Was haben die Herren Sergei Brin, Larry Page, Jeff Bezos, Mark

VO N PAU L J E Z E K
AUF YOUTUBE kann es jeder sehen
und hören: Die Google-Gründer Brin
und Page „stehen“ auf das von Maria
Montessori ab 1907 entwickelte pädagogische Bildungskonzept, das die
Zeitspanne vom Kleinkind bis zum
jungen Erwachsenen abdeckt. Es
geht um das Kind als „Baumeister
seines Selbst“ – und kaum jemand
hat wohl in den vergangenen Jahren
mehr
aufgebaut
als
Sergei
Michailowitsch Brin, der die Paint
Branch Montessori School in Adelphi, Maryland, besuchte. Auf der
Strecke geblieben ist dabei seine
Promotion an der Stanford-Universität, die er eben wegen der GoogleGründung bis heute nicht abgeschlossen hat. Larry Page hingegen –
Was haben die Herren Sergei Brin, Larry Page,
Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Gabriel García
Márquez mit den Damen Jackie Kennedy und
Anne Frank gemeinsam? Sie werden staunen …
Montessori-Schüler in Lansing,
Michigan – hat immerhin den Bachelor in Ingenieurwissenschaften und
den Master-Abschluss in Informatik
– eine Dissertation müsste allerdings
auch er nachliefern.
Doch nicht nur die beiden GoogleGründer reihen sich in die illustre
Liste der Montessori-Absolventen:
Auch Amazon-Gründer Jeff Bezos,
Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg
und Wikipedia-Mastermind Jimmy
Wales holten sich als Kind jede Menge Anregungen bei der „äußeren
Ordnung“ der Montessori-Materialien, die „dem kindlichen Geist als
Orientierung dienen und letztendlich
auch zu einer inneren Ordnung führen“ sollen.
Diese Lehrmittel, bei Montessori
Material genannt, stehen zur freien
Entnahme, in Augenhöhe der Kinder,
im Regal. Die gesamte Umgebung ist
kindgerecht, das heißt, dass auch die
Möbel in ihren Proportionen den
Kleinen angepasst sind. Außerdem
ist jedes Material nur einmal vorhanden – so sollen die Kinder Rücksichtnahme lernen. Dabei wählen die Kinder frei und nach ihrem jeweiligen
Entwicklungsstand, mit welchem
Material sie arbeiten möchten. Sie
sollen es im wahrsten Sinne des Wortes WERT-schätzen. Parallelen zum
späteren Nutzungsverhalten der Millionen User von Google, Amazon, Facebook und Wikipedia liegen wohl
nicht zufällig auf der Hand ...
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Schule ist jenes
Exil, in dem der
Erwachsene das
Kind so lange hält,
bis es imstande ist,
in der Erwachsenenwelt zu leben,
ohne zu stören.
MARIA MONTESSORI
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Doch nicht nur die Jungstar-Riege
der Internetwelt kann auf eine Montessori-Prägung zurückblicken. Auch
der „father of modern management“
Peter Drucker, Jacqueline Kennedy
Onassis, Washington-Post-Verlegerin
Katharine Graham, Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez,
Liedermacher Hermann van Veen
oder das Ex-Girlie und jetzige
Schauspielerin Heike Makatsch wurden im Geiste der berühmten Italienerin erzogen.
Auch Friedrich Stowasser, der später als Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser bekannt
wurde, kam bereits mit sieben Jahren
auf eine Wiener Montessori-Schule.
Bereits damals attestierten ihm die
Kunsterzieher einen außergewöhnli-
Familie Ehrlich, Firma Sportalm:
„Unsere Kinder gehen auf die MontessoriSchule, weil wir als Unternehmer genau
wissen, welche Fähigkeiten wir von unseren
Mitarbeitern verlangen: selbständiges Arbeiten, Teamfähigkeit, Flexibilität, Offenheit für
Neues, Kreativität; spezifisches Fachwissen
muss man sich sowieso individuell aneignen.
