Manuskript Beitrag: Amri und die Frauen – Ein Terrorist auf Brautschau Sendung vom 7. März 2017 von Arndt Ginzel, Andreas Halbach und Ulrich Stoll Anmoderation: Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz suchte per Facebook Kontakt zu 140 Frauen in Europa. Er wollte heiraten, um seine Abschiebung zu verhindern. Ein Terrorist, der auf Brautschau war, beispielsweise in der Schweiz. Eine Konvertitin erzählt im Frontal 21-Interview, Amri sei noch kurz vor seiner Berliner Bluttat in ihrer Nähe gewesen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn da bereits aus den Augen verloren. Unsere Reporter Arndt Ginzel, Andreas Halbach und Ulrich Stoll über neue Spuren und weitere Ermittlungspannen in einem Fall, der die Republik in ihren Grundfesten erschüttert und verunsichert. Text: Juli 2016. Anis Amri ist im Fernbus unterwegs von Berlin in die Schweiz. Nach zehn Stunden findet seine Fahrt ein vorläufiges Ende - am Bodensee, in Friedrichshafen. Beamte der Bundespolizei holen den Tunesier aus dem Bus, hindern ihn an der Ausreise in die Schweiz. Er hat gefälschte Papiere dabei. Nach nur 24 Stunden wird er aus der Haft entlassen. Was wollte Amri in der Schweiz? Frontal 21 liegt die Kopie seines Facebook-Accounts vor. In seiner Freundesliste tauchen gleich mehrere Frauen auf, die auf der Schweizer Seite des Bodensees leben. Eine Spur führt nach Romanshorn, zu einer Frau, die zum Islam konvertiert ist. Wir müssen ihr Anonymität zusichern. Sie hatte über Monate Facebook-Kontakt zum späteren Attentäter. O-Ton Facebook-Freundin von Anis Amri: Ich habe immer im Hinterkopf gehabt, er sucht eine Frau zum Heiraten und so. Man hat schon gemerkt, dass er ein Problem hat mit Aufenthalt und so weiter. Mein Vorschlag war, vielleicht ein Jahr warten und dann, aber sicher nicht so schnell, schnell. Über Monate telefonieren und chatten sie - auch darüber, wie eine muslimische Frau sich zu kleiden habe. O-Ton Facebook-Freundin von Anis Amri: Es war da mal wegen des Niqab, der Verschleierung. Ich habe zu ihm gesagt: Ja, ich möchte irgendwann mal einen Niqab anziehen. Das fand er gut. Wir treffen eine weitere Frau in der Schweiz. Auch zu ihr suchte Amri über Facebook Kontakt. Erst durch uns erfährt sie, dass der Mann der Berlin-Attentäter war. O-Ton Valeria Schmutz, Facebook-Freundin von Amri: Ich muss ganz ehrlich sagen, logisch, kennt man nicht den Namen. Aber ich hätte nie im Leben gedacht, dass ein Mensch einfach jetzt so reinfährt. Also muss ich ganz ehrlich sagen, das ist so extrem. „Anis Anis“ heißt Amris Profil. Sein Symbol: der Löwe, ein Dschihadisten-Zeichen. In diesem Facebook-Profil hatte Amri rund 140 Frauen-Kontakte. Ermittler sind heute überzeugt: Er versuchte, seine Abschiebung durch eine Hochzeit zu verhindern. Doch eine Heiratswillige fand er nicht. Sein Account zeigt auch: Amri war über Facebook mit Islamisten vernetzt, die er aus der Schweiz kannte. Zum Beispiel Habib B., ein Tunesier, der unter Terrorverdacht stand. Habib B. lebte in diesem Flüchtlingsheim in Bern und zog später mit anderen Dschihadisten nach Berlin. Gemeinsam sollen auch sie Anschläge in der Hauptstadt geplant haben. Im Februar 2016 reist Anis Amri nach Berlin. Die Behörden wissen durch einen V-Mann schon damals, dass Amri Waffen für einen Terroranschlag beschaffen will. Am Berliner Busbahnhof erwartet ihn die Polizei. Amris Papiere werden kontrolliert, später auf der Wache werden Fingerabdrücke genommen, dann wird der Tunesier wieder auf freien Fuß gesetzt. Amri ist auf dem Weg zur Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, die Polizei verfolgt ihn. Die Hinterhof-Moschee ist Ermittlern längst bekannt als Rekrutierungsort für islamistische Gotteskrieger. Wir treffen einen Fussilet-Insider. Er fürchtet um sein Leben, muss anonym bleiben. Er erlebte, wie fanatische Islamisten aus Tschetschenien immer mehr Einfluss in der Moschee gewannen. O-Ton Insider Berliner Salafisten-Szene: Als die Tschetschenen mehr und mehr gekommen