Postfaktum / Von Herfried Münkler

Kulturelles Wort
Redaktion: Rainer Sütfeld
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Sendung am: 26.02.2017
19.05 – 19.15 Uhr
GEDANKEN ZUR ZEIT
Postfaktum
Über bedrohliche Veränderungen im politischen Betriebssystem
Von Herfried Münkler
GEDANKEN
ZUR ZEIT
Sonntags
19.05 - 19.15 Uhr
Sprecher An- und Absage: Rainer Sütfeld
Manuskript und Sprecher: Herfried Münkler
Telefon:
0511 / 988-2321
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- Unkorrigiertes Exemplar -
Das Karrierewort des Jahres 2016 – postfaktisch – besagt, dass das Projekt der
deliberativen Demokratie in die Krise geraten ist. Deliberative Demokratie heißt, dass die
Bürger argumentieren, sich diskursiv miteinander auseinandersetzen, aufeinander hören,
wenn sie um gemeinsame Beschlüsse ringen. – Eine solche Vorstellung von Demokratie ist
sicherlich nie eine fotographische Abbildung der politischen Realität gewesen, aber ein
Leitbild, an dem man sich orientieren konnte, war sie schon. Politische Systeme, in denen
ein Einziger oder Wenige das Sagen hatten, finden zumeist sehr viel schneller zu
Entscheidungen, und wenn diese erst einmal getroffen sind, werden sie auch sehr viel
zügiger umgesetzt als im demokratischen Rechtsstaat. Der Zeitverlust, den die Demokratie
mit ihren Beratungs- und Prüfverfahren produziert, lässt sich nur rechtfertigen, wenn man
ihn mit der Überzeugung verbindet, dass man so zu besseren und beständigeren
Ergebnissen
gelangt.
Das
Betriebssystem
der
Demokratie
ist
dem
eigenen
Selbstverständnis nach so ausgelegt, dass der für die Beratung erforderliche Zeitaufwand
durch eine im Ergebnis bessere Politik ausgeglichen wird.
Die Diagnose des Postfaktischen steht für das Dominantwerden von Stimmungen und
Meinungen, die sich dem Test der argumentativen Begründung nicht aussetzen. Diese
Veränderung hat viele Ursachen, und beileibe liegen diese nicht allesamt bei denen, die
des Argumentierens müde sind oder sich dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlen.
Die mit dem rasanten Aufstieg populistischer Parteien eingetretene Veränderung des
politischen Betriebssystems der Demokratie, die Umstellung von Argumentation auf
Akklamation, hat sich lange vorbereitet. Da waren einerseits die immer seltener mit
Argumenten und politischen Entwürfen geführten Wahlkämpfe, und andererseits war da die
abnehmende Wahlbeteiligung der Bürger. In einigen Fällen war es nahezu die Hälfte der
Wahlberechtigten, denen die Stimmabgabe nichts wert war: Sie gingen nicht mehr zur
Wahl, weil deren Ergebnis ihnen ziemlich egal war. Man muss freilich bezweifeln, dass es
die argumentative Dürftigkeit der Wahlkämpfe war, die dafür verantwortlich gemacht
werden kann. Die Wahlkampfmanager der Parteien jedenfalls würden das UrsacheWirkungsverhältnis umkehren: weil man die Unlust der Leute gegenüber einer mühsamen
und zeitaufwändigen Vermittlung von Sachverhalten kannte, versuchte man ihnen die
Entscheidung so einfach wie möglich zu machen: Viele Bilder, wenig Text, kaum Argumente.
Aber woher kam eigentlich dieses Desinteresse am Politikbetrieb? Die kleinen Leute hätten
sich nicht mehr vertreten gesehen, lautet eine Antwort. Weil sie gesellschaftlich abgehängt
seien, hätten sie sich auch aus der Politik zurückgezogen. Das ist die eher linke oder
linksliberale Erklärung: Partizipationsverzicht, seitdem man das Gefühl hat, dass man durch
Wahlbeteiligung doch nichts ändern könne. Resignation als Folge einer fehlenden
Veränderungsperspektive. Daneben gibt es aber auch eine eher rechte oder konservative
Erklärung, die das Fehlen traditioneller Werte und genuin nationaler Themen im
Parteienspektrum dafür verantwortlich macht, dass viele nicht wussten, was oder wen sie
wählen sollten – und deswegen der Wahl fernblieben. Es sind bestimmte Themen und
Perspektiven beziehungsweise deren Fehlen, die hier geltend gemacht werden: im einen
Fall die gesellschaftliche Ordnung, im anderen das Fehlen nationalkonservativer Werte. Da
mag etwas dran sein. Aber als Erklärung für eine so tiefgreifende Veränderung, wie wir sie
im vergangenen Jahr mit der britischen Entscheidung für den EU-Austritt, der Wahl Donald
Trumps zum amerikanischen Präsidenten und den Erfolgen rechtspopulistischer Parteien
in Europa beobachtet haben, greift der Verweis auf Politikinhalte zu kurz. In Deutschland
etwa hat es auch in der Vergangenheit kleine, sehr kleine Parteien gegeben, die die als
fehlend monierten Themen vertreten haben. Man musste den Wahlzettel nur bis zum Ende
durchlesen oder sich sonst kundig machen, um sie zu finden. Getan haben das nur wenige,
denn die fraglichen Parteien blieben klein und unscheinbar.
