Die Kulturgesellschaft. Was müssen wir tun, damit sie kein - ekz

Die Kulturgesellschaft.
Was müssen wir tun, damit sie kein Wunschbild bleibt?
Adrienne Goehler
Vortrag im Rahmen der Veranstaltung
„Die Kulturgesellschaft ... und die Zukunft der Bibliotheken“
in der ekz.bibliotheksservice GmbH, Reutlingen, am 31. Mai 2007
1. Das Unbehagen an der Gegenwart
Der Zustand der Republik? Flach atmend und erschöpft, physisch und psychisch.
Verhärtungen und Verkrustungen überall. Die Energien scheinen im Festhalten am
vergehenden Bestehenden gebunden, in der künstlichen Ernährung einer Daseinsform, die zusammen mit dem Sozialstaat in einer Art Wachkoma liegt. Die Menschen
haben fühl- und messbar Angst, Hartz IV ist zu einem Synonym für gelebte und
befürchtete Entwertung geworden.
Die meisten wissen es, alle ahnen und fürchten es, aber die Parteien leugnen es:
Es wird keine Vollerwerbstätigkeit in Hochpreisländern mehr geben.
Damit geht dem Sozialstaat Bismarckscher Prägung sein Fundament, seine Voraussetzung verloren: Der lebenslang beschäftigte männliche Ernährer der Familie. Wir
sind herausgefordert, eine Umbewertung von Arbeit vorzunehmen, einen neuen
Umgang damit zu finden, zu erfinden, denn die ungebrochene Erwerbsbiografie
ist die Ausnahme, nicht mehr Regel.
Der Glaube, dass wir noch aufgehoben sind im traditionellen Verantwortungsdreieck
Industrie-Parteienpolitik-Gewerkschaften, bei diesen "ausgekühlten Bedürfnisgruppen"
(Sloterdijk) schwindet und mit ihm das Vertrauen in ihre Groß- und Flächenlösungen,
die entlang von verfestigten Ressorts gedacht werden, die immer weniger die sich
verändernden Arbeits- und Lebenswelten und die Bedürfnisse der Bevölkerung
erfassen.
Wer fragt, der hört das Leiden am Primat des so genannten Effizienten, das nicht nur
die Ökonomie, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche, mithin das eigene Leben
durchdringt und dem das Politische gänzlich unterworfen scheint.
Es hört sich nach einem Leiden an der Politik an, am Wie ihres Umgangs mit der
Erosion des Sozialstaates; nach einem Leiden an den herkömmlichen Methoden der
Politik, die auf das Bekannte und seine Lobbyisten setzt, statt Raum zu geben für die
Entwicklung des Vermögens des Einzelnen.
Wer fragt, der hört: Die Menschen haben es satt, von der Politik nur als Problem, nicht
aber als Teil von Lösungsmöglichkeiten verstanden zu werden, sie haben es satt, zur
ehrenamtlichen Reparatur des Überkommenen aufgefordert zu sein, statt ihre Ideen in
die Gestaltung eines Neuen, Anderen einbringen zu können.
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Nach dem eigenen Können und Vermögen nicht gefragt zu werden, macht krank und
kostet die Gesellschaft viel.
Jeder Mensch flehe »ewig um das angestammte Recht seiner Einmaligkeit, wie die
Schneeflocke und der Fingerabdruck, die immer verschieden von einander sind,«
beschreibt dies Yehudi Menuhin, und jedeR spürt diesen Wunsch doch, auch und
gerade dann, wenn das reale Leben dies verweigert. Im legendären Jugendmusical
Linie 1 des Berliner Grips-Theaters heißt es alltäglicher: »Ick will jebraucht werden,
vastehste?!«
Das »nicht gebraucht, nicht gefordert, nicht gemeint sein«, erniedrigt nicht nur den
einzelnen Menschen, sondern wirkt sich in teuren Langzeitkrankheiten aus und zeigt
sich in neuen Krankheitsbildern. Seit einiger Zeit spricht man vom »chronischen
Verbitterungssyndrom«; Richard Sennett nennt es "das Gespenst der Nutzlosigkeit".
Wer nimmt, muss geben. Wenn der Staat weniger Fürsorge zu verteilen hat, muss er
Macht abgeben, das heißt: auch den Anspruch, alles bis ins kleinste Detail regeln zu
wollen, er muss also Räume freigeben, im Kleinen wie im Großen. Er muss die Fähigkeit entwickeln, Initiativen zu erkennen. Er muss zulassen können.
