Was war die Völkerwanderung?

Hubert Fehr Philipp von Rummel
Was war die Völkerwanderung?
In vielen populären Geschichtsdarstellungen erscheint die Völkerwanderung
als besonders gewalttätige Epoche. Fellbekleidete Horden überrennen die römischen Grenzen, wilde Krieger mit Hörnerhelmen demütigen besiegte römische
Generäle und hilf lose Senatoren in wehenden Togen – und vernichten schließlich die antike Zivilisation. Doch was geschah wirklich am Ende der Antike?
Neuere Forschungen haben gezeigt, dass man die Völkerwanderung nicht los-
Der Wiener Gelehrte
Wolfgang Lazius (1514–
1565) veröffentlichte
1557 das Werk „De gentium aliquot migrationibus“, das maßgeblich
dazu beitrug, den Begriff „Völkerwanderung“
in der mitteleuropäischen Geschichtsschreibung zu etablieren.
gelöst von der inneren Entwicklung des Römischen Reiches sehen kann.
Ein europäischer Geschichtsmythos
Das Interesse an der sogenannten Völkerwanderung ist ungebrochen.
Das dürfte mehrere Gründe haben: In kaum einer anderen Epoche durch­
liefen Europa und die Mittelmeerwelt derart dramatische Umwälzungen
in nahezu allen Lebensbereichen, nicht nur in Politik und Wirtschaft,
sondern auch in Religion, Gesellschaftsstrukturen und Alltagskultur. In
vieler Hinsicht wurden in dieser Zeit historische Weichen gestellt, wel­
che die Entwicklung in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten
prägten – in manchen Fällen sogar bis heute. Nicht wenige europäische
Staaten und Regionen der Gegenwart tragen Namen, die erstmals wäh­
rend der Völkerwanderung belegt sind. Erinnert sei nur an die Länder
der Angeln (England), Franken (Frankreich, Franken), Burgunder (Bour­
gogne) und Langobarden (Lombardei) oder an die deutschen Bundeslän­
der Sachsen, Thüringen und Bayern. Auch im Religiösen reichen manche
Wurzeln bis zur Völkerwanderung zurück. So war etwa das Bekenntnis
der Franken, Langobarden und weiterer Stammesgruppen zum katho­
lischen Christentum eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die­
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Links: „Plünderung Roms
durch die Vandalen 455“
von Heinrich Leutemann. Der Abtransport
von Statuen, Aristokratinnen und dem jüdischen Tempelschatz ist
durch Prokop überliefert,
das Aussehen der Vandalen mit langen Bärten,
Fellen und Flügelhelmen
jedoch Fantasie des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts.
Ein europäischer Geschichtsmythos
Was war die Völkerwanderung?
ses während des Mittelalters und der Neu­
zeit große Teile des europäischen Kontinents
prägen konnte.
Gleichzeitig rührt die Faszination der
Völkerwanderung daher, dass sie immer
­
wieder als Projektionsfläche für unse­
re ­Gegenwart dient, für aktuelle Probleme
und Ängste, aber auch Utopien. Besonders
bei Wirtschaftskrisen oder Debatten über
­M igration und Integration fremder Bevöl­
kerungsgruppen werden gern Parallelen zur
Völkerwanderung gezogen. Diese beeinflus­
sen und verzerren unser Bild der Vorgän­
ge bis heute. Ist die Völkerwanderung tat­
sächlich ein Musterbeispiel dafür, welches
Schicksal einer hoch entwickelten Zivilisation droht, wenn sie sich des
Ansturms besitzgieriger Neuankömmlinge nicht mehr zu erwehren
weiß?
Zweifellos gehört die Völkerwanderung zu den großen Mythen der
­europäischen Geschichte. Die Wurzeln dieses Mythos reichen zurück
bis zur Renaissance. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert galt sie im
­europäischen Geschichtsbewusstsein als grundlegender Einschnitt – in
den letzten Jahren mehren sich jedoch Stimmen, die das grundsätzlich
in Frage stellen.
