Filmriss, Koma, Suchtgefahren? Wie Eltern ihr Kind schützen können

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Heidi Kuttler und Franz Schmider
Filmriss, Koma, Suchtgefahren?
Wie Eltern ihr Kind schützen können
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Heidi Kuttler und Franz Schmider
Filmriss, Koma, Suchtgefahren?
Wie Eltern ihr Kind schützen können
wird im Auftrag der Bundeskonferenz
für Erziehungsberatung herausgegeben
von Barbara Eckey, Karin Jacob
und Uwe Britten
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Heidi Kuttler und Franz Schmider:
Filmriss, Koma, Suchtgefahren? Wie Eltern ihr Kind schützen können.
1. Auflage 2011
ISBN-Print: 978-3-86739-062-07
ISBN-PDF: 978-3-86739-745-2
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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suchen, besuchen Sie unsere Homepage: www.balance-verlag.de
© BALANCE buch + medien verlag, Bonn 2011
Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag
GmbH, Bonn.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung
des Verlages vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Geisfeld
Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln,
unter Verwendung eines Bildes von klosko, photocase.de
Typografiekonzept: Iga Bielejec, Nierstein
Satz: BALANCE buch + medien verlag, Bonn
Druck und Bindung: Kösel, Krugzell (www.KoeselBuch.de)
Zum Schutz von Umwelt und Ressourcen wurde für dieses Buch
FSC-zertifiziertes Papier verwendet:
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Vorwort 9
Einleitung: Ein unverschleierter Blick auf den Alkohol 11
Suchtprävention im Elternhaus 16
Kinder stark machen 18
Der Blick auf die legalen Drogen 19
Alkohol ja – aber mit Maß und Verstand 20
Was Eltern zum Thema »Alkohol« wissen sollten 23
Was ist Alkohol? 23
Sonderfall Methanol – ein tödliches Gift 23
Was bewirkt Alkohol im Körper? 24
Stimmungsmacher Alkohol 25
Wie Alkohol in eine Abhängigkeit führen kann 31
Hinweise für einen risikoarmen Alkoholkonsum 32
Vertragen manche Menschen den Alkohol besser? 34
Alkohol schützt vor Herzinfarkt, oder? 36
Alkohol in unserem Alltag 39
Sektfrühstück und Absacker – mehr als nur »trinken« 40
Was der Volksmund sagt 42
Alkohol als Wirtschaftsfaktor 44
Eine kleine Kulturgeschichte des Alkohols 47
Nahrung aus dem Bierkrug 47
Ein göttliches Getränk 49
Jesus verwandelte Wasser zu Wein 52
Der Geist aus der Flasche 54
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Jugendliche und Alkohol 59
Alkohol bei Jungen und Mädchen 62
Sorgenkinder Jungs 64
Warum?! – Ursachenforschung 71
Alkoholkonsum als Signal an andere 72
Erste erotische Erfahrungen und Alkohol 73
Sich abgrenzen gegen Gruppendruck 74
Wir wirkt Alkohol auf Jugendliche? 76
Früher Alkoholkonsum – hohes Suchtrisiko 78
»Komatrinken« und die Risiken 79
Diagnose »komatöse Alkoholvergiftung« –
ein Fallbeispiel 82
Manuel 82
Das Gespräch mit den Eltern 84
Verlorenes Vertrauen aufbauen 88
Den Umgang mit Alkohol lernen 89
Prävention wirkt 91
Komatrinken: fünf Fragen – fünf Antworten 92
Wie Prävention funktioniert 96
Sind das alles junge Alkoholiker? 98
Was Jugendliche wissen sollten 100
Solide und kritische Informationen 100
Vorsicht vor Alkohol-Mixgetränken! 102
Achtung: Hochprozentiges! 104
Nicht aus der Flasche und nicht im Gehen trinken 105
In manchen Situationen: immer ohne Alkohol! 106
Alkohol macht dick 107
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Aufgaben der Eltern 109
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Vorbild sein 111
Regeln zum Umgang mit Alkohol 113
Regeln schützen! 117
Vereinbarung fester Ausgangszeiten 122
Wo und mit wem ist das Kind unterwegs? 124
Erziehungsbeauftragung per Formular 125
Falsche Freunde? 127
Planung eines sicheren Heimwegs 129
Partyspaß im Elternhaus 132
Umgang mit Trunkenheit 134
Der erste Rausch 134
Anregungen für das Gespräch 137
Der nächste Morgen 139
Das eigene Kind in den Alkoholkonsum einführen? 140
Abstinenz – ein lohnendes Experiment 142
Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht 145
Ab wann spricht man von »Sucht«? 146
Wie entsteht eine Sucht? 149
Suchtkranke Eltern im Bekanntenkreis 151
Mein Kind trinkt zu viel! Veränderung bewirken 155
Phase 1 – Sorglosigkeit 159
Phase 2 – Bewusstwerdung 160
Phase 3 – Vorbereitung 162
Phase 4 – Handlung 163
Phase 5 – Aufrechterhaltung 165
Die Fallen des Helfens – Ko-Abhängigkeit 166
Der Weg in eine Beratungsstelle 168
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Schützende Erziehung im Elternhaus 186
Der autoritative Erziehungsstil 187
Stark trotz Belastungen: Resilienz 189
Weiterführende Informationen 194
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Vorwort
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Als die Ärzte unserer Kinderklinik in Lörrach Alarm schlugen,
weil sie immer öfter Jugendliche mit einer schweren Alkoholvergiftung versorgen mussten, reagierten wir auf unsere jeweilige
und zu unseren Berufen passende Art. Der Journalist hat darüber geschrieben, die Pädagogin dazu ein Präventionsprojekt
entwickelt.
Uns beiden geht es darum, Jugendliche vor vielleicht irreparablen Schäden durch Alkoholexzesse zu bewahren. Aber uns
geht es auch um die Verantwortung und das Vorbildverhalten
der Erwachsenen im Umgang mit Alkohol – und dabei nicht
nur der Eltern!
