Was ist wirklich wichtig? - Archiv

11. bis 17. Januar 2001
Ein guter Plot oder nur Pop?
Vier Schriftsteller diskutieren
am 16. Januar im Literaturhaus:
Junge Autoren − neue Poetik?
LIVE
Nr. 9
Seite 26,11
2
Schwarz
Der Schriftsteller als Lebemann: Steffen Kopetzky, 1971 geboren, weiß sich in
Pose zu setzen. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Einbruch und Wahn“.
Vom Wasser in die
Traufe? Schauspielerin
und Werbestar Veronica Ferres jedenfalls
schlüpft in eine neue
Rolle: Sie liest. Nicht irgendwas, sondern Gedichte von Erich Fried.
Gemeinsam mit den
Kollegen Ilse Ritter und
Otto Sander erinnert
Frau Ferres am 15. 1.
im Altonaer Theater an
Verbrannte Dichter und
deren Widerstand gegen das Nazi-Regime.
Gelesen werden Texte
von Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Carl
Einstein und Max-Hermann Neiße. Der Abend
(Beginn 20 Uhr) wird
moderiert von Jürgen
Serke (Karten zu 15, 20
und 30 Mark unter
T. 39 90 58 70).
va
Wie schwierig die Antwort ist, zeigt auch
die Überlebensgeschichte Verschollen von
Robert Zemeckis − ein Solo für Tom Hanks
Chuck Noland (Tom Hanks)
handelt mit einem höchst
kostbaren Gut: Zeit. Als Logistiker bei dem amerikanischen
Paketdienst FedEx muss er
möglichst sparsam damit umgehen. Denn Zeit ist Geld.
„The World of Time“ heißt
die Firmenphilosophie, und
Noland ist ihr würdiger Vertreter, pedantisch und verklemmt. Darunter hat auch
das Weihnachtsfest mit
Freundin Kelly (Helen Hunt) zu
leiden: Eine Ladung Pakete
muss noch fix nach Tahiti geschafft werden.
Doch das Transportflugzeug stürzt ab, und Noland
strandet als einziger Überlebender auf einer einsamen Insel. Gewohnt, jedes Problem
zu lösen, kämpft Noland mit
dem größten Problem überhaupt: ohne die Segnungen
der modernen Zivilisation zu
überleben. Essen, Wasser,
Feuer und ein Unterschlupf −
der Yuppie ist auf die einfachsten Bedürfnisse zurückgeworfen.
Vier Jahre vergehen. Aus
Noland ist ein braun gebrannter und muskulöser, langhaariger und bärtiger Robinson
Crusoe geworden, der noch
immer auf Rettung wartet. Bis
er sich mit einem selbstgebauten Floß auf die Socken
macht. Doch zu Hause ist
nichts mehr, wie es war.
Die (nach „Forrest Gump“)
zweite Zusammenarbeit von
Tom Hanks und Regisseur
Robert Zemeckis ist ein gro-
Löblich
Melodramatisches bei
den Hamburger Symphonikern: In der Musikhalle erklingt am
14. 1. (15 Uhr) Bendas
„Ariadne auf Naxos“.
Martin Haselböck dirigiert außerdem Hummel (u. a. Marsch für
das löbliche Bürgerliche Artillerie Corps)
und Schubert (Karten
zu 12,50 bis 60,50 Mark
unter T. 45 33 26).
Spaßig
„Ein musikalischer
Spaß“ steht für Mitglieder der Philharmoniker an − mit Mozart
(KV 522). Zudem gibt es
beim 3. Philharmonischen Kammerkonzert
am 14. 1. (11 Uhr) in der
Kleinen Musikhalle
Werke von Beethoven
und Tanejew (Karten zu
12 bis 26 Mark unter
T. 35 68 68).
ja
ßes Wagnis, sowohl dramaturgisch als auch kommerziell. In
mehr als der Hälfte des zweieinhalbstündigen Films gibt es
weder Dialoge zu verfolgen
noch Musik zu hören.
Hanks wuppt den Film fast
im Alleingang, die Dreharbeiten wurden sogar ein Jahr unterbrochen, damit er 30 Kilo
abspecken konnte. Mit Erfolg:
Wie Hanks sich vom Karrieremenschen über den einsamen
Robinson zum geläuterten
Mann wandelt, das ist schon
bewundernswert. Die OscarJuroren werden das vermutlich ähnlich sehen.
Um die moralische Odyssee
zu verdeutlichen, hätte es allerdings gar nicht der (über)langen Robinsonade bedurft.
Der letzte (und eigentlich
spannendste) Teil ist denn
auch ein wenig hastig und
lieblos inszeniert. Dabei wird
hier die eigentlich zentrale
Frage gestellt: Was ist wirklich
wichtig im Leben?
Die Antwort darauf − so
zeigt „Verschollen“ − ist nicht
einfach zu geben.
