses Verfahren nun neu aufgerollt werden?
Ströbele: Das kann ich nicht beurteilen, weil ich an dem Prozess nicht beteiligt war. Ich kann nur
sagen, wie ich el Masri damals im Untersuchungsausschuss erlebt habe. Dieser Mann war auch Jahre
nach seiner Rückkehr aus der Folterkammer von Kabul noch zutiefst erschüttert, gravierend
traumatisiert und desorientiert. Inwieweit seine späteren Straftaten mit diesen grausigen
Erfahrungen in Zusammenhang stehen, das müssen die Mediziner beurteilen. Es wäre gut, wenn der
Fall auf Grundlage des heutigen Urteils noch einmal neu bewertet würde.