Der Anstieg der Klinikeinweisungen ist seit einigen Jahren
stark im Fokus der Öffentlichkeit. Sie könnten erzählen, dass
es ein gewaltiges Problem mit jugendlichen Trinkern gibt. Sie
könnten aber auch erzählen, dass es verantwortungsvolle junge
Menschen oder aufmerksame Anwohner und Passanten gibt, die
diese Jugendlichen nicht im Stich lassen, wenn sie betrunken sind,
sondern einen Arzt rufen. Das wäre eine gute Nachricht. Wir
vermuten, dass die zugrunde liegenden Zahlen beide Geschichten
gleichzeitig erzählen und dass es folglich darauf ankommt, weder
die Augen zu verschließen noch in Panik zu verfallen. Wenn sich
Kinder betrinken, müssen die Eltern nüchtern bleiben – wörtlich
und in ihren Reaktionen. Hierzu wollen wir mit diesem Buch
einen Beitrag leisten – der Journalist mit fundierten Hintergrundinformationen zum Alkohol, die Pädagogin mit praxisnahen Hinweisen zu Erziehung und Prävention.
Wir empfehlen dabei Eltern und Pädagogen, dieses Buch
nicht vorwiegend mit dem Blick auf mögliche Erziehungsfehler
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und Versäumnisse zu lesen, sondern darauf zu achten, wo sie
sich in ihrem bisherigen Verhalten bestätigt fühlen und was
ihnen gut gelingt. Und dort weiterzumachen und darauf aufzubauen. Dafür wünschen wir Ihnen alles Gute!
Unser Dank gilt zunächst allen Jugendlichen, die von ihren
Erfahrungen und Gedanken im Umgang mit Alkohol berichteten. Danke an sie und auch an viele Eltern: für ihre Offenheit,
ihre Ernsthaftigkeit und ihre Ehrlichkeit im Umgang mit dem
Thema. Herzlichen Dank auch an die Autorinnen einer Tübinger
Studie zum Trinkverhalten von Jugendlichen, Frau Dr. Stumpp,
Frau Prof. Stauber und Frau Dr. Reinl, aus der wir Zitate von
Jugendlichen zu ihren Erfahrungen mit Alkohol entnehmen durften. Ein Dank geht an Herrn Prof. Wolstein von der Universität
Bamberg für die Beratung in medizinischen Fragen und an Frau
Gaby Bartsch von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen
(DHS). Last but not least danke an das Team der Villa Schöpflin
für Anregungen und Unterstützung!
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Einleitung: Ein unverschleierter Blick auf den Alkohol
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Alkohol ist in unserer Gesellschaft fast ständig verfügbar und
wird früher oder später für die meisten Jugendlichen interessant. Gruppen von Jugendlichen auf Plätzen und in Parks, jeder
mit einer Flasche in der Hand, finden sich in jedem Ort. In
den Medien wird von einer steigenden Anzahl von Teenagern
berichtet, die mit einer schweren Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt werden müssen, und Eltern fragen sich: Ist
mein Kind gefährdet?
Alkoholische Getränke gehören seit Jahrtausenden zu unserem Alltag, zu rituellen Handlungen, zu unseren Mahlzeiten, zu
unseren Festen. Jede menschliche Gemeinschaft und jede Kultur
hat in ihrer Zeit und an ihrem Ort berauschende Mittel eingesetzt,
weil es ein tiefes menschliches Bedürfnis zu sein scheint, hin und
wieder »außer sich« zu sein, Fantasien zu leben und das Alltägliche hinter sich zu lassen. Aufgrund dieser tiefen Verwurzelung des
Alkoholkonsums in unserer Gesellschaft gibt es keine einfachen
Antworten, was zu tun ist, um Jugendliche zu schützen.
Grenzen im Umgang mit Alkohol müssen von den Eltern
definiert und auch begründet werden. Diese Grenzen müssen
von Müttern und Vätern selbst glaubwürdig vermittelt und ihre
Einhaltung muss vor allem vorgelebt werden. Und diese Grenzen
müssen gleichermaßen fest sein und doch flexibel. Eltern, die einen
Kasten Bier im Keller stehen haben oder zum Essen regelmäßig
ein Glas Wein trinken, tun sich schwer, ihren Kindern Alkohol
zu verbieten. Ein solches Verbot würde wenig glaubhaft wirken.
Aber ab wann ist es in Ordnung, dass das Kind in der feiernden
Runde mit Alkohol anstoßen darf oder dass bei der Geburtstagsparty auch Bier, Sekt oder Cocktails angeboten werden?
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Dieser Ratgeber gibt Eltern Hinweise, worauf sie in ihrer
Erziehung von Anfang an achten können, damit ihr Kind gesund
groß wird. Woran orientiert sich das Maß an Freiheiten und
Verantwortung, das Eltern ihrem Kind geben können? Was
heißt es, Vorbild zu sein? Was können Eltern konkret tun, damit die Risiken, die mit dem Trinken von Alkohol nun einmal
verbunden sind, nicht in eine Katastrophe münden? Wo müssen
sie klare Grenzen setzen, welche Regeln, welche Tipps können
sie ihrem Kind mit auf den Weg geben?
Irgendwann kommt in den meisten Familien der Tag, an dem
das Kind zum ersten Mal betrunken nach Hause kommt – wie
reagieren? Und welche Lösungen gibt es, wenn ein Jugendlicher
nicht nur in Ausnahmefällen betrunken ist, sondern regelmäßig?
Welche Anzeichen weisen auf eine drohende Suchtgefährdung
hin oder bereits auf eine Alkoholabhängigkeit? Wie können
besorgte Eltern mit ihrem Kind reden und wann ist der Weg in
eine Beratungsstelle zu empfehlen?
