Im Fokus „Depression und Sexualität“ 10 Medical Tribune public 3/2008 Fehlende Sexualität schafft Leiden Wie entsteht Lust? „Dazu habe keine Lust.“ Wer das sagt, möchte etwas nicht machen – zum Beispiel ins Kino gehen oder etwa auf einen Berg steigen. Bleibt man dann davon verschont, geht es einem besser. Das gilt mit einer Ausnahme: der Sexualität. Wer keine Lust auf Sex hat und deshalb darauf verzichtet, dem geht es meist nicht gut. Denn die betroffenen Personen identifizieren sich nicht mit ihrer Lustlosigkeit, sondern stehen unter einem Leidensdruck. „Der Grund liegt darin, dass die Sexualität eine Art von Genuss erlaubt, die mit nichts anderem gleichzusetzen ist. Andere Genussformen sind zwar auch sehr schön, ihnen fehlt aber unter anderem die körperliche intime Verbundenheit, welche die Sexualität auszeichnet. Die ist nun mal einzigartig“, erklärt Professor Dr. Henning Schauenburg von der Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin der Universität Heidelberg. So leiden etwa viele Depressive darunter, dass sie nicht wie gewohnt geniessen. Versuchen die Betroffenen es dann trotzdem, kann das weiter frustrieren. „Es ist nervtötend“, erzählte eine Frau, die von der bekannten Sexualtherapeutin Dr. Helen Singer-Kaplan aus New York interviewt wurde. „Jetzt muss er mich stundenlang bearbeiten, bis ich überhaupt anfange, etwas zu empfinden; und selbst dann ist es nicht weltbewegend.“ Die Empfindungen konzentrieren sich dann zudem auf die Geschlechtsorgane. Das „ganzheitliche“ Erlebnis fehlt. Dr. Singer-Kaplan hat ein Modell entwickelt, das illustriert, wie sexuelle Lust entsteht. Demnach ist sexuelles Verlangen ein Überlebenstrieb, der aber durch Regulationszentren im Gehirn verstärkt oder abgeschwächt werden kann. Verstärkt wird die sexuelle Lust durch einen attraktiven Partner, eine erotische Stimulation, Phantasie, Liebe und auch durch das Begehren des Partners. „Die körperliche intime Verbundenheit, die Sexualität auszeichnet, ist einzigartig.“ Aber genauso gibt es auch hemmende Faktoren. Ein unattraktiver Partner, negative Gedanken oder Emotionen sowie Stress und Ärger können dazu führen, dass die sexuelle Erregung abgeschwächt wird oder gar nicht erst in Gang kommt. Dieses „Antriebs- oder Bremssystem“ ist aber, was die Wahrnehmung des Partners betrifft, sehr subjektiv – sonst würden sich ja nur Mr. und Mrs. Perfect attraktiv finden. Befragungen haben gezeigt, wie es überhaupt möglich ist, angesichts all der Unvollkommenheit eines Menschen einen Partner attraktiv zu finden. Offensichtlich nimmt man beim entsprechenden Gegenüber die anziehenden körperlichen Eigenschaften bzw. auch Verhaltensarten sehr selektiv wahr und konzentriert sich stark auf diese. Das kann der wohlgeformte Po, die ausgesuchte Herzlichkeit oder das Glänzen der Augen beim Lächeln sein – dass der Busen kleiner oder die Beine kürzer sind als das Ideal, wird ausgeblen- Eine ehemals depressive Patientin erzählt: „Ich habe mich vor der Nähe geekelt – aber die Sexualität gebraucht” „Ich hatte zehn Jahre lang mit einer Depression zu tun. Heute kann ich darüber reden, aber damals habe ich nur geheult und war anderen Menschen gegenüber sehr verschlossen. Trotzdem habe ich die Sexualität gebraucht. Sie war ein Mittel, um mich zu regulieren und starke innere Spannungen abzubauen. In akuten Traurigkeitsphasen war die sexuelle Begierde zwar weg, doch in den langen Grauzonen hat sie mir geholfen. Allerdings war eine reale Sexualität nicht möglich. Es gab eine innere Sperre zwischen mir und anderen Menschen, ich habe mich vor dem Nahesein geekelt. Durch meine Ar- beit und später in der Klinik habe ich immer wieder attraktive Männer kennengelernt. Aber ich konnte nicht mit ihnen flirten. In einer Depression denkt man: ‚Ich bin nichts und ich möchte auch nichts sein.’ So kann man niemanden für sich begeistern. Doch ich habe die Männer wahrgenommen und sie in sexuelle Phantasien verwandelt. Die Vorstellungen haben mir bei der Selbstbefriedigung geholfen. Im Nachhinein betrachtet war das schon ein sehr gespaltener Zustand, Lust auf Sex zu haben, aber diese nicht mit einem Menschen teilen zu können.” det. Der Zustand des Verliebtseins, der chemische Veränderungen im Gehirn mit sich bringt, erleichtert diese Selektion. Hat man hingegen die Lust am anderen schon verloren, scheint man sich nur noch auf die unattraktiven Eigenschaften und Merkmale zu konzentrieren. Dann kommt die Erregungsschleife natürlich nicht in Gang. Ein solcher Mechanismus spielt auch bei der viele Depressionen begleitenden Lustlosigkeit eine grosse Rolle. Neben diesen psychologischen können allerdings auch körperliche Faktoren die Lust hemmen. Dies sind hormonelle Störungen, chronische Erkrankungen oder bestimmte Medikamente. Von daher ist es wichtig, sich bei Medikamenteneinnahme, wenn das Lustempfinden schwindet, dem Arzt anzuvertrauen. Oft gibt es dann – auch bei einer Depression – Alternativen, die das Lustempfinden nicht beeinträchtigen. Dr. Beatrice Wagner Menschen mit Depression leiden meistens sehr darunter, dass sie Sexualität nicht geniessen können. Foto: iStockphotos.com/Alex Gumerov Interview mit Dr. Günter Gerhardt, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapeut Was lässt die sexuelle Lust auf den Partner verlieren? vielen Paaren hört man, ? Von dass sie im Laufe der Jahre immer weniger Lust aufeinander empfinden. Ist das der normale Verlauf der Leidenschaft? Dr. Günter Gerhardt: Man muss unterscheiden, ob bei zwei Menschen nur das überbordende sexuelle Verlangen aufeinander nachgelassen hat oder ob sie ganz aufhören, miteinander Sex zu haben. Es ist aber sicher machbar, in einer Partnerschaft die sexuelle Anziehungskraft trotz Gewöhnung über die Jahre hinweg zu erhalten. geht das? ? Wie Dr. Günter Gerhardt: Zuerst einmal müssen die Grundvoraussetzungen stimmen. Die beiden Partner müssen sich mögen oder lieben. Dann ist es wichtig, dass der Schalter der selektiven Wahrnehmung nicht umgeklappt wird, dass man es also immer wieder schafft, den Fokus der Aufmerksamkeit auf das zu richten, was gefällt. Oft aber nimmt man am langjährigen Partner nur noch das wahr, was einem nicht gefällt – sowohl an Verhaltensweisen als auch an körperlichen Merkmalen. Wollen Sie den Kreislauf der sexuellen Erregung wieder in Gang setzen, müssen Sie sich auf die Besonderheiten konzentrieren, die Sie von Anfang attraktiv fanden. Das kann die Art sein, wie Sie angeschaut oder angefasst werden oder die Form der Hände, der hervorstehende Po oder der Geruch. Von Vorteil ist es, wenn die Attraktivität von Anfang an auf mehreren Ebenen bestanden hat. ? Aber selbst wenn mein Partner dadurch weiterhin attraktiv bleibt, so erwartet mich dennoch das immer gleiche Repertoire an sexuellem Verhalten? Dr. Günter Gerhardt: Genau das sollte nicht der Fall sein. Neuartige Verhaltensweisen, vielseitige Stellungen, Flexibilität für die Wünsche des anderen und Phantasie auch im Erzählen von anmachenden Geschichten sind einige Möglichkeiten gegen lähmende Routine. sprachen aber auch von ? Sie der plötzlich auftretenden Lustlosigkeit? Dr. Günter Gerhardt: Ja, die tritt beispielsweise dann auf, wenn zwei Menschen in ihren sexuellen Vorstellungen nur einen schmalen Kompromiss gefunden haben. Beispiel: Ein Partner braucht für sexuelles Begehren die absolute Dominanz, der oder die andere findet das experimentell interessant, würde aber auch gerne mal die Rollen tauschen. Das kann für den sexuell dominanten Partner das Ende der Lust bedeuten. Und weiterhin können auch schwere Be- ziehungskrisen, Angst vor dem Gegenüber oder innere Zerrüttung der Partnerschaft das Ende der Leidenschaft bedeuten. es auch eine organische ? Gibt Lustlosigkeit? Dr. Günter Gerhardt: Ja, natürlich. Die hauptsächlichen Störfaktoren sind Nebenwirkungen von Medikamenten. In meiner Praxis waren ausserdem schwere Depressionen immer mit Lustlosigkeit verbunden. Es gibt allerdings verschiedene Formen einer Depression: Bei der manisch-depressiven Form schwankt der Patient zwischen einem Zustand der Gefühlslähmung und des Gefühlsüberschwangs. Der Überschwang, die manische Phase, ist meist mit einem gesteigerten Lusttrieb verbunden. Aber in der depressiven Phase ist kaum ein Gedanke an Sexualität vorhanden. Hinzu kommt, dass ältere Antidepressiva, die sogenannten Trizyklika, meist zusätzlich sexuelle Lustlosigkeit verursachen. Ich habe allerdings auch beobachtet, dass Patienten, bei denen die Depression mit anderen Psychosen einhergeht, verstärkte Lust haben, wie zum Beispiel bei Borderline oder Schizophrenie. Diese Menschen verschaffen sich mit Hilfe der Sexualität immer wieder Lebensgefühle; sie können die Sexualität therapeutisch einsetzen. Interview: Dr. Beatrice Wagner
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