Von Anfang an besaß der Begriff „Völkerwanderung“ eine Doppel­
bedeutung: Einerseits bezeichnete man damit ein bestimmtes histori­
sches Ereignis, nämlich die Niederlassung auswärtiger Kriegergruppen
auf dem Boden des sich auflösenden römischen Imperiums, andererseits
meinte man damit die Epoche, die das Ende der Antike und den Beginn
des Mittelalters markiert. Lange Zeit empfand die Forschung diesen Dop­
pelcharakter nicht als problematisch, denn man nahm an, dass zwischen
beiden Bedeutungsebenen – Ereignis und Epoche – ein unmittelbarer Zu­
sammenhang besteht: Die Ansiedlung der Kriegerverbände von jenseits
der Reichsgrenzen und ihre Staatsgründungen auf dem Gebiet des west­
lichen Imperiums galten als wichtigste Ursache für das Ende des Römi­
schen Reiches und damit den Zusammenbruch der antiken Zivilisation.
Wie in diesem Buch deutlich wird, ist der Begriff Völkerwanderung problematisch, da
er mit einer Vielzahl von Nebenbedeutungen
verbunden ist, die aus heutiger wissenschaft­
licher Sicht nicht mehr plausibel erscheinen. In
diesem Buch ist er durchgehend in einem sehr
weiten Sinne gemeint, nämlich als Summe der
Ereignisse in der Spätantike und im beginnen­
den Frühmittelalter, die mit der Zuwanderung
fremder Bevölkerungsgruppen auf den Boden
des Römischen Reiches zusammenhängen sowie
mit der Herausbildung von dessen Nachfolge­
staaten.
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Wandernde Völker?
Aus heutiger Sicht sind beide Bedeutungsebenen fragwürdig geworden.
Dass im betreffenden Zeitraum tatsächlich ganze „Völker“ „wanderten“,
erscheint der aktuellen Forschung eher zweifelhaft. Bei manchen Grup­
pen, die in den Quellen genannt werden, handelte es sich wohl eher um
Militärverbände, die zeitweilig der Kontrolle der römischen Zentral­
regierung entglitten waren, und nicht um ganze Volksgruppen, in ­denen
Männer und Frauen, Alte, Erwachsene und Kinder gemeinsam auf der
Suche nach einer neuen Heimat umherzogen.
Eine Hauptschwierigkeit bei der Erforschung der Völkerwanderungs­
zeit ist, dass wir nur zu einem Teil der Wanderungsereignisse verläss­
liche zeitgenössische Schriftquellen besitzen. Auch die Archäologie hilft
hier nur begrenzt weiter, da die archäologischen Funde weniger kurzfris­
tige politische Ereignisse widerspiegeln als vielmehr langfristig wirk­
same wirtschaftliche Entwicklungen und kulturelle Orientierungen.
Mitunter entdeckt man selbst in Regionen, in denen historisch gut be­
zeugte Ansiedlungsvorgänge stattfanden, trotz angestrengter Suche kei­
ne Funde, die mit den Neuankömmlingen unmittelbar in Verbindung
gebracht werden könnten. Dies gilt zum Beispiel für die gotischen Grup­
pen, die 418 im heutigen Südwestfrankreich angesiedelt wurden, oder die
Burgunden, die bis 443 am Mittelrhein ansässig waren.
Nicht wenige vermeintlich gesicherte Völkerverschiebungen kennen­
wir nur aus wesentlich jüngeren mythischen Erzählungen, etwa
die Wanderung der Goten vom heutigen Nordpolen an die nördliche
Spätantike Argonnensigillata aus Herxheim
bzw. Zweibrücken-
Niederauerbach. In der
Völkerwanderungszeit
ging die massenhafte­ Produktion von Gebrauchsgütern in großen
Werkstätten für einen
überregionalen Markt
stark zurück.
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Was ist ein Volk?
Das Hermannsdenkmal
bei Detmold (Kr. Lippe) wurde 1875 fertig­
gestellt. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich allgemein die Vorstellung
durch, die Germanen seien die eigentlichen Vorfahren der Deutschen
gewesen – obwohl auch
Römer, Kelten und Slawen in der Frühgeschichte ebenfalls weite Teile
des heutigen Deutschland bewohnten.