Damit Eltern ihren Kindern kompetente und hilfreiche Begleiter sind, finden sie in diesem Buch fundierte Informationen
zur Wirkungsweise und zu den Gefahren von Alkohol, zum Jugendschutzgesetz, zur Bedeutung des Alkohols in unserer Kultur
und unserem Alltag, zu den Ursachen einer Suchtentwicklung
und zu den Kriterien für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. Dieses Wissen hilft Eltern dabei, ihrem Kind im Gespräch
Klarheit zu vermitteln. Ein solches Wissen ist unverzichtbar.
Noch wichtiger zwischen Eltern und Kind sind aber gegenseitiges
Vertrauen und Offenheit.
Für Jugendliche hat der Konsum alkoholischer Getränke
vielfältige Bedeutungen. Alkohol und Rausch heißt für sie, sich
erwachsen zu fühlen, Spaß zu haben, Hemmungen zu verlieren
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und sich vielleicht zu trauen, dem Jungen oder Mädchen ihrer
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Träume ihre Liebe zu gestehen. Deshalb wollen wir Eltern aufzeigen, welche Rolle Alkohol für ihre Kinder bei den besonderen
Entwicklungsaufgaben der Jugendphase spielt.
Neben pädagogischen Erkenntnissen finden sich auch viele
Originalaussagen von Jugendlichen in diesem Buch, Aussagen
darüber, was sie bewegt, wenn sie Alkohol trinken oder sich
gar betrinken. Die Aussagen einer Gruppe von 15- bis 17-Jährigen, mit denen wir über das Thema diskutiert haben, fließen
genauso ein wie Zitate von Jugendlichen aus einer wissenschaftlichen Studie in Tübingen und Beispiele aus der Arbeit
mit Jugendlichen. Einige dieser Jungen und Mädchen mussten
mit einer schweren Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt werden. Im Rahmen des Präventionsprojekts »Hart
am LimiT – HaLT« werden Jugendliche und ihre Eltern in
solch einer Krise aufgefangen. Die meisten dieser Jugendlichen
haben kein Suchtproblem, auch wenn ein Alkoholexzess im
Krankenhaus endete. Der Schwerpunkt dieses Ratgebers liegt
entsprechend in der Prävention und nicht in der Therapie einer
Alkoholabhängigkeit.
Die Gedanken und Erfahrungen von Jugendlichen sollen für
Eltern ein Anreiz sein, mit den eigenen Kindern über Alkohol
ins Gespräch zu kommen. Nicht in erster Linie im Sinne eines
Erziehungsgesprächs, sondern in Form einer Einladung an ihr
Kind, von sich zu erzählen. Die meisten Jugendlichen wollen
über ihre Erfahrungen mit Alkohol berichten, sie wünschen
sich, dass Eltern ihnen in Ruhe zuhören, ohne gleich besorgt
zu mahnen oder angesichts von so viel Unvernunft den Kopf
zu schütteln. Sie suchen Orientierung, zumal dann, wenn diese
mehr verspricht als Verbote und spaßfeindliche Langeweile.
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Natürlich können und sollen Eltern auch ihre Sorgen äußern,
aber tun sie es zu laut und zu oft, wird das von ihrem Kind
leicht als Misstrauen verstanden und führt eher dazu, dass es
sich den Eltern gegenüber verschließt.
Wir sind überzeugt, dass Verbote in der Erziehung ihren
Platz haben und von Kindern auch akzeptiert werden, wenn
sie sinnvoll sind und sich auf konkrete Situationen beziehen.
Verbote allein sind aber keine Lösung. Das Ziel elterlicher Erziehung liegt darin, dass ihr Kind einen verantwortungsbewussten
Umgang mit Alkohol erlernt.
In vielen Familien geht es dabei nicht vorrangig um die Vermeidung einer Suchtentwicklung. Bei fast allen Jugendlichen besteht hingegen ein relativ großes Risiko, dass sie sich durch ihre
Neugierde, ihre Unerfahrenheit und ihre hohe Risikobereitschaft
erheblichen Schaden zufügen, vor allem durch alkoholbedingte
Unfälle oder Gewalt. Hierzu finden Eltern konkrete Erziehungs­
tipps: Was können sie ihrem Kind noch erlauben – und was auf
keinen Fall?
Jeder Ratgeber für Eltern steht in der Gefahr, den Druck, den
sich Eltern selbst schon machen, noch zu erhöhen. Auch unser
Buch greift das Ideal auf, wonach die Erziehung von Kindern
auf einem andauernden Aushandlungsprozess zwischen Eltern
und Kind beruht, bei denen die Bedürfnisse von Kindern einen
hohen Stellenwert haben. Gleichzeitig zeigt sich, dass gerade
dieses kontinuierliche Aushandeln im Alltag für Eltern sehr kräftezehrend ist. Unsere Empfehlungen sollen daher als Anregung
dienen, als eine Palette an Möglichkeiten, von denen Eltern
diejenigen auswählen, die zu ihnen und ihrem Kind passen und
die sich mit geringem Aufwand in den Alltag integrieren lassen.
Hin und wieder geben wir auch Hinweise, wie sich Eltern selbst
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Entlastung schaffen können und Verantwortung an Verwandte,
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Freunde – und an ihr Kind – abgeben.
Wenn sich Eltern große Sorgen machen, weil ihr Kind zu
viel trinkt, möchte das Buch ermutigen, sich Unterstützung bei
einer Beratungsstelle zu holen. Gemeinsam mit professionellen
Pädagogen, die nicht nur dem Kind helfen, sondern gleichzeitig
auch die Eltern entlasten, lässt sich systematisch an einer Lösung
des Problems arbeiten. Wir möchten Eltern ermutigen, sich dem
Thema »Alkohol« offen zu stellen und sich bei Problemen den
Lösungen ebenso offen zu nähern. Weder Wegschauen noch
Bagatellisieren ist eine Lösung.
