Kreide gefressen Suche nach dem Ich Luxuriöses Belgrad Der US-Präsident sprach: Gemäßigt im Ton, nicht in der Sache. Seite 5 »Apollokalypse« von Gerhard Falkner: epochales Werk über Berlin. Seite 17 Ein neuer Stadtteil soll entstehen – mit aller Gewalt. Seite 3 Foto: dpa/Jim Lo Scalzo Foto: Miriam Sachs Donnerstag, 2. März 2017 STANDPUNKT Gleich ist das nicht 72. Jahrgang/Nr. 52 UNTEN LINKS »Ist der Autokorso eine Protestform mit Zukunft?« Das wollte Deutschlandradio Kultur aus aktuellem Anlass wissen und ließ einen Soziologen die Vorzüge dieser Veranstaltungen herausstellen: »Man hat eigentlich mit wenig Aufwand eine größere Wirkung«, erklärte dieser. »Sie können, vor allen Dingen wenn sie kilometerweise durch die Stadt fahren, viele Zuschauer erreichen.« Diesen Umstand machten sich in den letzten Tagen unzählige Korsoveranstalter in der gesamten Republik zunutze. In hunderten Städten rollten sie durch die Straßen; mal unter dem Motto »Free Deniz!«, mal unter »Helau!« oder »Alaaf!«. Mit 200 und 150 Wagen waren die Korsos in Berlin und Flörsheim die größten. Köln, Düsseldorf und Mainz konnten jeweils nur gute 100 Wagen vorweisen, dafür aber beachtliche 10 000 Teilnehmer. Alle zeigten sich entschlossen, am Konzept Korso festzuhalten. »Wir fahren seit 1838«, sagte der Mainzer, »und so werden wir auch in Zukunft weitermachen.« rst ISSN 0323-3375 www.neues-deutschland.de UN: Kriegsverbrechen in Aleppo Einreiseverbot für Erdogan gefordert Menschenrechtsrat erhebt schwere Vorwürfe gegen alle Konfliktparteien in Syrien Bundestagsabgeordnete verlangen Konsequenzen nach dem Fall Yücel Jürgen Amendt über den Bildungsreport »Chancenspiegel« Die »Bertelsmänner« wissen, wie man klappern muss, um sich Gehör zu schaffen. Und sie haben ja recht: Die Zahl der Schulabbrecher ist zu hoch und Kinder aus Familien mit niedrigem sozialen Status (unter denen viele Einwandererkinder sind) werden benachteiligt. Auch fordert die Bertelsmann-Stiftung das Richtige: mehr Durchlässigkeit des Schulsystems, mehr Ganztagsschulen, mehr individuelle Förderung. Vieles davon kann man im aktuellen Jugendbericht des Deutschen Jugendinstituts nachlesen. Als der Anfang Februar vorgelegt wurde, hielt sich die politische Resonanz aber in Grenzen. Vielleicht liegt das daran, dass in dem Jugendbericht von »Chancengleichheit« und nicht wie bei den »Bertelsmännern« von »Chancengerechtigkeit« die Rede ist. Umgangssprachlich gibt es zwischen beiden Begriffen keinen Unterschied, bildungspolitisch aber schon. »Chancengleichheit« bedeutet: gerechte Verteilung der Zugangschancen zum Bildungssystem unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion und sozialer Herkunft; »Chancengerechtigkeit« dagegen fokussiert auf die Aufstiegschancen des Einzelnen entsprechend seiner »Begabung« bzw. seiner Voraussetzungen, über die er aufgrund seiner Herkunft verfügt. Bertelsmanns »Chancenspiegel« ist zwar nicht notwendig, um die Missstände des deutschen Bildungssystems aufzudecken, brauchbar ist die Studie dennoch. Es wäre schon viel gewonnen, würde es im hiesigen Schulsystem ein wenig gerechter zugehen. Bundesausgabe 1,70 € Berlin. Nach der Anordnung von Untersuchungshaft für den »Welt«-Korrespondenten Deniz Yücel haben Bundestagsabgeordnete Konsequenzen gefordert. Sevim Dagdelen, (LINKE) sagte der »Bild«-Zeitung, die Bundesregierung müsse ein Einreiseverbot für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und die türkische Regierung für Deutschland verhängen. »Sie dürfen hier keinen Wahlkampf für Diktatur und Todesstrafe machen.« Erdogan will mit einer Verfassungsreform das parlamentarische System durch ein Präsidialsystem ersetzen. Dazu ist für den 16. April ein Referendum geplant. Auch der CSUPolitiker Hans-Peter Uhl sagte: »Ein Wahlkampfauftritt Erdogans in Deutschland kommt überhaupt nicht infrage.