Die oben genannten ‚soft skills‘ lernt man
aber an keiner Regelschule.“
KADERSCHMIED
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DE MONTESSORI
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DIE DREI MONTESSORI-PHASEN
Laut Montessori gliedert sich der kindliche Entwicklungsprozess
in drei Phasen: Erstes Kindheitsstadium (bis sechs Jahre), zweites
Kindheitsstadium (sechs bis zwölf Jahre) und Jugendalter (zwölf bis
18 Jahre), die jeweils einen neuen Entwicklungsabschnitt darstellen.
Die erste und dritte Phase werden jeweils weiter in dreijährige Unterphasen eingeteilt. Das erste Kindheitsstadium ist laut Montessori
prägend, da sich in dieser Zeit die Persönlichkeit und Fähigkeiten des
Kindes formen. Montessori versteht die ersten sechs Lebensjahre
des Kindes als eine zweite embryonale Wachstumsphase, in der sich
Geist und Psyche des Kindes entwickeln. Dabei wird gerade das Alter
zwischen drei und sechs als die Entwicklungsphase gedeutet, in der
die zuvor (bis drei Jahre) embryonal aufgebauten intellektuellen,
motorischen und auch sozialen Funktionen weiterentwickelt und
gespeichert werden. Für Montessori ist dies unumkehrbar: „Erwachsene Individuen umändern zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch.“
Montessori fordert die Gewöhnung an Disziplin und Ordnung:
„Die Freiheit des Kindes muss als Grenze das Gemeinwohl haben,
als Form das, was wir als Wohlerzogenheit bei seinen Manieren
und seinem Auftreten bezeichnen. Wir müssen also dem Kind alles
verbieten, was die anderen kränken oder ihnen schaden kann oder
als unschickliche oder unfreundliche Handlung gilt.“ Das zweite
Kindheitsstadium bezeichnet sie als stabile Phase. Das Jugendalter
ist die Zeit einer radikalen Umwandlung. Die vielen physischen und
psychischen Veränderungen in diesem Alter führen zu einer tiefen
Verunsicherung. Gleichzeitig beginnen Jugendliche, sich als Teil der
Gesellschaft zu fühlen und wollen von dieser anerkannt werden.
chen Farb- und Formensinn. Allerdings durfte er dort nur ein Jahr bleiben, weil seiner Mutter gute Zensuren
in Deutsch und Mathematik wichtiger waren. So wechselte der junge
Stowasser auf eine „ganz normale“
Grundschule. Aber vielleicht war gerade dieses Jahr das entscheidende
und gedankliche Grundlage – etwa
für die Waldspirale in Darmstadt?
Denn die Methode Montessori
konzentriert sich ganz auf die Bedürfnisse, Talente und Begabungen
des einzelnen Kindes. MontessoriLehrer und -Pädagogen sind der
Meinung, dass Kinder am besten in
ihrem eigenen Rhythmus und auf
www.montessori.at
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Alle unsere Irrtümer übertragen
wir auf unsere
Kinder, in denen
sie untilgbare Spuren hinterlassen.
MARIA MONTESSORI
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ihre eigene Art lernen. Erstmals wird
auf offenen Unterricht und Freiarbeit gesetzt. Die Kinder werden
dazu ermutigt, sowohl Tempo als
auch Thema und Wiederholung der
Lektionen selbstständig zu steuern.
„Hilf mir, es selbst zu tun“, fasst diesen – für die damalige Zeit – revolutionären Erziehungsansatz am besten
zusammen. Vielleicht verdanken wir
dieser Methodik sogar eines der berühmtesten Tagebücher der Welt:
Anne Frank besuchte in Amsterdam
den Montessori-Kindergarten nicht
weit vom Merwedeplein und danach
die Montessori-Grundschule, die
heute Anne-Frank-Schule heißt.
