Eckpunkte für ein modernes Einwanderungsgesetz

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STELLUNGNAHME
16/4630
A19, A09, A18
Eckpunkte für ein modernes
Einwanderungsgesetz
Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des
Integrationsausschusses des Landtags NRW am
8.3.2017
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Dr. Wido Geis
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Eckpunkte für ein modernes Einwanderungsgesetz
Inhaltsverzeichnis
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Ausgangslage ...................................................................................... 3
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Ziele einer Modernisierung des Zuwanderungsrechts .................... 3
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Anpassungsbedarfe bei der Bildungs- und Erwerbsmigration....... 6
4
Potenziale und Grenzen eines Punktesystems ................................ 7
5
Die Vorrangprüfung als Selektionsinstrument ................................. 8
6
Literatur ................................................................................................ 9
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Eckpunkte für ein modernes Einwanderungsgesetz
Ausgangslage
Im Kontext des starken Flüchtlingszuzugs sind im Jahr 2015 rund 1,14 Millionen mehr Personen
nach Deutschland zugezogen als das Land verlassen haben. Das ist der höchste Wert seit Bestehen der Bundesrepublik (Statistisches Bundesamt, 2017a). Für das Jahr 2016 rechnet das
Statistische Bundesamt mit einem Wert von mindestens 750.000 (Statistisches Bundesamt,
2017b). Das ist eine Größenordnung, die annährend einem Prozent der Bevölkerung in
Deutschland entspricht und die neben 2016 bisher nur 1992 und 2015 erreicht wurde. Dabei
gehen die hohen Zuwandererzahlen nicht allein auf den Flüchtlingszuzug zurück. Auch die EUZuwanderung hat im Jahr 2015 mit per Saldo 333.000 einen Spitzenwert erreicht (Statistisches
Bundesamt, 2017b). Hingegen war die Erwerbsmigration aus Drittstaaten mit rund 22.000 erteilten Aufenthaltserlaubnissen zur Erwerbstätigkeit oder Blauen Karten an im Jahr 2015 eingereiste Personen sehr überschaubar (BAMF, 2016).
Für die nächsten Jahre ist mit einem deutlichen Rückgang der Zuwanderungszahlen zu rechnen. Mit Blick auf die EU-Zuwanderung lässt sich sagen, dass die aktuell hohen Werte im Kontext des Auslaufens der Beschränkungen bei der Freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten
in den Jahren 2011 bis 2015 und der Wirtschaftskrise in Südeuropa gesehen werden müssen.
Zudem ist die Zahl potenzieller Migranten in den wichtigen Herkunftsländern innerhalb der EU
begrenzt und viele von ihnen sind bereits gewandert. So ist die Bevölkerungszahl im Jahr 2014
in Bulgarien bereits um 0,6 Prozent, in Rumänien um 0,3 Prozent und in Polen um 0,03 Prozent
gesunken, während sie in Deutschland um 0,5 Prozent gestiegen ist (Eurostat, 2016).
Auch der Flüchtlingszuzug dürfte aller Voraussicht nach deutlich an Bedeutung verlieren. Rechnet man die Zahlen der nach der Schließung der Balkanroute im zweiten Halbjahr 2016 im
EASY-System registrierten Personen von 15.000 bis 20.000 hoch (BMI, 2017), kommt man auf
einen Jahreswert in der Größenordnung von 200.000. Dabei verfügt ein großer Teil der Flüchtlinge nur über ein sehr geringes Bildungsniveau bis hin zu Lücken in der Grundbildung, sodass
ihre Integration eine große Herausforderung darstellt (Geis / Plünnecke, 2016). Daher ist es für
Deutschland weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich sinnvoll, die Zuwanderung auf diesem
Wege über das aus humanitären Gründen gebotene hinaus zu forcieren. Allerdings ist anzumerken, dass die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge sehr stark von der weiteren Entwicklung der Zusammenarbeit innerhalb der EU in Asylfragen abhängen wird, da
Deutschland über keine relevante EU-Außengrenze verfügt.