sind, da wurde das immer radikaler. Ich habe immer so eine Kälte bei den Leuten gespürt. Die haben Dschihad-Videos geschaut die ganze Zeit. Dieses Abschlachten, damit will ich nichts zu tun haben. Neben Anis Amri gehen in der Fussilet-Moschee im Jahr 2016 zehn bekannte Islamisten ein und aus. Die Polizei observiert die sogenannten Gefährder, überwacht den Moschee-Eingang mit einer Kamera. O-Ton Benjamin Jendro, Gewerkschaft der Polizei Berlin: So brutal das klingen mag: Wir können nicht elf Gefährder zeitgleich komplett so überwachen, wie es notwendig wäre. Wir können ganz klar sagen, dass wir mit unseren 159 operativen Kräften beim MEK fünf, sechs Gefährder zeitgleich rund um die Uhr überwachen könnten, selbst wenn sie in eine Moschee gehen würden, aber elf, das ist nicht machbar personell. Ausgerechnet Amri hielt die Polizei für weniger gefährlich als die anderen Dschihadisten und stellte seine Beschattung am 15. Juni ein - aus Personalnot. O-Ton Andreas Geisel, SPD, Innensenator Berlin: Aus heutiger Sicht wäre es besser gewesen, das damals anders zu entscheiden. Die Kolleginnen und Kollegen, die das beim LKA damals bewertet haben, sag ich mal vorsichtig, sind jetzt am Boden zerstört. Seit Anfang 2016 stehen die Fussilet-Verantwortlichen in Berlin wegen Terrorverdachts vor Gericht. Der damalige Berliner Innensenator Frank Henkel hätte den Moscheeverein Mitte 2016 verbieten können. Doch Henkel macht den Terror-Verein nicht dicht. Er will lieber den Prozessausgang abwarten. O-Ton Burkard Dregger, CDU, MdA Berlin: Der Verein gehört unverzüglich verboten und die Fachleute in der Innenbehörde haben dem Senator empfohlen, noch nicht im August zu verbieten, sondern noch etwas zu warten, um aus den Strafverfahren weitere Erkenntnisse zu ziehen, die in der Verbotsverfügung genutzt werden können. O-Ton Sevim Dagdelen, Die Linke, MdB: Ich finde das Verhalten von dem damaligen Innensenator Henkel hochgradig verantwortungslos, weil offensichtlich hier Ermittlungen vor die Sicherheit der Bevölkerung gestellt worden sind. Ein derartiger Moscheeverein, der so gefährlich ist, wo zehn Gefährder rein- und rausgehen, wo die Polizei sie nicht im Griff hat, wo so gefährliche Mitglieder im Vorstand sind, hätte geschlossen werden müssen. Hat Henkel die mutmaßliche Terrorzelle unterschätzt? Auf eine Interview-Anfrage reagiert er nicht. Nachfrage am Rande einer Parteiveranstaltung: O-Ton Frontal 21: Warum haben Sie diesen Fussilet-Verein nicht im Jahr 2016 verboten? Herr Henkel, wollen Sie mit mir sprechen oder nicht? O-Ton Frank Henkel, CDU, ehemaliger Innensenator Berlin: Machen Sie einen Termin mit unserer Pressestelle. O-Ton Frontal 21: Sie haben ja nicht geantwortet, Sie haben ja nicht reagiert auf unsere Mails. Henkels Behörde hat auch zu verantworten, dass die PolizeiKamera zwar den Eingang der Fussilet-Moschee ständig filmte, diese Bilder aber nicht systematisch ausgewertet wurden. So entging den Ermittlern, dass Amri ganz in der Nähe der FussiletMoschee ein Video aufnahm - sein Bekenntnis zum Islamischen Staat, die Ankündigung des Terror-Anschlags. O-Ton Bekennervideo Anis Amri, Oktober 2016: Meine Botschaft an euch Kreuzritter, die ihr uns bombardiert. Bei Allah schwöre ich: Wir kommen, um euch zu köpfen, ihr Schweine! Amris Entschluss, für Allah zu töten, reifte vermutlich auch hier, in der Dortmunder Nordstadt. Er hatte im Ruhrgebiet ebenfalls Kontakt zu mutmaßlichen islamistischen Terroristen. Deren Anführer soll er sein: der Hassprediger Abu Walaa – für Ermittler der wichtigste Rekrutierer des sogenannten Islamischen Staates in Deutschland. Auch die Fahnder in NRW überwachen Amri. Aus einem internen Polizeidossier geht hervor, allein in Dortmund besuchte er zwölf verschiedene Moscheen. Viele Vorstände fragen sich: Warum warnten die Sicherheitsbehörden nicht vor Amri und der Gefahr der islamistischen Unterwanderung? O-Ton Ahmad Aweimer, Vorsitzender des Rates der muslimischen Gemeinden Dortmund: Natürlich hätten wir gerne