MICHAEL RANZE
L Verschollen USA 2000, 144 Minuten, ab 12 Jahren, R: Robert Zemeckis, D: Tom Hanks, Helen Hunt,
Nick Searcy, Chris Noth, täglich im
Autokino, Cinemaxx, Cinemaxx Harburg, Cinemaxx Wandsbek, City
(OF), Grindel, Hansa-Studio, in den
UCI-Kinowelten Othmarschen-Park
und Smart-City, im UFA-Palast, in
den Village-Cinemas; weitere Informationen im Internet unter movies.
uip.de/castaway/
E-Rot
Masse und Klasse
E-Gelb
L
Musik vom Klassenfeind
Den Sopran in der Klarinette
Indische Filmkunst − zu sehen im Metropolis
Das Russische
Symphonieorchester
spielt Gershwin
Chen Halevi gastiert
am 14. und 15. 1. beim
NDR-Sinfonieorchester
Kino ist in Indien, dem nach
China bevölkerungsreichsten
Land der Erde, das beliebteste Freizeitvergnügen. Täglich
gehen 12,5 Millionen Inder in
Filmspielhäuser, um sich von
mehrstündigen Mischungen
aus Tanz und Gesang, Komödie und Melodram, Action und
Liebesschnulze unterhalten zu
lassen. Eine Mixtur, die dem
Europäer befremdlich erscheint, Indern aber die Flucht
aus einem beschwerlichen Alltag erlaubt.
Sehr zur Freude der Filmwirtschaft: In Indien entstehen
jährlich 800 bis 900 Spielfilme,
das sind mehr als in den USA,
Deutschland, Frankreich, Italien und England zusammen.
Inder sehen am liebsten indische Spielfilme. Der einheimische Marktanteil beträgt sagenhafte 95 Prozent. Da hat
Hollywood schlechte Karten.
Und die Stars? Die kassieren derart astronomische
Summen, dass für die Mitarbeiter an einem Film nicht
mehr viel übrig bleibt − ein
Grund für die mangelhafte
Die Nachricht daran ist,
dass dies keine Nachricht ist.
Es ist selbstverständlich geworden, dass die
Orchester der Welt aufs
Programm nehmen, was
ihnen passt − und nicht,
was andere ihnen verpassen. Musik fängt an,
wo Worte aufhören. Diplomaten tauschen Noten aus und meinen selten die musikalischen.
Dabei sagen diese oft
mehr über die Stimmung eines Landes aus
als politische Absichtserklärungen.
Normalität der OstWest-Verständigung:
Das Russische SinfonieOrchester Moskau
kommt am 14. 1. in die
Musikhalle und spielt
zwei Werke von George
Gershwin, dem Begrün-
der einer eigenständigen amerikanischen Musik. Nikolai Petrow ist
der Klaviersolist in der
„Rhapsody in Blue“, die
ihren Titel den Blue
notes verdankt − den typischen Tonstufen des
Blues. Die Suite aus
„Porgy and Bess“ ist eine Zusammenstellung
aus Gershwins Oper, in
der er Blues und Spirituals mit seiner klassischen Sprache verband.
Auch dies eine Vertonung des Schmelztiegels Amerika. Nur am
Anfang dirigiert Mark
Gorenstein das Werk eines Russen: Prokofjews
„Romeo und Julia“. Was
nicht heißen muss, dass
aus Ost-West-Verständigung nun plötzlich Liebe
geworden wäre.
ja
L Russisches Symphonieorchester Moskau So
14. 1., 20.00, Musikhalle
(U Gänsemarkt), JohannesBrahms-Platz, Eintritt 40,bis 120,- plus Vvk.-Gebühr
Zubin Mehta dirigierte, das Israel Philharmonic Orchestra
begleitete. Und der Solist war
ein Klarinettist, gerade einmal
15 Jahre alt. Er hieß Chen
Halevi.
Gute Kritiken können viele
Musiker vorzeigen; Superlative, die sich gegenseitig übertreffen. Doch Halevi wurde so
hoch gelobt, dass sich die
Frage stellt, was mehr zählt:
die „göttliche Begabung“, die
der eine Kritiker ihm attestierte − oder der Vergleich mit
Maria Callas, den ein anderer
zog, weil Halevis Klarinettenton ihn entzückte. Andere haben den Tiger im Tank, er hat
den Sopran in der Klarinette.
Halevi ist inzwischen 28 −
am 14. und 15. 1. gastiert er
als Solist beim NDR-Sinfonieorchester. Er bringt ein außergewöhnliches Stück mit in die
Musikhalle: das Klarinettenkonzert des Amerikaners El-
liott Carter. Es stammt von
1996, als Carter bereits
87 Jahre alt war.
Der Jungstar Halevi spielt
einen Spätstarter: Carter wurde mit 43 bekannt − dank seines ersten Streichquartetts.
Da waren seine Lehrjahre vorbei, in denen er sich in Wien
Partituren der Zwölftöner besorgt und in Paris bei Nadia
Boulanger studiert hatte. Er
verschrieb sich einer komplexen Rhythmik, das Klarinettenkonzert war nicht sein letztes Werk: 1999 wurde Carters
erste Oper „What’s next?“ an
der Berliner Staatsoper uraufgeführt, Daniel Barenboim dirigierte die Uraufführung.