Insgesamt findet sich Deutschland damit in der auf den ersten Blick paradox erscheinenden
Situation wieder, dass die Zuwanderzahlen auf Rekordniveau liegen und dennoch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ein rechtlicher Rahmen notwendig ist, der die qualifizierte Zuwanderung aus Drittstaaten weiter fördert und nicht etwa begrenzt.
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Ziele einer Modernisierung des Zuwanderungsrechts
Obschon derselbe Begriff verwendet wird, liegen die Vorstellungen darüber, was ein „modernes
Einwanderungsgesetz“ konkret regeln und wie es ausgestaltet werden sollte, zum Teil sehr weit
auseinander. Dies beginnt bereits mit der Frage, ob es nur Regelungen für die (gesteuerte) Erwerbs- und Bildungsmigration aus Drittstaaten oder auch für die Gewährung von Flüchtlingsschutz enthalten sollte. Daher soll an dieser Stelle zunächst auf zentrale Ziele einer Modernisie-
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rung des Zuwanderungsrechts eingegangen werden, bevor im Folgenden einige konkrete Anpassungsvorschläge diskutiert werden.
Ein Ziel eines „modernen Einwanderungsgesetzes“ kann es sein, deutlich zu machen, dass
Deutschland Zuwanderung braucht und Zuwanderer hier willkommen sind. Dabei ist die Verwendung des Begriffs „Einwanderungsgesetz“ von großer Bedeutung, da damit eindeutig klargestellt wird, dass Deutschland „ein Einwanderungsland“ ist, was in den Diskursen der vergangenen Jahrzehnte oftmals bestritten wurde. Ein möglicher Schritt wäre die Umbenennung des
Aufenthaltsgesetzes in Einwanderungsgesetz. So wichtig diese Art der Symbolpolitik für das
Selbstverständnis Deutschlands sein kann, ist sie für die Zuwanderung an sich weitestgehend
irrelevant, da Zuwanderungsinteressierte in den seltensten Fällen die deutschen Gesetzestexte
lesen. Vielmehr orientieren sie sich bei ihrer Entscheidung in der Regel an den ihnen vorliegenden Informationsmaterialen wie Webseiten und Broschüren.
Für die Erstellung solcher Informationsmaterialen bedarf es an sich keiner gesetzlichen Regelungen. Allerdings sollte der zuwanderungsrechtliche Rahmen so gestalten sein, dass klar ist,
welchen Personengruppen unter welchen Bedingungen ein Aufenthaltstitel erteilt wird. So sollte
es möglich sein, eine Online-Plattform zu erstellen, in der Zuwanderungsinteressierte die relevanten Angaben zu ihrer Person machen und anschließend eine treffsichere Prognose darüber
erhalten, ob und unter welchen Bedingungen sie einen Aufenthaltstitel erhalten können. Während Länder wie Kanada über solche Plattformen verfügen, scheitert dies in Deutschland daran,
dass das Zuwanderungsrecht sehr komplex ist und an vielen Stellen große Interpretationsspielräume offen lässt. So können die bestehenden Informationsplattformen wie „Make it in Germany“ nur ein erstes Bild über die Zugangswege liefern und Zuwanderungsinteressierte an Fachberatungsstellen verweisen.
Damit ergibt sich für Deutschland ein an sich vermeidbarer Nachteil im Wettbewerb um international mobile Talente. Viele Menschen, die einen Umzug in ein anderes Land erwägen, informieren sich nämlich bereits lange bevor die Migrationspläne konkret werden über ihre Zuwanderungschancen. Erhalten sie dann konkrete Angaben darüber, unter welchen Bedingungen
eine Zuwanderung möglich ist, passen sie unter Umständen ihren Lebens- und Bildungsweg an
und erlernen etwa die Sprache des Ziellandes. Erhalten sie keine oder für sie unverständliche
Informationen, kann es schnell passieren, dass sie ein mögliches Zielland aussondern und nicht
mehr in Betracht ziehen. Dabei kommt eine Fachberatung in einer so frühen Phase in der Regel
noch nicht in Betracht. Vielmehr wären Online-Informationstools für Zuwanderungsinteressierte
sehr hilfreich, die auch eine „Was wäre wenn“-Betrachtung zulassen.
