Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 1 Was ist Textkompetenz? Paul R. Portmann-Tselikas 1 2 3 4 5 6 Einleitung: Über Textkompetenz reden Literate Praxis im Unterricht Kompetentes Handeln mit Texten: repräsentationelle Redeskriptionen und mentale Modelle Die soziokulturelle Dimension Barrieren und Brücken Zum Abschluss 1 Einleitung: Über Textkompetenz reden Versucht man zu verstehen, was literates Handeln ausmacht, stößt man früher oder später auf die Frage nach dem, was Menschen dafür können und wissen müssen. Ich nenne diese individuelle Voraussetzung literaten Handelns ‘Textkompetenz’. Es gibt zwei Wege, die Frage zu beantworten, was Textkompetenz ist: 1) Man geht neutral-deskriptiv vor und versucht zu beschreiben, wie Lesende oder Schreibende in unterschiedlichen Schichten und Kulturen mit Texten umgehen. Ziel ist herauszufinden, welche Rolle Literalität für sie in ihrem Leben spielt, wie sie sie in Szene setzen, welche Kompetenzen sie dabei ins Spiel bringen (vgl. Baynham 1995, Street 1995). 2) Man setzt – emphatisch heraushebend - einen Begriff von Literalität und Textkompetenz als kulturellen Standard, der angibt, was gute Texte sind und was kompetenter Umgang mit Texten ist. Ein solch emphatischer Begriff bestimmt den Maßstab, den idealerweise bestimmte Gruppen oder sogar alle Mitglieder der Gesellschaft ihrem literaten Handeln zugrunde legen sollten, und gibt den Punkt vor, von dem her Texte und die Formen des Umgangs mit ihnen beurteilt werden. Das Erreichen des Ziels (und das Erreichen von Zwischenzielen auf dem Weg dazu) stellt einen hohen Wert dar und wird mit positiven Attributen belegt (vgl. explizit, wenn auch sehr allgemein Olson 1994, eher implizit, aber um einiges spezifischer, Hatch 1994, vgl. Hasan/Williams 1996). Ich gehe davon aus, dass die Diskussion über Lesen und Schreiben in unserem Schulsystem immer mit einem emphatischen Begriff der Textkompetenz assoziiert ist. Dies ist u.a. daran ersichtlich, dass in Bezug darauf Curricula vorliegen, Unterrichtsziele definiert sind usw. Ich nehme auch an (und dies ist zunächst eine Hypothese, für die allerdings einiges an Evidenz aufweisbar ist), dass das gesamte Bewertungssystem in unseren Bildungseinrichtungen so geeicht ist, dass SchülerInnen mit hoher Textkompetenz eine größere Chance für einen guten Abschluss besitzen und es leichter haben, in weiterführende Bildungsgänge zu kommen als die anderen. Textkompetenz ist, wenn diese Annahmen stimmt, in unserem Bildungssystem eine der zentralen Ressourcen für Erfolg. Textkompetenz in diesem Sinne lässt sich in einer ersten Annäherung folgenderweise charakterisieren: Textkompetenz ermöglicht es, Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 2 schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen.1 In dieser Beschreibung stecken, trotz ihrer Simplizität, einige wesentliche Vorentscheidungen sowohl konzeptueller wie auch (sozio)kultureller Art. • Textkompetenz wird hier durch die Namengebung abgehoben von Sprachkompetenz und nicht mit dieser gleichzusetzen. Damit ist eine nicht unwichtige Differenzierung angedeutet. Textkompetenz ist demnach zunächst die Fähigkeit, auf bestimmte Weise mit Sprache umzugehen. Allerdings kann man bei dieser Feststellung nicht stehen bleiben. Die Tatsache, dass Sprache, wie sie in Texten gebraucht wird, sich von der prototypischen mündlichen Sprache unterscheidet, dass sich in der Tradition des Schreibens eine spezifische Schriftsprache mit ihren lexikalischen, idiomatischen, syntaktischen und pragmatischen Prägungen herausgebildet hat, zeigt, dass kompetenter Umgang mit Texten eine Vielzahl spezifischer sprachlicher Kenntnisse voraussetzt.2 In diesem Sinne ist ausgereifte Textkompetenz ohne eine entsprechende Erweiterung der zugrundeliegenden, dialogisch konstituierten und auf Alltagskommunikation ausgerichteten Sprachkompetenz kaum zu haben. Textkompetenz ist verbunden mit und wohl auch angewiesen auf eine entsprechend ausgeformte Sprachkompetenz. • Des weiteren wird Textkompetenz in dieser Charakterisierung prototypisch mit dem schriftlichen Bereich, dem Umgang mit Texten verbunden. Der Hinweis auf das Denken, Sprechen und Handeln zeigt aber, dass die Kompetenz, die ganz prototypisch in der Beschäftigung an und mit Texten gefordert ist, Implikationen hat, die weit über diesen Bereich hinausgehen. Ich kann diese Aspekte hier nur ansprechen und werde darauf im Folgenden bloß in einzelnen Bemerkungen zurückkommen. • Die Charakterisierung ist leichter auf Sachtexte beziehbar ist als auf literarische. An Sachtexten und ihrem Verständnis entscheidet sich wesentlich das schulische Schicksal von Lernenden, und an ihnen lässt sich vielleicht deutlicher die Notwendigkeit von Informationsverarbeitung und Informationstransfer zeigen als an literarischen Texten. Damit möchte ich aber auf keinen Fall ein Urteil über die mögliche Rolle literarischer Texte für die Ausbildung von Textkompetenz vorwegnehmen. Diese Rolle scheint mir heute eher unterschätzt zu werden. • Wesentlich ist schließlich der Hinweis auf die Eigenständigkeit der Lernenden beim Transfer von Einsichten in die Sphären des Denkens, Sprechens und Handelns wie auch bei der ‘verständlichen und adäquaten’ Formulierung von Gedanken in der eigenen Produktion. Mit diesem Hinweis ist ein ‘ideologisches’ Moment ins Spiel gebracht, ein ganzer Pool von Normen, Werten und Ansprüchen. Meine Formulierung hier unterscheidet sich nur der Diktion nach von Forderungen, wie sie in Lehrplänen bezüglich kritischem Lesen, Kreativität, Autonomie, Einsicht in Textsortenspezifik, Fähigkeit zur Gestaltung von Texten etc. vorgebracht werden, und zwar – und dies ist entscheidend – immer bezogen darauf, dass jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schüler dazu imstande sein sollte. 1 Diese Formulierung ist eine leicht veränderte Version einer früheren Bestimmung (Portmann-Tselikas 2002, 14). Sie dient der Vorverständigung und ist keine Definition. ‘Textkompetenz’ mit Termini wie ‘Text’ und ‘Fähigkeit’ zu definieren ist zirkulär und bringt einen begrifflich nicht weiter. 2 Vgl. dazu etwa die Studien von Giesecke über die Veränderungen von Sprache, Sprechweisen und Darstellungskonventionen, wie sie sich im Gefolge des Buchdrucks herausgebildet haben. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 3 Über Textkompetenz reden, so das Fazit dieser ersten Überlegungen, ist kein einfaches Unterfangen. Die Begriffe und Konzepte, die wir aufbieten, um über Texte und unseren Umgang mit ihnen zu sprechen, sind beladen mit Vorannahmen, Vorentscheidungen und Vorurteilen. Interessanter, als sich auf (wohl nur scheinbar) neutrales Terrain zu begeben, ist es, diese Sachlage zu thematisieren. Die Welt der Texte, wie wir sie uns imaginieren, und die Vorstellungen, die wir uns über unser Handeln in dieser Welt machen, sind durch und durch soziokulturell geprägt. Textkompetenz ‘besteht’ nicht einfach; sie ist kein in irgendeinem relevanten Sinne natürlicher Zustand. Schon die unscheinbare Charakterisierung von Textkompetenz, wie ich sie gegeben habe, ist (allein schon durch ihren Anspruch auf eine gewisse allgemeine Gültigkeit) unheilbar infiziert mit folgenreichen Festlegungen. Diese sind, dies ist das Entscheidende, weder ‘richtig’ noch ‘falsch’ – sie beziehen ihre Kraft aus ihrer durch Tradition und Schulung erzeugten Selbstverständlichkeit, aus ihrem Bezug zu anerkannten Praktiken des Umgangs mit Texten. Diese prägenden literaten Praktiken (zumindest, soweit sie die Schule betreffen), sind das Thema des nächsten Abschnitts. 