Hubert Fehr Philipp von Rummel Was war die Völkerwanderung? In vielen populären Geschichtsdarstellungen erscheint die Völkerwanderung als besonders gewalttätige Epoche. Fellbekleidete Horden überrennen die römischen Grenzen, wilde Krieger mit Hörnerhelmen demütigen besiegte römische Generäle und hilf lose Senatoren in wehenden Togen – und vernichten schließlich die antike Zivilisation. Doch was geschah wirklich am Ende der Antike? Neuere Forschungen haben gezeigt, dass man die Völkerwanderung nicht los- Der Wiener Gelehrte Wolfgang Lazius (1514– 1565) veröffentlichte 1557 das Werk „De gentium aliquot migrationibus“, das maßgeblich dazu beitrug, den Begriff „Völkerwanderung“ in der mitteleuropäischen Geschichtsschreibung zu etablieren. gelöst von der inneren Entwicklung des Römischen Reiches sehen kann. Ein europäischer Geschichtsmythos Das Interesse an der sogenannten Völkerwanderung ist ungebrochen. Das dürfte mehrere Gründe haben: In kaum einer anderen Epoche durch liefen Europa und die Mittelmeerwelt derart dramatische Umwälzungen in nahezu allen Lebensbereichen, nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in Religion, Gesellschaftsstrukturen und Alltagskultur. In vieler Hinsicht wurden in dieser Zeit historische Weichen gestellt, wel che die Entwicklung in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten prägten – in manchen Fällen sogar bis heute. Nicht wenige europäische Staaten und Regionen der Gegenwart tragen Namen, die erstmals wäh rend der Völkerwanderung belegt sind. Erinnert sei nur an die Länder der Angeln (England), Franken (Frankreich, Franken), Burgunder (Bour gogne) und Langobarden (Lombardei) oder an die deutschen Bundeslän der Sachsen, Thüringen und Bayern. Auch im Religiösen reichen manche Wurzeln bis zur Völkerwanderung zurück. So war etwa das Bekenntnis der Franken, Langobarden und weiterer Stammesgruppen zum katho lischen Christentum eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die 6 7 Links: „Plünderung Roms durch die Vandalen 455“ von Heinrich Leutemann. Der Abtransport von Statuen, Aristokratinnen und dem jüdischen Tempelschatz ist durch Prokop überliefert, das Aussehen der Vandalen mit langen Bärten, Fellen und Flügelhelmen jedoch Fantasie des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts. Ein europäischer Geschichtsmythos Was war die Völkerwanderung? ses während des Mittelalters und der Neu zeit große Teile des europäischen Kontinents prägen konnte. Gleichzeitig rührt die Faszination der Völkerwanderung daher, dass sie immer wieder als Projektionsfläche für unse re Gegenwart dient, für aktuelle Probleme und Ängste, aber auch Utopien. Besonders bei Wirtschaftskrisen oder Debatten über M igration und Integration fremder Bevöl kerungsgruppen werden gern Parallelen zur Völkerwanderung gezogen. Diese beeinflus sen und verzerren unser Bild der Vorgän ge bis heute. Ist die Völkerwanderung tat sächlich ein Musterbeispiel dafür, welches Schicksal einer hoch entwickelten Zivilisation droht, wenn sie sich des Ansturms besitzgieriger Neuankömmlinge nicht mehr zu erwehren weiß? Zweifellos gehört die Völkerwanderung zu den großen Mythen der europäischen Geschichte. Die Wurzeln dieses Mythos reichen zurück bis zur Renaissance. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert galt sie im europäischen Geschichtsbewusstsein als grundlegender Einschnitt – in den letzten Jahren mehren sich jedoch Stimmen, die das grundsätzlich in Frage stellen. Von Anfang an besaß der Begriff „Völkerwanderung“ eine Doppel bedeutung: Einerseits bezeichnete man damit ein bestimmtes histori sches Ereignis, nämlich die Niederlassung auswärtiger Kriegergruppen auf dem Boden des sich auflösenden römischen Imperiums, andererseits meinte man damit die Epoche, die das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters markiert. Lange Zeit empfand die Forschung diesen Dop pelcharakter nicht als problematisch, denn man nahm an, dass zwischen beiden Bedeutungsebenen – Ereignis und Epoche – ein unmittelbarer Zu sammenhang besteht: Die Ansiedlung der Kriegerverbände von jenseits der Reichsgrenzen und ihre Staatsgründungen auf dem Gebiet des west lichen Imperiums galten als wichtigste Ursache für das Ende des Römi schen Reiches und damit den Zusammenbruch der antiken Zivilisation. Wie in diesem Buch deutlich wird, ist der Begriff Völkerwanderung problematisch, da er mit einer Vielzahl von Nebenbedeutungen verbunden ist, die aus heutiger wissenschaft licher Sicht nicht mehr plausibel erscheinen. In diesem Buch ist er durchgehend in einem sehr weiten Sinne gemeint, nämlich als Summe der Ereignisse in der Spätantike und im beginnen den Frühmittelalter, die mit der Zuwanderung fremder Bevölkerungsgruppen auf den Boden des Römischen Reiches zusammenhängen sowie mit der Herausbildung von dessen Nachfolge staaten. 8 Wandernde Völker? Aus heutiger Sicht sind beide Bedeutungsebenen fragwürdig geworden. Dass im betreffenden Zeitraum tatsächlich ganze „Völker“ „wanderten“, erscheint der aktuellen Forschung eher zweifelhaft. Bei manchen Grup pen, die in den Quellen genannt werden, handelte es sich wohl eher um Militärverbände, die zeitweilig der Kontrolle der römischen Zentral regierung entglitten waren, und nicht um ganze Volksgruppen, in denen Männer und Frauen, Alte, Erwachsene und Kinder gemeinsam auf der Suche nach einer neuen Heimat umherzogen. Eine Hauptschwierigkeit bei der Erforschung der Völkerwanderungs zeit ist, dass wir nur zu einem Teil der Wanderungsereignisse verläss liche zeitgenössische Schriftquellen besitzen. Auch die Archäologie hilft hier nur begrenzt weiter, da die archäologischen Funde weniger kurzfris tige politische Ereignisse widerspiegeln als vielmehr langfristig wirk same wirtschaftliche Entwicklungen und kulturelle Orientierungen. Mitunter entdeckt man selbst in Regionen, in denen historisch gut be zeugte Ansiedlungsvorgänge stattfanden, trotz angestrengter Suche kei ne Funde, die mit den Neuankömmlingen unmittelbar in Verbindung gebracht werden könnten. Dies gilt zum Beispiel für die gotischen Grup pen, die 418 im heutigen Südwestfrankreich angesiedelt wurden, oder die Burgunden, die bis 443 am Mittelrhein ansässig waren. Nicht wenige vermeintlich gesicherte Völkerverschiebungen kennen wir nur aus wesentlich jüngeren mythischen Erzählungen, etwa die Wanderung der Goten vom heutigen Nordpolen an die nördliche Spätantike Argonnensigillata aus Herxheim bzw. Zweibrücken- Niederauerbach. In der Völkerwanderungszeit ging die massenhafte Produktion von Gebrauchsgütern in großen Werkstätten für einen überregionalen Markt stark zurück. 9 Was ist ein Volk? Das Hermannsdenkmal bei Detmold (Kr. Lippe) wurde 1875 fertig gestellt. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich allgemein die Vorstellung durch, die Germanen seien die eigentlichen Vorfahren der Deutschen gewesen – obwohl auch Römer, Kelten und Slawen in der Frühgeschichte ebenfalls weite Teile des heutigen Deutschland bewohnten. ÜBERSCHRIFT ÜBERSCHRIFT W Ungeachtet der Tatsache, dass die Existenz von Völkern in der beschriebenen Form weder in der Gegenwart noch in früheren Epochen nachzuweisen ist, schrieb die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert unsere Vergan genheit zu einer Geschichte der Völker und Stämme um. Völker galten ihr als eigentliche Akteure des historischen Geschehens, die nacheinander auf der Bühne der Weltgeschichte auftraten, sich dramatisch bekämpften, um zu siegen oder unterzugehen. Die nationale Geschichtsschreibung instrumentalisierte die Epoche der Völ kerwanderung in besonderem Maße. Einerseits sah eine ganze Reihe moder ner Staaten in Europa bestimmte völkerwanderungszeitliche Gruppen als un mittelbare Vorfahren an. Die Gelehrten aus diesen Ländern ergriffen in ihren Geschichtsdarstellungen deshalb häufig Partei für eine bestimmte Gruppe, deutsche Historiker und Archäologen beispielsweise für „die Germanen“. An dererseits reduzierte man das chaotische, vielstimmige und nicht zielgerich tete Geschehen der Völkerwanderung auf ein einheitliches Motiv, nämlich die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Völkern. Heute wissen wir, dass dies als historisches Erklärungsmuster in die Irre führt. Hinter den schriftlich überlieferten Gruppenbezeichnungen wie „Goten“ oder „Franken“ verbergen sich keine langlebigen, unveränderlichen Einheiten, son dern sich ständige wandelnde Interessengemeinschaften, die vor allem durch gemeinsame Ziele zusammengehalten wurden. Mitunter besaßen diese zwar eine gemeinsame Sprache und Religion sowie einen gemeinsamen Abstam mungsglauben – zumindest ihre Kerngruppen –, mussten es aber nicht. Daher ist in jedem Einzelfall zu prüfen, was ein „Volk“ tatsächlich ausmachte. n ie schon der Name nahe legt, ist der Begriff „Volk“ von einiger Bedeutung für das Verständnis der Völkerwanderung. Obwohl inhaltlich äußerst un scharf, bildet er gegenwärtig einen selbstverständlichen Teil unserer politischen Vorstellungswelt. Häufig versteht man unter einem Volk eine klar abgrenzbare Menschengruppe, die ein bestimmtes Territorium bewohnt und sich durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale von benachbarten Völkern unterscheidet: ge meinsame Sprache, spezifische „Kultur“ und einheitliche Abstammung. Gewis sermaßen setzt man die Völker mit Organismen gleich, die sich zwar wandeln, grundsätzlich aber über lange Zeit konstant fortbestehen. Diese Vorstellung von dem, was ein Volk ausmacht, hat ihren Ursprung im späten 18. Jahrhundert, als sich in Europa die Idee der Nationalstaaten entwickelte und verbreitete. Völker galten nun als quasi natürliche Einheiten, die ursprünglicher und älter sind als alle Staaten und deren einzig sinnvolle Organisationsform der Nationalstaat ist. Gewissermaßen stell te man sich Völker als „kollektive Indivi duen“ vor, die ähnlich wie Personen über unverwechselbare Züge verfügen, über einen einheitlichen Willen, ein gemein sames Schicksal und selbstverständlich auch über eine gemeinsame Geschichte. In diesem Sinne handelte es sich bei dem „Volk“ um eine politische Idee, ge nau genommen sogar um eine Utopie, und nicht um die Beschreibung einer realen sozialen Gegebenheit. Bereits die damalige, aber auch unsere heutige Ge genwart zeigt etwa, dass Sprachgrup pen keineswegs mit Völkern gleichzuset zen sind. Ebenso wenig sind Nationen in sich kulturell homogen, noch besitzen deren Angehörige eine einheitliche Ab stammung. 