JedeR von uns kennt zahllose Beispiele, in denen Impulse zur Veränderung des
schlechten Bestehenden an bürokratischen Hindernissen scheitern. Ich greife ein
Beispiel aus der aktuellen Kita-Diskussionen auf: Die Familie aus London, die nach
München zieht und einigermaßen entsetzt feststellt, dass es dort nur für 3 % aller
unter Dreijährigen einen Krippenplatz gibt. Sie findet mit anderen Eltern für fünf Kinder
eine Wohnung und eine hervorragende Pädagogin. Prima, denkt man, es gibt sie, die
Menschen, die zunächst die pure Not erfinderisch macht und die dann merken, dass
sie auf diesem Wege auch die Pädagogik mitbestimmen können und ihre Kinder
optimal versorgt wissen. Als sie nach einem staatlichen Zuschuss fragen, fordern die
Behörden für fünf Kinder extra kleine Klos (sehr teuer), einen Notausgang mit Feuerrutsche (extrem teuer). Von den Eltern, die abwechselnd selber kochen wollten,
verlangen sie eine Bescheinigung vom Gesundheitsamt oder vom Arzt gemäß § 43
Abs. 1 Nr. 1 Infektionsschutzgesetz. Nicht enden wollender Papierkram, der dem
Jugendamt zu überbringen ist. Die Betreuerin ihres Vertrauens kann das komplette
Paket an geforderten staatlichen Bescheinigungen nicht vorweisen. Ergebnis: Die
Initiative kapituliert.
Ich träume davon, dass in jeder öffentlichen Verwaltung wenigstens ein Mensch sitzt,
an dessen Türschild steht: Hilfe zu neuen Modellen. Modelle der Selbstorganisation,
die in die Lücke springen für staatlicherseits fehlende Ideen, Finanzen und Räume.
Das Abwürgen von Eigeninitiative ist nicht nur teuer, sondern unklug, wenn nicht gar
fatal. Es hindert Menschen daran, eigene Wege zu gehen und genau dafür Verantwortung zu übernehmen. Denn Verantwortung hat etwas mit antworten zu tun, und
antworten kann nur, wer gefragt wird. Kulturgesellschaft ist gestaltende Verantwortung
Sie setzt auf die Teilhabe an anderen Denk- und Handlungsweisen, um dadurch
gesellschaftliche und ökonomische Produktivität mitzugestalten. Dadurch unterscheidet sie sich prinzipiell von Konzepten des Neoliberalismus, die das Ehrenamt
dort beschwören, wo staatliche Hilfe ausbleibt und dabei übersehen, dass nur diejenigen ehrenamtlich arbeiten, die "Besitzer" eines Arbeitsplatzes oder gut verdienende Rentner sind, die genau daraus ihr Selbstbewusstsein beziehen. Das Ehrenamt
kann das nicht kompensieren, was der Kulturwissenschaftler Wolfgang Engler poin-
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tiert das Cogito der Lohnarbeitsgesellschaft nennt: »Ich werde bezahlt, also bin ich.«
Ankündigungstext eines Theaterstücks in Leipzig, der das diese Zeiten so prägende
Gefühl gut trifft: Erfolg in der Arbeit, Erfolg überhaupt und Geld machen sexy. Was
tun, wenn man von all dem nicht mehr viel zu bieten hat? Der Investmentbanker
Martin verliert seine Stellung und kann nicht verhindern, dass er nach und nach aus
dem gesellschaftlichen Leben herausfällt; Kerstin hat es satt, sich mit Jobs knapp
überm Sozialhilfeniveau durchzuschlagen; Robert, als Angestellter in einem grauen
Alltag gefangen, hat plötzlich Aussicht auf ein sorgenfreies Leben – aber die Sache
hat einen Haken; Laura hat jahrelang für ihre Familie gelebt – bis zu dem Tag, an dem
sie von ihr auf einem Zeltplatz vergessen wird. Der Zufall führt die vier zusammen.
Neben dem ökonomischen Überleben besteht die Hauptschwierigkeit für sie darin, ein
selbstwertes Leben zu führen und die Fähigkeit zu erlernen, sich selbst zu regieren,
wenn die Arbeit als Struktur gebendes Element wegfällt.
Was hat Kultur, was andere nicht haben? Mit Hannah Arendt könnte eine Antwort
lauten: das »Glück der Öffentlichkeit«, was für sie die Triebfeder des anfangenden
Handelns ist.
2. Die gesellschaftliche und ökonomische Relevanz
der Künste und Wissenschaften
Wir leben also in einer Zeit des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, in einer
Zeit des „nicht mehr und noch nicht“. Die Hoffnung auf »mehr, besser, schneller«
ist nicht mehr, was an die Stelle treten soll, damit »der Mensch ein Mensch ist, bitte
sehr«, ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens.
Der amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt hat die gegenwärtige Zeit als die
zwischen zwei Klammern bezeichnet: Noch nicht zurückgelassen sei die Vergangenheit, die zentralisierte, industrialisierte, in sich abgeschlossene alte Welt, die auf
Institutionen, Nationalstaaten, starren Hierarchien und Kurzzeitlösungen aufgebaut
war. Gleichzeitig nähmen wir die Zukunft noch nicht an. »Wir halten noch an der
bekannten Vergangenheit fest, aus Angst vor der unbekannten Zukunft. Oder wie
Shakesspeare so schön sagt: Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als
zu unbekannten fliehn.