2 Literate Praxis im Unterricht Was Textkompetenz ist, lernt man anhand von Texten, die von kompetenten Leuten geschrieben worden sind – und man lernt es aus der Art und Weise, wie der Umgang mit diesen Texten in Alltag und Schule inszeniert wird. Die soziale Praxis des Lesens, Redens-über-Texte, des Schreibens zeigt, welche Weisen des Textzugangs praktikabel, erwünscht und weiterführend sind und welches entsprechend die Kenntnisse sind, über die man verfügen sollte. Ich möchte hier beispielhaft nur einige Aspekte etwas näher beleuchten, und zwar in Bezug auf die Rezeption von Texten. Fast jeder einschlägige Ausschnitt aus dem Unterricht kann dazu dienen, die zu diskutierende Thematik zu exemplifizieren. Hier ein mehr oder weniger zufällig ausgewählter Unterrichtsmitschnitt, der ebenso eher zufälligerweise aus dem Literaturunterricht stammt3: 9. Gymnasialklasse. Nach dem Vorlesen einer längeren Passage auf einem Jugendbuch folgt auf die Frage des Lehrers „Was bedeutet das?“ die folgende, hier vereinfacht (d.h. ohne Partiturschreibung, die in diesem Fall wenig Zusatznutzen verspricht) wiedergegebene Sequenz: M Ja, der hat eben durch den Traum gelernt, seine ähm Erlebnisse zu verarbeiten und ähm trotz Halluzinationen und Träume etcetera und hin und her, aber trotzdem ähm ist ja das, was da war, auch die Wirklichkeit gewesen, mit dem Tod der Eltern. Dann hat er im Traum eben gelernt, das zu verarbeiten. L (30 sec., Lehrer schreibt an die Tafel) Thilo Th Ja, der Onkel will sagen, dass ähm Ben die Tode jetzt verkraftet hat. L Ja, Todesfälle. (10 sec.: Schreibt an die Tafel) Barbara B Ben weiß jetzt auch, was er in Zukunft machen will, so dass der jetzt nicht nur immer Trauer (-) L Das ist alles richtig, nur: Was macht Ihr jetzt wieder für einen Fehler? M Wir stellen Behauptungen auf. L Ja bitte, wo steht das genau? Bleibt doch mal beim Text .... An dieser Textstelle, was wird genau gesagt? Martin. 3 Die Darstellung hier und unten in 3.1 basiert auf der Darstellung in Portmann-Tselikas 2006. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 M L M L P. R. Portmann-Tselikas 4 Ähm, (liest vor) „Du bist nicht mehr der Junge, der du noch vor einer Woche warst.“ Der hat sich also ziemlich stark verändert und dann, äh ( ) und dann: „Die Dinge haben sich geklärt und du bist mit mir ins Reine gekommen. Er fügte hinzu: Deine Gedanken sind klar.“ Ja und seitdem er so/seit er diesen Traum gehabt hat, ist er reifer geworden. Ja, nehmt doch das, was da steht. Was soll ich an die Tafel schreiben? Dass Ben sich verändert hat. Veränderung, jawohl (schreibt an die Tafel) Becker-Mrotzek/Vogt (2001), S. 94f. In dieser Sequenz wird sichtbar, dass sich sogar in einem zweifelhaften didaktischen Format und in der nicht gerade brillanten Intervention einer Lehrkraft eine durchaus bemerkenswerte Vorstellung davon zeigt, was in der Schule als relevante literate Praxis gelten kann. Die Voraussetzung der Arbeit in diesem Ausschnitt ist, dass das primäre Verstehen, welches sich durch den ersten Durchgang durch einen Abschnitt ergibt, nicht genügt (eigentlich genügt es, schulisch gesehen, fast nie), sondern einer Vertiefung bedarf. Die etwas seltsame Frage des Lehrers nach der Bedeutung des Gelesenen führt zu einer Reihe von Antworten, die der Lehrer zunächst unkommentiert lässt und schließlich mit einem Vorwurf quittiert. Darauf bringt ein Schüler eine strategische Devise ins Spiel, die die Klasse offenbar kennt, aber nicht befolgt. Adäquate Antworten auf die Ausgangsfrage unterliegen offenbar einer ganz spezifischen Bedingung: Sie müssen den Text selbst zur Sprache bringen. Die ersten Antworten finden, trotz oder gerade wegen ihrer Komplexität, bei der Lehrkraft keine Gnade, wohl aber das geradezu banale ‘Ben hat sich verändert’. Diese Antwort zeichnet sich durch Texttreue aus – sie ist legitimiert dadurch, dass sie etwas aufnimmt, was dem Text selbst zugehört. Impressionen, Schlüsse, Assoziationen gehören einer anderen Sphäre an und sind hier nicht gefragt. Die Anstrengung geht, so könnte man interpretierend zusammenfassen, dahin, den Unterschied herauszuarbeiten zwischen dem, was der Text mitteilt, und den Effekten, die diese Mitteilung bei den Lesenden (in Form von Assoziationen, Vermutungen, Interpretationen etc.) erzeugt. Was an dem Beispiel sichtbar wird, ist die besondere Ausprägung einer verbreiteten Form der Thematisierung von Texten mit einer dazu gehörigen Typik von Gesichtspunkten und Verfahren der Textbetrachtung, wie sie jedem mit Unterricht Vertrauten geläufig ist. Die Überformung und Überarbeitung des primären Textzugangs besteht in einer Reihe textbezogener Formulierungen, die ihrerseits wieder einer Bewertung unterzogen werden können. In diesem Prozess verändert sich der Zugang der Lesenden: Aus dem linear dem Text folgenden Aufnehmen von Information wird eine reflektierte, von Fragen und Verdeutlichungsbestrebungen bestimmte Tätigkeit. Dabei verwandelt sich der Status des Textes wie der des Verstehens: Aus einem Substrat mehr oder weniger deutlich wahrgenommener Lesestimuli wird ein Objekt der Betrachtung, aus einem ersten Eindruck vom Text eine um eine Reihe von Merkmalen und Aspekten erweiterte konzeptuelle Struktur. Es geht hier nicht darum, eine empirisch abgesicherte Liste gängiger Verfahren der unterrichtlichen Texterschließung und der Kontrolle ihrer Resultate aufzustellen. Ich nehme an, dass in Bezug auf narrative Texte eine Bestandesaufnahme in ihren Grundzügen so ausschauen könnte4: 4 Eine Beobachtung der Arbeit an Sachtexten würde wohl ein inhaltlich ganz anders gefülltes, strukturell aber analoges Raster ergeben. Es würde hier um Dinge gehen wie die Identifikation von Hauptaussagen, um die Heraushebung von Ursache und Wirkung, von Hypothese und Begründung, von Daten und daraus zu ziehenden © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 Basis P. R. Portmann-Tselikas 5 Verfahren ad hoc Schema / Begriff Text > lokales Verständnis sichern > Paraphrase Text > Geschichte als ganze vergegenwärtigen > Nacherzählung Text > Kernereignisse markieren > Wende/Höhepunkt, Handlungsmotiv Text > Geschehens-Zusammenhang konstruieren > Plot > Interpretation > Gattung Erzählweise Epochenspezifik, … > Text Geschichte situieren und Schlüsse ziehen Strukturen, Perspektiven, Stilmittel erkennen Text > Texte lesen > Weisen des Umgehens mit Texten erkennen und bewerten > Regeln/Strategien korrekten Redens über Texte ... > ... > ... Diese Darstellung lässt sich so lesen: Dem Unterrichtsdiskurs liegt ein Text (bzw. eine Textsequenz, eine Figur aus dem Text, eine Texteigenschaft etc.) zugrunde. Die Thematisierung erfolgt zunächst ad hoc, gebunden an den vorliegenden Text. Interessant, schwerverständlich, weiterführend erscheinende Punkte werden aufgegriffen und besprochen. Den Fragen bzw. Aufgaben der Lehrkraft liegt eine mehr oder weniger deutliche Einsicht in die Struktur der Texte bzw. in literaturwissenschaftliche und textlinguistische Konzepte zugrunde. Diese Konzepte können, aber müssen nicht in einem zweiten Schritt explizit gemacht und erläutert werden. In diesem Falle bilden sie ein Gerüst für eine elaboriertere, begrifflich unterstützte Form der Beschäftigung mit Texten. Die vom Lehrer angesprochene Strategie wird im Beispiel in diesem Sinne durch Martin wenn nicht benannt, so doch klar umschrieben: Wir stellen Behauptungen auf. Sie wird dadurch erkennbar als ‘falsche’ Weise, die gestellte Frage zu beantworten. Dies lässt sich in eine Regel für ein legitimierbares, selbst kontrolliertes Reden über Texte ummünzen. Wir haben weniger idiosynkratische, adäquatere und machtvollere didaktische Optionen als die hier diskutierte zur Verfügung, um unterrichtliche Beschäftigung mit Texten anzuregen und zu strukturieren. Die so zustande kommenden Formen der Auseinandersetzung mit Texten werden die am Beispiel sichtbar gewordene Perspektive der Arbeit aber nicht reduzieren, sondern eher noch deutlicher (und hoffentlich effizienter) in Szene setzen: Es geht um das Erreichen eines ‘besseren’, eines bewusst überformten, differenzierten Verstehens, um Einsicht in textuelle Strukturen und Zusammenhänge, und vor allem darum, dass diese in der Klasse oder in Schlüssen und ihrer Zuverlässigkeit, die Unterscheidung von Beispiel und Regularität bzw. Einzelfall und Gesetz, um die Rekonstruktion von Argumenten, die Benennung von Zusammenhängen usw. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 6 Gruppenarbeit thematisierten Formen des Umgehens mit Texten zuletzt von den Einzelnen selbständig gemeistert werden können und die Basis für eine reichere Lektüre von Texten bilden. Was ich hier vorgebracht habe, ist sicherlich kein Beleg, mag aber die folgende Behauptung wenigstens plausibel machen: Wie in der Schule Textarbeit inszeniert wird und wie dadurch eine bestimmte Weise des Verstehen präferiert und gesichert wird, wie Fragen geklärt werden, wie Elemente des Textes analysiert, miteinander verbunden und expliziert werden – in diesen Formen der Arbeit werden Merkmale dessen, was als kompetenter Umgang mit Texten gilt, herausgestellt. Der Kanon gängiger Verfahren unterrichtlicher literater Praxis lässt sich so verstehen als operationale Definition von Textkompetenz.5 Trotz der Spannbreite real existierender didaktischer Zugänge zur Textarbeit halte ich es für möglich, das Ziel zu benennen, auf das dieser Kanon (ich bitte zu beachten: immer noch in Bezug auf das Lesen) letztlich hinweist. Es ist dies das Bestreben, den Text zu einer autoritativen Instanz zu machen. Was der Text sagt, ist am Text abzulesen und an seinen Formulierungen zu belegen und nicht an beliebigen Einfällen, die seine Lektüre begleiten. Gleichzeitig haben die Lesenden das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, das, was der Text sagt, zu drehen und zu wenden, seine Machart zu durchschauen und auf ihn vor dem Hintergrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen zu antworten, befürwortend oder kritisch, je nachdem, was angemessen scheint. In diesem Spiel ergibt sich eine Reziprozität von Autor und Leser. Wer von beiden das letzte Wort hat, steht nicht von vornherein fest. Der Autor hat die Überzeugungskraft seines Textes in die Waagschale zu werfen. Die Leserin bzw. der Leser entscheidet aufgrund seiner Lektüre, welchen Kredit der Text verdient.6 Ich gehe wohl kaum fehl in der Annahme, dass dies eine soziokulturell höchst aufgeladene und anspruchsvolle Vision dessen ist, was Textkompetenz idealtypisch leisten soll.7 3 Kompetentes Handeln mit Texten: repräsentationelle Redeskriptionen und mentale Modelle Operationale Definitionen sind besser als bloße Charakterisierungen – aber was ist das Besondere an der skizzierten Art von Textkompetenz, welche ‘inneren’ Dispositionen und Fähigkeiten liegen ihr zugrunde? Das Folgende ist ein Versuch, auf diese Frage zumindest eine vorläufige Antwort anzubieten. In einem ersten Schritt skizziere ich den kognitiven Grundmechanismus, der in den angesprochenen didaktischen Verfahren in Anspruch genommen wird. In einem zweiten Schritt geht es um das Verstehen, das ja Ausgangspunkt und Ziel aller Bemühungen ist. Lässt sich hierzu etwas sagen, was die Spezifik des hier diskutierten kompetenten Umgangs mit Texten zu verdeutlichen vermag? Ich werde die Ausführungen zu beiden Themen kurz halten und manches nur andeuten können. 5 In genau diesem Sinne werden in vielen Curricula literate Fähigkeiten operational definiert, als Sammlung von bestimmten Handlungszügen bzw. Kenntnissen. 6 Diese Intention wird sich in der Arbeit an Sachtexten, die Grundlageninformation für die schulischen Fächer liefern, eher selten realisieren lassen. In der Lektüre von literarischen, populärwissenschaftlichen oder Medientexten wird dieses Ziel oft sehr bewusst verfolgt. Der ‘ideologische’ Charakter des Redens-über-etwas ist in diesem Kontexten viel leichter erkennbar und nachvollziehbar zu machen. 7 Ich gehe davon aus, dass die Arbeit auf fast jeder Schulstufe von dieser Vorstellung geleitet ist, und dass funktionale Ziele Operationalisierungen sind, in denen Aspekte davon aufgehoben sind. Ich kenne kein Curriculum und keinen Lehrplan, der die Vision kritischer Lesefähigkeit im skizzierten Sinne nicht zumindest als Fluchtpunkt der didaktischen Bemühungen setzt. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 7 3.1 Repräsentationelle Redeskriptionen Der Modus, in dem Arbeit an Texten vor sich geht, ist fast stets der der Erzeugung von Formulierungen über diese Texte. Dabei werden Aspekte besprochener Texte sprachlich neu gefasst, oder, wie ich hier sagen werde, re-repräsentiert. Solche Re-Repräsentationen kommen wie von selbst zustande, wenn sich beim Lesen ein Verständnisproblem einstellt und der oder die Lesende versucht, sich Klarheit zu verschaffen und die gewonnene ‘richtige’ Verständnisweise sich selbst vorsagt. Unvermeidlich sind Re-Repräsentationen, wenn über Texte gesprochen wird. Das kennzeichnende an Re-Repräsentationen ist dies, dass sie einem Aspekt des Textes eine sprachliche Form geben und dieser dadurch herausgehoben wird, Eindeutigkeit, Stabilität und Prägnanz gewinnt. In vielen Fällen wird er erst dadurch als textuelles Phänomen bewusst. ReRepräsentationen beziehen sich auf einen Text und sind von ihm inspiriert, gleichzeitig strukturieren sie aber den Blick auf den Text und konstituieren ein Bild von ihm.8 Re-Repräsentation ist nicht nur der Modus des Reflektierens und der Kommunikation, sie ist auch, zumindest in einigen lerntheoretischen Ansätzen, ein Modus des Lernens.9 Besonders explizit ist in dieser Hinsicht das konnektionistisch-konstruktivistische Modell von KarmiloffSmith (1992). ‘Representational redescription’ bezeichnet hier die kognitive Operation, durch die dem kognitiven System zugängliche Information ‘umgeschrieben’ wird. Dies führt nicht einfach zu einer Verdoppelung dieser Information, vielmehr wird durch die Re-Repräsentation Element im bestehenden Wissen fokussiert und herausgehoben. Dieser Akt konstituiert neues Wissen, das das ursprüngliche bereichert, in ein anderes Format transponiert und es damit auf andere Weise verwendbar macht, als dies vorher der Fall war (vgl. Karmiloff-Smith 1993, 187). [Representational redescription is] a cyclical process by which information already present in the organisms independently functioning, special-purpose representations, is made progressively available, via redescriptive processes, to other parts of the cognitive system. In other words, representational redescription is a process by which implicit information in the mind subsequently becomes explicit knowledge to the mind, first within a domain and then sometimes across domains. (Karmiloff-Smith 1993: 17f.)10 Der ‘representational redescription’ wird hier genau der Stellenwert zugewiesen, den textbezogene Formulierungen nach der eben vertretenen Auffassung im Unterricht haben. Sie machen nicht oder nur undeutlich fassbare Aspekte am eigenen Tun und seinen Resultaten sichtbar und halten sie fest, so werden sie fassbar und auf neue Weise für die weitere Arbeit verfügbar. Was dabei ins Auge fällt, ist eine Transformation, die mit und durch Re-Repräsentationen zustande gebracht wird, fassbar am Verlust an Konkretheit, der im Gegenzug kompensiert wird durch explizitere 8 Re-Repräsentationen spielen nicht nur im Lesen, sondern auch im Schreiben eine wichtige Rolle. Man kann – etwa bezogen auf den Aufsatzunterricht – die Themenstellung, das Ideen-Sammeln, Planen und schließlich das Überarbeiten von Texten begreifen als Menge von Re-Repräsentationen, die sich auf einen zunächst noch imaginierten, dann Zug um Zug realisierten Text beziehen. Vgl. in diesem Zusammenhang die Diskussion um Prätexte im Unterschied zu textkommentierenden bewertenden bzw. planenden Äußerungen bei Wrobel 1995, Rau 1994. 