ÜBERSCHRIFT
ÜBERSCHRIFT
W
Ungeachtet der Tatsache, dass die Existenz von Völkern in der beschriebenen
Form weder in der Gegenwart noch in früheren Epochen nachzuweisen ist,
schrieb die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert unsere Vergan­
genheit zu einer Geschichte der Völker und Stämme um. Völker galten ihr als
­eigentliche Akteure des historischen Geschehens, die nacheinander auf der
­Bühne der Weltgeschichte auftraten, sich dramatisch bekämpften, um zu ­siegen
oder unterzugehen.
Die nationale Geschichtsschreibung instrumentalisierte die Epoche der Völ­
kerwanderung in besonderem Maße. Einerseits sah eine ganze Reihe moder­
ner Staaten in Europa bestimmte völkerwanderungszeitliche Gruppen als un­
mittelbare Vorfahren an. Die Gelehrten aus diesen Ländern ergriffen in ihren
Geschichtsdarstellungen deshalb häufig Partei für eine bestimmte Gruppe,
deutsche Historiker und Archäologen beispielsweise für „die Germanen“. An­
dererseits reduzierte man das chaotische, vielstimmige und nicht zielgerich­
tete ­Geschehen der Völkerwanderung auf ein einheitliches Motiv, nämlich die
­Aus­einandersetzung zwischen verschiedenen Völkern.
Heute wissen wir, dass dies als historisches Erklärungsmuster in die Irre führt.
Hinter den schriftlich überlieferten Gruppenbezeichnungen wie „Goten“ oder
„Franken“ verbergen sich keine langlebigen, unveränderlichen Einheiten, son­
dern sich ständige wandelnde Interessengemeinschaften, die vor allem durch
gemeinsame Ziele zusammengehalten wurden. Mitunter besaßen diese zwar
eine gemeinsame Sprache und Religion sowie einen gemeinsamen Abstam­
mungsglauben – zumindest ihre Kerngruppen –, mussten es aber nicht. Daher
ist in jedem Einzelfall zu prüfen, was ein „Volk“ tatsächlich ausmachte. n
ie schon der Name nahe legt, ist der Begriff „Volk“ von einiger Bedeutung
für das Verständnis der Völkerwanderung. Obwohl inhaltlich äußerst un­
scharf, bildet er gegenwärtig einen selbstverständlichen Teil unserer politischen
Vorstellungswelt. Häufig versteht man unter einem Volk eine klar abgrenzbare
Menschengruppe, die ein bestimmtes Territorium bewohnt und sich durch eine
Reihe gemeinsamer Merkmale von benachbarten Völkern unterscheidet: ge­
meinsame Sprache, spezifische „Kultur“ und einheitliche Abstammung. Gewis­
sermaßen setzt man die Völker mit Organismen gleich, die sich zwar wandeln,
grundsätzlich aber über lange Zeit konstant fortbestehen.
Diese Vorstellung von dem, was ein Volk ausmacht, hat ihren Ursprung im späten
18. Jahrhundert, als sich in Europa die Idee der Nationalstaaten entwickelte und
verbreitete. Völker galten nun als quasi natürliche Einheiten, die ursprünglicher
und älter sind als alle Staaten und deren
einzig sinnvolle Organisationsform der
Nationalstaat ist. Gewisser­maßen stell­
te man sich Völker als „kollektive Indivi­
duen“ vor, die ­ähnlich wie Personen über
unverwechselbare Züge verfügen, über
einen einheitlichen Willen, ein gemein­
sames Schicksal und selbstverständlich
auch über eine gemeinsame Geschichte.
In diesem Sinne handelte es sich bei
dem „Volk“ um eine politische Idee, ge­
nau genommen sogar um eine Utopie,
und nicht um die Beschreibung einer
­realen sozialen Gegebenheit. Bereits die
damalige, aber auch unsere heutige Ge­
genwart zeigt etwa, dass Sprachgrup­
pen keineswegs mit Völkern gleichzuset­
zen sind. Ebenso wenig sind Nationen in
sich kulturell homogen, noch besitzen
deren Angehörige eine einheitliche Ab­
stammung.
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Was war die Völkerwanderung?