Wir leben in Zwischenzeiten: einerseits politische Großlösungen, die monoton,
monothematisch und hilflos auf den unaufhaltsamen Verlust klassischer Erwerbsarbeit
reagieren, andererseits eine erhebliche Zunahme von Arbeitsplätzen im kreativen
Bereich, im Non-Profit-Sektor und in den Nichtregierungsorganisationen, so dass wir
gleichzeitig von einer ökonomischen und sozialen Basis einer Gesellschaft sprechen
können, die mehr und anderes sucht als die Verwaltung ihres Mangels. Die mehr will
als zu überleben.Wir sind mitten in einer Phase der »heraufziehenden Spaltungen der
Weltbevölkerung in globalisierte Reiche und lokalisierte Arme (Zygmunt Bauman).
Jene überwinden den Raum und haben keine Zeit, diese sind an den Raum gefesselt
und müssen ihre Zeit, mit der sie nichts anfangen können, totschlagen.«
Wenn Prognosen, Studien, Einsichten und Menetekel zu demselben Ergebnis führen
– nämlich dass eine Gesellschaft, deren Selbstverständnis auf Arbeit beruht, unter
globalisierten Bedingungen nicht mehr tragfähig ist –, stellt sich die Frage nach
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einer anderen – verflüssigten – Ökonomie und damit verbunden einem erweiterten
Verständnis von Arbeit. Die Entwürfe der Industrie-, Dienstleistungs- und Arbeitsgesellschaft tragen nicht mehr, aber der politische Diskurs lässt noch nicht erkennen,
dass Arbeit umfassender definiert werden würde, im Sinne einer schöpferischen
Tätigkeit, also kreativer Arbeit. Denn unrettbar verloren ist die unselbstständige Arbeit,
nicht aber die selbsttätige Gestaltung, die Arbeit im Sinne von Selbstverwirklichung
oder der Schaffung eines Werks, um mit André Gorz zu sprechen: Die Arbeit im Sinne
von poiesis ist die relevante zukünftige Form der Arbeit, obwohl auch sie zu keiner
Vollerwerbstätigkeit mehr führen kann.
Die Kulturgesellschaft setzt auf das, was den Menschen, mit den Worten von
Hannah Arendt, auszeichnet: Die Fähigkeit immer wieder anfangen, experimentieren,
ausprobieren, verwerfen zu können. Und dies genau sind die elementaren Arbeitsund Denkweisen, die Künste und Wissenschaften motivieren und deren Ausweitung
auf weitere gesellschaftliche Felder jetzt ansteht.
Im Zwischenraum zu sein bedeutet, Ambivalenzen aushalten zu müssen. Darin sind
KünstlerInnen geübter als andere, denn sie sind von Hause aus spezialisiert auf
Übergänge, Zwischengewissheiten und Laboratorien – das verträgt sich nicht mit
Verharren im Bestehenden. Neu ist, dass sie in dieser Art zu arbeiten, zu einer Art
"Rollenmodell" werden: Modell für virtuosem Umgang mit dem Prekären, zynisch
kann man sagen: KünstlerInnen und anstellungslose WissenschaftlerInnen sind die
Avantgarde der prekären Verhältnisse. (Ich spreche hier natürlich nicht von den
lebenslänglich verbeamteten künstlerischen Existenzen und wissenschaftlichen
Excellenzen.)
Die Ressource der Gegenwart, sagt der US-Soziologe Richard Florida, ist die
Kreativität. In seinem viel diskutierten Buch "The rise of the creative class" macht
er plausibel, dass nur im kreativen Bereich ein Anstieg von Arbeitsplätzen entsteht,
die sich allerdings in Form, Gestalt und Inhalt deutlich von den traditionellen unterscheiden. Florida: »Heute arbeiten in den hoch entwickelten Industrienationen
zwischen 25 und 30 Prozent aller Werktätigen im Kreativsektor – das heißt, in Wissenschaft und Technik, Forschung und Entwicklung, in Kunst, Musik, Kultur, Ästhetik und
Design sowie in den wissensbasierten Berufen der Bereiche Medizin, Finanzwesen,
Informatik und Recht.« Die Aufzählung der so unterschiedlichen Arbeitsfelder und die
Behauptung von Kreativität im Zusammenhang mit Finanzwesen und Recht lassen
zunächst stutzen, aber Florida geht es allgemein um einen veränderten Umgang, um
kreative Lösungen innerhalb von gemeinhin als reglementiert geltenden Berufsfeldern.
Und in der Tat hängen Entwicklungsmöglichkeiten eben auch von einem kreativen
Gegenüber in der Politik ab.
Florida identifiziert drei »T«s – Technologie, Talent und Toleranz – als die Bedingungen der ökonomischen Wirkkraft von Kreativität: Technologische Kapazitäten vor
Ort werden vorausgesetzt, diese brauchen talentierte Menschen, um einen kreativen
Mehrwert zu erzeugen. Diese Menschen wiederum brauchen ein tolerantes und
kulturelles Umfeld. Er fordert: »Wir müssen öffentliche und private Gelder umleiten
von Investitionen in physisches Kapital – neue Maschinen und andere Formen
technischer Infrastruktur – hin zu Investitionen in kreatives Kapital.« Also in Bildung,
künstlerische und wissenschaftliche Forschung , und um Ausgründungen zu ermöglichen.