9 Ich verweise hier auf die kognitive Lerntheorie J.R. Andersons (1983) oder die kognitivistische Spracherwerbstheorie Pienemanns (1998), in denen zumindest einige der relevantesten Aspekte des Lernens als Erzeugung neuer Repräsentationen von eigentlich Bekanntem interpretiert werden. 10 Karmiloff-Smith hat die Voraussagen, die ihr Modell macht, in unterschiedlichen Domänen, darunter auch in Bezug auf das frühe Schreiben, geprüft (Karmiloff-Smith 1992, Kap. 6) © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 8 bzw. abstraktere Formulierungen, die flexibler einsetzbar sind, weil sie Eigenschaften des Textes herausheben und ‘berechenbar’ machen – etwa, indem sie Analogien zu Beständen des Vorwissens festzuhalten erlauben, Vergleiche mit anderen Texten ermöglichen, Strukturanalogien innerhalb des Textes identifizierbar und benennbar machen usw. Was dabei herausschaut, ist nicht nur ein besseres Verständnis des einzelnen Textes. Das didaktische Ziel ist ja dies, dass am ausgefalteten und kontrollierten Leseprozess eines meist mehr oder weniger austauschbaren Textes generalisierbare Prozeduren des Umgehens mit Texten eingeübt werden und ineins damit handlungsrelevante Kenntnisse über Strukturen von ‘guten’ Texten und die Dynamik von ‘adäquaten’ Leseprozessen allgemein aufgebaut werden. Es kann hier nicht darum gehen, das Modell Karmiloff-Smiths im Detail darzustellen. Hervorheben möchte ich aber drei Punkte, die mir im Kontext der hier geführten Diskussion besonders relevant scheinen: 1. Karmiloff-Smith beantwortet in ihrem Modell nicht die Frage, wie ein kognitives System zu seinen Informationen kommt, sondern die, wie auf der Basis zugänglicher Information komplexes Wissen und und komplexe Fähigkeiten aufgebaut werden. Diese ‘höheren’ Formen des Wissens und Könnens müssen aufgrund wahrgenommener Gegebenheiten durch interne, kognitive Operationen erarbeitet werden.11 Die Möglichkeit, dies extensiv zu tun, ist für Karmiloff-Smith das Kennzeichen menschlicher Kognition.12 Das Mittel dazu sind die ‘representational redescriptions’. Angewendet auf unser Thema: Einen Text gut zu verstehen heißt demgemäß imstande zu sein, zu einem Text relevante Re-Repräsentationen zu erzeugen sowie Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen diesen Re-Repräsentationen wahrzunehmen und selbst wieder zum Thema von Formulierungen zu machen etc. Entsprechend lässt sich Lesekompetenz verstehen als die Beherrschung einer Menge von Verfahren der Sinnerzeugung und der Verständniskontrolle, in denen die im linearen Durchgang durch den Text gewonnene Information durch höherstufige Prozesse tiefer erschlossen wird. Lesenlernen heißt, diese Fähigkeit ausgehend von dem je gegebenen Stand zu erweitern, zu differenzieren und zu spezialisieren. Die im obigen Zitat angesprochenen ‘zyklischen Prozesse’ sind solche Prozesse der internen Anreicherung, bezogen sowohl auf inhaltliche Kenntnisse (etwa Verständnis eines Textes) wie auf Fähigkeiten (etwa Lesekompetenz). Die Idee hier ist, dass es reiche, vieldimensionale und miteinander interagierende Re-Repräsentationen sind, die einer Kenntnis bzw. einer Kompetenz auf hohem Niveau zugrundeliegen. Diese sind letztlich intern durch jeden Einzelnen selbst aufzubauen.13 Unterricht muss diesen Aufbau anstoßen und unterstützen, er kann ihn nicht direkt vermitteln.14 11 Die Spracherwerbsforschung im Feld der Grammatik ist im sprachwissenschaftlichen Bereich das wohl bekannteste Beispiel dafür, dass solche inneren Operationen (wie immer ihre Basis definiert wird) angenommen werden müssen. Grammatische Strukturen sind an Äußerungen ablesbar nur aufgrund einer höchst differenzierten grammatischen Kenntnis; diese kann den Phänomenen nicht einfach abgelesen werden, sondern muss intern aufgebaut werden. Der Hinweis auf den Spracherwerb macht deutlich, dass Re-Repräsentationen durchaus nicht immer (vor allem nicht in Bezug auf Basiskompetenzen) bewusst und explizit vorgenommen werden müssen (dazu s.u.) 12 „The RR model is fundamentally a hypothesis about the specifically human capacity to enrich itself from within by exploiting the knowledge it has already stored, not just by exploiting the environment. Intra-domain and interdomain representational relations are the hallmark of a flexible and creative cognitive system. The pervasiveness of representational redescription in human cognition is, I maintain, what makes human cognition specifically human.“ (Karmiloff-Smith 1993, 192) 13 Es gibt viele Bereiche, in denen es einen quasi ‘natürlichen’ Sättigungspunkt dieses Prozesses innerer © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 9 2. Ein zentrales Element des Ansatzes von Karmiloff-Smith ist die Idee des success-based change (Karmiloff-Smith 1993, 24ff. und 172f.). Weiterführende Re-Repräsentationen setzen funktionierende Verhaltenszüge voraus, also automatisierte Prozeduren, die in konkreten Kontexten erfolgreich eingesetzt werden können. Ohne eine solche Basis ist Entwicklung im Sinne der besagten internen Überformung und Flexibilisierung durch sukzessive ReRepräsentationen nicht möglich. Findet sie erfolgreich statt, bringt sie neue Niveaus mehr oder weniger automatischer Beherrschung zustande, die ihrerseits wieder neu überformt und überarbeitet werden können. In diesem Sinne birgt eine Sequenz wie die im letzten Abschnitt besprochene für die Lernenden nur dann eine Chance auf Klärung, wenn das primäre Verständnis des besprochenen Textes genügend differenziert ausgebildet ist. Ist dies (etwa im Fremdsprachenunterricht, bei schwierigen Texten auch im muttersprachlichen Unterricht) nicht der Fall, muss fruchtbare Arbeit anderswo ansetzen, nämlich bei den Resultaten der verfügbaren Kompetenzen. Ein adäquates Vorgehen wäre dann, aufgrund mangelhaften Wortoder Satzverstehens scheiternde Leseprozesse zum Thema zu machen und ein einigermaßen stabiles primäres Textverstehen überhaupt möglich zu machen. 