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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
Lernen à la DDR
Was wir von Honeckers Bildungssystem lernen können
Autoren: Dörte Hinrichs und Hans Rubinich
Redaktion: Christoph König
Eigenregie der Autoren
Sendung: Samstag, 07. November 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
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MANUSKRIPT
Atmo Maueröffnung
Autorin:
Die Bilder aus Berlin in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 sind
unvergessen. Jubelnde Menschen in Autos und zu Fuß drängen sich zur Berliner
Mauer. Die DDR hat ihre Grenzen zur Bundesrepublik geöffnet. Und nicht mal ein Jahr
später werden beide deutschen Staaten wieder vereint sein. Die DDR hört auf zu
existieren. Das Bildungssystem bleibt davon nicht verschont. Nur wenige Elemente
finden nach der Wiedervereinigung ihren Weg in die Schulpolitik der neuen
Bundesländer. Heute, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und zehn Jahre nach der
ersten PISA-Studie, diskutieren Politiker und Experten über lange vergessene Elemente
der DDR-Bildung und finden dabei auch Anregungen für die Schule der Zukunft.
Ansage:
Lernen à la DDR
Was wir von Honeckers Bildungssystem lernen können
Eine Sendung von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich.
OT Bulmahn:
Das ist sicherlich versäumt worden im Einigungsprozess wirklich kritisch auch zu
fragen, was sind eigentlich Errungenschaften im Bildungssystem, die wir auch erhalten
sollten. Also z.B. die enge Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule
war sicherlich eine Errungenschaft, die man hätte erhalten sollen in den neuen Ländern
und hätte von den alten Bundesländern übernehmen können. Oder z.B. eine stärkere
Praxisorientierung in der Lehrerausbildung und -fortbildung oder größere Gewichtung
der praktischen Anwendung von etwas Erlerntem, Anwendung in Alltagssituationen.
Autorin:
… sagte Edelgard Bulmahn, die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung
2002, als der PISA-Schock Politiker und Experten, Lehrer und Eltern aufgescheucht
hatte. Den deutschen Schulen war im internationalen Bildungsvergleich ein schlechtes
Zeugnis ausgestellt worden. Einige Elemente des DDR-Bildungssystems erscheinen
seitdem in einem neuen Licht. So etwa das lange gemeinsame Lernen der Schüler oder
die flächendeckende individuelle Förderung – Merkmale, die das PISA-Musterland
Finnland kennzeichnen, die aber auch den Schulalltag in der DDR prägten. Das
bestätigt auch Professor Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für
Bildungsforschung in Berlin und Leiter der PISA-Studie in Deutschland. Allerdings, so
räumt er ein, hatte der sozialpädagogische Bereich an DDR-Schulen zwei Seiten:
OT Baumert:
Der war auch wieder ideologisch sehr durchtränkt, aber auch in einer Weise ausgebaut
– 30 bis 40 unterschiedliche Angebote pro Schule mit einer Beteiligungsquote zwischen
70 und 80 Prozent in der Oberstufe, 100 Prozent in der Grundschule – das sind alles
Verhältnisse, von denen wir auch heute nur träumen können.
Autorin:
Ein ähnlich gutes Zeugnis stellten vor kurzem Ostberliner Jugendliche der Schule in der
DDR aus. Ohne sie selbst erlebt zu haben, halten die meisten sie für besser als in der
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Bundesrepublik. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt eine Untersuchung des
Politologen Prof. Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED Staat der
Freien Universität Berlin.
Das Ergebnis der Studie von Prof. Klaus Schröder lässt vermuten, dass die befragten
Ostberliner Schüler möglicherweise wenig darüber wissen, nach welchen Maßstäben
Schüler in der DDR lernten.
Dafür verantwortlich war vor allem Margot Honecker. Sie war von 1963 bis 1989
Ministerin für Volksbildung. 1965 wirkte sie maßgeblich mit am „Gesetz über das
einheitliche sozialistische Bildungssystem“. Neben den Lerninhalten wurde auch Wert
gelegt auf eine sozialistische Erziehung. Wie die aussehen sollte, erläuterte Margot
Honecker 1975 auf der Konferenz der Volksbildungsminister der sozialistischen Länder:
OT Honecker:
Das erfordert, dass wir der Jugend sowohl eine hohe wissenschaftliche Bildung
vermitteln, aber die Jugend auch so erziehen, dass sie alle Fragen vom Standpunkt der
Arbeiterklasse zu beurteilen in der Lage ist und dass wir die Jugend zu einer
sozialistischen Moral, zu einer sozialistischen Lebensweise erziehen.