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Suchtprävention im Elternhaus
Als in den Siebzigerjahren mit Suchtprävention begonnen wurde,
hieß die Maxime vorwiegend »Abschreckung«. Im Zentrum
standen die Suchtgefahren durch illegale Drogen. Verbreitet
waren nachgestellte Fotos von toten jungen Menschen in Bahnhofstoiletten, mit denen plakativ auf den elenden Tod durch
eine Überdosis Heroin – den »goldenen Schuss« – hingewiesen wurde. Das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo beschrieb
Drogenelend und Prostitution des Mädchens Christiane F. Ihr
Schicksal erschreckte – und faszinierte doch zugleich! Wie sonst
wäre es zu erklären, dass der Roman und der anschließende
Kinofilm so erfolgreich waren?
Diese Art von Suchtprävention hat die heutigen Eltern Jugendlicher stark geprägt. Immer wieder werden Experten an
Elternabenden zur Suchtprävention gefragt, wie Eltern reagieren
sollen, falls sie im Zimmer des Sprösslings Spritzbesteck finden,
wie es zur Injektion von Heroin verwendet wird. Wir können
Eltern beruhigen: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Jugendliche
Heroin injizieren, ist sehr gering. Und falls Eltern wirklich Spritzbesteck im Kinderzimmer finden, empfehlen wir ihnen, sich so
schnell wie möglich an eine Suchtberatungsstelle zu wenden.
Für Vorbeugung ist es dann jedenfalls zu spät.
Die Idee hinter den abschreckenden Beispielen Heroinabhängiger und todkranker Menschen ist auf den ersten Blick
schlüssig. Man wollte Jugendliche möglichst drastisch vor
möglichen Gefahren warnen und hoffte, dass sie angesichts
des hohen Risikos die Finger davon lassen würden. Dieser
Ansatz geht jedoch leicht nach hinten los, denn Gefahren haben besonders für Jugendliche einen hohen Reiz. Die eher
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vernünftigen und vorsichtigen Jugendlichen fühlen sich bestä-
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tigt, was ja eine gute Sache ist. Aber die Risikobereiten und
Experimentierfreudigen unter den Jugendlichen – und davon
gibt es viele – finden ja gerade die beschworene Gefährlichkeit
aufregend. Sie sind eher fasziniert und fühlen sich ermuntert,
die Wirkung mal zu testen.
Aus den Medien oder auch aus dem Bekanntenkreis kennen
Eltern genügend Beispiele von Jugendlichen, die durch Alkohol
und Drogen zu Schaden kamen. Wenn Eltern über die Probleme
reden und ihre Kinder warnen, kommen sie schnell in die Rolle
des »Predigers«. Ihre Kinder reagieren darauf mit Widerspruch,
gelangweilt oder genervt, denn der Alltag eines Teenagers sieht
ganz anders aus: Heroinabhängige kommen nicht vor, die Kiffer
in der Klasse prahlen und gelten obendrein als irgendwie cool.
Und wer von seinen Erlebnissen im Vollrausch berichtet, bekommt eher bewundernde Aufmerksamkeit als Kritik. Vielleicht
war der Sohn oder die Tochter schon einmal betrunken – und
erlebte einen überaus netten, lockeren und lustigen Abend. Was
bringen da die Warnungen der Eltern?! Und überall finden sich
Jugendliche – und Erwachsene –, die munter trinken, rauchen und
kiffen – und dabei ein schönes und langes Leben führen. Vernunft
ist ja so langweilig, dies gilt ganz besonders für Jugendliche, die
ihr Leben offenhalten wollen und gern experimentieren.
   EMPFEHLUNG    Wenn Eltern mit ihren Kindern über Drogen reden –
legale und illegale –, dann sollten nicht nur die Probleme und Gefahren
im Vordergrund stehen. Interessieren Sie sich für die Gedanken, die sich
Ihr Kind gemacht hat. Fragen Sie: »Was, glaubst du, ist so interessant
an Alkohol oder Cannabis? Da muss es Gründe geben, sonst würden es
ja nicht so viele Menschen ausprobieren.« Mit solch einer Einleitung
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eröffnen Eltern ein wirkliches Gespräch, in dem beide Seiten ehrlich
ihre Meinung sagen und von ihren Gedanken erzählen können.
Kinder stark machen
Abschreckende Beispiele und Warnungen allein nützten nicht
viel, das zeigte sich schnell auch in einer Reihe von wissenschaftlichen Studien. Wir wissen heute: Die beste Suchtprävention ist,
Kinder so zu erziehen und zu begleiten, dass sie möglichst stark
und ausgeglichen sind und ihr Leben ohne Drogen bewältigen
können. »Kinder stark machen, zu stark für Drogen«, heißt
der bekannte Slogan der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung.
Mit dieser Präventionsstrategie wurde erreicht, dass der
Blick nicht mehr auf die »böse, gefährliche Droge« gerichtet ist,
sondern auf den jungen Menschen, seine Erziehung und seine
Förderung – und diese geschieht vor allem im Elternhaus. Diese
umfassende Verantwortung für das Wohl und Wehe ihres Kindes
wird von vielen Eltern aber auch als großer Druck empfunden,
als Anspruch, in der Erziehung nur keine Fehler zu machen und
möglichst perfekt zu sein. Natürlich wollen alle Eltern ihrem
Kind ein liebevolles und fürsorgliches Zuhause bieten, sie wollen
unterstützend und konsequent sein. Aber Eltern machen Fehler
und können das, was ihnen in der Theorie durchaus einleuchtet,
im Alltag nicht immer umsetzen. Eltern sind manchmal müde
und ungeduldig und zuweilen auch unfair zu ihren Kindern –
auch wenn es ihnen hinterher leid tut.