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Für die Diskussion einer Kulturgesellschaft, für die Frage nach dem Potenzial von
Künsten und Wissenschaften gibt Florida also einen wichtigen Anstoß: Kultur, Kunst
und Wissenschaft sind die kreativen Motoren ökonomischer Entwicklungsfähigkeit.
Anders gesagt: Die Anzahl neuer Arbeitsplätze und die wirtschaftliche Prosperität
eines Landes, einer Region, einer Stadt hängen zunehmend vom Stellenwert ab,
den die Künste und Wissenschaften in ihnen einnehmen. Um sich entfalten zu
können, brauchen sie die Wechselwirkung mit dem jeweiligen urbanen Raum,
einem gesellschaftlichen Klima, das die Freiheit, divergierende Lebensformen
zu wählen, ermöglicht, kurz: ein kreatives Umfeld. Auch hier also braucht es die
Verflüssigung von Milieus.
Auch deutsche Studien, wie die des WZB gehen davon aus, dass die Arbeitsplätze
der Zukunft sich an denen der Künstler und Publizistinnen orientieren werden.
Arbeit ist für die Kreativen ein zentraler Bestandteil dessen, was sie sind und was sie
sein wollen. So motiviert, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit
zunehmend, die getaktete Wirklichkeit des Bürgerlichen mit ihren strikten Trennungen
zwischen Arbeit und Freizeit verwischt. Arbeit wird in Selbsttätigkeit umgewandelt,
das ist der Kern von Kreativität.
Im Entwurf einer Kulturgesellschaft aber muss die Kehrseite eines solchermaßen
entgrenzten kreativen Arbeitslebens mitgedacht werden: Es bedeutet auch den
Verlust von Struktur und Bindung sowie den Verlust des befreienden Gefühls des
»Freitag ab eins macht jeder seins«. Die Kreativwirtschaft ist aber, wiewohl kräftig
ansteigend, kein Allheilmittel, sie kann die Anzahl der Arbeitsplätze nicht ausgleichen,
die dadurch verloren gehen, was führende Ökonomen jobless recovery nennen.
Wirtschaftlicher Aufschwung schafft keine neuen Arbeitsplätze, im Gegenteil er beruht
auf der Vernichtung der noch existierenden. Es gibt einen weiteren Aspekt, dessen
Aktualität jetzt selbst in der Parteienlandschaft in und bei den Medien angekommen
ist: Die prekären Lebensverhältnisse, in denen immer mehr Menschen stecken.
Es ist aber völlig falsch, daraus eine Unterschichtsdebatte zu machen, denn es trifft
zunehmend Berufseinsteiger, die sich von unbezahlten zu schlecht bezahlten Praktika
hangeln, so auch die 400.000 JungakademikerInnen, die in 1-Euro-Jobs arbeiten. So
auch die KünstlerInnen, die nach neusten Veröffentlichungen der Künstlersozialkasse,
gegenwärtig ein Durchschnittseinkommen unter 10.000 Euro jährlich haben.
Wir brauchen deshalb ein grundsätzlich anderes Verständnis von Lebens- und
Arbeitstätigkeiten. Wir brauchen andere Modelle der Teilhabe und der Anerkennung.
Seit einiger Zeit macht ein Modell Furore, das mir bedeutsam erscheint: Die Idee der
Trennung von Arbeit und Einkommen: Das bedingungslose Grundeinkommen. Ich will
mich nicht in die Berechnungsfeinheiten verfransen – nur soviel: Ein internationales
Netzwerk von Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, darunter zwei Nobelpreisträger
der Wirtschaftswissenschaften haben vier Kritierien formuliert: existenzsichernd,
individueller Rechtsanspruch, keine Bedürftigkeitsprüfung, kein Zwang zur Arbeit.
Das Grundeinkommen soll so hoch sein, dass es gesellschaftliche Teilhabe garantiert,
und individuell, unabhängig von Unterhaltsverpflichtungen von Ehegatten, Eltern und
erwachsenen Kindern, gezahlt werden. Von der Befreiung des Zwangs zur Arbeit
versprechen sich die Mitwirkenden eine neue Vielfalt von nebeneinander existierenden Arbeits- und Tätigkeitsformen.
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Darin liegt meines Erachtens der gesellschaftliche Mehrwert: in der Freiheit, zwischen
unterschiedlichen Sphären und Phasen des Lebens wählen zu können, zwischen
bezahlter Arbeit, Beziehungsarbeit, beruflicher Neuorientierung oder Erweiterung –
und ja: auch Müßiggang –, die sich gegenseitig unterbrechen, ergänzen, gar bedingen
können. Auch das nenne ich Verflüssigung. Einer der populären Vertreter dieser Idee
ist Götz Werner, Besitzer einer Drogeriemarktkette, der mittlerweile landauf landab
große Hallen mit seiner Idee füllt, Ministerpräsident Althaus aus Thüringen schließt
sich ihr an: Aus den gegenwärtig geleisteten Sozialausgaben ließen sich schon heute
allen Bundesbürgern 800 € ausbezahlen. Der katholische Bischof von Österreich
plädiert ebenfalls dafür. Wegfallen würde die ganze Bürokratie, die ich "tote Arbeit"
nenne. Zitat des Ökonomen Mitschke: »Seit Bestehen der Bundesrepublik hat sich
eine gigantische Sozialbürokratie herausgebildet, die mit 38 unterschiedlichen Arten
von Behörden und Quasibehörden 155 steuer- und beitragsfinanzierte Sozialleistungen verwaltet. Der Deutsche Städtetag hat schon 1984 festgestellt, dass
für die Vergabe von Sozialhilfe ein knappes Drittel auf ihre Verwaltung fiele.
