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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Vorurteile
Warum Schwule nicht zuhören und Muslime schlecht einparken
Von Eva Raisig
Sendung: Montag, 27. Februar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Andreas Stoffels
Produktion: Deutschlandradio 2015
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MANUSKRIPT
Autorin:
Neulich war ich mit dem Fahrrad unterwegs, hier auf der Karl-Marx-Straße in
Neukölln, das ist eine ziemlich viel befahrene Straße. Ich fahre also die Straße
runter, super umsichtig, nicht zu dicht an den parkenden Autos, als plötzlich von
hinten ein Auto heranrast und hupt und ärgert sich offensichtlich, dass ich zu weit in
der Straßenmitte fahre, fährt hupend an mir vorbei und schert direkt vor mir ein,
sodass ich gerade noch abbremsen kann. Ich schaue also in das Auto rein und da
sitzt eine Frau. Und die hat ein Kopftuch an. Ich hab irgendwas gebrüllt, du Affe du
Penner oder so, aber das war nicht, was ich in meiner Wut dachte. Ich dachte
nämlich ganz spontan: Typisch.
Georg Kreisler:
Das ist wieder typisch!
Er ist doch schließlich nur ein Ausländer, nicht mehr!
Und geht so sorgenfrei
Als ob er Schweizer sei
Durch den Verkehr
Ich muss hinterher.
Autorin:
Und als ich mich dann wieder beruhigt hatte, dachte ich: Typisch? Typisch für wen?
Für Autofahrer? Für Muslima? Für Frauen am Steuer?
Ansage:
Vorurteile – Warum Schwule nicht zuhören und Muslime schlecht einparken
Eine Sendung von Eva Raisig
Autorin:
Keine Ahnung, was da für eine Argumentationskette in meinem Kopf ablief. So was
wie: Klar können die kein Autofahren, die sind wahrscheinlich eh nur damit
beschäftigt zu kochen und ihren Männern zu gehorchen. Und wenn sie mal draußen
sind, sind sie halt immer ein bisschen unverschämt. Ich weiß es nicht.
„Die sind halt irgendwie so rücksichtslos.“
„Die unterdrücken alle ihre Frauen.“
„Die beten halt auch den ganzen Tag.“
„Und sind irgendwie nicht integrierbar in die Gesellschaft vernünftig.“
„Viele von denen.“
Autorin:
Jedenfalls hab ich mich echt ein bisschen erschrocken. Es ist bestimmt nicht meine
Überzeugung, dass Frauen schlecht Autofahren oder Muslime Verkehrsrüpel sind. Im
Gegenteil, ich würde mich normalerweise gegen solche Überzeugungen einsetzen,
ehrlich.
Georg Kreisler:
Das ist wieder typisch!
Er sieht den Leuten, die ihn anschau‘n, ins Gesicht
2
Und wenn er stehenbleibt
Wie's ihn gleich weitertreibt
Den Bösewicht!
Mich bemerkt er nicht.
Sprecherin:
Ist unsere Autorin insgeheim eine islamophobe Sexistin, obwohl sie behauptet, es
nicht zu sein? Auf der Suche nach einer Antwort begeben wir uns zunächst zum
Ernst-Reuter-Platz in Berlin. Hier hat einer der bekanntesten Vorurteilsforscher sein
Büro.
Sprecher:
Wolfgang Benz empfängt in seinem Zimmer. Für Außenstehende ist die
Bürosituation unübersichtlich. Vor dem Bücherregal und dem mit Leitzordnern und
Dokumenten bedeckten Schreibtisch stapeln sich Umzugskartons:
O-Ton Wolfgang Benz:
Warum das hier so aussieht: Ich werde weder rausgeschmissen, noch ziehe ich um.
Das ist ein Teil meines Nachlasses ...
Sprecher:
Wolfgang Benz ist Historiker und hat mehr als zwanzig Jahre lang das Zentrum für
Antisemitismusforschung an der TU Berlin geleitet:
O-Ton Wolfgang Benz:
... aber aus irgendwelchen Gründen haben sie den noch nicht abgeholt und deshalb
ist es hier jetzt so unwirtlich.
Sprecherin:
Typisch Wissenschaftler.
