Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.01.2014 Seite: Ressort: 35 Feuilleton Nummer: Auflage: Seitentitel: Gattung: Feuilleton Tageszeitung Reichweite: 15 410.756 (gedruckt) 334.928 (verkauft) 355.990 (verbreitet) 0,84 (in Mio.) Was der Amerikaner liebt, hasst der Franzose Paul Auster begeistert sich für Edgar Allen Poe NEW YORK, 17. Januar Das erste Buch, das Paul Auster sich in seinem Leben kaufte, war eine Gesamtausgabe der Geschichten und Gedichte von Edgar Allan Poe in der "Modern Library". Er war neun Jahre alt. "Nie wieder habe ich ein so klein gedrucktes Buch gelesen. Es hat mich ein ganzes Jahr gekostet." 1982, mit 35 Jahren, veröffentlichte Auster das Erinnerungsbuch "The Invention of Solitude", das ihn bekannt machte. Im gleichen Jahr kehrte er für einen Vortrag zurück nach South Orange in New Jersey, wo er zur Schule gegangen war. Er sollte über moderne französische Lyrik sprechen. Während der Vorbereitung bemerkte er, dass seine Gedanken sich immer wieder Poe zuwandten. Ihm ging auf: Poe bedeutete für ihn Heimkehr. Er stellte damals vor den Studenten der Seton Hall University die Rezeption durch Baudelaire und Mallarmé dar, die aus dem mit vierzig Jahren elend zugrunde gegangenen Autor von Detektivgeschichten, Schauermärchen und etwa tausend Literaturkritiken einen Propheten der modernen Literatur gemacht hatte. Aber er widersprach der These T. S. Eliots, Poe sei ein Europäer gewesen, den eine Laune des Schicksals nach Amerika verpflanzt habe. Die französischen Avantgardisten bewunderten an Poe eine absolute Künstlichkeit, die Auster als uramerikanisch verstehen möchte: Poe habe als Kritiker Wörter: © 2014 PMG Presse-Monitor GmbH 564 einen Nationalstil des radikalen Neuanfangs propagiert. Der auf Rechenpapier niedergeschriebene Vortragstext befindet sich unter Austers Papieren in der New York Public Library. Dort fand ihn Isaac Gerwitz, ein Kurator der Bibliothek, der das Manuskript in die Ausstellung der Public Library und der Morgan Library mit Zeugnissen von Poes Werk und Wirkung aufnahm, die noch für wenige Tage in letzterem Haus zu sehen ist. Im Vortragssaal der Morgan Library wurde Auster jetzt von Gerwitz nach seinem Verhältnis zu Poe befragt. Es wurde viel zitiert an diesem Abend. Gerwitz führte Sätze und Absätze Poes an, um die Makellosigkeit einer Prosa vorzuführen, der nach Austers Beobachtung die Schönschrift der ausgestellten Reinschriften entspricht. Auster las aus eigenen Werken. Quinn, der Held des 1985 erschienenen ersten Romans der "New York Trilogy", ein Autor von Detektivgeschichten, der früher einmal ein Dichter war, wählt als Pseudonym den Namen William Wilson nach dem Titelhelden einer Geschichte Poes. Und in "The Brooklyn Follies" von 2005 hat Auster ausführliche Darlegungen über Poe und dessen französische Leser eingebaut - Bruchstücke aus der verworfenen Doktorarbeit des Neffen des Erzählers, kopiert aus Austers Vortrag von 1982, dessen Abdruck im Katalog so betrachtet doch keine Erstveröffentli- chung ist. Seine Nachahmung Poes, meint Auster, sei trotz der vielen Anspielungen eine Sache des Unbewussten. Was haben ihm die Geschichten vermittelt, die dem frühreifen Neunjährigen zunächst so abweisend vorkamen wie die winzige Schrift? Die Freude an der "reinen Erzählung", den Mut, auf Dialoge und Kulissen zu verzichten. Das Schauerromantische wird auf Englisch das Gotische genannt. "Es ist nur die eine Seite Poes. Die andere ist nach seinen eigenen Worten die Arabeske, und dieses Arabische bedeutet bei ihm Ordnung, Logik und Muster." Obwohl Poe in Amerika immer viele Leser hatte, sei er von der akademischen Literaturkritik vernachlässigt worden, die den "sogenannten realistischen Modus" des Erzählens als Standard der demokratischen Nationalliteratur verkaufe. Heute orientiere sich die Literatur am Kino. Paul Auster, auch als Drehbuchschreiber preisgekrönt, verweigert sich diesem Bilderdienst. Doch sollte er Edgar Allan Poe je zum Helden einer Erzählung machen, könnte ihn ein Schauspieler verkörpern. "Ich glaube manchmal, dass Poe eine frühe Version von Jerry Lewis war. Den haben die Amerikaner auch deshalb gehasst, weil die Franzosen ihn lieben." PATRICK BAHNERS
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