Leicht verständliche Informationen über den zuwanderungsrechtlichen Rahmen sind nicht nur
wichtig, um gesuchte Fachkräfte für Deutschland zu gewinnen, sondern auch um Personen
ohne Aussichten auf einen Aufenthaltstitel von einem Aufbruch nach Deutschland abzuhalten.
Dabei stellt sich hier die besondere Herausforderung, dass Schlepperbanden häufig gezielt
Fehlinformationen streuen, gegen die vorgegangen werden muss. Daher ist es an dieser Stelle
umso wichtiger, den zuwanderungsrechtlichen Rahmen so zu gestalten, dass er leicht erklärbar
ist und möglichst wenig Interpretationsspielraum bietet. Nur so können Informationsmaterialien
erstellt werden, die auch von niedrigqualifizierten Personen verstanden werden und diese überzeugen.
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Ein weiteres Ziel eines modernen Einwanderungsrechts sollte es sein, möglichst schnelle und
einfache Verfahren zur Vergabe von Visa und Aufenthaltstiteln zu erreichen, deren Verlauf und
Ausgang für alle beteiligten Akteure, insbesondere aber Zuwanderungsinteressierte und im
Ausland rekrutierende Unternehmen, leicht nachvollziehbar und abschätzbar ist. Dazu ist zunächst ein moderner Verwaltungsvollzug notwendig, der auch Angaben zum aktuellen Stand im
jeweiligen Verfahren sowie zur durchschnittlichen Verfahrensdauern bereitstellt. Hierbei ergibt
sich in Deutschland die besondere Herausforderung, dass die Zuständigkeiten für die Vergabe
von Visa und Aufenthaltstiteln bei den Auslandsvertretungen in den Herkunftsländern und den
dezentral organisierten und (außer im Saarland) bei den Kreisen angesiedelten Ausländerbehörden liegen. Dies macht nicht nur die Aufbereitung relevanter Informationen schwierig, sondern führt auch dazu, dass Interpretationsspielräume beim zuwanderungsrechtlichen Rahmen
häufig unterschiedlich genutzt werden. Daher sollte im Kontext der Etablierung eines modernen
Einwanderungsrechts zumindest eine Bündelung der Zuständigkeit für die Erstvergabe von
Aufenthaltstiteln an neu aus dem Ausland einreisende Personen bei einer oder einigen zentralen Stellen vorgenommen werden. Bei dieser sollten die Zuwanderungsinteressierten auch direkt ihren Antrag auf einen Aufenthaltstitel stellen können. Erst wenn dieser positiv beschieden
wurde, müssen die Auslandsvertretungen, sofern für die Einreise ein Visum notwendig ist, ins
Verfahren eingebunden werden.
Bei der Gestaltung der Verfahren sollte auch darauf geachtet werden, dass die Zahl der beizubringenden Nachweise möglichst gering gehalten wird, da ihre Beschaffung häufig mit einem
substanziellen Zeit- und Kostenaufwand für die Zuwanderungsinteressierten verbunden ist.
Dies gilt in besonderem Maße für Nachweise, für die ein spezifisches Verwaltungsverfahren
notwendig ist, wie die formale Anerkennung eines beruflichen Abschlusses. Dieser Punkt betrifft
nicht nur den Verwaltungsvollzug, sondern auch die Gestaltung der Vergabekriterien für die
Aufenthaltstitel. Bereits an dieser Stelle muss grundsätzlich mitgedacht werden, welche Nachweise notwendig sind, um die Erfüllung der Kriterien zu prüfen.