Autorin:
Diese Staatsideologie prägte die Bildung. Die schwachen Schüler sollten nicht auf der
Strecke bleiben. Aber auch die künftige sozialistische Elite war wichtig. Daher bekamen
die guten Schüler viel Ansporn, sich noch weiter zu verbessern. Ein zentraler
Bestandteil waren Schul-Wettbewerbe. Die begannen teilweise schon in der 3. Klasse,
erinnert sich Dörte Rahming. Die Journalistin hat über ihre Kindheit und Jugend in der
DDR ein Buch geschrieben: Sie ist 1968 geboren und besuchte die Schule in Schwerin.
OT Rahming:
Also ich glaube, dass diese Mathe- und Russisch-Olympiaden, die wir hatten, dass das
unter Förderung der starken Schüler fällt. Und das waren dann Aufgabenstellungen, die
schon sehr komplex waren und wo ein normaler mathebegabter Mensch wie ich nicht
mehr mitgekommen ist. Also da hat man schon so ein bisschen die Begabten
rausgezogen.
Autorin:
Die Zeitzeugin Dörte Rahming steht mit dieser Einschätzung nicht allein. Nach Studien
des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung versuchte das DDR Schulsystem gute
Schüler weiter zu motivieren und zu fördern. Gleichzeitig zog es aber auch die
schwachen Schüler mit. Das belegt auch ein Leistungsvergleich zwischen
westdeutschen und ostdeutschen Schülern. Prof. Jürgen Baumert:
OT Baumert
Wir haben 1991 gleich nach der Wende eine Längsschnittstudie begonnen und in
Mecklenburg-Vorpommern, Ostberlin, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen die
Länder verglichen. Und bei der ersten Erhebung stellte sich ganz klar raus, dass die
Variabilität der Leistungen in den neuen Bundesländern deutlich geringer war als in
Nordrhein-Westfalen. Und zwar deshalb, weil die Förderung geklappt hatte.
Autorin:
Das heißt, dass es kaum Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Schülern der
neuen Bundesländer gab. Alle verfügten in etwa über den gleichen Level an Bildung.
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Allein auf die Wettbewerbe in der DDR lässt sich dieser Befund vermutlich nicht
zurückführen. Denn Schüler-Wettbewerbe gibt es auch im Westen, wie den
Vorlesewettbewerb oder „Jugend forscht“. Das motiviert und fördert einen kleinen Teil
der Schüler, eher schwache Schüler bleiben aber oft auf der Stecke. Vielleicht auch
deshalb, weil sie in Hauptschulen vielfach unter sich bleiben und ihnen gute Schüler als
Vorbild fehlen. Bei uns entscheidet sich nach der 4. oder spätestens nach der 6. Klasse,
wer zur Hauptschule, zur Realschule, zum Gymnasium kommt. Dieses dreigliedrige
Bildungssystem ist bis heute umstritten: Schon früh, nach Meinung vieler zu früh, wird
die Schullaufbahn eines Kindes festgelegt.
In der DDR lernten die Schüler lange gemeinsam: von der ersten bis zur zehnten
Klasse. Sie besuchten das Kernstück des Bildungswesens, die Allgemeinbildende
Polytechnische Oberschule, kurz POS.
Die Schule nannte sich polytechnisch, da die Schüler ab der 7. Klasse einen Tag pro
Woche in einem Betrieb die Arbeitswelt kennenlernen sollten. „Einführung in die
sozialistische Produktion“ stand dann auf dem Stundenplan. Dörte Rahming ging auch
auf die POS. Ihr Urteil fällt positiv aus. Vor allem findet sie es gut, dass sie bis zur 10.
Klasse mit denselben Mitschülern zusammen war.
OT Rahming:
Ich finde es besser, wenn Kinder länger zusammenbleiben, (…) weil man natürlich ein
festeres (…) Klassengefüge erreicht, was ich immer als sehr angenehm empfunden
habe, dass es das gab. Man gehört dann zu einer Gruppe dazu, und dieses Gefühl,
nicht immer rausgerissen und wieder umgesetzt zu werden, das habe ich als ungeheuer
wichtig empfunden.