Autorin: „... und ich dachte, es sieht hier immer so aus.“
Benz: Ähnlich ja, ähnlich. Aber das mit den Kisten ist natürlich noch ärger ...“
Autorin: „Ich möchte mit Ihnen über Vorurteile sprechen.“
O-Ton Wolfgang Benz:
Man bestreitet in der Regel, überhaupt Vorurteile zu haben. Man stellt sich doch
gerne als einen aufgeklärten, rationaloperierenden, nicht von Emotionen gesteuerten
Menschen dar und versucht dann auf jeden Fall, wenn man schon mit seinen
Ressentiments konfrontiert wird, stellt man das dann als Tatsachen dar.
„Die klauen, vor allem Autos natürlich.“
„Ja, natürlich, die klauen!“
„Überhaupt klauen.“
„Die sind gewalttätig, klauen.“
„Und die LKW-Fahrer kommen hier nach Berlin und nehmen Fahrräder mit, die sie
dann verticken.“
O-Ton Wolfgang Benz:
Oder man zitiert das schlagende Beispiel.
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„Das Handy wurde in Frankfurt/Oder geklaut. Die Chefin ist ne Zicke. Und mein Mann
kann einfach besser einparken. Dit is' so.“
Sprecherin:
Wenn wir unserer Autorin aber glauben dürfen, trifft auf sie beides nicht zu, keine
Tatsachenbehauptung, kein schlagendes Beispiel – und trotzdem diese
Verkehrsszene. Sie hat also offenbar gleichzeitig Vorurteile und keine Vorurteile. Wie
könnte sich dieser Widerspruch aufheben lassen oder wie ließe er sich zumindest
genauer untersuchen?
Sprecher:
Vielleicht mit einem Fragebogen. Multiple Choice. Das Standardmessinstrument in
der empirischen Sozialforschung.
Sprecherin:
„Bitte kreuzen Sie an, ob Sie folgenden Aussagen zustimmen oder nicht. Haben Sie
etwas gegen Frauen, die Auto fahren? Denken Sie, muslimische Mitbürger seien im
Straßenverkehr rücksichtsloser als Autofahrer anderer Religionszugehörigkeit? Ja?
Nein? – Nein, sag ich doch!
O-Ton Wolfgang Benz:
So primitiv wird ja in aller Regel auch nicht gefragt. Also über solche Naivitäten ist
man ja hinaus und die Fragetechnik hat sich ja unendlich verfeinert.
Sprecher:
... sagt Wolfgang Benz, obwohl er – wie er betont – als Historiker nun nicht gerade
der empirischen Sozialforschung zuneigt:
O-Ton Wolfgang Benz:
Also da ist schon sehr viel Kunst investiert, um nicht so platt zu fragen: Mögen Sie
Schwule oder lehnen Sie Schwule ab? Und das wissen die empirischen
Sozialforscher ja auch, wie man fragen muss, um Annäherungen an bestimmte
Tendenzen und Trends zu bekommen.
Sprecherin:
Wie oft haben Sie Sympathie für die hier lebenden kopftuchtragenden
Autofahrerinnen empfunden? Sehr oft? Ziemlich oft? Wissen Sie nicht? Nicht sehr
oft? Nie?
Sprecher:
Aber selbst wenn die Fragen noch so fein gestellt sind, steckt hinter dem Kreuzchen
auf dem Fragebogen eine ganz eigene kleine Welt aus Unwägbarkeiten.
Sprecherin:
Versteht die Person die Frage so, wie sie gemeint war? Ist die Person in der Lage,
die Frage zu beantworten? Und, ganz wichtig: Würde ihr soziales Umfeld die Antwort
akzeptieren?
„Öhm ... Moment. Ähm. Puh. Schluck“
„Da muss man immer total aufpassen, was man sagt.“
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„Die fühlen sich immer verfolgt.“
„Sie haben unendlich viel Macht.“
„Sie haben alle Fäden in der Hand.“
„Sie können gut mit Geld umgehen – wieß nicht, on das immer noch ein aktuelles
Vorurteil ist.“
„Man sagt, sie sind auf den eigenen Vorteil bedacht. Sagt man ...“
Sprecherin:
Die Autorin versichert glaubhaft, dass ein Fragebogen bei ihr wahrscheinlich keine
islamophob-sexistischen Tendenzen offenlegen würde. Welche Konsequenzen soll
sie also aus der Verkehrsszene ziehen?
