Prof. Dr. Anton Schlittmaier Berufsakademie Sachsen Staatliche Studienakademie Breitenbrunn Was ist philosophische Praxis? Abgrenzungen zur Psychotherapie und psycho‐sozialen/sozialpädagogischen Beratung Inhalt ‐ Psychotherapie ‐ Psycho‐soziale/sozialpädagogische Beratung ‐ Unterschiede zwischen Psychotherapie und psycho‐ sozialer/sozialpädagogischer Beratung ‐ Philosophische Beratung/Praxis ‐ Abgrenzung ‐ Ist philosophische Praxis ein sinnvolles Unternehmen im Kontext Sozialer Arbeit? ‐ Beispiel Psychotherapie Definition: Psychotherapie (Strotzka 1975, zit. nach Biermann‐Ratjem, S.1, in: Eckert/Biermann‐ Ratjen/Höger) • bewusste und geplante Interaktion • zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen • die für behandlungsbedürftig gehalten werden (Konsens) • mit psychologischen Mitteln • bezogen auf ein Ziel (Symptomminimalisierung/Persönlichkeitsveränderung) Psychotherapie • mittels lehrbarer Techniken • auf Basis einer Theorie normalen und pathologischen Verhaltens • tragfähige Bindung ist Voraussetzung Psychotherapie Psychotherapie bezieht sich i.A. auf psychische Störungen (Eckert, S. 149, in: Eckert/Biermann‐ Ratjen/Höger ): • Gesetzliche Krankenkassen: Richtlinie des gemeinsamen Bundesauschusses über die Durchführung der Psychotherapie • Anwendungsbereiche für Psychotherapie im Sinne des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (§ 11 PsychThG) Psychotherapie Liste Wissenschaftlicher Beirat (zit. nach Eckert, S. 150, in Eckert/Biermann‐Ratjen/Höger): ‐ Affektive Störungen (F 3) ‐ Angststörungen (F 4) ‐ Belastungsstörungen (F 4) ‐ Dissoziative, Konversions‐ und somatoforme Störungen (F 4) ‐ Essstörungen (F 5) ‐ … ‐ Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F 6) ‐ … Psycho‐soziale/sozialpädagogische Beratung Definition psycho‐soziale Beratung (Dietrich) zit. nach Pauls (S. 275): ‐ interventive und präventive Beziehung ‐ mittels sprachlicher Kommunikation ‐ auf Grundlage anregender und stützender Methoden ‐ in einem kurzen Zeitraum ‐ bei desorientiertem, belastetem Klientel Psycho‐soziale/sozialpädagogische Beratung • Lernprozess in Gang bringen • der Selbststeuerungsfähigkeit und Handlungskompetenz verbessert. Dagegen Mayer zit. nach Pauls (S. 273): ‐ begrenzt auf konkrete Ratschläge sowie Führung und Formung ‐ bei Schwierigkeiten, Erziehungsfragen, Entscheidungen ‐ mit dem Ziel dem Klienten zu helfen ‐ unerwünschte Variationen des Menschseins zu bewältigen Unterschiede zwischen Psychotherapie und psycho‐sozialer/sozialpädagogischer Beratung • Psychotherapie ist langfristiger • Psychotherapie hat Bezug auf pathologische Problematik • Beratung ist i.A. direktiver, intervenierender und stärker wertorientiert als Psychotherapie • Beratung ist stärker informierend, psychoedukativ • bei Nachfrage weniger existenzieller Druck als bei Psychotherapie Unterschiede zwischen Psychotherapie und psycho‐sozialer/sozialpädagogischer Beratung • Beratung ist niedrigschwelliger als Psychotherapie • alttägliche Kommunikationsmuster bleiben bei Beratung eher erhalten als in Psychotherapie • Psychotherapie geht stärker in die Tiefe der Lebensgeschichte; Beratung stärker gegenwartsorientiert und in die Breite gehend • Konkrete Hilfemaßnahmen spielen bei Beratung eine wichtigere Rolle als bei Psychotherapie Unterschiede zwischen Psychotherapie und psycho‐sozialer/sozialpädagogischer