Die These vom Aufstieg postfaktischer Politikorientierungen geht bewusst in eine andere
Richtung als diejenigen, die sich mit politischen Inhalten oder deren Fehlen beschäftigen.
Sie zielt im Gegenteil auf die radikale Entwertung alles Inhaltlichen, auf eine Abkoppelung
von den politischen Fakten, auf die Imagination von Handlungsmöglichkeiten, die durch
radikales Umsteuern eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten versprechen, freilich ohne
dass zuvor geklärt worden wäre, was denn die guten alten Zeiten waren und worin sie
politisch bestanden. Es soll wieder so sein, wie man sich vorstellt, dass es einmal war:
America great, die Briten eine Weltmacht, und die europäischen Gesellschaften
nationalkulturell homogen. Und all das, was sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten
verändert hat, soll nun in einem politischen Handstreich wieder rückgängig gemacht
werden.
Wer sich auf die Fakten einlässt, kommt indes zu dem Ergebnis, dass derlei nicht möglich
ist. Deswegen beschäftigten sich viele auch nicht mit den Fakten, sondern lassen ihrem
wunschgetriebenen Willen freien Lauf: weil man es will, soll es auch möglich sein. Und als
Beweis für die Möglichkeit des Gewollten wird dann auf eine Führergestalt verwiesen, die
gesagt hat, dass es möglich sei. Der frenetische Jubel, der die Auftritte solcher
Führergestalten umgibt, dient nicht zuletzt dazu, die Realität draußen zu halten. Und
nachfragende Journalisten, die bei Pressekonferenzen oder in Sendungen und Artikeln mit
dieser schnöden Wirklichkeit daherkommen, werden gemaßregelt und beschimpft. Man hat
sich eine voluntaristische Traumwelt geschaffen und möchte darin nicht gestört werden.
Postfaktum.
Es ist indes nicht viel gewonnen, wenn man das Hochschießen dieser postfaktischen
Politikpartizipation nur beklagt und nicht erklärt, woher es kommt und wie man diese
Einstellung womöglich wieder zurückdrängen kann. Gut, nach längerer Zeit wird der
wildgewordene Voluntarismus an der Faktizität der Welt scheitern, und dann kommt es
wieder zu einem Stimmungsumschwung, nach dem die an den sozialen und ökonomischen
Konstellationen hart und zäh Arbeitenden wieder mehr Respekt und Vertrauen erhalten. Bis
dahin kann freilich sehr viel Schaden angerichtet sein, und es wäre gut, wenn die Epoche
des Postfaktischen nicht so lange dauern würde. Darum einige Vorschläge zu ihrer
Verkürzung:
Der demokratische Politikbetrieb hat Stimmung und Argumentation immer miteinander
verbunden; ganz so deliberativ, wie eine entsprechende Demokratietheorie dies dargestellt
hat, ist die Demokratie in Wirklichkeit nie gewesen. Für traditionelle Parteienbindungen
mag es gute Gründe gegeben haben, aber vor allem waren sie emotionaler Art. Und
selbstverständlich hat die Alternative, sich zwischen zwei großen Volksparteien
entscheiden zu können, das Gefühl bestätigt, mit dem Wahlgang Einfluss nehmen zu
können. Beides gibt es so nicht mehr. Noch wichtiger aber könnte sein, dass sich mit der
Entstehung von allerhand Initiativen und Nicht-Regierungsorganisationen der Eindruck
verfestigt hat, es gebe Einflussformen, die sehr viel wichtiger und bedeutender seien als die
Wahl. Bürgerinitiativen, NGOs und anderes mehr aber waren (und sind) ein Tummelplatz
der Mittelschicht. Man braucht nämlich eine Reihe von Kompetenzen und Fähigkeiten, um
hier mitmachen zu können. So sahen sich viele auf die Wahl als einflussloseste Form der
Einflussnahme beschränkt, und daran wollten sie sich nicht beteiligen – bis dann Parteien
und Personen auftraten, die versprachen, die Wahl wieder bedeutsam zu machen und das
geschäftige Treiben der Initiativen und NGOs in den Hintergrund zu drängen. Man musste
sich gar nicht mit der Komplexität der Weltwirtschaft, den Folgen des Klimawandels, den
Normen der Gleichberechtigung beschäftigen, um mitreden zu können. Dazu genügte eine
bloße Willensbekundung. Alles war ganz einfach, und das ganze Gerede von der komplexen
Wirklichkeit war nur ein Trick, um die einfachen Leute zum Schweigen zu bringen. Und
seitdem die so genannten einfachen Leute das glaubten, ist das politische Betriebssystem
umgestellt worden, unmerklich vorbereitet, schlagartig erfolgt.
Man muss, wenn man diese Umstellung als bedrohlich ansieht, also wieder zurück zu
einem
Politikbetrieb,
in
dem
nicht
alles
an
den
Vorstellungen
kleiner
argumentationsfähiger Gruppen ausgerichtet ist, in dem auch emotionale Bindungen und
Geborgenheitswünsche eine Rolle spielen und in dem politische Alternativen zur Wahl
gestellt werden. Das klingt einfach, ist aber schwer zu bewerkstelligen. Doch nur so lässt
sich wieder mehr Realitätssinn in eine postfaktische Stimmungslage einbringen.
Herfried Münkler, Jg. 1951, ist Professor für Theorie der Politik an der Berliner
Humboldt-Universität