Ein europäischer Geschichtsmythos
Handgemachte frühmittelalterliche Keramik
aus dem Gräberfeld von
Weingarten (Landkreis
Ravensburg, BadenWürttemberg).
Rekonstruktion einer
frühmittelalterlichen
Siedlung im Freilichtmuseum West Stow bei
Bury St. Edmunds (England).
Schwarzmeerküste oder die Übersiedlung der Angeln, Sachsen und Jü­
ten von Norddeutschland und Dänemark nach Britannien. Inwieweit sich
in diesen Mythen jeweils ein wahrer Kern verbirgt, ist in der Forschung
gegenwärtig heiß umstritten. In anderen Fällen, etwa für ­A lemannen
und Bajuwaren, überliefern die Schriftquellen gar keine Wanderung;
sie werden erstmals in dem Siedlungsgebiet erwähnt, das sie auch spä­
ter bewohnen. Auch wenn bestimmte Gruppen bereits einige Zeit vor
der Völkerwanderung in den Regionen jenseits der Reichsgrenzen be­
legt sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie später gewandert sind.
So kennt man „Franken“ schon seit dem 3. Jahrhundert als Sammel­
bezeichnung für die Bewohner der Gebiete östlich des Niederrheins;
die Gründung des Frankenreichs erfolgte aber ausgehend von dem spät­
römischen Militärkommando, das der erste bekannte Vertreter der frän­
kischen Königsfamilie der Merowinger, Childerich, innehatte – und
nicht infolge der Übersiedlung eines fränkischen Volkes vom rechten auf
das linke Rheinufer.
Die Völkerwanderungszeit – eine Epoche?
Auch in ihrer Deutung als Epoche erscheint die „Völkerwanderung“ heu­
te problematisch. Traditionell setzt man den Beginn der Völkerwande­
rung mit der ersten Erwähnung der Hunnen in Südrussland um 375 12
an, ihr Ende wird meist mit dem Zug der Langobarden von der mittleren
Donau nach Italien 568 angegeben.
Großräumige Wanderungsbewegungen ereigneten sich jedoch bereits
in den Jahrhunderten zuvor. Prominente Beispiele sind die Expansion
der Kelten im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. nach Oberitalien, auf den Bal­
kan und in die heutige Türkei, oder die Züge der Kimbern und Teutonen
im ausgehenden 2. vorchristlichen Jahrhundert nach Südfrankreich und
Italien. Auch in der Zeit nach 568 kennt man eine Vielzahl bedeutender
Wanderungsbewegungen, etwa die Expansion slawischsprachiger Grup­
pen seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, die große Teile Mittelund Osteuropas kulturell überformten und bis heute prägen. Die Einfälle
von Reitervölkern aus den eurasischen Steppenlandschaften ins östliche
Mitteleuropa setzten sich lange nach den Hunnen noch für Jahrhunderte
fort, wie die Herrschaftsbildungen der Awaren nach 568 oder der Ungarn
nach 890 im Karpatenbecken zeigen.
Weshalb grenzt man die Völkerwanderungszeit traditionell den­
noch auf den Zeitraum zwischen 375 und 568 ein? Auch das hat mehre­
re Gründe: So schrieb die Forschung den germanischsprachigen Grup­
pen in diesem Zeitraum vielfach eine besondere Rolle zu. Häufiger
als alles andere machte man „die Germanen“ für den „Untergang“ des
­Römischen ­Reiches verantwortlich – ganz unabhängig davon, wie man
diesen Vorgang bewertete. Bereits die in diesem Zusammenhang geläufi­
13
Wandernde Völker
Schauplatz der Völkerwanderung waren fast alle Grenzen des Römischen Rei­
ches. Den Brennpunkt bildeten zunächst die untere und die mittlere ­Donau,
später dann die Rheingrenze, der Norden Britanniens und Nordafrika. Bald
­betrafen die Ereignisse nicht mehr nur die Grenzregionen, sondern wirkten
sich auch in den Kerngebieten des Römischen Reiches dramatisch aus. Bei
­näherer Betrachtung verlief die Völkerwanderung von Region zu Region sehr
unterschiedlich. Erst der Vergleich der unterschiedlichen Teile des römischen
Imperiums lässt ein Gesamtbild entstehen.
Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen und im Schwarzmeergebiet
Die Donaugrenze war durch die Konflikte mit Dakern, Markomannen
und anderen Stämmen schon während der ersten Jahrhunderte der rö­
mischen Kaiserzeit eine besonders unruhige Region. Sie blieb es auch
in der Spätantike. Nördlich des Unterlaufs der Donau am Westufer des
Schwarzen Meeres, also im heutigen Rumänien, Moldawien und in der
südlichen Ukraine, lebten im 3. und 4. Jahrhundert verschiedene gotische
Gruppen. Mehr als zweihundert Jahre später unterteilte der Geschichts­
schreiber Jordanes diese unterschiedlichen Einheiten in zwei große
Blöcke: Visigoten und Ostrogoten.
Tatsächlich jedoch existierten im 3. und 4. Jahrhundert neben den
Vorgängern dieser späteren Hauptgruppen diverse gotische Verbände
mit unterschiedlichen Anführern. Bereits lange vor der Völkerwande­
rung, im 3. Jahrhundert, machten sie durch waghalsige Aktionen von
sich R
­ eden. Sie unternahmen erfolgreiche Plünderungszüge bis in die
Ägäis und an die Südküste des Schwarzen Meeres. 251 fiel der römische
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Goldmedaillon mit Portrait des Kaisers ­Valens,
der in der Schlacht
bei Adrianopel 378
sein Leben verlor. Das
­Medaillon wurde nach
römischem Vorbild im
Barbaricum hergestellt.
Mit Hilfe der Öse
konnte man es als
Schmuck tragen.
Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen
Wandernde Völker
Traditionell werden die beiden bedeutendsten
gotischen Gruppen im Deutschen als Westund Ostgoten bezeichnet. Beide Begriffe sind
jedoch in dieser Form nicht historisch. Die ältesten bekannten Namen für beide Gruppen sind
Vesi/Tervingi und Ostrogothi/Greutungi. Kurz
nach 400 bestand nur noch das Gegensatzpaar
Vesier und Ostrogoten. Erst Cassiodor schuf
im 6. Jahrhundert die analogen Formen Visigoten für die Goten in Gallien/Hispanien und
Ostrogoten für die Goten Italiens. Die Begriffe West- und Ostgoten sind dagegen neuzeit­
liche Schöpfungen, wobei besonders der Begriff
„Westgoten“ irreführend ist, da Visigoten „gute/
edle Goten“ heißt. Deshalb verwendet auch die
deutschsprachige Forschung zunehmend die
originalen Bezeichnungen Ostrogoten und
Visigoten.
Kaiser Decius in einer Schlacht gegen Goten.
Gruppen mit gotischem Namen entwickel­
ten sich in dieser Zeit zu einer dominieren­
den Kraft innerhalb des vielfältigen barbari­
schen Milieus mit Dutzenden unterschied­
licher Stammesgruppen westlich und nörd­
lich des Schwarzen Meeres.
Die gotischen Gruppen
Im 4. Jahrhundert bildeten sich zwei goti­
sche Gruppen deutlicher heraus. Die Greu­
thungi lebten nördlich des Schwarzen
Meeres. Laut der viel späteren Überliefe­
rung des Jordanes waren sie stark vom Rei­
terkriegertum geprägt. Als herausragenden
Herrscher dieser gotischen Gruppe nennen
die Quellen König Ermanerich, der dem
­Geschichtswerk des Ammianus Marcellinus
zufolge nach der Niederlage gegen die Hun­
nen 375 und dem Untergang seines Reiches Selbstmord beging. Nörd­
lich der Donau und westlich des Schwarzen Meeres, also vor allem im
Gebiet des heutigen Rumäniens, lebten Tervingi genannte Goten, die
seit 332 Vertragspartner des Römischen Reiches waren. Sie standen un­
ter der Führung eines Richters (iudex) – zuletzt wurde dieses Amt von
­Athanarich bekleidet. Über das Leben in der tervingischen Gesellschaft
gibt die ­Leidensgeschichte des hl. Saba, der 372 bei einer von Athanarich
angeordneten Christenverfolgung das Martyrium erlitt, zahlreiche In­
formationen. Seine ­Lebensbeschreibung berichtet über die Konflikte,
die das Eindringen des Christentums in die traditionelle gotische
Stammesgesellschaft mit sich brachte. Zentrale Figur der christlichen
­M ission in den gotischen Gebieten war Bischof Wulfila, der auch eine aus
dem griechischen Alphabet entwickelte und mit runischen Buchstaben
­erweiterte Schrift für das ­Gotische entwickelte. Bis 375 lebten die tervin­
gischen Gruppen in entspanntem Verhältnis zum Römischen Reich. Das
belegt die Archäologie der Region, die starke römische Einflüsse zeigt.