In Hamburg steht ein anderer Pianist-Dirigent am Pult:
Christoph Eschenbach. Er
darf nach dem Carter-Konzert
seine Vorliebe für die große
Sinfonik beweisen − mit Mahlers 5. Sinfonie.
ja
L Chen Halevi So 14. 1., 11.00; Mo
15. 1., 20.00, Musikhalle (U Gänsemarkt), Johannes-Brahms-Platz,
Karten zu 12,- bis 65,- plus Vorverkaufsgebühr unter T. 358 92 23
11
Was ist wirklich wichtig?
Wichtig
Chen Halevi
(28): der
Mann, der
nicht den
Tiger im
Tank hat,
sondern den
Sopran in
der Klarinette − zu
hören bei
Carters
Klarinettenkonzert.
Foto:UIP
E-Blau
Ulrike Draesner, Steffen
Kopetzky, Georg M. Oswald und Ingo Schulze −
alle haben sie in den
60er- und 70er-Jahren die
Prosa der Welt erblickt −
wollen klären, was es bedeutet, in der heutigen
Zeit zu schreiben. Und
vor allem: Wie wird zur
Jahrtausendwende geschrieben? Ist das klare,
das wahre Wort gefordert? Darfs ein
wenig komplizierter
sein? Verrätselt oder
vom Alltag inspiriert?
Lieber ein guter Plot
als zu viel Pop?
Deutsche Autoren
sind im Aufwind −
heißen sie nun Benjamin von StuckradBarre, Judith Herrmann oder Benjamin
Lebert. Wem das Talent fehlt, der
braucht den richtiUlrike Draesner, Jahrgang
gen Agenten. Lässt
1962, veröffentlichte jüngst
eine Sammlung von Gedichten. Autor oder Autorin
sich vermarkten,
zahlen die Verlage,
auch wenn sie das Manugen Autoren. Die Vorskript noch nicht kennen.
schusslorbeeren sind
Erst Fressen, dann Moral.
heutzutage keine ideellen
Das Quartett, das sich
Werte mehr, sie werden in
im Literaturhaus vorstellt,
harter Währung aufs Konjedenfalls kann schreiben.
to überwiesen.
Georg M. Oswald etwa,
Vier deutsche Autoren
der am 15. 1. auch in der
setzen sich am 16. Januar
Grundbuchhalle (Sieveauf das Podium im Literakingplatz 1) liest, erhielt
turhaus und diskutieren.
für seinen jüngsten RoNein, nicht über Geld soll
man „Alles was zählt“ den
gesprochen, um ästhetiInternational Prize 2000.
sche Fragen soll gerungen werden. „Junge AutoVOLKER ALBERS
ren − neue Poetik?“ lautet
L Junge Autoren − neue
das Thema das Abends,
Poetik? Di 16. 1., 20.00, Liteder von Wend Kässens
raturhaus (Bus 108), Schwamoderiert wird.
nenwik 38, Eintritt 12,-/6,Schriftsteller werden in
Talkshows gemacht. Wer
dort charmant zu plaudern und seine Jugendlichkeit ins rechte Licht zu
rücken weiß, kann sich
steigender Verkaufszahlen
sicher sein. Ob er/sie nun
gut schreiben kann oder
auch nicht. Jugend jedenfalls macht sich bezahlt,
auch bei deutschsprachi-
Film
11. bis 17. Januar 2001
Fotos: WEISE, STIEBING, NDR
LL
26 Klassik & Literatur
Qualität vieler indischer Kommerzfilme.
Doch es gibt auch das anspruchsvolle Kino. Schon seit
den 50er-Jahren sorgen Regisseure wie Mrinal Sen und
Satyajit Ray mit ihren Filmen
auf Festivals für Furore. Und
sie sind nicht die Einzigen, die
sich kritisch mit indischer Gegenwart beschäftigen.
Das Metropolis-Kino zeigt
noch bis zum Ende des Monats eine kleine Auswahl von
Filmen wichtiger, gleichwohl
im Westen unbekannter Regisseure. Dramen, die sich mit
einer schwierigen MutterTochter-Beziehung („Unishe
April“, 1994), Terrorismus
(„Drohkaal“, 1994), Wasserknappheit in Indien („Thanneer Thanneer“, 1981) oder
dem Leben in der Provinz
(„English, August“, 1994) auseinander setzen.
Kino in Indien − das ist
mehr als nur Tanz und Gesang.
MICHAEL RANZE
L Indische Filmkunst bis Mi 31. 1.
im Metropolis, Programm s. S. 19
Man kann mit so
einem Teil Schlittschuh laufen − oder
Wochen, Monate
und Jahre zählen.
Bis Noland (Tom
Hanks) wieder in die
Zivilisation gelangt,
wird er noch sehr,
sehr viele Striche
in den Baum
ritzen müssen.