« Besorgt über die sich rapide verschlechternden Beziehungen zu Ankara äußerte sich auch die EU-Kommission. Als Beitrittskandidat müsse das Land »die höchsten demokratischen Standards und Praktiken erfüllen«, erklärte eine Sprecherin in Brüssel. Agenturen/nd Seite 8 Flüchtlingsabwehr durch Nordafrika Merkel besucht am Donnerstag und Freitag Ägypten und Tunesien Nach dem mehrere Jahre dauernden Krieg liegt Aleppo in Trümmern. Genf. »Die Schlacht um Aleppo war ein Schauplatz erbarmungsloser Gewalt, bei der Zivilisten den Kriegsverbrechen aller Parteien zum Opfer fielen.« Mit diesen Worten beginnt der am Mittwoch veröffentlichte Bericht der UNSyrienkommission. Das unabhängige Untersuchungsgremium erhebt schwere Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen im Kampf um die syrische Stadt, sowohl gegen die Regierung unter Präsident Baschar al-Assad und ihren Hauptverbündeten Russland als auch gegen die Rebellengruppen. Nach UN-Erkenntnissen habe das syrische Militär in Ost-Aleppo Chlorgas in Wohngebie- Foto: dpa/Hassan Ammar ten eingesetzt, täglich gezielt zivile Einrichtungen bombardiert und mit dem Belagerungsring die Bevölkerung von Hilfsgütern und medizinischer Versorgung abgeschnitten. Auch der Luftangriff auf einen Hilfskonvoi, der 15 Freiwillige tötete und mehrere Lastwagen mit lebenswichtigen Utensilien zerstörte, sei vom syrischen Militär geplant gewesen. Bewaffneten Rebellengruppen wird indes vorgeworfen, wahllos Zivilisten beschossen und diese teilweise als »Schutzschilde« missbraucht zu haben. Zudem sollen sie Menschen an der Flucht gehindert und Hilfsgüter absichtlich zurückgehalten haben. Auch das Evakuierungsabkommen sei ein Kriegsverbrechen gewesen, weil damit die Menschen unter Zwang vertrieben worden seien. »Auf beiden Seiten der Stadt bezahlten Zivilisten den höchsten Preis für die Brutalität«, heißt es in dem Bericht. Der Rat forderte, dass die Verantwortlichen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Seit 2011 untersucht die Kommission im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates den Konflikt in Syrien. Seit dessen Beginn sind nach UN-Angaben rund 400 000 Menschen ums Leben gekommen, Millionen befinden sich auf der Flucht. mjo Seite 6 Ungerechte Bildungsrepublik Bericht konstatiert nur wenig Besserung bei der Chancengleichheit an deutschen Schulen Der »Chancenspiegel«-Report lotet jährlich aus, wie gerecht das deutsche Schulsystem ist. Sein aktuelles Fazit lautet: Es geht zwar aufwärts, doch noch immer fallen viele durchs Raster. Von Stefan Otto Auf den ersten Blick mag sich die Problematik nicht für jeden erschließen. Schließlich gibt es eine allgemeine Schulpflicht, und in einer Klasse sitzen häufig Schüler aus ärmeren und wohlhabenderen Familien nebeneinander. Jedes Kind hat die Möglichkeit, auf ein Gymnasium zu gehen und zu studieren. Theoretisch zumindest. Aber in der Realität haben häufig Kinder aus ärmeren Elternhäusern deutlich schlechtere Bildungschancen. Es ist wie ein Raster, mit jeder Weichenstellung im Schulsystem fallen mehr Kinder aus bildungsfernen Milieus heraus. Lediglich 23 Prozent der Kinder aus Arbeiter- familien studieren. Dagegen erscheint das Studium für Sprösslinge aus Akademikerhäusern vielfach selbstverständlich. 77 Prozent zieht es nach der Schule an die Universitäten. Die Zahlen des Deutschen Studentenwerks sind ein Beweis für ein selektives Bildungssystem. Auch der am Mittwoch in Berlin vorgestellte »Chancenspiegel« der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass die Chancengerechtigkeit eines der Hauptprobleme an den Schulen ist. Dem Report zufolge verlassen auffallend häufig Jugendliche mit einem ausländischen Pass die Schule, ohne wenigstens einen Hauptschulabschluss in der Tasche zu haben. Das Risiko, ohne Abschluss zu bleiben, ist bei ihnen mehr als doppelt so hoch wie bei deutschen Mitschülern: Während insgesamt die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss seit 2011 von 6,2 Prozent auf 5,8 Prozent im Jahr 2014 sank, stieg die Rate bei ausländischen Schülern im gleichen Zeitraum von 12,1 auf 12,9 Prozent an. Das heißt, etwa jeder achte ohne deutschen Pass ist davon betroffen. »Wir können unmöglich akzeptieren, dass wir ganze Gruppen von jungen Menschen einfach abhängen.