10 11 Was war die Völkerwanderung? Ein europäischer Geschichtsmythos Handgemachte frühmittelalterliche Keramik aus dem Gräberfeld von Weingarten (Landkreis Ravensburg, BadenWürttemberg). Rekonstruktion einer frühmittelalterlichen Siedlung im Freilichtmuseum West Stow bei Bury St. Edmunds (England). Schwarzmeerküste oder die Übersiedlung der Angeln, Sachsen und Jü ten von Norddeutschland und Dänemark nach Britannien. Inwieweit sich in diesen Mythen jeweils ein wahrer Kern verbirgt, ist in der Forschung gegenwärtig heiß umstritten. In anderen Fällen, etwa für A lemannen und Bajuwaren, überliefern die Schriftquellen gar keine Wanderung; sie werden erstmals in dem Siedlungsgebiet erwähnt, das sie auch spä ter bewohnen. Auch wenn bestimmte Gruppen bereits einige Zeit vor der Völkerwanderung in den Regionen jenseits der Reichsgrenzen be legt sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie später gewandert sind. So kennt man „Franken“ schon seit dem 3. Jahrhundert als Sammel bezeichnung für die Bewohner der Gebiete östlich des Niederrheins; die Gründung des Frankenreichs erfolgte aber ausgehend von dem spät römischen Militärkommando, das der erste bekannte Vertreter der frän kischen Königsfamilie der Merowinger, Childerich, innehatte – und nicht infolge der Übersiedlung eines fränkischen Volkes vom rechten auf das linke Rheinufer. Die Völkerwanderungszeit – eine Epoche? Auch in ihrer Deutung als Epoche erscheint die „Völkerwanderung“ heu te problematisch. Traditionell setzt man den Beginn der Völkerwande rung mit der ersten Erwähnung der Hunnen in Südrussland um 375 12 an, ihr Ende wird meist mit dem Zug der Langobarden von der mittleren Donau nach Italien 568 angegeben. Großräumige Wanderungsbewegungen ereigneten sich jedoch bereits in den Jahrhunderten zuvor. Prominente Beispiele sind die Expansion der Kelten im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. nach Oberitalien, auf den Bal kan und in die heutige Türkei, oder die Züge der Kimbern und Teutonen im ausgehenden 2. vorchristlichen Jahrhundert nach Südfrankreich und Italien. Auch in der Zeit nach 568 kennt man eine Vielzahl bedeutender Wanderungsbewegungen, etwa die Expansion slawischsprachiger Grup pen seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, die große Teile Mittelund Osteuropas kulturell überformten und bis heute prägen. Die Einfälle von Reitervölkern aus den eurasischen Steppenlandschaften ins östliche Mitteleuropa setzten sich lange nach den Hunnen noch für Jahrhunderte fort, wie die Herrschaftsbildungen der Awaren nach 568 oder der Ungarn nach 890 im Karpatenbecken zeigen. Weshalb grenzt man die Völkerwanderungszeit traditionell den noch auf den Zeitraum zwischen 375 und 568 ein? Auch das hat mehre re Gründe: So schrieb die Forschung den germanischsprachigen Grup pen in diesem Zeitraum vielfach eine besondere Rolle zu. Häufiger als alles andere machte man „die Germanen“ für den „Untergang“ des Römischen Reiches verantwortlich – ganz unabhängig davon, wie man diesen Vorgang bewertete. Bereits die in diesem Zusammenhang geläufi 13 Wandernde Völker Schauplatz der Völkerwanderung waren fast alle Grenzen des Römischen Rei ches. Den Brennpunkt bildeten zunächst die untere und die mittlere Donau, später dann die Rheingrenze, der Norden Britanniens und Nordafrika. Bald betrafen die Ereignisse nicht mehr nur die Grenzregionen, sondern wirkten sich auch in den Kerngebieten des Römischen Reiches dramatisch aus. Bei näherer Betrachtung verlief die Völkerwanderung von Region zu Region sehr unterschiedlich. Erst der Vergleich der unterschiedlichen Teile des römischen Imperiums lässt ein Gesamtbild entstehen. Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen und im Schwarzmeergebiet Die Donaugrenze war durch die Konflikte mit Dakern, Markomannen und anderen Stämmen schon während der ersten Jahrhunderte der rö mischen Kaiserzeit eine besonders unruhige Region. Sie blieb es auch in der Spätantike. Nördlich des Unterlaufs der Donau am Westufer des Schwarzen Meeres, also im heutigen Rumänien, Moldawien und in der südlichen Ukraine, lebten im 3. und 4. Jahrhundert verschiedene gotische Gruppen. Mehr als zweihundert Jahre später unterteilte der Geschichts schreiber Jordanes diese unterschiedlichen Einheiten in zwei große Blöcke: Visigoten und Ostrogoten. Tatsächlich jedoch existierten im 3. und 4. Jahrhundert neben den Vorgängern dieser späteren Hauptgruppen diverse gotische Verbände mit unterschiedlichen Anführern. Bereits lange vor der Völkerwande rung, im 3. Jahrhundert, machten sie durch waghalsige Aktionen von sich R eden. Sie unternahmen erfolgreiche Plünderungszüge bis in die Ägäis und an die Südküste des Schwarzen Meeres. 251 fiel der römische 65 Goldmedaillon mit Portrait des Kaisers Valens, der in der Schlacht bei Adrianopel 378 sein Leben verlor. Das Medaillon wurde nach römischem Vorbild im Barbaricum hergestellt. Mit Hilfe der Öse konnte man es als Schmuck tragen. Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen Wandernde Völker Traditionell werden die beiden bedeutendsten gotischen Gruppen im Deutschen als Westund Ostgoten bezeichnet. Beide Begriffe sind jedoch in dieser Form nicht historisch. Die ältesten bekannten Namen für beide Gruppen sind Vesi/Tervingi und Ostrogothi/Greutungi. Kurz nach 400 bestand nur noch das Gegensatzpaar Vesier und Ostrogoten. Erst Cassiodor schuf im 6. Jahrhundert die analogen Formen Visigoten für die Goten in Gallien/Hispanien und Ostrogoten für die Goten Italiens. Die Begriffe West- und Ostgoten sind dagegen neuzeit liche Schöpfungen, wobei besonders der Begriff „Westgoten“ irreführend ist, da Visigoten „gute/ edle Goten“ heißt. Deshalb verwendet auch die deutschsprachige Forschung zunehmend die originalen Bezeichnungen Ostrogoten und Visigoten. Kaiser Decius in einer Schlacht gegen Goten. Gruppen mit gotischem Namen entwickel ten sich in dieser Zeit zu einer dominieren den Kraft innerhalb des vielfältigen barbari schen Milieus mit Dutzenden unterschied licher Stammesgruppen westlich und nörd lich des Schwarzen Meeres. Die gotischen Gruppen Im 4. Jahrhundert bildeten sich zwei goti sche Gruppen deutlicher heraus. Die Greu thungi lebten nördlich des Schwarzen Meeres. Laut der viel späteren Überliefe rung des Jordanes waren sie stark vom Rei terkriegertum geprägt. Als herausragenden Herrscher dieser gotischen Gruppe nennen die Quellen König Ermanerich, der dem Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus zufolge nach der Niederlage gegen die Hun nen 375 und dem Untergang seines Reiches Selbstmord beging. Nörd lich der Donau und westlich des Schwarzen Meeres, also vor allem im Gebiet des heutigen Rumäniens, lebten Tervingi genannte Goten, die seit 332 Vertragspartner des Römischen Reiches waren. Sie standen un ter der Führung eines Richters (iudex) – zuletzt wurde dieses Amt von Athanarich bekleidet. Über das Leben in der tervingischen Gesellschaft gibt die Leidensgeschichte des