3. Re-Repräsentationen können nach Karmiloff-Smith unterschiedliche Grade der Explizitheit (die expliziteste Formen sind die verbal formulierten) und der Bewusstheit aufweisen. Im Hinblick auf das aktuelle Thema lässt sich dies so interpretieren, dass nicht nur im methodisch disziplinierten Sprechen über Texte Einsichten in Texte gewonnen werden, sondern auch in den weicheren, eher holistisch orientierten Zugängen, wie sie im Schreib- und Leseunterricht in den letzten Jahren wieder gängiger geworden sind (etwa im Umsetzen von Texten in Spiel, in Imitation, Transformation, experimentellem Schreiben etc., nicht zuletzt im Sprechen über Texte, das durch die Lernenden selbst verantwortet und unterhalten wird, etwa beim Vergleichen von Texten in Gruppenarbeit usw.). Auch diese Verfahren sind ohne ReRepräsentationen nicht zu denken, auch wenn diese nicht die ‘kanonische’ Form expliziter, nach klaren Kriterien unternommener verbaler Deskription bzw. Explikation haben. Die aufschließende Kraft dieser ästhetischen, gestalthaften, imaginativen Zugänge liegt an mindestens zwei Eigenschaften, die ihnen eigen sind: Einerseits beruhen sie auf den handlungssteuernden kommunikativen und textuellen Schemata, über die die Lernenden praktisch, wenn auch nicht begrifflich verfügen, und erlauben vielen von ihnen dadurch sicherere, komplexere und intuitiv befriedigendere Reaktionen, als dies ein auf explizite Benennung und Deskription fokussiertes Vorgehen erlaubt. Andererseits generiert der Anschluss an diese bereits beherrschten Verhaltenszüge relevante Erfahrungen und Einsichten. Auch in einer praktisch angelegten Auseinandersetzung springen Eigenschaften des Grundlagentextes sozusagen von selbst ins Auge. So kann ein Text nicht parodiert werden, wenn nicht gewisse seiner Merkmale gezielt imitiert und übertrieben werden. Dadurch werden sie wahrnehmbar, zunächst eingebunden in Verfahren stilistischer Übersteigerung und Anreicherung zu geben scheint. Die Kenntnis der Grundgrammatik einer Sprache oder der Regularitäten perspektivischer bildlicher Darstellung ist in einem geglückten Lernprozess (für alle praktische Zwecke) irgendwann erreicht (vgl. dazu die Analysen in Karmiloff-Smith 1993). Wahrscheinlich lässt sich Ähnliches auch in Bezug auf Lesen und Schreiben sagen, zumindest in Basisbereichen wie Buchstaben- und Wortbilderkennung, syntaktisches Parsing usw. 14 Kritik an einem Unterricht wie dem im Transkript des letzten Abschnitts erfassten wird – vor dem Hintergrund dieser Vorstellung – die mangelnde Eigenständigkeit und Selbstkontrolle der Lernenden betonen. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 10 protobegrifflicher Thematisierung (etwa, wenn einzelne Formulierungen im Text als besonders typisch eingeschätzt werden). Auf dieser Basis kann sich dann auch ein expliziter, begrifflicher Zugriff nahe legen. 3.2 Mentale Modelle Mit dem Verfahren der ‘representational redescriptions’ ist der modus operandi vertiefenden und lernenden Umgangs mit Texten, so hoffe ich, im Kern erfasst. Was damit noch nicht beantwortet ist, ist die Frage, auf welcher Grundlage wir Re-Repräsentationen gewinnen bzw. als solche erkennen. Eine Re-Repräsentation ist zunächst das Resultat einer kognitiven Operation; im Weiteren (und das interessiert hier), der sprachlich gefasste Ausdruck einer solchen ReRepräsentation, ein eigenständiger, oft sehr kurzer, Text über einen Text (oder, worauf ich hier nicht eingehe, über wahrgenommene reale Gegebenheiten). Was erlaubt es, beide aufeinander zu beziehen und diese Beziehung zu beurteilen? Die Frage ist nicht abwegig, denn wahrscheinlich zeigen nur in einer Minderheit der Fälle direkt wahrnehmbare Ähnlichkeiten zwischen beiden Texten ihre Zusammengehörigkeit bereits auf der sprachlich-ausdrucksseitigen Ebene an. In den meisten Fällen des Redens-über-einen-Text muss die Beziehung eine andere, indirekte sein. Die Vermittlungsinstanz ist hier nicht der Text selbst, sondern eine Vorstellung, die wir vom Text gewonnen haben, eine kognitive Instanz, oder, wie ich hier sagen werden, ein textbezogenes mentales Modell.15 Ingredienzen eines solchen mentalen Modells sind (meist nur bruchstückhafte) Erinnerungen an die sprachliche Gestalt, an Formulierungen und Stileigenheiten, Momente der Bewertung und solche der Verknüpfung mit Beständen des Vorwissens usw. Diese werden aber wohl in den meisten Fällen dominiert von einer Vorstellung vom Inhalt des Textes und (wohl weniger deutlich) von seiner Struktur. Mentale Modelle bilden die sprachlichen und inhaltlichen Verhältnisse des Textes eher ungenau ab (und dies ist umso bemerkbarer, je länger ein Text ist), überdies verblassen sie rasch. Wozu sind sie dann gut? – Während der vorliegende Text zwar in zweidimensionaler Darstellung erscheint, aber trotzdem nur linear gelesen werden kann, präsentiert das mentale Modell die wesentlichen Aspekte des Textes quasi simultan. Es ist in diesem Sinne vergleichbar mit einer Landkarte, die mit ihrer Vogelperspektive Formationen synoptisch zeigt und damit Überblicke ermöglicht, die ein Gang durch die abgebildete Gegend nicht gestattet. Bezogen aufs Lesen: Nur ein mentales Modell erlaubt es, Gegebenheiten an ganz unterschiedlichen Stellen im Text ohne Aufwand kopräsent nebeneinander zu halten, oder Figuren, charakterisiert durch über den Text hinweg verstreute Hinweise, zu Personen mit ihren komplexen Charakteren zu synthetisieren, oder in der Art, wie Schlüsselszenen erzählt werden, ein den Text prägendes Strukturmuster zu erkennen etc. Mentale Modelle bilden die Grundlage für Re-Repräsentationen. Im Gegensatz zu Landkarten sind sie aber keine fixierten Gebilde. Erfahrenen LeserInnen gelingt es, im Durchgang durch die Texte ein genügend differenziertes Verständnis aufzubauen – sie lesen mit der Gewissheit, dass sie bei Notwendigkeit auf dieser Basis genügend reiche und interessante Re-Repräsentationen zustande bringen könnten, auch wenn sie dies aktuell nicht über das Maß hinaus tun, das ihnen beim flüssigen Lesen gelingt. Wie wir gesehen haben, geht der unterrichtliche Zugang zu Texten fast prinzipiell davon aus, dass die Lernenden in ihrer Lektüre mentale Modelle aufbauen, die in 15 Vgl. zum Begriff des mentalen Modells Johnson-Laird (1983) © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 11 der Perspektive erfahrener LeserInnen nicht genügend elaboriert sind, dass diese präzisiert werden müssen und dass dies ein Weg ist, die Lesekompetenz weiter auszubilden. Was erfahrene LeserInnen – aufgrund welcher Anstöße und Ziele immer – sporadisch tun, nämlich eine bewusst unternommene Überarbeitung des aktuellen Verständnisses, wird hier fast systematisch ins Werk gesetzt. Zur Erfahrung des Lesens gesellt sich das Interesse an einer expliziten ‘Klärung’, an einem Resultat, an der Sicherung eines wie immer gearteten Ergebnisses. Bis zu einem gewissen Grade kann dies durch durch einfaches Nachdenken, durch die Ausbeutung des aktuellen Modells und seiner internen Struktur sowie seiner Beziehungen zum Vorwissen geschehen. In vielen Fällen führt der Prozess der Vergewisserung aber dazu, dass der Text erneut ganz oder teilweise gelesen wird und die bislang vorgenommenen Vorstellungen aufgrund des Wortlauts des Textes kontrolliert und, wo nötig, erweitert und differenziert werden. Auch in diesem Spiel ist das mentale Modell das Steuerinstrument. Fragen und darauf bezogene Re-Repräsentation beziehen sich der Intention nach zwar auf den Text, aber sie tun dies vermittelt über eine kognitive Instanz. Nicht einmal eine simple Nacherzählung kann sich allein an den Vorgaben des linearen Textes orientieren, wenn sie glücken soll. Wie weit diese Auseinandersetzung mit dem Text getrieben wird, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Sobald wir keinen Grund mehr sehen, unser mentales Modell in Frage zu stellen, werden wir vorsichtigerweise