« Peter Neher, Präsident des Caritasverbandes Jahr für Jahr drängen also etwa 50 000 Jugendliche ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt. Für den Präsidenten des Deutschen Caritasverbands, Peter Neher, sind das zu viele. Er verlangte eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden, damit diese Schüler besonders gefördert werden. »Wir können unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit und der demografischen Entwicklung unmöglich akzeptieren, dass wir ganze Gruppen von jungen Menschen einfach abhängen«, sagte er der Deutschen Presseagentur. Die Initiatoren der Studie legten mit dem Report aber nicht nur den Finger in die Wunden, sondern wiesen auch darauf hin, dass sich das Bildungssystem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten entwickelt habe. Obwohl es in einzelnen Bundesländern große Unterschiede gebe, sei es insgesamt moderner, leistungsfähiger und auch gerechter geworden. In vielen Ländern seien die Schulsysteme jetzt durchlässiger, sodass deutlich mehr Jugendliche ihr Abitur machen. Und auch die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss war vor 15 Jahren noch deutlich höher. 2002 betrug sie noch 9,2 Prozent. Berlin. Bei ihrer Offensive zur Abwehr der Flüchtlingsbewegungen aus Nordafrika setzt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vorerst nicht auf Auffanglager in der Region. Vor Merkels Reise nach Ägypten und Tunesien hieß es am Mittwoch aus Regierungskreisen in Berlin, die Einrichtung solcher Auffanglager in Tunesien oder Libyen stehe derzeit nicht an. Merkel reist am Donnerstag und Freitag nach Ägypten und Tunesien. Die Kanzlerin strebt Partnerschaften mit nordafrikanischen Staaten an, um die Zahl der über das Mittelmeer kommenden Flüchtlinge zu verringern. Kritiker sehen darin den Versuch, ihr Schicksal den Ländern in Nordafrika zu überlassen. Zu einem möglichen Migrationsabkommen mit Ägypten nach dem Vorbild des Flüchtlingspakts mit der Türkei hieß es aus den Regierungskreisen, Verhandlungen für eine vergleichbare Übereinkunft stünden nicht an. Im Dialog mit Kairo solle es aber wohl um die Bekämpfung von Schleusern und die Verbesserung der Lage der Flüchtlinge vor Ort gehen. AFP/nd Seite 7 EU-Weißbuch mit Junckers Weisheiten Kommissionspräsident legte Papier zur Zukunft der Union vor Brüssel. Nach dem Brexit-Votum der Briten muss die EU nach Ansicht von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein »neues Kapitel« aufschlagen. Juncker präsentierte am Mittwoch im Europaparlament in Brüssel ein »Weißbuch« mit »Szenarien« zur Zukunft der Union bis 2025. Sie reichen von »Weiter so wie bisher« bis zu »Viel mehr gemeinsames Handeln« und umfassen auch die Idee eines Europa mehrerer verschiedener Geschwindigkeiten. Juncker legte sich nicht auf ein Modell fest, sondern unterbreitete Argumente für und gegen diese Modelle. Der Kommissionspräsident betonte, dass sich die Szenarien »weder gegenseitig ausschließen, noch erschöpfend« seien. Das Weißbuch sei »der Beginn und nicht das Ende eines Prozesses«. Das Papier soll in die Vorbereitung des Sondergipfels zu 60 Jahre Römische Verträge einfließen. Dort wollen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten ohne Großbritannien eine Erklärung über die Ausrichtung der EU in den kommenden zehn Jahren verabschieden. AFP/nd
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