gehabt, wenn er wirklich jetzt in Moscheen war und als Gefährder eingestuft wird, dass wir gewarnt werden. Jemand, der gefährlich ist, kommt hier rein und kann sein, dass er einen der Jugendlichen oder mehrere Jugendliche anspricht und dann verlieren wir unsere Kinder. Viele Gemeindevorstände haben Angst, kaum jemand ist zum Interview bereit. Viele beklagen, dass sie bis heute nicht von Terrorfahndern befragt worden seien. O-Ton Frontal 21: Sind Sie denn mal befragt worden von der Polizei, von Ermittlern? O-Ton Abu Bakar Siddique, Imam Darussalam Moschee Dortmund: Nein, von Polizei nicht gefragt worden. O-Ton Frontal 21: War niemals einer von der Polizei, vom Verfassungsschutz, vom Landeskriminalamt? O-Ton Abu Bakar Siddique, Imam Darussalam Moschee Dortmund: Nein, nein. O-Ton Frontal 21: War die Polizei niemals hier? O-Ton Moscheevorstand Dortmund: Nein, niemals. Das kann ich auch unterschreiben. Amris wichtigster Kontaktmann in Dortmund war Boban S., der zum mutmaßlichen Terror-Netz des Predigers Abu Walaa gehören soll. In diesem Haus in der Lindenhorster Straße soll Boban S. eine Wohnung als Gebetsraum angemietet haben. Anis Amri hatte Schlüssel zur Wohnung, hier soll er regelmäßig übernachtet haben. Das bestätigen die Nachbarn. O-Ton Frontal 21: Den hat Ihre Tochter hier gesehen, also, der Anis Amri hier, dieser Mensch? O-Ton Anwohnerin Dortmund: Ja, 100 Prozent. O-Ton Frontal 21: Das ist natürlich eine wichtige Aussage, ne? O-Ton Anwohnerin Dortmund: Das interessiert doch keinen, wer fragt uns denn? Kein Mensch. Wen interessiert das? O-Ton Frontal 21: Die Polizei hat Sie nicht gefragt? O-Ton Anwohnerin Dortmund: Nein, nie. Werden wichtige Zeugen in Dortmund vom Staatsschutz nicht vernommen? Wir zeigen die Aussagen Joachim Stampf, FDPLandtagsabgeordneter im NRW-Untersuchungsausschuss. O-Ton Joachim Stamp, FDP, MdL Nordrhein-Westfalen, Amri- Untersuchungsausschuss: Es ist schon ein Problem, wenn weder die Nachbarn noch die Moscheegemeinden konsequent befragt werden. Das passt in das Bild, was wir hier haben von Innenminister Jäger, der die Verantwortung von Nordrhein-Westfalen wegschiebt. Innenminister Jäger lehnt ein Interview ab. Für die TerrorErmittlungen in NRW sei der Minister nicht zuständig, lässt uns seine Behörde wissen. Verantwortlich sei die Bundesanwaltschaft. Die erklärt am Telefon, sie könne zu unseren Fragen keine Auskunft geben. Dabei ist Vieles ungeklärt. Ein Reisebüro in Duisburg. Hier sollen junge Dschihadisten im Auftrag der Abu-Walaa-Gruppe rekrutiert worden sein, so die Ermittler. Auch diese zwei Jugendlichen. Sie verübten im April 2016 einen Sprengstoffanschlag. Der Terror traf ein Gebetshaus der SikhGemeinde in Essen. Auch Anis Amri soll im Duisburger Reisebüro ein- und ausgegangen sein, sagen Anwohner. O-Ton Joachim Stamp, FDP, MdL Nordrhein-Westfalen, AmriUntersuchungsausschuss: Ich habe die Möglichkeit angedeutet, dass man Amri vielleicht bewusst an der langen Leine hat laufen lassen. Klar ist: Es hätte aus unserer Sicht Möglichkeiten gegeben, ihn festzusetzen und das ist das eigentliche Versäumnis. Doch Anis Amri reiste bis zuletzt ungehindert herum. Auch in die Schweiz? Immer wieder wollte Amri seine Facebook-Freundin am Bodensee besuchen. Kurz vor dem Anschlag ruft er sie noch einmal an. O-Ton Facebook-Freundin von Anis Amri: Er sagte, er hätte irgendwo ein Hotel genommen. Und ob wir uns für eine Stunde treffen könnten. Ich habe gesagt, ich habe keine Zeit. Es war, als hätte er plötzlich geweint. Hätte ich mich wenigstens auf das Treffen eingelassen, vielleicht hätte ich den Tod verhindern können. Sollte das zutreffen, dann war der Terrorist kurz vor der Tat im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet - unbemerkt von den Ermittlern. Am 19. Dezember tötet Amri mit einer in der Schweiz registrierten Pistole den Lkw-Fahrer – verübt dann den Anschlag in Berlin: zwölf Tote, 56 Verletzte. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
© Copyright 2024 ExpyDoc