Es lässt sich erahnen, wie es die psychische Verfassung der Republik beeinflussen
könnte, wenn die Angst so vieler davor sinken würde, die Existenz zu verlieren und
in einer Falle von Abhängigkeit, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlichem Abseits zu
stehen, es lässt sich ahnen, wieviel gesellschaftlich relevante Energie wirksam
werden könnte, gäbe es individuell die Voraussetzungen, durch die eigenen
Vorstellungen, etwas bewirken zu können.
3. Interkulturelle Relevanz der Künste und Wissenschaften
Die heute überall festgestellte Dringlichkeit des Dialogs der Kulturen der Welt kann
nicht auf Künstler- und WissenschaftlerInnen verzichten, weil sich deren Sicht auf
Welt nicht an diplomatischen und wirtschaftlichen, also taktischen und strategischen
Interessen ausrichtet, sondern auf die Freiheit der Künste und der Wissenschaft
berufen kann. Diese Freiheit begründet sich auch darin, dass Wissenschaften und
Künste nicht wie die Religionen eine dogmatische Lehre – schon gar keine Offenbarung wie die monotheistischen Religionen – zu vertreten haben. Wissenschaftliche
wie künstlerische Suchbewegungen zielen auf das Unentdeckte, auf das Befragen
des Bestehenden und sind darin allen kulturellen Entwürfen verwandt. Gegenüber
den gleichermaßen komplexen wie hierarchisierbaren Interessen, denen Staatspolitik
unterworfen ist, haben Wissenschaften und Künste damit im Dialog zwischen den
Kulturen der Welt einen größeren Bewegungs- und Freiheitsgrad.
Zwei Beispiele:
"You are the first thing from Israel, that is not a tank", zitierte Daniel Barenboim ein
Mädchen aus Ramallah. Sie spielt im dortigen Kinder- und Jugendorchester der
Stiftung, die von Daniel Barenoim und seinem palästinensischen Freund, dem
Literaturwissenschaftler Edward Said gegründet wurde. Bei der ersten Aufführung
habe ich dort eine Frau interviewt: Nein, ihr fehle nichts, ganz im Gegenteil, sie sei
so glücklich wie noch nie, sagt die Engländerin, die in einer Non-governmentorganization arbeitet und nach dem Konzert nicht aufhören kann zu weinen. In den
drei Jahren, die sie hier täglich die entwürdigende Situation am Checkpoint bewältige,
habe sie bisher keine vergleichbare Energie, solche Lust und einen Willen gespürt,
wie sie von diesen dreißig palästinensischen Jugendlichen ausgingen. Das, was sie
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gerade auf der Bühne und im Publikum erlebt habe, käme einem Ausbruch aus der
Hoffnungslosigkeit und der kollektiven Niedergeschlagenheit gleich und sei nicht nur
für die Einheimischen als Erfahrung elementar. Sie selbst habe diesen Moment so
dringend gebraucht, um sich zu erinnern, dass es noch etwas anderes gibt als das
Gefühl von fortwährender Demütigung und der permanenten Angst vor noch
Schlimmerem. Diese Stimmung wachse mit der Mauer um die palästinensischen
Gebiete – neun Meter hoch (= drei Stockwerke) –, die sie nicht nur von Israel trenne,
sondern von sich selbst. Ob ich mir vorstellen könnte, was sich da an Gefühlen
zusammen braut, wenn die Israelis drei Mal am Tag die Mauer für eine Viertelstunde
einen Spalt öffneten, damit die Leute zu ihren Familien, Schulen und Feldern gehen
könnten? Kann solch ein Konzertabend dieses Grauen unterbrechen, frage ich.
»Ja«, sagt sie ohne zu zögern, »und für einen kostbaren Moment etwas Verlorenes
oder nie Gekanntes geben: Würde.«
Ein zweites Beispiel, ausgerechnet eine Initiative des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Peter Struck darf als wohltuend und beispielhaft gelten: Sensibilisiert
durch Berichte über die erschreckend geringen Kenntnisse der Soldaten von der
Region Kosovo im Allgemeinen und über die völlige Unfähigkeit im Umgang mit durch
Gewalterfahrung traumatisierten Frauen im Speziellen, und den Berichten über
sexuelle Übergriffe der Soldaten auf die bereits traumatisierten Frauen, ergriff das
Ministerium im Dezember 2001 eine ungewöhnliche Initiative und bat die Bestsellerautorin Siba Shakib, vor Ort die Bundeswehrtruppen in Afghanistan zu unterrichten.