Beratung • Beratung nimmt weniger/keinen Bezug auf psychiatrische Krankheitsbilder (ICD 10; DSM IV) • Beratung ist stärker lösungsorientiert • Ziel der Beratung ist eher Lebensbewältigung als Selbstreflexion • Berater bietet nicht nur helfende Gespräche, sondern auch Informationen, Kontakte usw. Philosophische Beratung/Praxis Definition: Philosophische Praxis ist Vermittlung von theoretischem philosophischem Wissen und konkretem Lebenskönnen. (Fenner, S. 53) ‐ Bezug zum Korpus der philosophischen Tradition (Sokrates, Platon…) als theoretisches Fundament ‐ Anwendung der philosophischen Tradition auf Lebensprobleme ‐ positive Zielformulierung; nicht Beseitigung eines Problems oder Heilung von Krankheit (Psychotherapie) Philosophische Beratung/Praxis Kernelemente philosophischer Praxis (Fenner, S. 45 ff.) • Denkhilfe und Kultivierung des Denkens – Begriffsanalyse, systematisches Nachfragen, Synthetisieren; selbstverantwortliches Denken stärken; gegen Abspeisung mit dogmatischem Wissen – Ziel des ersten Schrittes ist es, besser gerechtfertigtes Wissen zu gewinnen als es zu Beginn vorlag – Bezug auf Epiktet: Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge – starke kognitive Orientierung Philosophische Beratung/Praxis • Situationseinschätzung und problembezogene Werturteile – Die subjektive Weltsicht (Landkarte) wird expliziert und auf Widersprüche hin analysiert (Hermeneutik) – Entwicklung eine Synthese (Widerspruchsfreiheit); Einbeziehung von Expertenpositionen – Diskursethik als Grundlage; Verzicht auf substanzielle Wahrheit Philosophische Beratung/Praxis • Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung – Rationale Unterstützung der Klienten auf ihrem Bildungsweg zur Gestaltung des personalen Lebensentwurfs unter Einbeziehung von Möglichkeiten und Grenzen – Im ideologiekritischen Umgang mit Psychotherapie und Esoterik neue Lebensmöglichkeiten entdecken – Sokratisches Gespräch als Grundlage Philosophische Beratung/Praxis • Weisheit und Lebenskunst – Lebenskunst als Ziel; Bezug zu philosophischer Weisheit – Weisheit ist nicht nur kognitives Wissen, sondern Gebrauchswissen, das auf das Ganze zielt – Weisheit muss im ganzen Menschen verankert sein Abgrenzungen Gegensatz zu Psychotherapie/psycho‐soziale Beratung : ‐ keine Krankenbehandlung ‐ Ausgangspunkt teilweise bei existenziellen Problemen (Sinn; z.B. Camus‐Situation) ‐ kein Theoriebezug; Offenheit für den Anderen; keine vorgefertigten Kategorien (Lindseth, in: Gutknecht/Himmelmann/Polednischek) ‐ Bezug auf den Anderen, nicht auf Krankheit oder Problem Abgrenzungen ‐ Glück, gelingendes Leben ö.ä. stehen im Zentrum, nicht Defizite ‐ Erweiterung des humanen Potenzials ‐ Bezugnahme auf Modelle der Philosophie als Reflexionsgrundlage ‐ Weigerung einer Definition von Methoden; Gefahr des Schematismus; Ignorieren des Einzelnen in seiner Einmaligkeit Abgrenzungen ‐ Kritische Haltung in Bezug auf Lehrbarkeit philosophischer Praxis; definierte Bildungsgänge beinhalten die Gefahr eines Schematismus; Subsumtion der Realität unter Kategorien; Anwendung von Methoden in Bezug auf vorgefertigte Kategorien (Diagnosen) ‐ Menschen in der Nachmoderne leiden nicht an Depression usw., sondern an nachmodernem Nihilismus (Polednitschek, in: Gutknecht/Himmelmann/Polednischek) Abgrenzungen Zitat Sartre: wer die furchtbare Mission, die jedem von uns gegeben ist, nicht