hl. Saba, der 372 bei einer von Athanarich angeordneten Christenverfolgung das Martyrium erlitt, zahlreiche In formationen. Seine Lebensbeschreibung berichtet über die Konflikte, die das Eindringen des Christentums in die traditionelle gotische Stammesgesellschaft mit sich brachte. Zentrale Figur der christlichen M ission in den gotischen Gebieten war Bischof Wulfila, der auch eine aus dem griechischen Alphabet entwickelte und mit runischen Buchstaben erweiterte Schrift für das Gotische entwickelte. Bis 375 lebten die tervin gischen Gruppen in entspanntem Verhältnis zum Römischen Reich. Das belegt die Archäologie der Region, die starke römische Einflüsse zeigt. Archäologisch dominiert nördlich der Donau und des Schwarzen Meeres ˇernjachov-Sîntana de Mureş-Kultur, im 4. Jahrhundert die sogenannte C 66 die sich durch Gräberfelder mit Brand- und Körperbestattungen sowie Eigenarten der Sachkultur – unter anderem Keramik, Kleidungsbestand teile – auszeichnet. Ausgrabungen in Siedlungen belegen, dass Viehhal tung und Landwirtschaft die primäre Existenzgrundlage bildeten. Da neben gingen die Bewohner vielfältigen handwerklichen Tätigkeiten nach und trieben Handel. Goten waren freilich nicht die einzigen Bevölkerungsgruppen, die im 3. und 4. Jahrhundert am Rande des Schwarzen Meeres und nördlich der Donau siedelten. Im Laufe der Völkerwanderungszeit spielen etwa immer wieder Heruler eine Rolle, die im 4. Jahrhundert ein Königreich am Asowschen Meer bildeten. Gegen Mitte des 4. Jahrhunderts unter warf der Gote Ermanerich dieses Reich, anschließend kam es mit den greuthungischen Goten unter hunnische Herrschaft. Die Schriftquellen nennen zahlreiche weitere Gruppen, deren genaue Siedlungsgebiete im Raum zwischen Schwarzem Meer und der Region nördlich der mittleren Donau schwer zu lokalisieren sind, unter anderen Skiren am Schwarzen Meer, Gepiden im Karpatenbecken, hasdingische Vandalen im pannoni schen Raum, Burgunden und Rugier im mittleren Donauraum. Die Ankunft der Hunnen In den frühen 370er Jahren trat nördlich des Schwarzen Meeres eine neue militärische Kraft auf den Plan. Die Hunnen waren eine heterogene Gruppe von Steppenkriegern, die durch die Schnelligkeit ihrer Reiter und die Gefährlichkeit ihrer Reflexbögen Gegner in Angst und Schrecken versetzten. Zunächst griffen die Hunnen jedoch nicht direkt an, viel mehr übten die von ihnen besiegten Stämme Druck auf das Römische Reich aus. Erst diese lösten die Vorgänge aus, die traditionell als Beginn der eigentlichen Völkerwanderungszeit angesehen werden. Im 4. Jahr hundert hielten sich Hunnen im Raum zwischen den Flüssen Don und Wolga auf. Um 374 unterwarfen sie das Reich der am Don siedelnden Ala nen. 375 griffen die immer weiter nach Westen vordringenden Hunnen die greuthungischen Goten unter ihrem König Ermanerich an, deren Wi derstand erfolglos blieb. Ein Großteil der Greuthungen kam unter hun nische Herrschaft, einige Teile des Heeres verbündeten sich mit Alanen und dienten sich dem Römischen Reich als Hilfstruppen an. Wie die Greuthungen unter Ermanerich versuchten auch die Tervin gen unter Athanarich 375 vergeblich, den Hunnen Widerstand zu leis 67 Die Siedlung von Sobari Rekonstruktion des zentralen Steingebäudes in der völkerwanderungszeitlichen Siedlung von Sobari (Moldawien). ÜBERSCHRIFT ÜBERSCHRIFT I Die Siedlung von Sobari dehnte sich über rund dreißig Hektar aus, von denen bislang nur ein Teil untersucht worden ist. Unter den Ausgrabungsergebnissen sticht