zwar nicht behaupten, ‘die Bedeutung’ des Textes erfasst zu haben, aber wir werden auch nicht daran zweifeln, dass wir ihr für die aktuellen Zwecke im Wesentlichen gerecht geworden sind. Ich möchte diesen Abschnitt nicht abschließen, ohne noch auf einen Punkt hinzuweisen, der mir für das Verständnis der Spezifik von Textkompetenz zentral erscheint. Re-Repräsentationen und mentale Modelle bzw. analoge Netzwerke von Konzepten spielen in der Psychologie in fast jedem Verhaltensbereich eine Rolle. Was ist denn das Spezifische an ihnen in Bezug auf Texte? Ihr herausragendes Charakteristikum ist, dass sie weitgehend oder allein auf verbal gefasster Information basieren, und dass Verstehen selbst fast nur an verbalen Äußerungen abgelesen werden kann.16 Die damit verbundene Anforderung ist eine dreifache: • Einerseits bedeutet die Dominanz des Sprachlichen die Pflicht, Information fast gänzlich im sprachlichen Kode auszudrücken. Dies beruht auf einer entscheidende Verschiebung der Verhältnisse, die etwa im Dialogischen herrschen, wo Para- und Nonverbales sowie die konkrete Gesprächssituation eine Vielzahl nicht-sprachlicher Verständnis- und Kommunikationshilfen bereitstellen, oder gegenüber der visuellen Wahrnehmung (vgl. Augst 1992, Scheerer 1993, die die mit diesen Verschiebungen einhergehenden Anforderungen sehr eingängig beschreiben). • Damit verknüpft ist zweitens die Aufgabe, aus linear aufgenommener Information ein rundes Gesamtbild zu erzeugen, in dem die einzelnen Elemente eine Vielzahl von Beziehungen miteinander unterhalten, die mit der chronologischen Reihenfolge ihres Auftretens im Text wenig zu tun haben muss (in Bezug auf Sachtexte gilt dies fast prinzipiell). In der Produktion muss das, was man zu sagen hat (sofern es eine gewisse minimale Komplexität überschreitet), dann wieder in eine lineare Abfolge gebracht werden – auf nachvollziehbare Weise, und das heißt so, dass aufgrund der Mitteilung bei den Adressaten der Aufbau eines entsprechenden mentalen Modells möglichst reibungslos erfolgen kann. 16 Eine Ausnahme bilden etwa Instruktionstexte, wo sich (unter bestimmten Bedingungen) Verstehen in erfolgreichem Handeln zeigt, ohne Notwendigkeit sprachlicher Re-Repräsentation. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 12 • Sprachlich kodierte Information ist immer karg im Verhältnis zu dem reich differenzierten Bild von der Sache, das auf ihrer Basis zu erzeugen ist. Dies ist ohne gut orchestrierten (und damit keineswegs selbstverständlichen) Beizug des Vorwissens nicht möglich. Dieser Bezug auf das Vorwissen muss (und damit sind wir wieder beim ersten Punkt) weitgehend aufgrund von sprachlichen Hinweisen und Indizien zustande kommen. Ohne mitlaufende situationale, paraund nonverbale Information erhöht dies die Anforderungen an die Beherrschung der Sprache und das Verständnis der indexikalischen Potenz einzelner Wörter und Ausdrücke beträchtlich (vgl. dazu Feilke 2003). Sprachliches bildet so die entscheidende Schnittstelle zwischen Text, Verstehen der textuell gefassten ‘Welt’ und anschließender kommunikativer Bearbeitung des Verstandenen. Es ist, metaphorisch gesagt, das Nadelöhr, durch das in textbasierter Kommunikation alles Gemeinte gehen muss – die programmierte Sollbruchstelle, an der Überlastungen deutlich ihre Wirkung zeigen. Auch Texte, die die Welt der Sachverhalte und Handlungen nicht begrifflich, sondern durchaus konkret und farbig darstellen, tun dies auf symbolisch gefasste, syntaktisch-textuell strukturierte und unsinnliche Weise. Die von geübten LeserInnen intensiv erlebte Anschaulichkeit solcher Texte ist eine Leistung der Lesenden, ein Produkt des Verstehens. Voraussetzung dafür, dass sie zustande kommen kann, ist die Fähigkeit, die Wörter und Sätze als Sprungbrett für einen imaginativen Zugang zum Dargestellten zu benützen und dabei zumindest ansatzweise Qualitäten des direkten, sinnlichen Erlebens in die sprach- und textbezogenen Verstehensprozesse einzubeziehen. Je abstrakter und begriffsgeladener Texte sind, desto deutlicher werden die Anforderungen an die Fähigkeit zur genauen Beachtung der semantischen Gehalte von Formulierungen, zur Abwägung ihres Verhältnisses zum Vorwissen und zum ‘Rechnen’ mit den Beziehungen, die sie in ihrem sachlichen und textuellen Kontext zueinander unterhalten, d.h. zum verbalen Denken. Das adäquate Verstehen und Re-Repräsentieren erfordert nicht nur hier, hier aber besonders leicht wahrnehmbar, sprachliche Präzisionsarbeit.17 4 Die soziokulturelle Dimension Die Vorstellung von Textkompetenz, die ich hier skizziert habe, erinnert in manchem an Ideen der Aufklärung: an Vorstellungen von Bildung als Emanzipation, von Schriftlichkeit und schriftlich konstituierten Texten als einem Instrument, gar als Garanten rationalen Denkens. Dass eine Auseinandersetzung mit Textkompetenz diese Orientierung an hohen, manchmal etwas abgehoben tönenden Auffassungen mit ins Spiel bringt, zeigt, dass diese Traditionen im Bildungsbereich und in unseren hergebrachten Wertesystemen weiterwirken. Aber dies darf nicht fehlinterpretiert werden. Was hier durch die Isolierung und perspektivische Fokussierung sicherlich sehr pointiert dargestellt worden ist, ist nicht nur Reflex eines hergebrachten Bildungsideals. Zugleich gilt: Textkompetenz, wie sie hier skizziert wurde, ist eine durch und durch funktionale Fähigkeit. Dies wird beglaubigt durch ihre lebensweltliche Relevanz, ihre unbestreitbare Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit ist in vielerlei Kontexten. Man denke etwa an den Alltag der politischen 17 Vgl. Portmann-Tselikas 2001. - Im Kontext der neuen Medien und ihrer multimedialen Möglichkeiten stellt sich natürlich die Frage nach dem Stellenwert der Einschränkungen und Eigentümlichkeiten sprachbasierter textueller Kommunikation. Ist sie, verglichen mit anderen Modi der Kommunikation, unnötig beschwerlich und voraussetzungsreich, oder birgt sie einzigartige Chancen für die Konzipierung und Mitteilung von hochstrukturierten und effizient kommunizierbaren kognitiven Welten? © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 13 Berichterstattung und der Meinungsbildung. Wer nicht nur die eingeschränktesten Sendungen hört oder Blätter liest, kommt nicht um die Einsicht herum, dass es zu fast jeder Frage unterschiedliche Stellungnahmen, Argumente etc. gibt. Oder man denke an eine der Hauptforderungen der Wissensgesellschaft: lebenslanges Lernen. Wenn man dieses nicht simplizistisch fasst, geht das nicht anders denn als abwägendes Umgehen mit nicht immer eindeutiger Information. Denkt man schließlich an formale Ausbildungsgänge, so kann kein weiterführendes Lernen allein auf der Grundlage von Rezeption und Wiedergabe vorliegender Information funktionieren. Das, was ein Fach zu bieten hat, ist ja nicht homogene, bloss immer komplexer werdende Information, sondern ein Meer von unterschiedlichen, teilweise gleichgerichteten, dann wieder voneinander abweichenden Modellierungen und Positionen, prototypisch in den Wissenschaften, aber bei weitem nicht nur dort. In allen diesen Bereichen ist zumindest eine Gemeinsamkeit festzustellen: Sie setzen die Fähigkeit voraus, Information genau zu verstehen, mit Unklarheiten, Perspektivenverschiebungen und Widersprüchen umzugehen, Gewichtungen vorzunehmen, das eigene Vorwissen ins Spiel zu bringen und Glaubwürdigkeiten abzuwägen. Es sind dies Operationen wie die, die hier als wesentlich für textuell