Autorin:
Das sieht Jörn Lorenz, Jahrgang 1969, ähnlich. Er ist heute Lehrer an einem
Gymnasium in Winsen bei Hamburg. Als Kind ging er in Glowe auf der Insel Rügen zur
Schule.
OT Lorenz:
Ich habe es als sehr positiv empfunden, bis zur 10. Klasse auf einer Dorfschule sein zu
können. Mit den Freunden, die ich aus dem Buddelkasten schon kenne. Und auch,
dass diese Konkurrenz-Situation da auch nicht da war. Und diese kurzen Schulwege.
Dazu gehört auch, dass die Schule nachmittags noch offen war, weil an der Schule die
ganzen Arbeitsgemeinschaften liefen.
Autorin
Daneben hielten die Lehrer starke Schüler an, schwächeren Mitschülern zu helfen.
OT Rahming:
Also besonders Schwache hat man insofern gefördert, dass man ihnen Lernpaten zur
Seite gestellt hat. Ich erinnere mich, dass ich jemandem, der in Mathe nicht so gut war,
als Paten hatte und ihm helfen sollte während des Unterrichts. Aber ich kann mich nicht
erinnern, dass ich außerhalb der Schule mit demjenigen gearbeitet hätte, das hat man
dann vielleicht freiwillig gemacht.
OT Lorenz:
In der Praxis ist das in meinem Fall kaum so gewesen, dass der Lernstarke mit
Lernschwächeren Hausaufgaben lernt und übt. Also in der gelebten Praxis war es so:
Man hat ihn abschreiben lassen.
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Autorin:
Auch wenn untereinander mal abgeschrieben wurde, entwickelte sich die Idee der
Lernpatenschaften und der langen gemeinsamen Förderung nach Ansicht des
Bildungsforschers Jürgen Baumert zu einem Erfolg.
OT Baumert:
Das Programm, keinen zurücklassen, das hat wirklich funktioniert, das ist auch etwas,
wo wir uns einiges abgucken können. Also die Lehrer sind in eine
Verpflichtungssituation gebracht worden, zu diesem politisch gewollten Programm für
jeden einzelnen Schüler, der eine Klasse wiederholen sollte oder der das Klassenziel in
einzelnen Fächern nicht erreicht hatte, sich zu rechtfertigen in dem Sinne, dass sie
zeigen mussten, dass sie alles Verfügbare getan haben, um diese Schüler zum
Klassenziel zu bringen. D.h. die Hilfe der Pioniergruppen in Anspruch genommen
haben, die Selbstrechtfertigung der Schülergruppen klug eingesetzt haben, Kontakt mit
den Eltern hatten
Autorin:
In ihren Unterrichtsmethoden setzte die DDR hingegen eher auf Altbewährtes.
OT Rahming:
Und ansonsten war es klassischer Unterricht nach alter Schule: frontal, mit
Zweierbänken, also keine Experimente und keine neuartigen Versuche.
Autorin:
Die Lehrpläne in der DDR setzten auf Naturwissenschaften und Sprachen. Und es
wurde Wert gelegt auf historische und politische Wissensvermittlung. Dabei spielten vor
allem die Erfolge der DDR eine große Rolle. Jörn Lorenz erinnert sich:
OT Lorenz:
Natürlich war Kalter Krieg ein großes Thema. Und natürlich kam man nicht umhin nach
45 zu behandeln a) den 17. Juni und b) den 13. August. Aber sonst beschränkte man
sich doch auf die DDR. Von Parteitag zu Parteitag. Da gab es eine Konferenz, da wurde
das und das beschlossen. Hier lag der Schwerpunkt auf der DDR. Selbst die
Ostblockstaaten wurden eher stiefmütterlich behandelt.