Die bis hierhin dargestellte Argumentation, dass ein modernes Einwanderungsrecht das Ziel
haben sollte, leicht kommunizierbare und in der Verwaltungspraxis umsetzbare zuwanderungsrechtliche Regeln zu schaffen, sagt noch nichts darüber aus, wie liberal oder restriktiv es gestaltet werden sollte. Um diese Frage zu klären, sind einige weitere Überlegungen notwendig. Zunächst ist festzustellen, dass mit dem Ausscheiden der Babyboomer-Jahrgänge in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach so große Lücken am Arbeitsmarkt entstehen werden, dass
eine Aktivierung der bestehenden inländischen Arbeitskräftepotenziale nicht ausreichen wird,
um das umlageorientierte Sozial- und Rentenversicherungssystem zu stabilisieren und zu vermeiden, dass sich Fachkräfteengpässe negativ auf Wachstum und Wohlstand in Deutschland
auswirken (Geis et al. 2016). Zuwanderung kann einen zentralen Beitrag dazu leisten, diesen
negativen Auswirkungen des demografischen Wandels zu begegnen, vorausgesetzt die Integration der zuwandernden Personen in den deutschen Arbeitsmarkt gelingt. Ist dies nicht der
Fall, kann sie die Lage hingegen sogar noch verschlimmern, da ein längerfristiger Anstieg der
Zahl der Transferempfänger zu einer zusätzlichen Belastung für die öffentlichen Haushalte
führt.
Vor diesem Hintergrund sollten über das aus humanitärer Sicht Gebotene hinaus vor allem Personen mit sehr guten Integrationsperspektiven für eine Zuwanderung nach Deutschland gewonnen werden. Hierzu wäre zu überlegen, das System der bedarfsgeleiteten Arbeitszuwanderung, das die Vergabe eines Aufenthaltstitels grundsätzlich an das Vorliegen eines entspre-
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chenden Arbeitsvertrags knüpft, mittelfristig durch eine potenzialorientierte Fachkräftezuwanderung, also die Vergabe von Aufenthaltstiteln an Personen, die zwar noch kein konkretes Jobangebot vorliegen haben, deren Qualifikationen und persönliche Charakteristika jedoch eine erfolgreiche Integration am Arbeitsmarkt erwarten lassen, zu ergänzen.1 Zudem sollte die Zuwanderung über das Bildungssystem stärker auch als Maßnahme zur Fachkräftesicherung verstanden und entsprechend gefördert werden.
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Anpassungsbedarfe bei der Bildungs- und Erwerbsmigration
Wie in Geis et al. (2016) im Detail dargestellt, bietet das deutsche Aufenthaltsrecht Personen,
die im Kontext einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung nach Deutschland einreisen möchten,
grundsätzlich gute Zugangswege. Allerdings besteht das Problem, dass die Regelungen in vielen Fällen so unübersichtlich sind, dass sowohl Zuwanderungsinteressierte als auch Arbeitgeber, die gern aus dem Ausland rekrutieren möchten, die Zugangsmöglichkeiten nur schwer
durchschauen können. Besonders ungünstig ist in diesem Zusammenhang, dass für einzelne
Personengruppen (z.B. Doktoranden) eine ganze Reihe von Aufenthaltstiteln infrage kommt
und gleichzeitig einzelne Aufenthaltstitel (zum Beispiel der Aufenthaltstitel zur qualifizierten Beschäftigung nach §18 Abs. 4 AufenthG) den Zugang für eine ganze Reihe unterschiedlicher
Personengruppen regelt. Vor diesem Hintergrund ist es selbst für Experten schwierig, den
Überblick zu behalten, welche Personengruppen konkret unter welchen Bedingungen zuwandern können. Daher sollten die Aufenthaltstitel zur Ausbildung und Erwerbstätigkeit dringend
neu strukturiert werden.