Archäologisch dominiert nördlich der Donau und des Schwarzen Meeres
ˇernjachov-Sîntana de Mureş-Kultur,
im 4. Jahrhundert die sogenannte C
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die sich durch Gräberfelder mit Brand- und Körperbestattungen sowie
Eigenarten der Sachkultur – unter anderem Keramik, Kleidungsbestand­
teile – auszeichnet. Ausgrabungen in Siedlungen belegen, dass Viehhal­
tung und Landwirtschaft die primäre Existenzgrundlage bildeten. Da­
neben gingen die Bewohner vielfältigen handwerklichen Tätigkeiten
nach und trieben Handel.
Goten waren freilich nicht die einzigen Bevölkerungsgruppen, die
im 3. und 4. Jahrhundert am Rande des Schwarzen Meeres und nördlich
der Donau siedelten. Im Laufe der Völkerwanderungszeit spielen etwa
immer wieder Heruler eine Rolle, die im 4. Jahrhundert ein Königreich
am Asowschen Meer bildeten. Gegen Mitte des 4. Jahrhunderts unter­
warf der Gote Ermanerich dieses Reich, anschließend kam es mit den
greuthungischen Goten unter hunnische Herrschaft. Die Schriftquellen
nennen zahlreiche weitere Gruppen, deren genaue Siedlungsgebiete im
Raum zwischen Schwarzem Meer und der Region nördlich der mittleren
Donau schwer zu lokalisieren sind, unter anderen Skiren am Schwarzen
Meer, Gepiden im Karpatenbecken, hasdingische Vandalen im pannoni­
schen Raum, Burgunden und Rugier im mittleren Donauraum.
Die Ankunft der Hunnen
In den frühen 370er Jahren trat nördlich des Schwarzen Meeres eine neue
militärische Kraft auf den Plan. Die Hunnen waren eine heterogene
Gruppe von Steppenkriegern, die durch die Schnelligkeit ihrer Reiter
und die Gefährlichkeit ihrer Reflexbögen Gegner in Angst und Schrecken
versetzten. Zunächst griffen die Hunnen jedoch nicht direkt an, viel­
mehr übten die von ihnen besiegten Stämme Druck auf das Römische
Reich aus. Erst diese lösten die Vorgänge aus, die traditionell als Beginn
der eigentlichen Völkerwanderungszeit angesehen werden. Im 4. Jahr­
hundert hielten sich Hunnen im Raum zwischen den Flüssen Don und
Wolga auf. Um 374 unterwarfen sie das Reich der am Don siedelnden Ala­
nen. 375 griffen die immer weiter nach Westen vordringenden Hunnen
die greuthungischen Goten unter ihrem König Ermanerich an, deren Wi­
derstand erfolglos blieb. Ein Großteil der Greuthungen kam unter hun­
nische Herrschaft, einige Teile des Heeres verbündeten sich mit Alanen
und dienten sich dem Römischen Reich als Hilfstruppen an.
Wie die Greuthungen unter Ermanerich versuchten auch die Tervin­
gen unter Athanarich 375 vergeblich, den Hunnen Widerstand zu leis­
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Die Siedlung von Sobari
Rekonstruktion des zentralen Steingebäudes in
der völkerwanderungszeitlichen Siedlung von
Sobari (Moldawien).
ÜBERSCHRIFT
ÜBERSCHRIFT
I
Die Siedlung von Sobari dehnte sich über rund dreißig Hektar aus, von denen
bislang nur ein Teil untersucht worden ist. Unter den Ausgrabungsergebnissen
sticht vor allem ein Steingebäude von etwa 18 x 10 Meter Grundfläche hervor.