O-Ton Wolfgang Benz:
Wenn man das hinterher reflektiert, dass man von einer kopftuchtragenden – ich
setze noch einen oben drauf: Mercedes fahrenden – Frau mit dem klapprigen
Fahrrad bös geschnitten wurde. Wenn man das reflektiert und der Kern der Sache
ist, dass ich von einer dusseligen Person, die vielleicht in diesem Moment dusslig
war oder im Grunde unverschämt ist, dass das aber nichts mit ihrem Fahrzeug,
nichts mit ihrem Kopftuch, nichts mit ihrer Religion zu tun haben muss, dann bin ich
ja eigentlich schon auf dem sicheren Ufer.
Sprecherin:
Die Autorin ist mit dieser Antwort aber nicht völlig zufrieden. Sie befürchtet, obwohl
es ihr unangenehm und peinlich war, könnte es in einer vergleichbaren Situation
wieder genauso laufen. Offenbar, sagt sie, sei das ja ein Teil ihres Bewusstseins
gewesen, zu dem sie nicht unbedingt direkt Zugang habe.
Sprecher:
Wie auch unsere Autorin vermuten wir mittlerweile, dass es neben den landläufig als
„Vorurteil“ bekannten Voreingenommenheiten noch einen weiteren Blick auf das
Thema geben könnte. Um diese These mit einigen Beispielen jenseits der eingangs
beschriebenen Szene zu untermauern, begeben wir uns für einen Moment heraus
aus den akademischen Zirkeln hinein in die Praxis.
In unsere alltägliche Stereotypengalerie – in ein Museum schiefer Bilder, mit denen
wir uns jeden Tag umgeben. Im Straßenverkehr, im Bekanntenkreis – und auch im
Job.
O-Ton Jessica Gedamu:
Allein wenn wir uns vorstellen, der Begriff Chef. Das ist einer, bei dem man, wenn
man drüber nachdenkt, eine recht klare Vorstellung hat, wie die Person aussieht, die
Chef ist. Das ist selten eine Mitte 30-jährige schwarze Frau, sondern eher der
fünfzigjährige weiße Herr, den man da automatisch vor Augen hat.
Sprecher:
Jessica Gedamu arbeitet für die Unternehmensberatung EAF in Berlin. Sie gibt
Seminare für Leute, die in Großunternehmen über andere Leute Entscheidungen
fällen: Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Personaler.
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O-Ton Jessica Gedamu:
Eigentlich möchte ich eine Diskussion darüber anregen: An welchen Stellen haben
wir eigentlich Bilder? Und inwiefern beeinflussen mich diese Bilder in den
Entscheidungen, die ich treffe jeden Tag?
Sprecherin:
Woher diese Bilder stammen, warum wir sie in unseren Köpfen haben – das wird
noch zu klären sein. Dass aber tatsächlich körperliche Merkmale wie Geschlecht
oder Hautfarbe entscheidenden Einfluss haben können, ist bei einem Blick in die
oberen Führungsetagen nicht zu leugnen. Die Beispiele für andere, offenbar
verborgene Entscheidungskriterien in der Unternehmenslandschaft wirken nur auf
den ersten Blick noch absurder. Wie dieses:
Sprecher:
15 Prozent der erwachsenen männlichen US-Amerikaner, erzählt Jessica Gedamu,
seien über 1 Meter 83 groß. Von den Geschäftsführern großer Unternehmen in den
USA seien allerdings 60 Prozent über 1 Meter 83.
O-Ton Jessica Gedamu:
Diese Zahl steht in keiner Proportion. Man würde denken, das hat überhaupt keinen
Einfluss darauf. Aber das gleiche findet man auch bei Generälen in der Armee, bei
amerikanischen Präsidenten. Große Menschen kommen öfter in Führungspositionen,
kann man sagen. Das ist natürlich vereinfacht, aber trotzdem sind es so
Informationen, die uns erst mal aufhorchen lassen.