Des Weiteren wären inhaltliche Anpassungen bei den Kriterien für die Vergabe von Aufenthaltstiteln an verschiedene Erwerbstätigengruppen wünschenswert. So sollte die Blaue Karte auch
für Personen, die eine einem Hochschulabschluss vergleichbare Qualifikation durch mindestens
fünfjährige Berufserfahrung nachweisen können, geöffnet werden. Zudem wäre mit Blick auf
den Arbeitsmarktzugang für beruflich qualifizierte Fachkräfte im Rahmen des §18 Abs. 4 AufenthG i. V. m. §6 BeschV zu prüfen, ob eine formale Feststellung der Gleichwertigkeit des Bildungsabschlusses mit einem deutschen beruflichen Abschluss in jedem Fall nötig ist. Alternativ
sollte eine Prüfung der Bildungsabschlüsse durch die Ausländerbehörden auf Basis einer Datenbank-Lösung, etwa einer Weiterentwicklung des BQ-Portals, in Betracht gezogen werden
wie dies bei Hochschulabschlüssen gängige Praxis ist. Beim Zugang für Akademiker wäre zu
überlegen, dem Spitzenpersonal für die freie Wirtschaft direkt die Niederlassungserlaubnis nach
§ 19 AufenthG zu erteilen, wie dies bis 2012 der Fall war. Zwar kann diese Personengruppe
auch über die Blaue Karte EU nach Deutschland einreisen. Jedoch wäre dies ein starkes Willkommenssignal für diese besonders gesuchte Zielgruppe. Auch Absolventen, die ihr Studium in
Deutschland mit überdurchschnittlichen Leistungen in der Regelstudienzeit abgeschlossen haben und über exzellente Deutschkenntnisse verfügen, könnte direkt die Niederlassungserlaubnis erteilt werden.
Mit Blick auf die Bildungsmigration wäre ansonsten vor allem eine Liberalisierung der Vergabe
von Aufenthaltstiteln zur dualen Ausbildung und zur schulischen Berufsausbildung in Deutschland wünschenswert. Bei der Vergabe von Aufenthaltstiteln zur betrieblichen Ausbildung könnte
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Mit der Einführung der sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche für Akademiker nach
§18c AufenthG ist bereits ein erster zaghafter Schritt in diese Richtung unternommen worden.
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die Vorrangprüfung zumindest in den Fällen entfallen, in denen es in dem angestrebten Beruf
mehr Ausbildungsstellen als -bewerber gibt oder sich der Beruf auf der Positivliste befindet.
Auch wären ein verstärktes Engagement der Bundesagentur für Arbeit bei der Vermittlung von
Auszubildenden aus Drittstaaten und ein Gesamtkonzept zur Verbesserung des Zugangs zum
beruflichen Bildungssystem für junge Ausländer hilfreich.
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Potenziale und Grenzen eines Punktesystems
Da in der Diskussion um ein modernes Einwanderungsrecht vielfach die Einführung eines
Punktesystems gefordert wird, soll an dieser Stelle etwas tiefer auf dessen Vor- und Nachteile
eingegangen werden. Dabei hängt die letztliche Bewertung sehr stark davon ab, welche Art der
Zuwanderung über das System gesteuert wird. Während die Nutzung eines Punktesystems für
die humanitäre Zuwanderung und Familienzusammenführung aus rechtlicher und ethischer
Sicht kaum denkbar ist, kann es sowohl für eine potenzialorientierte Fachkräftezuwanderung
von Personen ohne bereits vorliegende qualifikationsadäquate Stelle als auch für die bedarfsgeleitete Zuwanderung von Personen mit vorliegendem Arbeitsvertrag verwendet werden.