voller Angst empfindet, der muss ein großer Pharisäer sein. Aber um uns entschiedener wiederlegen zu können, haben sie absichtlich die Angst mit Neurasthenie gleichgesetzt; aus jener mannhaften Unruhe, von der der Existenzialismus spricht, haben sie irgendeine pathologische Furchtsamkeit gemacht. (Sartre S. 117) Abgrenzungen ‐ Zentrierung auf Denken, im Gegensatz zu Kindheitskonflikten oder organismischen Bewertungen (humanistische Psychologie) ‐ Zentrierung auf die Wahrheit des Gedachten im Gegensatz zur Form in der Kognitiven Therapie ‐ Gemeinsame Suche (Dialog) nach der eigenen Wahrheit des Klienten Abgrenzungen ‐ Klient ist Gast (Polednitschek, in: Gutknecht/Himmelmann/Polednischek) ‐ Keine Vermittlung vorab existierender Wahrheit, sondern Suche nach der Wahrheit für den Einzelnen (Klienten bzw. Gast) ‐ Beratungstheorie: Bezugnahme auf philosophische Tradition ‐ „Störungstheorie“: das Problem ist der Nihilismus; er ist allgemeines Zeitphänomen, keine pathologische Etikette ‐ Ausrichtung nicht auf isoliertes Individuum, sondern Mensch als gesellschaftliches Wesen (Einbindung in größere Zusammenhänge) Ist philosophische Beratung/Praxis ein sinnvolles Unternehmen im Kontext Sozialer Arbeit? • Sinnfragen • Ergänzung zu wissenschaftlichen (psychiatrische und soziale bzw. sozialpädagogische Diagnosen) Sichtweisen • Thematisierung menschlicher Grunderfahrungen (Angst, Tod, Sinnlosigkeit…) • Thematisierung des Humanen, das mehr ist als Gegenstand von Wissenschaft Ist philosophische Beratung/Praxis ein sinnvolles Unternehmen im Kontext Sozialer Arbeit? • Bezug zur Wahrheit des eigenen Lebens und zur Wahrheit des Denkens • Substanzielle Fragen des geglückten Lebens in Bezug auf den Klienten • Thematisierung normativer Fragen Beispiel • Abgrenzung von Psychotherapie, insbesondere Psychoanalyse • Kritik an sokratischem Dialog (Orientierung an vorgegebener Wahrheit) • Wahrheit ist existenzielle Wahrheit; Wahrheit jedes Einzelnen • Diagnose und Therapie auf Basis einzelner philosophischer Grundpositionen (Sokrates…Hegel…Heidegger, Camus, Levinas) • Im Rahmen der Philosophie des 20 Jh. steht die Selbstbestimmung im Zentrum • Angst man selbst zu sein Literatur Belardi, N. (1999): Beratung. Eine sozialpädagogische Einführung, Weinheim und Basel Eckert, J., Biermann‐Ratjen, E.‐M., Höger, D. (Hrsg.) (2006): Gesprächspsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis, Heidelberg Fenner, D. (2005): Philosophie contra Psychologie? Zur Verhältnisbesbestimmung von philosophischer Praxis und Psychotherapie, Thübingen Gutknecht, Th./Himmelmann, B. Ploednischek, Th. (2008): Philosophische Praxis und Psychotherapie. Gegenseitige und gemeinsame Herausforderungen, Jahrbuch der IGPP, Band 3 Lindseth, A. Zur Sache der Philosophischen Praxis. Philosophieren in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen, München Pauls, H. (2004): Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho‐sozialer Behandlung Sartre, J.‐P. (2000): Der Existenzialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays, Hamburg Staude, D. (Hrsg.) (2005): Lebendiges Philosophieren. Philosophische Praxis im Alltag, Bielefeld Völschow, Y.: Förderliche Beratungsstrukturen: theoriefundierte Ableitungen für die Praxis, in: Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung, 4/ 2010
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