kompetentes Handeln dargestellt wurden und die – wenn auch in vereinfachter Form – in der schulischen Arbeit am Text zum Thema werden. Diese Hinweise zeigen, dass es hier nicht nur um ein Erbe der Aufklärung geht, sondern dass das Konzept der Textkompetenz in durchaus alltäglichen, zweckrational organisierten Kontexten verankert ist. Dabei ist heute der wissenschaftliche Diskurs als idealtypischer Standard für sachgerechtes Reden in der heutigen Gesellschaft wohl ein ebenso wichtiger, vielleicht sogar einflussreicherer Quell für die Vorstellungen davon, wie textuell kompetentes Handeln aussieht und was sie bewirkt, als die Erinnerung an die Aufklärung. Das Ethos des Fortschritts durch abwägende Kritik, der individuellen Informiertheit, der Informationsverarbeitung und Informationstransformation bestimmt das wissenschaftliche Denken und beeinflusst gleichzeitig die letztlich auf diesen Horizont hin orientierten Bildungsprozesse. Wenn ich eingangs davon gesprochen habe, dass die hier vertretene Auffassung von Textkompetenz eine höchst beladene, geradezu riskante sei, dann beruht dies darauf, dass der skizzierte Umgang mit Texten soziokulturell hochgradig kodiert ist. Die erwähnten Kompetenzen und mit ihr verbundenen Praktiken haben im Alltag längst nicht aller Mitglieder der Gesellschaft einen selbstverständlichen Platz. Trotz ihrer Notwendigkeit in vielen Bereichen haben sie einen ‘elitären’ Anstrich – sie bilden zwar einen kulturellen Standard, aber sie sind kein Allgemeingut. In der Lebenswelt verschiedener Gruppen sind diese Praktiken von ganz unterschiedlicher Wichtigkeit, sie prägen den Umgang mit Texten und Information, die kommunikativen Gewohnheiten und Ansprüche und letztlich auch die Weltsicht der Einzelnen auf ganz unterschiedlich intensive Weise. Dies hat Konsequenzen für die Schule. Es ist allgemein bekannt, dass Kinder aus sogenannt ‘bildungsfernen Schichten’ statistisch gesehen geringere Chancen haben, die Bildungsangebote der Schule zu nutzen als die Kinder ‘bildungsnaher Schichten’.18 Die erste Gruppe kann im 18 In ‘Der Standard’ vom12./13.11.2005, S. 3, werden die neuesten statistischen Rahmendaten für Österreich in aller Kürze so präsentiert: Im Alter von 12 Jahren sitzen 77% der Kinder von AkademikerInnen in der Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS, also Maturaschule), 58% der Kinder von AHS-AbsolventInnen, 19% der Kinder von Eltern, die eine Lehre gemacht haben, und 12% von Eltern, die nur die Hauptschule besucht haben. Dies sind fragmentarische und letztlich unzureichende Daten; sie genügen aber, um eine allgemeine Tendenz sichtbar zu © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 14 Durchschnitt während der Schulzeit nicht nur auf mehr Unterstützung für schulische Belange im außerschulischen Milieu rechnen, sie kommt auch schon mit anderen Voraussetzungen in die Schule. Beides zusammen erzeugt ganz offenbar persistierende Unterschiede in den Chancen, Zugang zu den schulischen Angeboten zu finden. Man kann dies mit guten Gründen auf die Prägekraft vor- und außerschulischer Erfahrungen mit Praktiken der Kommunikation zurückführen, die im weitesten Sinne textbasiert sind, das heißt Formen sprachlich basierter Imagination und Weltbewältigung belohnen und damit die verbale und kommunikative Bearbeitung von Erfahrung vormachen und stabilisieren. Diese Prägung zeigt sich auch, und für Kinder zuerst, in den Formen der mündlichen Kommunikation, die eine zentrale Rolle für die Anbahnung und Grundlegung von Textkompetenz spielt.19 Falls es, wie es scheint, diese Dinge sind, die einen wesentlichen Beitrag zu dem differenziellen Erfolg schulischer Bildungsbemühungen leisten, heißt dies nicht anderes, als dass Grundlagen der Textkompetenz und damit eine der zentralen Ressourcen aller Bildungsprozesse in und durch diese Bildungsprozesse nicht in genügender Weise vermittelt und aufgebaut werden. Schule (zumindest in Österreich und den anderen deutschsprachigen Ländern, für die die Statistiken übereinstimmende Tendenzen ausweisen.) verlässt sich auf die Vorleistungen, die in der primären Sozialisation erbracht und von den Kindern in die Schule mitgebracht werden.20 In Hinblick auf soziokulturelle Kontexte ist eine zweite, ebenso wichtige und im Hinblick auf unsere so heftig propagierte ‘Wissensgesellschaft’ geradezu entscheidende Frage die, ob wir die Schülerinnen und Schüler, die in der Schule aufgrund ihrer mitgebrachten Fähigkeiten nicht mit Nachteilen und übergroßen Schwierigkeiten zu rechnen haben, wirklich genügend fördern, ob die Schule als Institution die in sie gesetzten Erwartungen im Normalfall erfüllt (und ob dies, wenn sie es nicht tun sollte, verändert werden kann). 5 Barrieren und Brücken Was ergibt sich aus den vorgebrachten Überlegungen für den Unterricht? Es ist hier nicht der Ort, dazu konkreten didaktischen Hinweise zu geben. Vielmehr möchte ich die begonnenen Überlegungen weiterführen und, an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, auf Gesichtspunkte hinweisen, die für die didaktische Planung und Beurteilung von Unterricht wichtig sind. Lehrkräfte sind Repräsentanten, Bewahrer und Vermittler einer gesellschaftlich hoch gewerteten Kenntnis. Sie sind dazu verpflichtet, im Fortlauf der Schuljahre stets höhere Ansprüche zu stellen – das Curriculum baut in dieser Hinsicht ganz gezielt Barrieren auf, deren Überwindung dann als machen. 19 Überraschend ist dies nicht. Auch die schulische Inszenierung von Textarbeit kommt, wie schon das eingangs analysiert Beispiel zeigte, nicht aus, ohne dem Mündlichen eine zentrale Position einzuräumen. Vgl. dazu auch Wallace 1999. 20 Die Problemstellung, so gefasst, erinnert unweigerlich an die soziolinguistische Debatte der siebziger Jahre, die unglücklicherweise unabgeschlossen geblieben ist und in der sterilen Entgegensetzung von ‘Defizit’ und ‘Differenz’ ihren eigentlichen Gegenstand verloren hat: Unterschiedliche Kommunikationskulturen sind eine gesellschaftliche Tatsache, als solche sind bewertbar und werden auch tatsächlich bewertet, aus unterschiedlichen Gründen und von unterschiedlichen Perspektiven her. Vgl. die empirischen Untersuchungen zu Herkunft und Schulerfolg (v.a. in Bezug auf zweitsprachige Kontexte) etwa von Leseman 1994, Levine 1994, Verhoeven 1997, Knapp 1997. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 15 Beweis für genügenden Lernfortschritt gilt.21 Darüber, wie diese Barrieren adäquat und sinnvoll zu definieren sind, wird natürlich immer wieder gestritten. In dem Bild von Textkompetenz, das ich hier gezeichnet habe und von dem ich annehme, dass es den Kern einer weit herum praktizierten Bildungspolitik und -praxis bestimmt, dominieren die funktionalen Ziele und, bezogen auf die zu vermittelnden Kenntnisse, prozessuale und formale Aspekte: die Fähigkeit, mit Texten bestimmte Dinge zu tun, Kenntnis eines relativ breiten Spektrums von Textsorten etc. Entsprechend bezieht sich der didaktische Diskurs auf Bezugswissenschaften wie die Textlinguistik, die Spracherwerbsforschung, die Schreibforschung, die Unterrichtsforschung etc. Frühere einschlägige Vorstellungen waren da stärker auch inhaltlich orientiert. Die Kenntnis der Klassiker, Büchmanns geflügelte Worte etc. stehen heute kaum mehr im Vordergrund, und die (eher literarisch geprägte) Stilistik und Rhetorik hat als Ankerpunkt der Orientierung stark an Geltung verloren. Didaktische Verfahren sind Brücken, die es