Autorin:
Wie in der Bundesrepublik auch diskutierten Lehrer und Schüler in der DDR über die
deutsche Teilung und die Mauer. Allerdings aus anderer Perspektive:
OT Lorenz:
Großes Thema war natürlich bei Mauer und Grenze, weniger die Fluchtbewegung,
sondern die Fluchttunnel und die erschossenen Grenzsoldaten. Also die Legitimation,
dass diese Mauer tatsächlich ein Schutzwall ist, an dem auch tatsächlich geschossen
wird, nämlich von West nach Ost und man da in eine Verteidigungssituation gerät. Also
das wurde so schon behandelt. Ich war da ein sehr naiv-gläubiger Schüler, der das so
hingenommen hat, wie es war. Für mich war die Mauer Normalität.
Autorin:
Um die politische Meinungsbildung im Sinne des Staates bei den Schülern zu fördern,
führte die DDR das Fach Staatsbürgerkunde ein. Die Schüler sollten nun in einer
eigenen Stunde das sozialistische System verinnerlichen. Sie lernten die Ideen des
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Marxismus-Leninismus und beschäftigen sich mit dem Vergleich von Kapitalismus und
Sozialismus.
Das Fach Staatsbürgerkunde bereitete die Jungen auch vor auf den Wehrunterricht, der
1978 gegen den Widerstand der Kirchen und vieler Eltern eingeführt wurde. Unterrichtet
wurden die Schüler von Offizieren der Nationalen Volksarmee. Ab der 9. Klasse wurde
Staatsbürgerkunde Pflichtfach – allerdings stand es nicht von Anfang an auf dem DDRLehrplan.
OT Geissler:
Endgültig und nach bestimmten Versuchen etabliert ist das Fach mit dem neuen
Bildungsgesetz Mitte der 60er-Jahre, ab 1964, ab Klasse 7 mit einer Stunde. Und
endgültig etabliert heißt auch, dass da eine Staatsbürgerkunde-Lehrerausbildung
einsetzt, also nicht mehr der Deutschlehrer oder der Geschichtslehrer diese Stunde
übernimmt. Und es ist ein Stundenfach in der Prüfung in der 10. Klasse.
Autorin:
So Prof. Gert Geissler vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische
Forschung in Berlin. Er selbst hat in der DDR Geschichte unterrichtet und zahlreiche
Bücher zur DDR-Bildungsgeschichte veröffentlicht.
Dörte Rahming hat den Staatsbürgerkunde-Unterricht persönlich erlebt und erinnert
sich an dieses Fach, das die Schüler abgekürzt Stabü nannten:
OT Rahming:
Staatsbürgerkunde war für die meisten von uns ein Hassfach. Das Problem war, dass
dieses Fach natürlich sehr hochgehängt wurde und man doch schon angehalten wurde,
gute Leistungen zu haben. Und dass z.B. jemand, der zur EOS wollte, mit
Staatsbürgerkunde 3 dann da wohl nicht hinkam. Also ich hatte in Stabü eine 2 und
habe trotzdem mein Abitur machen können auf dem Schlängelweg, aber ich weiß, dass
da großer Wert drauf gelegt wurde.
Autorin:
Nicht nur die Inhalte des Staatsbürgerkunde-Unterrichts, auch die politische Färbung
trat deutlich zum Vorschein:
OT Rahming:
Nach meiner Erinnerung, also ganz subjektiv, war das sehr schwarz-weiß gemalt. Also
wir waren immer die Guten und die anderen waren immer die Bösen, und es gab
eigentlich über den Westen nichts Gutes zu berichten.
Autorin:
Auch Jörn Lorenz kennt den Staatsbürgerkunde-Unterricht. Allerdings konnte er sich mit
diesem Fach eher anfreunden:
OT Lorenz:
Da gab es einen festen Lehrplan. Der wurde durchgehechelt. Was da gemacht wurde
an Themen: Marxismus-Leninismus, diese Sachen. Die auf mich logisch wirkten. Das
war Lernstoff. Da musste man auch keine Meinung dazu haben. Ich glaube, die wurde
gar nicht gefordert. Sondern man musste nur hinschreiben, wie es ist.
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Autorin:
In der Oberstufe änderte sich einiges für Jörn Lorenz. Das lag weniger an der
Klassenstufe, sondern an dem, was zu der Zeit politisch in der Sowjetunion passierte.