Die iranisch-deutsche Autorin und Filmemacherin begleitete Soldaten, Offiziere und
die jeweiligen Befehlshaber vor Ort bei Gesprächen und Patrouillen und erzählt in den
Militärcamps von den Sitten und Bräuchen, der Kultur und Geschichte Afghanistans,
der Beziehung der Geschlechter, über die Religionen und Tabus, mit dokumentarischen wie fiktionalen Mitteln. Entfernt denkt man dabei an die Fähigkeiten von
Scheherazade. Die Autorin arbeitet ohne Honorar, rechtfertigt das vor sich mit einem
Zugewinn an Erfahrung, aus der eine neue künstlerische Arbeit entstehen wird. (Es
ist schwer vorstellbar, dass ein Mann in dieser Situation genauso bescheiden wäre.)
Vor allem aber müsste diese beispielhafte Zusammenarbeit erweitert werden auf alle
Auslandseinsätze der Bundeswehr wie aller UN-Friedenstruppen, und sie gehörte
natürlich aus den Truppenkassen vernünftig finanziert. Die Außenpolitik der Bundesrepublik und ihre Verteidigungspolitik müssten für ein umfassendes Problembewusstsein in all diesen Konfliktfeldern sorgen, die sich auf den unterschiedlichsten Ebenen
– zwischen den Ethnien, zwischen den Geschlechtern, zwischen den Religionen,
zwischen den Clans – manifestieren; sie müssten landes- und sprachkundige, mehrsprachige Kultur- und Religionswissenschaftlerinnen, Psychologinnen, Städteplanerinnen, Bauingenieurinnen, Ärztinnen und eben speziell Kundige wie Siba Shakib
hinzuziehen, die mit ihrem jeweils professionellen Sachverstand die Situationen vor
Ort erkennen lehren. Das könnte man dann Verflüssigung nennen.
Verflüssigungen als Gegenmoment zur Abkapselung gesellschaftlicher Blöcke und
Verhärtung starrer Oppositionen, als Gegenmoment zur Verfestigung von Verhältnissen, die ihren Gegenstand aus dem Blick verloren haben. Versuche im Neuland,
Vorschein des Noch-Nicht.
Das Noch-Nicht-Bewusste, das mit dem Noch-Nicht-Gewordenen wechselwirkt, auf
einen unabgeschlossenen Entstehungsraum vor uns verweist, und an den Rändern
hochdämmert, sind Gestalten des objektiv Möglichen, der Welt als eines unab-
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geschlossenen Prozesses. Bloch schafft Blickrichtungen und -weiten, lässt nicht ab
vom Hoffen, einem Prinzip, das allen innewohnt und sich nicht zufrieden geben will
mit dem, was bloß ist. »Das Nicht ist kein Nichts, sondern charakterisiert unsere
Stellung in der Welt als Zünglein an der Waage zwischen Elend und Hoffnung.
Das Nicht ist gebunden an unsere Praxis. Es identifiziert uns selbst als Wartende,
Handelnde, Zuständige für den Lauf der Dinge. Es ist noch Leere, Möglichkeit,
Mangel an Etwas … Und dieser Mangel, den wir selbst als Nicht-Haben, als
Fehlendes, Fehlerhaftes empfinden, treibt uns zur Tat: Praxis.« Hannah Arendt
hat dafür das schöne Wortgewand "Das herstellende Handeln" entwickelt.
Dort setzt der Entwurf der Kulturgesellschaft an, der sich nicht auf die gegenwärtige
Einsichtsfähigkeit der Politik verlässt, aber in Auseinandersetzung mit ihr eigene
Wege beschreitet, die das Noch-Nicht als Möglichkeit, als gedankliche und praktische
Überschreitung des bestehenden Mangels versteht. Wenn Utopien als Positionen
ohne physischen Raum verstanden werden, sind Heterotopien (Michel Foucault)
reale Positionen, effektive Verortungen, die sich an den Rändern der Gesellschaft
abzeichnen.
In dieser Hinsicht habe ich Beispiele im Buch gegeben – alle zeigen auf ihre Art einen
Vorschein des Noch-Nicht, sind kleine Heterotopien. Sie reagieren auf einen gefühlten
Mangel, sie folgen einem Impuls, aus dem Bestehenden auszubrechen, aus den
Momenten von Unter- und Überforderungen, die normierte, verfestigte Verhältnisse
mit sich bringen. Sie alle sind auf ein Überschreiten angelegt und empfehlen sich
zur Annäherung, Anwendung, Vervielfachung, zur Verbreiterung. Als Anstoß zum
Weiterdenken. Es sind individuelle Modelle aus den Methoden- und Wahrnehmungsmöglichkeiten der Künste, haben eine klare AutorInnenschaft, hervorgegangen aus
Überzeugung und oder aus Not. Sie sind gewissermaßen aus Selbstermächtigung
entstanden, und ziehen Konsequenzen aus den Reibungsverlusten durch starre
Grenzen ihrer Referenzsysteme; sie zielen auf eine radikale Veränderung der
Bildungslandschaft und auf ein partizipatorisches, jedenfalls erweitertes Verständnis
künstlerischer Arbeit, die wie die wissenschaftliche Arbeit eben nicht nur Handelsund Wissensware erzeugt, sondern von der Gesellschaft noch weitgehend
unentdeckt: HANDLUNGSKONZEPTE! Jochen Gerz sagt dazu: Kunst und Kultur
können nur wirklich werden, wenn sie Mittel der Verwirklichung werden.