Seine Wände waren sorgfältig mit Kalkmörtel aus Bruchsteinen und Ziegeln gemauert, das Innere gliederte sich in einen größeren und einen kleinerem Raum.
Das Äußere des Gebäudes prägte ein Säulenumgang, von dem sich steinerne
Säulenbasen erhalten haben. Gedeckt war es in römischer Manier mit Ziegeln.
Bemerkenswert sind zudem Bruchstücke von Fensterglas. Zum Steingebäude
gehörten weitere, aus Holz errichtete Nebengebäude. Umgeben war die Anlage von einer Steinmauer, die ein Gelände von 90 x ca. 50 Metern innerhalb der
Siedlung einfriedete.
Die Funktion des Steingebäudes ist nicht abschließend geklärt. Seine Architektur ähnelt mediterranen Tempelanlagen, was auf eine kultische Nutzung schließen lässt. Der Fund einer Öllampe mit christlicher Symbolik deutet auf christliche Bewohner. Sicher ist vor allem, dass sich in der Anlage massiver Einfluss
aus dem Mittelmeerraum manifestiert. Dieser zeigt sich auch im weiteren Fundmaterial, zu dem zahlreiche Amphoren zählen.
Die Siedlung von Sobari belegt neben der Existenz eines überregional bedeutenden, komplex gegliederten Zentrums mit weit reichenden Verbindungen
die kulturelle Orientierung der regionalen Eliten am Vorbild des Römischen
­Reiches. n
m Raum nördlich der unteren Donau entwickelten sich bereits während der
römischen Kaiserzeit komplexe Sozial- und Wirtschaftsstrukturen. Das verdeutlicht nicht nur das Vorkommen zahlreicher römischer Importgüter, sondern auch
die Übernahme römischer Lebens- und Bauweisen.
Besondere Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang die Siedlung von Sobari ganz im Norden der heutigen Republik Moldawien am rechten Ufer des
Flusses Djnestr. Die Fundstelle befindet sich weit im barbarischen Hinterland:
Bis zur römischen Reichsgrenze sind es rund dreihundert Kilometer, fast ebenso
weit entfernt liegt die Küste des Schwarzen Meeres.
Zeitlich gehört die Siedlung vor allem in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts,
jene Periode, in der die Hunnen erstmals in den Gesichtskreis der Mittelmeerwelt traten. Der Fund goldener
Zierbleche, die von einem
­Sattel reiternomadischer
Mach­art stammen, deutet auf die Anwesenheit
östlicher Reiterkrieger in Sobari. Gemeinsam mit weiteren Fundstellen
zeigt Sobari auch,
dass die regionale
Besiedlung im
Stile der sogenannten Cˇ ern­jachov-Sîntana
de Mures¸-Kultur nach
der Ankunft der Hunnen in
Europa keineswegs abbrach, sondern
fortdauerte. Allerdings verringerte sich unter
hunnischer Herrschaft die archäologisch erkennbare
Besiedlungsdichte deutlich.
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Wandernde Völker
ten. Letztere beherrschten nun den gesamten Steppenraum nördlich des
Schwarzen Meeres bis an die untere Donau. Ein Teil der Tervingen zog
sich nach der Niederlage in die Karpaten zurück. Eine bedeutende Zahl
von Goten sammelte sich jedoch an der Donau und überquerte den Fluss
376. Der römische Kaiser Valens kämpfte zu diesem Zeitpunkt im Osten
gegen die Perser und musste den gotischen Übertritt ins Reich wohl oder
übel akzeptieren. Die Neuankömmlinge waren wahrscheinlich willkom­
mene Rekruten für die Armee und Siedler für wüstgefallene Flächen. Zu
jenen, die 376 über die Donau ins Römische Reich eindrangen, zählten
neben tervingischen und greuthungischen Goten auch Alanen, Taifalen,
Hunnen, Balten und Angehörige anderer Stämme – eine bunte Mischung
unterschiedlichster Herkunft.