Dort brach die Ära Gorbatschow an und seine Ideen wirkten tief in das Schulgeschehen
der DDR ein. Viele Lehrer und Schüler begannen nun grundsätzlich über die DDR und
die Sowjetunion zu diskutieren. Mit viel Engagement suchten sie nun nach
Schwachstellen in dem System, Schwachstellen, die sie vorher nie angesprochen
hätten, so Jörn Lorenz:
OT Lorenz:
Endlich ist es erlaubt, eine Fehlerdiskussion zu machen. Denn vorher galt: Keine
Fehlerdiskussion, das nützt dem Klassenfeind. Und Gorbatschow hat gesagt: Setzen
wir mal die Scheuklappen ab, so sieht es doch aus. Wir haben in Russland ein
Alkoholismus-Problem. Wir haben ein Arbeits-Produktivitäts-Problem. Wir haben tolle
Arbeitspläne- und Rechenschaftsberichte – aber die stimmen vorne und hinten nicht.
Und dass darüber offen gesprochen, das war so befreiend. Natürlich hat man auch als
kleiner loyaler Siebzehn-, Achtzehnjähriger auf der Insel Rügen gesehen, dass vieles
nicht so ist, wie es in den Schulbüchern erscheint. Ohne dass ich damit das System
infrage gestellt habe.
MUSIK: Pionierlied: Ich trage eine Fahne
Autorin:
Nicht nur in der Schule stand Staatsbürgerkunde auf dem Lehrplan, auch in ihrer
Freizeit sollten sich die Schüler mit den Zielen des Sozialismus vertraut machen.
Zunächst als Jungpioniere, dann in der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, die die
Kinder bis zum 14. Lebensjahr besuchten. Sie bekamen in einer Feierstunde das blaue
Halstuch um die weiße Pionierbluse gelegt und durften zum ersten Mal den Pioniergruß
„Seid bereit!“ erwidern mit einem kollektiven „Immer bereit!“. Es gab einen Ausweis mit
Foto und Unterschrift. Darin waren die Gebote der Jungpioniere verzeichnet: Nämlich
die DDR, die Eltern und den Frieden zu lieben, immer gut zu lernen und zu allen
freundlich und hilfsbereit zu sein. Mit 14 Jahren wurden die Schüler dann in die Freie
Deutsche Jugend, kurz FDJ, aufgenommen.
Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, war es für Schüler in der DDR
selbstverständlich in beiden Organisationen Mitglied zu sein und sich mit dem
Sozialismus auseinanderzusetzen. Die FDJ prägte fast die gesamte Jugendkultur in der
DDR. Sie organisierte Pop-Konzerte, ermöglichte Auslandsreisen und beteiligte sich an
Großereignissen – wie den Weltjugend-Festspielen. Schule und FDJ gehörten
untrennbar zusammen, so Jürgen Baumert, Direktor vom Max- Planck Institut für
Bildungsforschung.
OT Baumert:
Die Schulen waren gleichzeitig die Plattform für die Jugendorganisation und die waren
zumindest mit den Leitungskadern an die Partei, an die Bezirksorganisation
angegliedert; insofern war das eins. Es gab Zusammenarbeit den ganzen Tag,
Ganztagsschule, und es gab auch sehr klare Leistungsvorgaben und -erwartungen, die
auch kollegial abgesprochen waren, mit einem starken Schulleiter allerdings.
Autorin:
Auch für Dörte Rahming und Jörn Lorenz war es selbstverständlich, sich erst als Pionier
und dann in der FDJ zu organisieren.
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OT Rahming:
Ich habe das als normal empfunden, weil ich es nicht anders kannte. Es war eben
einfach so: Man wurde Jungpionier, man wurde Thälmannpionier und dann wurde man
FDJler.
Autorin:
Nach zehn gemeinsamen Schuljahren an der Polytechnischen Oberschule trennten sich
die Wege der DDR-Schüler: Die meisten machten eine Berufsausbildung, die
allerwenigsten gingen zur Erweiterten Oberschule und machten Abitur. Jörn Lorenz war
einer von ihnen:
OT Lorenz:
Mir stellte es sich so dar, dass für diese eine Erweiterte Oberschule im Kreis immer
mehr Bewerber da waren als Plätze da waren. Und dass dann so Schule vielleicht nicht
fest definierte Platzzahlen hatten, aber dass in etwa doch feststand: Von da kommt in
etwa so viel. Und das von unserer Schule, unserer Dorfschule eben im Grunde
genommen nur ein Platz da ist. Und bei uns gab es mindestens schon mal drei, wo
feststeht: Die müssen eigentlich studieren von ihren Leistungen her. Und die wollen
auch von ihrer Lebensplanung her.