Sogar Wissenschaftler stellten der
Montessori-Pädagogik ein gutes
Zeugnis aus. Für eine Studie wurden
Montessori-Kinder mit Gleichaltrigen verglichen, die eine „normale“
Bildung bekamen. Unter dem Titel
„Evaluating Montessori Education“
fassten die beiden US-Psychologinnen Angeline Lillard von der University of Virginia und Nicole Else-Quest
von der University of Wisconsin im
Wissenschaftsmagazin
„Science“
(09/2006) ihre Ergebnisse zusammen.
In einem ersten Durchgang wurden
Montessori-Kinder und eine gleichaltrige Kontrollgruppe in standardisierten Prüfungen am Ende ihrer
Kindergartenzeit beurteilt. Dabei
schnitten Erstere deutlich besser ab
als die Kinder der Vergleichsgruppe.
Sie hatten nicht nur beim Lesen und
Rechnen bessere Ergebnisse, sondern
waren auch im sozialen Umgang mit
Gleichaltrigen überlegen. Die Montessori-Kinder reagierten in kritischen Situationen auf dem Spielplatz
positiver und legten zudem mehr
Wert auf Fairness und Gerechtigkeit.
In einem zweiten Durchgang untersuchten die beiden Psychologinnen dann Zwölfjährige. Eine Gruppe
Univ.-Prof. Dr. Max Friedrich,
Kinder- und Jugendpsychiater:
„Die Montessori-Schule kommt jenen Eltern
entgegen, die die Stärken ihrer Kinder fördern
und nicht deren Schwächen bekämpfen
möchten. Hier wird das Kreative von jungen
Menschen angesprochen. Wesentlich ist
auch, dass die Schüler nicht nur den Lehrstoff
können, sondern auch behalten sollen. Hier
fängt nicht der Ernst des Lebens an. Hier
erweckt die Schule Neugier und macht Spaß.“
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Die Aufgabe der
Umgebung ist
nicht, das Kind zu
formen, sondern
ihm zu erlauben,
sich zu offenbaren.
MARIA MONTESSORI
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hatte bis dahin eine städtische Montessori-Schule besucht. Die Kontrollgruppe setzte sich aus Buben und
Mädchen zusammen, die wiederum
aus Platzgründen nicht aufgenommen worden waren und deshalb andere Schulen ohne Montessori-Methode besucht hatten. Beide Gruppen
wurden anhand von Aufsätzen und
Fragebögen evaluiert. MontessoriSchüler lieferten kreativere Essays
mit vergleichsweise fortgeschrittenen Satzkonstruktionen ab. In der
Rechtschreibung und Zeichensetzung unterschieden sie sich jedoch
nicht von den Kontrollschülern. Allerdings ließen ihre schriftlichen Arbeiten erkennen, dass sie einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn entwickelt hatten und ihre Schule als
kleine Gemeinde empfanden, in der
sie ihren festen Platz hatten. Kein
Wunder, dass die beiden Wissenschaftlerinnen in ihrer Studie zum
Schluss kamen, dass der MontessoriAnsatz beim akademischen und sozialen Verhalten zumindest ebenbürtige, oft aber bessere Ergebnisse als die
übliche Bildung erzielt.
Doch längst lockt die MontessoriBewegung nicht nur mit der am Kind
selbst orientierten Pädagogik. Sie
verspricht den Eltern auch Kontinuität bei der Ausbildung ihrer Kinder,
gibt es doch mittlerweile in fast aller
Herren Länder Montessori-Schulen –
sogar in Tibet. In Zeiten, in denen Eltern berufliche Mobilität abverlangt
wird, ist das im Hinblick auf einen
Schulwechsel ein wichtiges Argument. Das Wichtigste ist aber, dass
hier Kindern Raum für freie Entscheidungen gegeben wird. Dass ihnen geholfen wird, ihren Willen zu
entwickeln, und sie ermutigt werden,
selbstständig zu denken und zu handeln. Und dann kann aus ihnen alles
werden – sogar Internet-Pionier, Nobelpreisträger oder Künstler.
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