den Lernenden erleichtern sollen, über diese Barrieren hinwegzukommen statt an sie anzurennen, und dahinter liegende Gebiete zu erkunden. Aufgrund der hier vorgebrachten Überlegungen müsste eine bewusst und explizit operierende Didaktik, die den aktuellen Anforderungen gerecht wird und auch den weniger gut vorbereiteten SchülerInnen Brücken zu bauen versucht, zumindest drei Bereiche explizit als Entwicklungszonen definieren. Es geht darum, genauer zu verstehen, a) wie literate Praxis in der Schule aussehen muss, damit sie als sinn- und lustvolle soziale Praxis erfahrbar werden kann, b) wie die Hauptaufgabe jedes Unterrichts, Realität in Sprache abzubilden und sprachlich zu bearbeiten, auf eine besser nachvollziehbare und gleichzeitig lernintensive Weise inszeniert werden kann, und wie die Repräsentationsleistung von Texten und die ‘Lesbarkeit’ textueller Strukturen klarer sichtbar gemacht werden kann, c) welche Erkenntnisse nötig sind, damit a) und b) mit Aussicht auf Erfolg besser beantwortet werden können als bisher. Diese Fragen bringen nichts Neues ins Spiel – sie beziehen sich auf permanente und permanent aktuelle Problemfelder. LehrerInnen bemühen sich seit jeher, Unterricht entsprechend zu gestalten. Im Kontext der hier vorgestellten Überlegungen sind aber mit etwas Glück durchaus weiterführende Re-Repräsentationen dessen zu gewinnen, worum es im Unterricht geht: a) In der primären Sozialisation werden, wie oben gesagt, grundlegende sprachbasierte Strategien des Verstehens und die Fähigkeit, die Darstellungsfunktion von Sprache für kommunikative Zwecke flexibel auszunutzen, in sehr unterschiedlichem Maße ausgebildet. Damit ist die operationale Seite dessen bezeichnet, worum es geht. Ich vermute, dass ein zweiter Faktor für den schulischen Erfolg kaum weniger wichtig ist. Es ist die in den Kontexten primärer Sozialisation gewonnene Erfahrung, dass verbales Erfassen und Besprechen der Welt in propositionaler Sacheinstellung, dass sprachbasierte Imagination und die damit einhergehenden Formen des Redens und Kommunizierens Formen der sozialen Praxis darstellen, in der und durch die Gemeinschaftlichkeit, gelingender Partnerbezug und soziale Anerkennung erreicht werden können. Dies kann nicht ohne Folge bleiben für die Ausbildung der Motivations- und Einstellungskomplexe, die der Einschätzung des Werts und der Chancen literaten Handelns zugrunde liegen. Ist diese Vermutung haltbar, wird eine schulische Praxis, die vor allem die 21 Im Alltag der Schule sind die Inhalte und ihre Komplexität, v.a. in den Sachfächern, meist im Vordergrund. Es ist leicht zu vergessen, dass für die Meisterung dieser Komplexität sprachliche Darstellungsmittel für die Erfassung fachspezifischer Beschreibungs-, Denk- und Argumentationsweisen notwendig sind. Dazu gehören nicht nur Fachbegriffe, sondern auch fachspezifische Formulierungsroutinen. Die Inhalte sind ohne solche Hilfsmittel kaum zugänglich und schon gar nicht reproduzierbar. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 16 ‘technischen’ Seiten der Textkompetenz betont, möglicherweise viele Schülerinnen und Schüler nicht erreichen, wenn diese das in diesen schulischen Verfahren steckende Potenzial sinnvoller sozialer Praxis nur schwer entdecken können.22 b) Die Auffassung von Textkompetenz, die ich hier skizziert habe, kommt im Unterricht aufgrund der traditionell verfestigten Verfahren der Textarbeit auch dann zum Tragen, wenn die von den Lehrkräften eingesetzten Fragestellungen und die Kriterien der Bewertung eher implizit als explizit, eher unscharf als präzise sind. Dies ist, zumindest meiner Einschätzung nach, des öfteren der Fall. Die Ansprüche an die Textarbeit werden auch so merkbar, allerdings verlieren die didaktischen Zugänge dadurch ihre Prägnanz und Flexibilität. Der wahrscheinliche Effekt dieses Umstands ist, dass sich die kompetenteren Schülerinnen und Schüler wohl auch aufgrund eines solchen ‘verwischten’ Inputs ihren Reim auf die Sache machen können, während sich für andere kein klares Bild ergibt oder sie ganz den Faden verlieren. Erkennbarkeit und ‘Lesbarkeit’ textueller Indizien hängt von einsichtsvollen und nachvollziehbaren Fragestellungen ab; die Sinnhaftigkeit der textbezogenen Arbeit ist ohne diese Voraussetzung gerade für diese Gruppen gefährdet (zu den hier auf dem Spiel stehenden Dingen vgl. Hornung 2002, Bräuer 1998, Kern 2000). c) Die Schreib-, Lese- und Unterrichtsforschung der letzten Jahrzehnte hat viele Einsichten gewonnen. Trotzdem besteht noch ein großer Mangel an handfesten Erkenntnissen gerade in Bezug auf die eben angesprochenen Bereiche. So wird weitherum angenommen (meines Erachtens zu Recht), dass literarische Texte besonders viele Möglichkeiten bieten, Brücken zu bauen – nicht nur in den ersten Schuljahren, sondern durch die ganze Schulzeit hindurch, und dass die zwei eben genannten Gesichtspunkte nicht nur hier, aber vor allem hier auf paradigmatische Weise didaktisch artikuliert werden können. Und in den letzten Jahren hat sich bei vielen LehrerInnen ein Konsens darüber gebildet, dass holistische, imitative etc. Verfahren des Textunterrichts besonders fruchtbar sind. Ob es sich in beiden Bereichen wirklich so verhält, ist die eine Frage (allerdings eine, die so allgemein wohl kaum beantwortet werden kann). Wichtiger und interessanter wäre es, detailliert in Erfahrung zu bringen, welche beeinflussbaren Faktoren in diesen Feldern besonders geeignet sind, reiche und differenzierte Texterfahrungen zu ermöglichen, und wie diese in der weiteren literaten Praxis aktiv und wirksam gehalten werden können (vgl. dazu v.a. Schmölzer-Eibinger 2002 und i.V.). 6 Zum Abschluss Ich habe versucht, das Konzept der Textkompetenz zu klären und sie gleichzeitig in einem größeren Kontext zu situieren. Dabei sollte deutlich geworden sein, wie wichtig und wie dringlich die Auseinandersetzung mit dem Thema ist, sowohl auf didaktischer wie auf wissenschaftlicher Ebene. Es geht hier um ein zentrales und wohlbekanntes Element von Bildung und Bildungsprozessen, das aufgrund neuer Ansätze in Linguistik, Psychologie und Didaktik auf neue Weise beschreibbar gemacht worden ist und auf dieser Basis eine Vielzahl von Facetten und Zusammenhängen auf teilweise andere Weise zu sehen erlaubt, als dies bisher möglich war. 22 Diese schulische Praxis ist bestimmt durch eine ‘Hingabe an die Sache’ bei meist gleichzeitiger Distanzierung von unmittelbaren pragmatischen und partnerbezogenen Interessen und Zielen. Es ist nicht unbedingt selbstverständlich, dass SchülerInnen neben dem intellektuellen bzw. sachbezogenen das auch in dieser Situation steckende soziale und partnerbezogene Potenzial erkennen. © Paul R. Portmann-Tselikas, Universität Graz Zürich, 25. 10. 2005 P. R. Portmann-Tselikas 17 Literatur Anderson, John R. (1983): The architecture of cognition. Harvard University Press Augst, Gerhard (1992): Aspects of writing development in argumentative texts. In: D. Stein (ed.): Cooperating with written text. The pragmatics and comprehension of written texts. Berlin: Mouton de Gruyter, 67-82 Baynham, Michael (1995): Literacy practices: investigating literacy in social contexts. London: Longman Becker-Mrotzek, Michael; Rüdiger Vogt (2001): Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer Bräuer, Gerd (1998): Schreibend lernen. Grundlagen einer theoretischen und praktischen Sprachpädagogik. 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