Dass barbarische Gruppen um Aufnahme ins Römische Reich baten,
war zunächst kein außergewöhnliches Ereignis. Ähnliche Vorgänge,
wenn auch mit weit kleineren Menschengruppen, hatte das Imperium an
vielen Abschnitten der Reichsgrenze immer wieder bewältigt. Neu war,
dass sich die Neuankömmlinge von 376 innerhalb kürzester Zeit zu ei­
ner echten Bedrohung für das Reich entwickelten. Ähnliches hatte Rom
seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt. Der wohl größte römische Fehler
dieser Jahre bestand darin, den in der Provinz Moesia im heutigen Bul­
garien angekommenen Flüchtlingen keine echte Perspektive zu bieten,
sie nicht neu zu organisieren und schlecht zu versorgen. Ammianus Mar­
cellinus machte dafür die Habgier der Heerführer Lupicinus und Maxi­
mus verantwortlich. Er berichtet, man habe den hungernden Barbaren
Hunde gegen Menschen angeboten, welche in die Sklaverei verkauft wur­
den. In dieser Lage nahmen Alaviv und Fritigern das Heft des Handelns
in die Hand, verstärkt durch greuthungische Truppen unter Alatheus
und ­Saphrax. Die Konflikte gipfelten 378 in der römischen ­Niederlage bei
­Adrianopel.
Mit den Siegern musste Rom nun aus einer ungünstigen Lage heraus
verhandeln. In den folgenden Jahren bekamen die Römer die Goten in
Moesien nach Aussage des Redners Themistios im Jahr 383 zwar militä­
risch unter Kontrolle – sie übernahmen in der Folge viele Goten in den
Reichsdienst –, einzelne Anführer blieben aber ein ständiger Unruhe­
herd, allen voran der tervingische Gote Alarich.
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Goten, Hunnen und andere Stämme in den Donauprovinzen
Die Goten Alarichs
391 begegnet uns unter den in Thrakien angesiedelten Gruppen zum er­
sten Mal ein Anführer namens Alarich – in den folgenden zwanzig Jah­
ren übte er immer wieder bestimmenden Einfluss auf das Schicksal des
Römischen Reiches aus. Der von Alarich angeführte Kriegerverband aus
Thrakien griff schon bald als willkommene Truppenverstärkung in in­
nerrömische Konflikte ein, so etwa in die Schlacht am Frigidus 394 zwi­
schen Theodosius I. und dem Usurpator Eugenius. Alarichs Heer war so
mächtig, dass er nach einer sicheren Position im Römischen Reich stre­
ben konnte. Im Gegensatz zu Einzelpersonen und kleinen Gruppen ließ
sich das Kontingent Alarichs jedoch nicht einfach in das römische Heer
integrieren. Stattdessen musste Alarich nach neuen Lösungen suchen
und wandte sich gegen das Imperium. Der eingeschlagene Weg war je­
doch ungewöhnlich: Er wählte den Kampf gegen die gleiche politische
Institution, in der er Erfolg haben wollte. Dabei wollte er weder das Rö­
mische Reich als solches noch die Römer insgesamt schädigen. Er ver­
suchte vielmehr, sein Glück im Reich mit Gewalt zu erzwingen. In einem
Wechselspiel von Drohungen, Versprechungen und gewalttätigen Akti­
onen zog Alarich mit seinem Kriegerverband zuerst nach Griechenland,
dann durch den Balkan und 401 nach Italien. Frühere Atlanten stellen
dieses Ereignis mit langen Pfeilen als „Zug der Goten“ dar – als das klas­
sische Beispiel einer Völkerwanderung. Tatsächlich zogen hier aber we­
der „die Goten“ noch ein ganzes „Volk“, sondern ein Heerhaufen mit
Begleitung auf der Suche nach einer sicheren Existenz im Römischen
Reich. Dort jedoch war die viel zu stark gewordene Gruppe schon längst
nicht mehr willkommen.
Diadem aus vergoldeter
Bronze und Einlagen
aus Glas und Halbedelsteinen von Csorna
(Kr. Györ-Sopron, Ungarn). Entsprechende
Diademe fanden sich in
einiger Zahl in hunnenzeitlichen Bestattungen
im Karpatenbecken.
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