Eltern setzen heute ohnehin sehr hohe Ansprüche an sich. Sie
vergleichen ihren Erziehungsalltag mit dem Ideal der perfekten
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Mutter oder des perfekten Vaters und sind mit sich oft unzufrie-
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den. Abgeleitet aus dem hohen Erziehungsideal im Elternhaus,
die Kinder stark zu machen, wurde zudem oft der – falsche –
Umkehrschluss gezogen: Gediehen die Kinder nicht vorbildlich
und hatten sie gar Probleme mit Drogen, mussten die Eltern etwas falsch gemacht haben. Das heißt: Die Eltern waren schuld!
Schuldgefühle verunsichern und lähmen. Kinder brauchen aber
Eltern, die für ihre nicht immer leichte Erziehungsaufgabe gestärkt
werden und nicht mit kaum erfüllbaren Ansprüchen konfrontiert
sind. Sehr prägnant formuliert es der dänische Pädagoge Jesper
Juul: »Eltern sollten für Kinder zwar wie ein Leuchtturm sein,
aber nicht perfekt und fehlerfrei. Perfektion ist die Hölle.«
   EMPFEHLUNG    Keine Mutter, kein Vater ist perfekt. Bleiben Sie gelassen.
Als ganz normale Eltern mit Stärken und Schwächen bereiten Sie Ihr
Kind auf das ganz normale Leben vor. Die Menschen und Situationen,
mit denen es Ihre Kinder zu tun haben, laufen auch nicht nach perfekten
Mustern ab. Das Leben ist voller Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten,
voller schlechter und – zum Glück! – auch voller guter Überraschungen.
Der Blick auf die legalen Drogen
Seit einigen Jahren stehen die Gefahren durch die legalen Drogen Alkohol und Zigaretten im Fokus von Präventionsanstrengungen, Medien und Politik. Da dies die verbreitetsten Drogen
der Erwachsenen sind, ist die heutige Diskussion auch ehrlicher.
Jugendliche sind kritisch und werden hellhörig, wenn sie Widersprüche bemerken. Was, ihr wollt uns was verbieten?! Ihr
trinkt doch auch Alkohol und raucht!
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Zigaretten sind statistisch vom Suchtpotenzial vergleichbar mit Heroin, wenn man den Anteil der Abhängigen mit der
Zahl derer vergleicht, die die Droge je probiert haben. Die Gesundheitsschäden und das durch Missbrauch und Abhängigkeit
hervorgerufene Leid für die Betroffenen und ihre Familien ist
bei jeder Sucht groß – siehe etwa die Zunahme der Lungenerkrankung COPD aufgrund lebenslangen Rauchens. Das heißt, es
ist nicht sinnvoll, unterschiedliche Drogen – legale oder illegale –
gegeneinander auszuspielen. Wenn ihr Konsum zu Problemen
führt, dann sollten wir uns damit auseinandersetzen.
Die Zahlen, die das Statistische Bundesamt 2008 vorlegte,
zeigen ein deutliches Übergewicht von Problemen mit allen legalen Drogen. Mehr als eine halbe Million Menschen sind jährlich
aufgrund des Missbrauchs von Alkohol, Zigaretten oder Medikamenten im Krankenhaus, bei illegalen Drogen sind es gut
38 000. Laut Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung
2009 gibt es in Deutschland fünfzigmal mehr Todesfälle durch
Alkohol (73 000) als durch illegale Drogen (1449).
Alkohol ja – aber mit Maß und Verstand
Suchtprävention im Elternhaus zielt nicht darauf ab, zu verhindern, dass Jugendliche ihre Erfahrungen mit Alkohol machen,
sondern darauf, dass sie sich dadurch nicht schaden. Das bedeutet konkret: Mit dem Trinken von Wein, Bier und Schnaps
sind immer auch Risiken verbunden, aber Jugendliche müssen
lernen, mit Alkohol so umzugehen, dass die Gefahren möglichst
gering gehalten werden. »Wenn du Alkohol trinken möchtest,
halte dich an bestimmte Regeln, um dir und anderen nicht zu
schaden.« Eltern unterstützen ihr Kind, indem sie ihm wichtige
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Informationen geben und gezielt auch mal Grenzen setzen, damit
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es sich nicht schadet. Dabei verändern sich die Erziehungsziele
der Eltern mit dem Alter ihrer Kinder. Während es zunächst
darum geht, Kinder vom Alkohol fernzuhalten, geht es später
darum, sie kritisch zu begleiten, wenn sie anfangen, mit Alkohol
zu experimentieren.
Alle Erziehung basiert auf Beziehung. Auch die besten Informationen und durchdachtesten Regeln ersetzen nicht Offenheit, Vertrauen und Achtung im Umgang miteinander, sondern
ergänzen diese.
Die starke Präsenz des Alkohols im Alltag macht es Eltern
oftmals schwer, gelassen zu diskutieren und klare Antworten
zu finden, wenn sie ihr Kind darauf ansprechen, dass es zu
viel trinkt. Bier, Wein und Spirituosen sind überall erhältlich und jederzeit verfügbar. Das Trinken ist zudem stark mit
unseren Lebensgewohnheiten verbunden und im kollektiven
Bewusstsein verankert. Kinder lernen nicht nur die deutsche
Sprache, Radfahren oder Schwimmen. Sie lernen auch, wie man
sich in Gemeinschaften verhält, wie man ein Fest feiert, den
Schulabschluss begeht, was Fröhlichkeit bedeutet und welche
Höhepunkte den Jahreslauf prägen. Deshalb reichen Hürden
von außen in Gestalt von Regeln, Gesetzen und Vorschriften
nicht aus, denn Heranwachsende sehen Eltern und Lehrer,
Ausbilder und Mitschüler, Vereinskameraden und Freunde
beim Trinken.