vor allem ein Steingebäude von etwa 18 x 10 Meter Grundfläche hervor. Seine Wände waren sorgfältig mit Kalkmörtel aus Bruchsteinen und Ziegeln gemauert, das Innere gliederte sich in einen größeren und einen kleinerem Raum. Das Äußere des Gebäudes prägte ein Säulenumgang, von dem sich steinerne Säulenbasen erhalten haben. Gedeckt war es in römischer Manier mit Ziegeln. Bemerkenswert sind zudem Bruchstücke von Fensterglas. Zum Steingebäude gehörten weitere, aus Holz errichtete Nebengebäude. Umgeben war die Anlage von einer Steinmauer, die ein Gelände von 90 x ca. 50 Metern innerhalb der Siedlung einfriedete. Die Funktion des Steingebäudes ist nicht abschließend geklärt. Seine Architektur ähnelt mediterranen Tempelanlagen, was auf eine kultische Nutzung schließen lässt. Der Fund einer Öllampe mit christlicher Symbolik deutet auf christliche Bewohner. Sicher ist vor allem, dass sich in der Anlage massiver Einfluss aus dem Mittelmeerraum manifestiert. Dieser zeigt sich auch im weiteren Fundmaterial, zu dem zahlreiche Amphoren zählen. Die Siedlung von Sobari belegt neben der Existenz eines überregional bedeutenden, komplex gegliederten Zentrums mit weit reichenden Verbindungen die kulturelle Orientierung der regionalen Eliten am Vorbild des Römischen Reiches. n m Raum nördlich der unteren Donau entwickelten sich bereits während der römischen Kaiserzeit komplexe Sozial- und Wirtschaftsstrukturen. Das verdeutlicht nicht nur das Vorkommen zahlreicher römischer Importgüter, sondern auch die Übernahme römischer Lebens- und Bauweisen. Besondere Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang die Siedlung von Sobari ganz im Norden der heutigen Republik Moldawien am rechten Ufer des Flusses Djnestr. Die Fundstelle befindet sich weit im barbarischen Hinterland: Bis zur römischen Reichsgrenze sind es rund dreihundert Kilometer, fast ebenso weit entfernt liegt die Küste des Schwarzen Meeres. Zeitlich gehört die Siedlung vor allem in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts, jene Periode, in der die Hunnen erstmals in den Gesichtskreis der Mittelmeerwelt traten. Der Fund goldener Zierbleche, die von einem Sattel reiternomadischer Machart stammen, deutet auf die Anwesenheit östlicher Reiterkrieger in Sobari. Gemeinsam mit weiteren Fundstellen zeigt Sobari auch, dass die regionale Besiedlung im Stile der sogenannten Cˇ ernjachov-Sîntana de Mures¸-Kultur nach der Ankunft der Hunnen in Europa keineswegs abbrach, sondern fortdauerte. Allerdings verringerte sich unter hunnischer Herrschaft die archäologisch erkennbare Besiedlungsdichte deutlich. 68 69 Wandernde Völker ten. Letztere beherrschten nun den gesamten Steppenraum nördlich des Schwarzen Meeres bis an die untere Donau. Ein Teil der Tervingen zog sich nach der Niederlage in die Karpaten zurück. Eine bedeutende Zahl von Goten sammelte sich jedoch an der Donau und überquerte den Fluss 376. Der römische Kaiser Valens kämpfte zu diesem Zeitpunkt im Osten gegen die Perser und musste den gotischen Übertritt ins Reich wohl oder übel akzeptieren. Die Neuankömmlinge waren wahrscheinlich willkom mene Rekruten für die Armee und Siedler für wüstgefallene Flächen. Zu jenen, die 376 über die Donau ins Römische Reich eindrangen, zählten neben tervingischen und greuthungischen Goten auch Alanen, Taifalen, Hunnen, Balten und Angehörige anderer Stämme – eine bunte Mischung unterschiedlichster Herkunft. Dass barbarische Gruppen um Aufnahme ins Römische Reich baten, war