Und gibt es derzeit etwas Naheliegenderes, als der alarmierende Zustand, in dem sich
die Bildung für alle wahrnehmbar befindet, um die brennende Aufforderung zu spüren
nach: Handeln! Jetzt! Sofort!
Nie war die Situation günstiger als jetzt, da die Republik wachgerüttelt ist durch PISA,
um nicht nur kosmetische Korrekturen an einem überkommenen System vorzunehmen, sondern um den Abschied von der Verabreichung der zusammenhanglosen
Wurstscheiben, die der 45-Minuten-Unterricht bedeutet, einzuleiten. Jetzt. Mit der
Einführung der Ganztagsschulen ist für die SchülerInnen real mehr Zeit und für die
Schulen real mehr Geld da, um auf die Misere mit einer tiefgreifenden Veränderung
zu reagieren. Jetzt muss thematisiert werden, dass hierzulande Unterricht nur auf den
Vorderlappen des Gehirns zielt, dass unser Unterricht körperlos ist und den Sinnen,
also dem Hören, Fühlen, Sehen, Riechen, Schmecken keinen Raum gibt.
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Jetzt muss es uns interessieren, dass die Jugenddiabetis zunimmt, dass die wenigsten Kinder in der Lage sind, rückwärts zu gehen ohne umzufallen. Sir Simon Rattle,
der Dirigent der Berliner Philharmoniker hat mit seinem Projekt landesweit für
Aufmerksamkeit gesorgt, aus seiner Arbeit mit einem Choreographen und 250
Kindern, die zu einem Stück von Strawinsky tanzten, entstand der preisgekrönte Film
"Rhythm is it", und wir haben in vielen Nachfolgeprojekten erlebt, was Tanz als nicht
auf Sprache basierendes Unterrichtsfach bewirken kann. Wir wissen es auch aus
dem Theaterspiel und aus musikalischen Werken: es ist so wichtig, dass Schulalltag
nicht nur in Klassenarbeiten mündet, sondern auch in Aufführungen. Und wir konnten
von Einzelfällen wie der Schulleiterin Enja Riegel lernen, die ihre Helene-LangeSchule in Wiesbaden in den PISA-Himmel gehoben hat, indem sie die 45-minütigen
Unterrichtsstunden zugunsten von sich über Wochen hinziehende lustvolle Arbeit an
Theaterstücken aufgab, in denen die SchülerInnen Sprache, Geschichte und Physik
lernten.
Es gibt überall großartige Beispiele, die zeigen, wie wichtig es für den Schulalltag ist,
Menschen von außen, mit anderen Biografien, Leidenschaften, Berufen, hinzuzuziehen.
Die Kulturgesellschaft setzt auf die Kreativität, als das jedem Kind noch Eigene, bevor
es in ein Erziehungssystem gerät, das gerade dieses Vermögen schwächt, zugunsten
von Abfüllung von Wissen ohne ihre Anwendung.
Was wir brauchen, sind gute, unterschiedliche Modelle!
Künstlerischem Experimentieren geht es explizit um die «Bedingungen des
Möglichen«. Wie weit ist klassische Bildung etwa von einem Projekt des polnischen
Künstlers Pawel Althammer entfernt, der im Rahmen des Einstein-Jahrs 2005 mit
jungen polnischen Schulverweigerern in deren sozial deklassierten Warschauer
Stadtteil physikalische Grundlagen erkundet hat. In dem Projekt »Einstein Klasse«
begibt sich als Althamer als Künstler in einen naturwissenschaftlich-pädagogischen
Bereich und bricht ihn auf, indem er mit den Jugendlichen zusammen ein Labor im
Freien einrichtet, in dem sie Erkenntnisse über physikalische Phänomene durch
greifbare Erfahrungen, eigenes Ausprobieren und Auskundschaften gewinnen.
Auf einmal wird das Interesse der Schüler geweckt, plötzlich wollen sie alles wissen,
ihnen wird nicht aufgetragen zu beobachten, sie beobachten selbst einen nicht
kanongebundenen Erfahrungsraum. Der das Projekt dokumentierende Film, Fotos
und die Relikte, die die künstlerische Entdeckungsreise hinterlassen hat, zeigen
begeisterte Jungen, die Lust und Selbstbewusstsein aus dem von ihnen selbsttätig
gefundenen Wissen schöpfen. Mit diesem Projekt hat Althamer einen modellhaften
Raum geschaffen, ein kleines Labor für das künstlerische und wissenschaftliche
Experiment.