Beim Erlernen kultureller Gepflogenheit beim Trinken geht
es nicht um strikte Abstinenz, sondern darum, die Risiken
des Alkohols kennenzulernen und den Umgang an Regeln zu
orientieren. Jugendliche müssen wissen, was »ein bisschen«
bedeutet, was »hin und wieder« und »in Maßen« heißt. Die
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Grenzen zwischen lustvollem und genießendem Gebrauch und
dem (selbst)zerstörerischen Missbrauch sind fließender und
wesentlich schwerer zu ziehen als bei gesellschaftlich geächteten Drogen.
Wenn es um das »richtige« Maß geht, gibt es keine klaren
Grenzen. Da sind zum einen die Grenzwerte der Deutschen
Hauptstelle für Suchtfragen, die sich auf die Menge beziehen. Aber man sollte nicht nur die Menge im Auge haben,
sondern auch den Kontext. Wer mit dem Auto unterwegs ist
und verantwortlich handelt, sollte ganz auf Alkohol verzichten, auch wenn es eine Promillegrenze gibt. Und es ist für die
Risikoabschätzung auch etwas anderes, ob jemand allein vor
dem Fernseher seine Einsamkeit betäubt oder bei einem Familienfest einmal zu viel angestoßen hat. Immer dann, wenn die
Selbstkontrolle verloren geht, ist es eindeutig zu viel gewesen.
Wir werden darauf zurückkommen. Nur Eltern, die über die
Gefahren Bescheid wissen, ohne Alkohol zu verteufeln, und
die eine ehrliche und kritische Haltung zu Alkohol und ihrem
eigenen Umgang damit entwickelt haben, können ihren Kindern hilfreiche Begleiter sein.
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Was Eltern zum Thema »Alkohol« wissen sollten
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Was ist Alkohol?
Alkohol (der chemische Name ist Ethanol oder Ethylalkohol)
entsteht durch die Vergärung von Zucker beispielsweise aus
Früchten und Zuckerrohr. Je nach Ausgangsprodukt und Herstellungsprozess variiert der Alkoholgehalt eines Getränkes. Bier
enthält 4 – 8 Prozent Alkohol, Wein um die 12 Prozent. Diese
Gärungsprozesse kommen in der Natur immer wieder vor, auch
ohne Zutun des Menschen. Mehr als 15 Prozent Alkoholgehalt
entsteht durch natürliche Gärung allerdings nicht, hier ist so
etwas wie eine automatische Bremse eingebaut: Bei über 15 Prozent gehen die für die Gärung verantwortlichen Hefepilze ein.
Soll ein höherer Alkoholgehalt erzielt werden, muss der Mensch
eingreifen und den Alkoholgehalt durch zusätzliche Maßnahmen
erhöhen. Spirituosen, destillierte Alkoholika, können 50 Prozent
und mehr enthalten.
Sonderfall Methanol – ein tödliches Gift
Im Frühjahr 2008 berichteten die Medien vom tragischen Ende
einer Türkei-Klassenfahrt von Lübecker Jugendlichen. Drei
Schüler waren nach dem Konsum von Alkohol in ihrem Hotel
ins Koma gefallen und nicht mehr erwacht. Während zunächst
davon ausgegangen wurde, dass allein die getrunkene Menge
Alkohol zum Tode geführt hatte, stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass die Jugendlichen illegal hergestellten Alkohol
getrunken hatten. Was war daran das Gefährliche?
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Bei der alkoholischen Gärung entsteht immer Ethanol (die
erwünschte Substanz) und Methanol, ein giftiges Nebenprodukt. Um Spirituosen herzustellen, wird der Alkohol destilliert,
wodurch sich die Konzentration von Ethanol und Methanol
deutlich erhöht. Methanol wird beim Destillieren üblicherweise
systematisch entfernt, indem der Vorlauf, in dem sich das Methanol befindet, abgetrennt wird. Bei der illegalen Alkoholherstellung im oben beschriebenen Fall wurde aus Nachlässigkeit
oder auch Profitsucht die Entfernung des Methanols unterlassen – was zum tödlichen Ende der Urlaubsparty führte.
Was bewirkt Alkohol im Körper?
Alkohol ist eine chemische Substanz (C2H5OH) und wirkt
auf verschiedenste Stoffwechselprozesse im Körper. Über die
Schleimhäute im Dünn- und Dickdarm gelangt der Alkohol in
den Blutkreislauf und darüber in alle Organe, auch ins Gehirn.
Dort beeinflusst er die Funktion der sogenannten Neurotransmitter, chemischen Substanzen, die die Übertragungsvorgänge
im Gehirn steuern und unter anderem für unsere Emotionen,
unsere Motorik, aber auch für das Gleichgewicht innerer Körperprozesse verantwortlich sind. Die höchste Alkoholkonzentration im Blut wird etwa eine Stunde nach dem Konsum
erreicht.
Wie alle Substanzen, die dem Körper zugeführt werden,
wird auch Alkohol um- und abgebaut. Beim Alkohol geschieht
dies in zwei Stufen: Zunächst verwandelt das körpereigene Enzym ADH den Alkohol in den sehr toxischen, das heißt giftigen
Stoff Acetaldehyd. Ein Großteil des Acetaldehyds wird jedoch
in einem nächsten Schritt rasch durch ein weiteres Enzym mit
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dem komplizierten Namen Acetaldehyddehydrogenase (AIDH)
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in harmloses Acetat verwandelt. Leider nicht vollständig: Die
Reste des Acetaldehyds machen sich nach dem Trinken großer Alkoholmengen am nächsten Tag als Kater mit Übelkeit
und Kopfschmerzen bemerkbar. Andere Abbauprodukte des
Alkohols werden über den Schweiß, den Urin und den Atem
ausgeschieden und führen zum recht unangenehmen »typischen«
Mund- und Körpergeruch von Betrunkenen.