zunächst kein außergewöhnliches Ereignis. Ähnliche Vorgänge, wenn auch mit weit kleineren Menschengruppen, hatte das Imperium an vielen Abschnitten der Reichsgrenze immer wieder bewältigt. Neu war, dass sich die Neuankömmlinge von 376 innerhalb kürzester Zeit zu ei ner echten Bedrohung für das Reich entwickelten. Ähnliches hatte Rom seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt. Der wohl größte römische Fehler dieser Jahre bestand darin, den in der Provinz Moesia im heutigen Bul garien angekommenen Flüchtlingen keine echte Perspektive zu bieten, sie nicht neu zu organisieren und schlecht zu versorgen. Ammianus Mar cellinus machte dafür die Habgier der Heerführer Lupicinus und Maxi mus verantwortlich. Er berichtet, man habe den hungernden Barbaren Hunde gegen Menschen angeboten, welche in die Sklaverei verkauft wur den. In dieser Lage nahmen Alaviv und Fritigern das Heft des Handelns in die Hand, verstärkt durch greuthungische Truppen unter Alatheus und Saphrax. Die Konflikte gipfelten 378 in der römischen Niederlage bei Adrianopel. Mit den Siegern musste Rom nun aus einer ungünstigen Lage heraus verhandeln. In den folgenden Jahren bekamen die Römer die Goten in Moesien nach Aussage des Redners Themistios im Jahr 383 zwar militä risch unter Kontrolle – sie übernahmen in der Folge viele Goten in den Reichsdienst –, einzelne Anführer blieben aber ein ständiger Unruhe herd, allen voran der tervingische Gote Alarich. 70 Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen Die Goten Alarichs 391 begegnet uns unter den in Thrakien angesiedelten Gruppen zum er sten Mal ein Anführer namens Alarich – in den folgenden zwanzig Jah ren übte er immer wieder bestimmenden Einfluss auf das Schicksal des Römischen Reiches aus. Der von Alarich angeführte Kriegerverband aus Thrakien griff schon bald als willkommene Truppenverstärkung in in nerrömische Konflikte ein, so etwa in die Schlacht am Frigidus 394 zwi schen Theodosius I. und dem Usurpator Eugenius. Alarichs Heer war so mächtig, dass er nach einer sicheren Position im Römischen Reich stre ben konnte. Im Gegensatz zu Einzelpersonen und kleinen Gruppen ließ sich das Kontingent Alarichs jedoch nicht einfach in das römische Heer integrieren. Stattdessen musste Alarich nach neuen Lösungen suchen und wandte sich gegen das Imperium. Der eingeschlagene Weg war je doch ungewöhnlich: Er wählte den Kampf gegen die gleiche politische Institution, in der er Erfolg haben wollte. Dabei wollte er weder das Rö mische Reich als solches noch die Römer insgesamt schädigen. Er ver suchte vielmehr, sein Glück im Reich mit Gewalt zu erzwingen. In einem Wechselspiel von Drohungen, Versprechungen und gewalttätigen Akti onen zog Alarich mit seinem Kriegerverband zuerst nach Griechenland, dann durch den Balkan und 401 nach Italien. Frühere Atlanten stellen dieses Ereignis mit langen Pfeilen als „Zug der Goten“ dar – als das klas sische Beispiel einer Völkerwanderung. Tatsächlich zogen hier aber we der „die Goten“ noch ein ganzes „Volk“, sondern ein Heerhaufen mit Begleitung auf der Suche nach einer sicheren Existenz im Römischen Reich. Dort jedoch war die viel zu stark gewordene Gruppe schon längst nicht mehr willkommen. Diadem aus vergoldeter Bronze und Einlagen aus Glas und Halbedelsteinen von Csorna (Kr. Györ-Sopron, Ungarn). Entsprechende Diademe fanden sich in einiger Zahl in hunnenzeitlichen Bestattungen im Karpatenbecken. 71
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