Im ersten Fall hat es den Vorteil, dass eine Vielzahl verschiedener für die Integrationsperspektiven relevanter Aspekte wie Bildungsabschluss, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und Alter in
den Blick genommen und bei der Punktevergabe berücksichtigt werden können. Dabei kann
auch berücksichtigt werden, dass einzelne Faktoren nicht unabhängig voneinander sind, und
die erreichbare Gesamtpunktezahl in einzelnen Bereichen (z. B. bei der Ausbildung) begrenzt
werden. Gleichzeitig können die Einzelkriterien für die Punktevergabe und ihre Gewichtungen
so definiert werden, dass sie leicht verständlich sind. Dabei ist anzumerken, dass ein Punktesystem, auch wenn zielgenau Personen mit besonders guten Perspektiven am Arbeitsmarkt
ausgewählt werden, den letztlichen Integrationserfolg nicht garantieren kann. Daher ist es
grundsätzlich sinnvoll, die über ein Punktesystem vergebenen Aufenthaltstitel zunächst zu befristen und die Verlängerung von Erfolgsindikatoren wie dem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen abhängig zu machen.
Wird ein Punktesystem für die bedarfsgeleitete Zuwanderung von Personen mit vorliegendem
Arbeitsvertrag verwendet, so kommt seine wichtigste Stärke, nämlich die gezielte Auswahl der
Bewerber mit den besten Arbeitsmarktperspektiven, kaum zum Tragen, da ohnehin über den
Arbeitsmarkt eine entsprechende Auswahl erfolgt. Damit definiert das Punktesystem letztlich
nur noch eine Mindestanforderung für den Arbeitsmarktzugang, die auf verschiedenen Teilindikatoren basiert. Gleichzeitig sind in diesem Fall mit der Verwendung eines Punktesystems auch
Risiken verbunden. So kann es vorkommen, dass Fachkräfte aus dem Ausland aufgrund eines
zu geringen Punktwerts keinen Arbeitsmarktzugang erhalten, obwohl sie eine Engpassposition
besetzen könnten. Dabei ist dies genau das Ziel der bedarfsgeleiteten Arbeitskräftezuwanderung, wohingegen die langfristigen Perspektiven am Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund, dass
der Aufenthaltstitel ohnehin an eine konkrete Arbeitsstelle gebunden ist, eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Ist das Punktesystem mit im Vorhinein festgelegten Zulassungszahlen verbunden, was im Kontext der potenzialorientierten Fachkräftezuwanderung ein geeignetes Vorgehen ist, verschärft
sich diese Problematik noch. Dann kann es nämlich auch vorkommen, dass ein Bewerber, der
eine Engpassposition besetzen kann und die geforderte Mindestpunktzahl erfüllt, nicht zum Zug
kommt. Dies kann passieren, wenn sehr viele andere Bewerber höhere Punktzahlen erreichen
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und das Zulassungskontingent bereits erschöpft ist, bevor der Bewerber zum Zug käme. Das
wiederum führt dazu, dass ein Arbeitgeber zu Beginn des Auswahlverfahrens kaum abschätzen
kann, ob ein Bewerber aus Drittstaaten einen Aufenthaltstitel erhalten kann oder nicht, was die
bedarfsgeleitete Arbeitskräftezuwanderung enorm erschwert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Punktesystem ein geeignetes Instrument zur
Steuerung einer potenzialorientierten Fachkräftezuwanderung ist. Entscheidet sich Deutschland
dafür, diese Form der Zuwanderung zuzulassen, was vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels wünschenswert wäre, kann es verwendet werden, um die passenden Bewerber auszuwählen. In anderen Kontexten ist hingegen von seiner Verwendung dringend abzuraten. So
ist es insbesondere für die bedarfsgeleitete Arbeitskräftezuwanderung von Personen mit bestehender Stellenzusage nicht notwendig und würde das Zuwanderungsrecht nur restriktiver und
die Verfahren komplizierter machen. Damit widerspricht es an dieser Stelle den Zielen eines
modernen Einwanderungsrechts.