Dieser mehrstufige Abbauprozess funktioniert bei den meisten
Mittel- und Osteuropäern, bei rund der Hälfte der Asiaten jedoch
nicht. Sie verfügen nicht über das AIDH-Enzym, das die toxischen
Inhaltsstoffe des Alkohols schnell in harmlosere umwandelt. Dadurch reichert ihr Körper das Gift an; sie fühlen starkes Unwohlsein, bekommen ein knallrotes Gesicht, beginnen zu schwitzen ...
und stellen das Trinken deshalb meist nach ein paar Gläsern ein.
Übrigens wird die Bildung dieses Abbau-Enzyms AIDH auch bei
Mitteleuropäern erst durch das Trinken von Alkohol stimuliert.
Bei Menschen, die überhaupt nicht an Alkohol gewöhnt sind,
insbesondere bei Kindern, wirkt Alkohol daher wie ein Gift.
Stimmungsmacher Alkohol
Kinder und Jugendliche beobachten sehr genau, wie Erwachsene
mit Bier, Wein und Schnaps umgehen und wie sich Menschen
und Situationen verändern, wenn Alkohol im Spiel ist. Ihre
Erwartung, wie Alkohol wirkt, orientiert sich deshalb nicht nur
an ihrer konkreten eigenen Erfahrung, sondern an dem, was sie
davor in einer Beobachterrolle mitbekommen haben. Wir stellten
in einer Diskussionsrunde 15- bis 17-Jährigen die Frage: »Das
erste Mal Alkohol, wie war das bei euch?«
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Die Antworten waren entlarvend, verblüffend und manchmal erschreckend.
Pascal: Das war echt lustig. Der Rausch war echt geil. Man ist so lo­
cker und macht allen Scheiß mit. Mein Bruder hatte mir erzählt,
dass es cool ist, etwas zu trinken, dass man dann gut drauf ist.
Es stimmt, man ist offener als sonst. ■
Kristina: Das erste Mal betrunken war ich nach einem Geburtstag.
Ich war 13. Einfach so, das war nicht geplant. Ich hatte mit
meiner Freundin zuvor schon was getrunken und dann gab es
noch mal was zu trinken. Das war ganz normal. Irgendwann
muss man die Erfahrung mal machen. Ich fand es auch total
toll, denn mir war nichts peinlich. ■
Marcel: Ich war einfach total happy, alles war so lustig. ■
Cinderella: Bei mir war es an Silvester, ich war 13. Da haben wir
zusammen gefeiert, ein paar Freundinnen. Wir haben in der
Familie angefangen. Da standen die Sektflaschen auf dem Tisch,
alle haben getrunken und ich wollte das auch mal erleben. Ich
wollte mich nur locker trinken, nicht betrunken sein. Aber irgendwann stand auch Wodka auf dem Tisch und dann habe
ich auch Wodka getrunken.
Schon bevor Cinderella je Alkohol trank, hatte sie eine Vorstellung, wie er wirkt: »Meine Schwester hatte gesagt, als ich
mal nicht so gut drauf war: Komm, trink mal ein Glas, denn
geht es dir besser. Ich habe mich dann auch so gefühlt, wie ich
es erwartet hatte. Alles war locker.« ■
Laurent: Das ersten Mal war beim 18. Geburtstag meines Cousins.
Da war ich 12. Es war ein Familienfest, meine Eltern waren
auch dabei. Wir haben alle angestoßen, erst mit dem, dann mit
jenem. Ich habe mir das nur abgeschaut, wie die das machen.
Dann ging alles ganz schnell. Am Ende war ich knüppelvoll
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und konnte nicht mehr stehen. Meine Mutter musste mich nach
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Hause fahren und in jeder zweiten Kurve anhalten. Mir war
furchtbar schlecht. ■
Tom: Beim ersten Mal war ich 12. Es war kurz vor meinem 13. Ge-
burtstag. Ich hänge viel mit Älteren herum und die haben halt
gemeint: Hey, komm, wir gehen saufen zu deinem Geburtstag.
Ich weiß nicht, warum, ich wollt’s einfach mal tun. Ich wollt’s
mal ausprobieren. Keine Ahnung. Man muss ja alles im Leben
mal ausprobieren. ■
Natalie: Das erste Mal war bei einem Geburtstag. Ich war 15. Wir
haben dort ein bisschen was getrunken und ich bin zu meinem
Freund. Dort haben wir noch Wodka mit Cola getrunken. Zuerst war es total lustig und ich musste ständig lachen. Das weiß
ich noch. Dann bin ich im Flur der Wohnung zusammengebrochen. Ich habe hyperventiliert und bin in Ohmacht gefallen und
war nicht mehr ansprechbar. Mein Freund hat den Notarzt
gerufen und der hat mich ins Krankenhaus einliefern lassen.
Nachträglich finde ich es gut, dass sie mich ins Krankenhaus
haben bringen lassen. Aber als ich dort aufgewacht bin, habe
ich mich total gewundert. ■
Alkohol beeinflusst körperliche und psychische Reaktionen.
Nach Alkoholgenuss erweitern sich die Blutgefäße, der Mensch
fängt an zu schwitzen, die Haut rötet sich. Doch das Schwitzen
trügt. Man fühlt sich zwar warm, aber durch die erweiterten
Blutgefäße gibt der Körper in einem Schub sehr schnell viel
Wärme ab. Bei kühlen Temperaturen kann es daher zu lebensbedrohlichen Unterkühlungen kommen, wenn Betrunkene draußen
einschlafen. Körperliche Reaktionen wie Schwanken, eine ungeschickte Koordination, langsamere Reaktionen oder eine undeutliche Aussprache (Lallen) sind typisch für einen Menschen,
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der betrunken ist. Sie gehen auf die dämpfende Wirkung des
Alkohols zurück. Im Straßenverkehr ist besonders die verzögerte
Reaktionsfähigkeit sowie die Einschränkung des Hörens und
Sehens (Tunnelblick) gefährlich.
Dass Alkohol auch die Gefühle beeinflusst, macht den Konsum – neben dem Geschmack – für viele Menschen so angenehm.