Und ich habe den Platz dann bekommen. Und zwei eben nicht. Da war mein bester
Freund dabei. Der hat die Berufsausbildung mit Abitur gemacht. Ich wollte Philosophie,
Archäologie oder Geschichte studieren. Aber das Mädchen, das es noch gab, die ist,
das muss ich aus heutiger Sicht sagen, die ist einfach hinten runtergefallen.
Autorin:
Es gab nicht wenige Schüler die trotz guter Leistungen keine Chance bekamen, die
Erweiterte Oberschule zu besuchen. Der Weg zum Abitur stand nur einem kleinen Teil
offen, gibt Bildungsforscher Jürgen Baumert zu bedenken:
OT Baumert:
Das waren zwischen 12 und 14 Prozent. Das waren Größenordnungen, wie wir sie
Anfang der 60er-Jahre hatten. Also die gesamte Bildungsexpansion ist in der Oberstufe
nicht mit vollzogen worden in der DDR. Ich glaube, das war der größte
Modernitätsrückstand, den die DDR hatte.
Autorin:
In Dörte Rahmings Klasse wurden nur zwei Schüler zur Erweiterten Oberschule, zur
EOS, delegiert.
OT Rahming:
Man hat natürlich die Leistungsbesten zur EOS schicken wollen und das ist ja auch klar.
Aber es gab noch die Hürde der Herkunft, die tatsächlich vorhanden war. Ich habe das
bei mir selbst auch erlebt. Man hatte im Klassenbuch von Anfang an hinter seinem
eigenen Namen und dem seiner Eltern auch ein A oder ein I zu stehen – A für Arbeiter
oder I für Intelligenz. Nun sind meine Eltern beide Intelligenzler gewesen, wie man das
nannte. Die hatten also beide studiert, und insofern hatte ich es schwierig zur EOS zu
kommen, weil man wollte gerne den Arbeiterkindern auch das Studium ermöglichen.
Wer also zwei A`s im Klassenbuch oder wenigstens eins im Klassenbuch stehen hatte
und gute Leistungen hatte, war natürlich viel schneller für diesen Schritt geschaffen als
jemand, der zwei I`s da stehen hatte, so wie ich.
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Autorin
Ganz anders sieht es heute in den westlichen Bundesländern aus. Nach aktuellen
Studien machen Kinder aus der Unterschicht seltener Schulkarriere. Deshalb ist
Chancengleichheit ein wichtiges Thema in der Bildungsdebatte – nicht zuletzt aufgrund
der hohen Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund. Aber auch wenn die DDR
Arbeiterkinder besonders gefördert hat, lässt sich rückblickend nicht von
Chancengleichheit sprechen, etwa wenn es um den Besuch der Erweiterten Oberschule
ging.
OT Geissler:
Auswahlkriterien waren gute Noten und natürlich war erwartet, dass der Bewerber oder
die Bewerberin in einer Pionierorganisation aktiv ist. Bei der Auswahl wurde auch
gesteuert, dass ein bestimmter Anteil von Arbeiter- und Bauernkinder zur Oberstufe
kommt. Es waren in den 50er-Jahren bis zu 50 Prozent. Die Quote ist in der Höhe nie
wieder erreicht worden.
Autorin:
So Prof. Gert Geissler vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische
Forschung in Berlin. Wer trotz guter Leistungen nicht zur EOS delegiert wurde, bekam
später aber noch eine zweite Chance:
OT Geissler:
Dann kommt Anfang der 60er-Jahre eine neue Form des Weges zur Hochschulreife.
Nämlich die Berufsausbildung mit Abitur. Dann hat man sich im 10. Schuljahr noch mal
bewerben können, es war eine zweite Chance auf einen Platz, der zur Hochschulreife
führt. Und diese Berufsausbildung wurde an Betriebsberufsschulen durchgeführt. Und
an jeder Betriebsberufsschule … gab es eine Klasse, die sogenannte Abiturklasse, die
über 3 Jahre dann zum Abitur geführt worden ist. Konkret war das so, man hatte 2 oder
3 Tage Unterricht und 2 Tage Produktion.
OT Rahming:
Berufsausbildung mit Abitur – das habe ich dann gemacht – hat sich im Nachhinein als
viel bessere Lösung herausgestellt. Da hatte man also bis zum Abitur nicht 2 Jahre Zeit,
sondern 3 Jahre. Also 3 Lehrjahre, und am Ende hatte man dann, wenn man es schlau
angestellt hat, das Abitur und einen Facharbeiterabschluss.