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Die Vorrangprüfung als Selektionsinstrument
Da in den Entschließungsanträgen der Landtagsfraktionen sehr prominent Veränderungen bei
der Vorrangprüfung gefordert werden, soll an dieser Stelle auch kurz auf ihre Bedeutung eingegangen werden. Die Vorrangprüfung ist grundsätzlich ein Instrument, um festzustellen, ob eine
Stelle nicht mit einer einheimischen oder bevorrechtigten Person wie einem EU-Ausländer besetzt werden kann. Ist dies nicht der Fall, kann davon ausgegangen werden, dass im konkreten
Fall ein Engpass besteht, der nur mit einer Fachkraft aus einem Drittstaat gefüllt werden kann.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Vorrangprüfung immer dann sinnvoll ist, wenn einzelfallspezifisch festgestellt werden soll, ob ein Bedarf an einer Fachkraft aus dem Ausland besteht.
Solch eine Prüfung ist grundsätzlich nicht sinnvoll, wenn sich der betreffende Ausländer bereits
im Land aufhält und unabhängig von der Besetzung der entsprechenden Stelle längerfristig
verbleiben wird, wie es bei Asylbewerbern und Geduldeten der Fall ist. Dann sollte die Erwerbstätigkeit aufgrund ihrer hohen Bedeutung für eine erfolgreiche Integration gefördert und gefordert und nicht behindert werden. Auch bei neu aus dem Ausland zuwandernden Personen, die
hochqualifiziert sind oder in Deutschland besonders gesuchte Engpassqualifikationen mitbringen, kann auf eine Vorrangprüfung verzichtet werden, da keine Verdrängung einheimischer
Arbeitnehmer droht.
Das bedeutet allerdings nicht, dass sie gänzlich verzichtbar wäre. So sind durchaus Situationen
denkbar, in denen im Einzelfall ein Bedarf an einer ausländischen Fachkraft besteht, eine Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.
Erfüllt der Zuwanderer nicht die Bedingungen für die Vergabe eines anderen Aufenthaltstitels,
besteht in diesem Fall derzeit die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis zur qualifizierten Beschäftigung im öffentlichen Interesse nach §18 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu erteilen. Auch wenn
die Interpretationsspielräume im Zuwanderungsrecht, wie oben dargestellt, soweit wie möglich
reduziert werden sollten, sollte es in besonderen Situationen auch weiterhin möglich sein, ausländische Arbeitskräfte nach einer Vorrangprüfung zuzulassen, wenn sich keine anderen Zugangswege bieten.
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Literatur
BMI – Bundesministerium des Innern, 2017, 280.000 Asylsuchende im Jahr 2016 – Deutlicher
Rückgang des Zugangs von Asylsuchenden, 745.545 Asylanträge, Pressemitteilung vom
11.01.2017, Berlin
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2016, Wanderungsmonitoring: Erwerbsmigration nach Deutschland – Jahresbericht 2015, Nürnberg
Eurostat, 2016, Demografie und Migration: Bevölkerungsstand,
http://ec.europa.eu/eurostat/de/data/database [01.12.2016]
Geis, Wido / Nintcheu, Michaelle / Vogel, Sandra, 2016, Fachkräfte für Deutschland – Potenziale einer gesteuerten Zuwanderung, IW-Analysen , Nr. 105, Köln
Geis, Wido / Plünnecke, Axel, 2016, Flüchtlingsmigration – Warum wir weiterhin qualifizierte
Zuwanderung brauchen, Wirtschaftspolitische Blätter, Nr. 3, S. 3–14
Statisches Bundesamt, 2017a, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Wanderungen 2015, Fachserie 1, Reihe 2.1, Wiesbaden
Statistisches Bundesamt 2017b, Bevölkerung in Deutschland voraussichtlich auf 82,8 Millionen
gestiegen, Pressemitteilung Nr. 33 vom 27.01.2017, Wiesbaden
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