In geringen Mengen wirkt Alkohol entspannend und leicht stimmungsaufhellend: Wer mag es nicht, wenn nach einem harten
Arbeitstag bei einem Glas Rotwein alle Anspannung des Tages
abfällt? Alkohol regt zudem die Ausschüttung körpereigener
»Glückshormone« an, insbesondere Endorphine und Dopamin.
Die enthemmende Wirkung ist besonders für Jugendliche interessant, die sich gerade im Umgang mit Gleichaltrigen häufig unter
Druck setzen und besonders cool und locker wirken wollen.
Ein 16-Jähriger in unserer Diskussionsrunde berichtete, wie
er das bei seinen Kumpels erlebt: »Ein Freund von mir ist sonst
sehr schüchtern und verkrampft, aber wenn er was getrunken
hat, dann wird er richtig locker. Ein anderer Freund ist total
ängstlich, aber wenn er was getrunken hat, dreht er auf.« Mit
dieser Enthemmung geht eine gesteigerte Risikobereitschaft einher, Gefahren werden ignoriert oder unterschätzt. Jugendliche,
die ohnehin leichter Risiken eingehen als Erwachsene, um sich
oder anderen ihren Mut zu beweisen, bringen sich in Situationen,
die lebensgefährlich sein können. Rund 25 Prozent aller Todesfälle unter jungen Männern in Europa gehen auf das Konto von
Alkohol, viele Unfälle sind dieser riskanten Kombination von
hoher Risikobereitschaft und alkoholbedingten körperlichen
Beeinträchtigungen geschuldet.
Bei steigender Alkoholkonzentration verstärkt sich die Wirkung. Wer gelöst und entspannt wird, kontrolliert zunehmend
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weniger seine Emotionen, was dann zu erhöhter Aggressivität
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führen kann, manchmal auch zu besonderer Wehleidigkeit.
Melanie: Ich fange dann immer an zu heulen. Ich bin erst einmal
total depressiv. Da kommen meine ganzen Sorgen raus, das
überkommt mich und ich fange an zu heulen. Danach gehe ich
zu jemandem und sage, was nicht gut ist und was scheiße ist
und so. Ich habe das Gefühl, das tut mir gut, da fühle ich mich
dann richtig erleichtert. Und nach fünf Minuten höre ich damit
auf und es ist wieder voll lustig. Wenn ich nüchtern bin, kann
ich das nicht, einfach zu jemandem hingehen und sagen, warum
es mir scheiße geht und was mir nicht gefällt. ■
Patrick, der schon oft betrunken war, hat eine eigene Theorie entwickelt: »Ich weiß inzwischen, dass ich bei Whisky eher
fröhlich werde und bei Wodka aggressiv.« Da die chemische
Substanz Alkohol die Gefühle beeinflusst und nicht die je spezifischen Zusätze einzelner Getränke, kann solch ein Wirkungsunterschied von wissenschaftlicher Seite nicht bestätigt werden.
Auch die Unterscheidung zwischen Wein – entspannt – und
Schnaps – macht aggressiv – ist lediglich auf die unterschiedlich
hohe Alkoholkonzentration im Blut zurückzuführen.
In sehr hoher Konzentration oder bei Jugendlichen, die
wenig an Alkohol gewöhnt sind, kommt es zum vollständigen
körperlichen Kontrollverlust. Sie können nicht mehr stehen,
liegen reglos und reagieren auch nicht auf direkte Ansprache.
Ihr Bewusstsein ist getrübt, am nächsten Tag können sie sich
an nichts erinnern. Dieser sogenannte »Filmriss« kommt sehr
häufig bei Jugendlichen vor, die mit einer Alkoholvergiftung
ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Oft lässt sich erst durch
Schilderungen von Freunden oder Erwachsenen, die den Notarzt
gerufen haben, rekonstruieren, was am Abend zuvor eigentlich
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geschah. Doch auch Jugendliche ohne solch ein lebensgefährliches Erlebnis kennen einen Blackout nach zu viel Alkoholkonsum.
Pascal: Klar, da kann am nächsten Tag jemand kommen und mir alles
Mögliche erzählen. Angst, dass mir was Schlimmeres passiert,
habe ich nicht. Ich habe immer ein paar Kollegen dabei, die
darauf schauen, dass nichts passiert. Aber wir sind auch schon
in ein Auto eingestiegen und nach Hause gefahren – ich weiß
nicht, wie viel der Fahrer getrunken hatte. ■
Peter: Nach meinem ersten Filmriss kam ich zu mir und dachte:
Holla, wo bin ich, was war los? Da hatte ich auch Schiss. Aber
beim zweiten Mal war es scheißegal. ■
Neben dem Gedächtnisvermögen des Gehirns beeinträchtigen große Alkoholmengen auch lebenswichtige Körperfunktionenen wie Atmung und Herzschlag, was zum Atemstillstand
oder Tod durch Herzversagen führen kann. Immer wieder hören
wir von Ärzten, dass Jugendliche mit einer Alkoholvergiftung in
der Nacht beatmet oder ihr Herz mit einem Defibrillator wieder
zum Schlagen gebracht werden musste.
Eine Mutter erhielt in der Nacht einen Anruf, dass ihre
Tochter von einer Party am Baggersee mit dem Krankenwagen
in die Kinderklinik gebracht worden sei. Sofort eilte sie mit ihrem Mann ins Krankenhaus, um auf ihr Kind zu warten. Bange,
lange Minuten vergingen, der Krankenwagen sollte schon längst
da sein. Auf ihre Bitte hin setzte sich das Klinikpersonal telefonisch mit der Ambulanz in Verbindung und erfuhr, dass das
Mädchen auf dem Weg ins Krankenhaus einen Herzstillstand
hatte und wiederbelebt werden musste. Auch eine Woche nach
dem Vorfall war die Mutter noch völlig außer sich. »Das war
die schlimmste Nacht unseres Lebens.«
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