Autorin:
Dörte Rahming als Intelligenzler-Kind konnte auf diesem Wege trotzdem noch ihr Abitur
machen und studieren. Und gleichzeitig war sie ausgebildete Facharbeiterin für
Lederwaren.
OT Baumert:
Und auch der zweite Weg, die Berufsausbildung mit Abitur, wurde von maximal 4
Prozent eines Jahrgangs nachgefragt. Das war also keine Alternative zum Königsweg
der allgemeinbildenden Hochschulreife. Also die Einheitsschule war auch in sich
uneinheitlich. Und erst in den letzten 7 bis 8 Jahren vor Ende der DDR kann man sagen
ist das Konzept der Einheitsschule bis zur 10. Klasse durchgesetzt worden:
9
Autorin:
Einheits- und Ganztagsschulen streben heute auch viele Bundesländer an. Und noch in
anderer Hinsicht ähneln sich inzwischen die Schulen in den alten und neuen
Bundesländern. Prof. Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung:
OT Baumert:
Was man auch immer wieder vergisst: Die DDR hat ein 12-jähriges Gymnasium
erfolgreich von Anfang an gehabt, und kein Mensch hat daran gedacht, dieses
aufzugeben. Sachsen war völlig entschieden, die 12 Jahre beizubehalten, und sie
haben das glänzend hinbekommen, ohne Überforderung der Schüler, mit guten
Ergebnissen. Also es gibt vieles dort, wo man nur genau hingucken muss, um Vorbilder
für die jetzige Struktur zu finden.
Autorin:
Es gibt sie also doch: Die Schulstrukturen, die sich von Ost nach West
angeglichen haben. Dabei hat sich das Bildungssystem der DDR in den ersten Jahren
nach dem Mauerfall durchaus noch auf die schulischen Leistungen ausgewirkt, so
PISA-Forscher Prof. Jürgen Baumert – und zwar positiv:
OT Baumert:
Die Leistungsergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt waren
eindeutig besser als in Berlin und Nordrhein-Westfalen: in Naturwissenschaften und
Mathematik und im Leseverständnis. Also die haben doch für einen Standard gesorgt.
In den Nachuntersuchungen drei Jahre später waren alle Unterschiede weg, d.h. man
kann auch Standards sehr schnell verspielen.
Autorin:
Für die meisten Kinder endete die Schule in der DDR nicht mittags nach dem letzten
Klingelzeichen, sondern dann wartete der Hort auf sie. Nach einem Mittagessen und
Mittagsschlaf spielten und lernten die Kinder hier am Nachmittag. Für Jürgen Baumert
gab es in der DDR damit eigentlich schon die Ganztagsschule, auch wenn es auf den
ersten Blick nicht so aussah.
OT Baumert:
Wenn wir die angegliederten Horte nehmen, das waren faktisch Ganztagsschulen,
flächendeckend durchgesetzt, bedarfsgerecht der Versorgung zum Ende der DDR. Und
man kann sagen, zum Glück ist diese Tradition nicht abgerissen. D.h. die Horte sind
heute eine gute Übergangsmöglichkeit der Weiterentwicklung der Schulen zu
Ganztagsschulen und der Prozess wird in den neuen Ländern mit Sicherheit einfacher
sein als er bei uns ist.
Autorin:
Nach der Wende verabschiedete sich das vereinte Deutschland 1990 vom Schulsystem
der DDR. Prof. Gert Geißler erklärt sich das so:
OT Geissler:
Das DDR-Schulsystem in dieser politischen und gesellschaftlichen Bewegung da um 90
war verrufen. Es gab Untersuchungen 1990/91, was die Bevölkerung der DDR am
meisten gestört hat am DDR-Bildungssystem: Da ist natürlich Ideologie-Erziehung,
Indoktrination und fehlende Freiheit.