So kann ich Ihnen an einem Feld zeigen, wie Verflüssigungen entstehen könnten:
Projektbezogene Arbeit von Künstlern und Wissenschaftlern in Schulen, von Stadtplanern, Architekten, die den SchülerInnen ihre Stadt erklären und umgekehrt, das
würde die Kids nicht nur besser rüsten für das, was wir von ihnen immer stärker
erwarten, nämlich Eigeninitiative und Flexibilität, es würde auch nicht wenigen
KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen ermöglichen, ein zweites ökonomisches
Bein zu haben. Im Vokabular der Unternehmensberatungen wäre das dann eine
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klassische "win-win-Situation": Alle Beteiligten hätten etwas davon. Was wir dann
nur noch brauchen, sind politische Ressorts, die für einander durchlässig sind,
denn an deren Abgeschottetheit stranden die meisten Initiativen.
Verflüssigung würde aber auch bedeuten, dass Kids nicht von 8-13 Uhr der
Schulbehörde, danach der Jugendbehörde und dann der Sozialbehörde unterstellt
sind ...
4. Die Kulturgesellschaft
Kulturgesellschaft ist eine Haltung
- sie setzt auf das "Vermögen" der Einzelnen, auf seinen Willen zu gestalten und
gebraucht zu werden,
- sie reduziert die Menschen nicht auf ihr Dasein als Beitragszahler und
Empfangsberechtigte eines Sozialstaats, nicht auf Informationsempfänger
und -lieferanten einer Wissensgesellschaft und nicht auf Konsumbürger eines
Wirtschaftsstaats und definiert sich nicht in erster Linie über Lohnarbeit und die
zunehmende Abwesenheit derselben.
Und wirklich sozial wird eine veränderte und sich verändernde Gesellschaft erst,
wenn die Menschen nicht bedarfsbemessen werden, sondern sie selbst die
Bedingungen herstellen können, ihren je möglichen, eigenen, aktiven Beitrag darin
leisten zu können.
Handeln heißt anfangen können, sagt Hannah Arendt. »Was den Menschen zu einem
politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit
seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sachen mit ihnen zu machen, sich
Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten
kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil: etwas Neues zu beginnen.«
Künstlerisches wie wissenschaftliches Arbeiten lebt von einer Mischung aus Selbstreflexion und dem Schaffen von Neuem, neuen Formen des Denkens, Gestaltens,
Sehens. Ihm ist das Anfangen und Aufhören inhärent, es lebt vom selbst gewählten,
ständigen Neubeginn, eben auch durch Verwerfen, Korrigieren, Aufgeben, Wiederfinden.
Es muss also um nichts Geringeres gehen als um plurale Ökonomien, zu denen
auch die Diskussion um ein Grundeinkommen gehört. Deshalb würde sich eine
Gesellschaft, deren Leitidee das Kulturelle und deren Ressource die Kreativität ist,
die Kulturgesellschaft also auch unter ökonomischen Vorzeichen, auf das unterschiedliche Vermögen der Einzelnen und auf deren Vorstellungen von Leben und Arbeiten
stützen. Die Kulturgesellschaft, die sich als gestaltend versteht, kommt also einfach
nicht ohne die Künste und Wissenschaften aus, von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen. Damit sie aber ihre Möglichkeiten gesellschaftlich verbreitern können, brauchen sie ein Gegenüber in der Politik.
Wie würde sich der Klang dieser Republik ändern, wenn die Politik das ernsthafte
Gespräch mit den Künsten und Wissenschaften suchte, eine Zusammenarbeit über
den Zustand der Gesellschaft, ihrer gegenwärtigen Erkenntnisvermögen und ihrer
Weltfähigkeit.
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Ich schließe mit: "Jeder Mensch ist ein Künstler", jenem paradigmatischen und so
gründlich missverstandenen Satz von Joseph Beuys, den er präzisiert hat durch
»... eben gerade nicht, jeder Mensch ist ein Maler, jeder Mensch ist ein Architekt,
jeder Mensch ist ein Tänzer, sondern jeder Mensch ist ein sozialer Künstler«, meint
das In-Erscheinung-Treten einer Kunst, an der alle Menschen teilhaben, als Moment
einer individuellen wie politischen Gestaltungskraft. Beuys hat sich in all seinen
künstlerischen Arbeiten, die Vorträge und das Laboratorium der »Free International
University« umschloss, immer auf den Menschen als Teil einer emanzipierten,
künstlerisch-kreativ bestimmten Gemeinschaft bezogen, der die eigenen Geschicke
selbst in die Hand nimmt: »Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität.« Arbeit wird vor diesem Hintergrund eine vom Menschen in Freiheit
und Selbstbestimmung in Angriff genommene Gestaltungsaufgabe – sowohl am
Arbeitsplatz als auch bezogen auf die Gesellschaft. Das meint dann »Soziale
Plastik«: Die Ent-Edelung der Kunst durch ihre Benutzbarkeit als gesellschaftliches
Verflüssigungsmoment.
aus:
Goehler, Adrienne: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur
Kulturgesellschaft / unter Mitarbeit von Mareike Dittmer und Sophie Krempl. –
Frankfurt/New York: Campus, 2006.