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Autorin:
Professor Jürgen Baumert, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in
Berlin:
OT Baumert:
Alle waren sich in allen neuen Ländern, auch in der Bevölkerung, darüber einig, dass es
keine Verlängerung des Einheitsschulsystems der DDR geben konnte. Alle wollten das
Gymnasium. Dass sie auch die Hauptschule damit eingekauft haben, war vielen unklar.
Aber es gab keine Diskussion.
Autorin:
In den neuen Bundesländern entstanden dennoch keine Hauptschulen, es etablierte
sich ein zweigliedriges Schulsystem. Alle führten das Gymnasium ein, daneben
verschmolzen Haupt- und Realschulen zu Mittelschulen oder zu Gesamtschulen mit
einem zusätzlichen gymnasialen Zweig.
OT Baumert:
Die Neugestaltung des Bildungssystems in den neuen Bundesländern hat ja auch
einige Neuerungen mit sich gebracht. Also Sachsen und Thüringen sind die
Musterbeispiele, die von Anfang an eine Zweigliedrigkeit durchgesetzt haben. Also hier
gab es eine ganz klare strukturelle Innovation, die jetzt Vorbild ist für alle Länder. Alle
warten nur noch darauf, ohne Gesichtsverlust diesen Schritt vollziehen zu können. Also
es hat Elemente der Einfachstruktur des Bildungssystems der DDR gegeben, die
überlebt haben.
Autorin:
Die Hauptschule scheint nach und nach auszusterben. Zweigliedrige Schulsysteme sind
auf dem Vormarsch, zum Beispiel in Hamburg und in Berlin. Rheinland-Pfalz hat sich
seit vergangenem Jahr auf drei Schultypen festgelegt: Gymnasium, Gesamtschule und
die Realschule plus. Nur Baden-Württemberg hält hingegen am starr gegliederten
Schulsystem fest und verzichtet darauf, etwas zu verändern.
Jörn Lorenz und Dörte Rahming haben ihre Schulzeit in der DDR verbracht und
erinnern sich rückblickend gerne daran.
OT Rahming:
Wenn wir mal das Politische rausrechnen, finde ich schon, dass in der DDR viel richtig
gemacht wurde im Schulsystem. Was das lange Zusammenbleiben betrifft und auch die
Art und Weise der Vermittlung – der Stabü-Unterricht fällt daraus, das ist ganz klar – ich
denke, man kann eine ganze Menge lernen, aber man darf auch nicht sagen, das war
alles viel besser und jetzt ist alles viel schlechter oder umgekehrt.
OT Lorenz:
Ich habe eine Kindheit erlebt, die ich als sehr glücklich empfinde. Und dazu gehört,
dass die Kindheit in der DDR stattgefunden hat. Dazu gehört Schule, dazu gehört auch
FDJ. Ich habe dann 90 ein Studium begonnen und konnte da mithalten. So schlecht
kann’s nicht gewesen sein. Und ich habe mit diesem Studienabschluss auch relativ
problemlos eine Stelle bekommen als Lehrer. Und von meiner Allgemeinbildung fühle
ich mich ganz gut aufgehoben mit der Horizontbreite, die ich habe. Ich kann einfach
vom fachlichen, von der Menge und von der Struktur des Wissens, wie es mir
beigebracht wurde, nicht viel Negatives entdecken.
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Autorin:
Heute unterrichtet Jörn Lorenz an einem niedersächsischen Gymnasium Deutsch und
Geschichte. Da kommt natürlich auch das Thema „DDR“ oft zur Sprache.
OT Lorenz:
Die Schüler finden das auch recht interessant. Ich glaube auch bei einigen gemerkt zu
haben, dass sie den Umgang mit der Geschichte – und zwar der Umgang mit der
deutsch-deutschen Geschichte – wie er heute betrieben wird, als gar nicht so souverän
empfinden. Wenn ganz einseitig immer nur auf die Defizite aufgehoben wird und auf der
anderen Seite einseitig immer nur auf die gelungenen Sachen abgezielt wird.
Da bin ich auch sehr dankbar, dass ich das machen darf. Diese Meinungsfreiheit
besteht ja. Und ganz bestimmt hätte ich sie als Geschichtslehrer in der DDR nicht
gehabt. Das will ich ganz offen auch sagen.
*****
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