Sprecher:
Charlotte und Paul sind tendenziell erfolgreicher in der Schule als Kevin und Chantal.
Sprecherin:
Eine selbsterfüllende Prophezeiung.
O-Ton Jessica Gedamu:
Da wird deutlich, eigentlich sollte es doch gar keinen Einfluss haben, aber es hat
einen Einfluss und irgendwie wissen wir das auch alle.
Sprecher:
Oder all die Fatimas, Mehmets und Serkans, die in Deutschland bei gleicher
Qualifikation deutlich seltener zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden als
Bewerber mit deutsch klingenden Namen. Greg und Emily haben bessere Chancen
in den USA als Lakisha und Jamal. Sunita und Muhammed kommen auf dem
britischen Arbeitsmarkt schlechter weg als Alison und Andrew.
O-Ton Jessica Gedamu:
Und würde man auf die einzelnen Leute, die diese Lebensläufe aussortiert haben,
zugehen, würde keine Person sagen oder die wenigsten, ich finde Menschen mit
türkischer Migrationsgeschichte weniger qualifiziert oder würde sie weniger gern
einstellen. Das sind eher unbewusste Prozesse, wo jemand aussortiert wird.
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Sprecher:
Offenbar haben Stereotype und schablonenartige Vorstellungen also Einfluss darauf,
wie wir in unserem Alltag Angehörige bestimmter Gruppen bewerten oder
einschätzen und wahrscheinlich war das schon immer so. In grauer Urzeit war es
sicherlich hilfreich, jedes Mal die Flucht zu ergreifen, wenn ein Säbelzahntiger vor
uns stand, und nicht darauf zu hoffen, dass einer davon zufällig ein
menschenfreundliches Exemplar sein könnte.
Wir legen eine Leitung zu Bernd Wittenbrink nach Chicago, der dort als
Sozialpsychologe forscht und sich mit solchen kognitiven Scherereien auskennt:
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Verallgemeinerungen sind generell auch heute hilfreich. Klassifizierungen helfen uns
mit unbekannten Objekten oder Gegenständen fertig zu werden. Wenn ich Ihnen was
von einem Stuhl erzähle, den Sie vorher nicht gesehen haben, wissen Sie, wovon ich
rede, weil ich eben das Wort „Stuhl“, die Klasse von Möbeln beschreibe.
Sprecher:
Ob der Stuhl sich aber vor allem als Stuhl versteht und nicht vielleicht eher als
Küchenmöbel oder als vierbeiniges Holzobjekt – oder aber ob ihm, obwohl er
aussieht wie ein Stuhl, vielleicht völlig andere Eigenschaften zukommen als man für
gewöhnlich von Stühlen erwartet – all das lässt unsere verallgemeinerte Betrachtung
außer Acht:
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Es gibt verschiedene Gründe, die Vorurteile oder Stereotype ermöglichen. Und diese
kognitive Funktion, dass man seine Umwelt vereinfacht und schnelle Urteile bilden
kann, ist eben ein Grund, warum Vorurteile und Stereotype benutzt werden. Es gibt
dann noch andere Gründe, zum Beispiel dass man motiviert ist, bestimmte Gruppen
negativ zu sehen oder zu behandeln, aber diese kognitive Funktion ist eben eine, die
eigentlich immer aktuell ist, auch wenn solche Motivationen nicht vorliegen.
Sprecher:
Wagen wir also an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von
Vorurteilen: Überzeugungen, die wir aussprechen ohne uns zu schämen, weil wir sie
für richtig und selbstverständlich halten oder die wir in einer Befragung vielleicht
bewusst verschweigen würden.
„Die reden eigenartig.“
„Haben nen nervigen Dialekt.“
„Die haben den schlimmsten Dialekt in ganz Deutschland.“
„Aber das ist nicht wirklich ein Vorurteil.“
„Die kommen nach Berlin.“
„Die haben alle tolle Wohnungen im Prenzlauerberg besetzt.“
„Und die treiben die Mieten hoch.“
„Ach doch, das sind doch die ... die essen immer Spätzle.“
Sprecherin:
Nennen wir diese Vorurteile explizit.
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Sprecher:
Und zweitens solche, die unsere Wahrnehmung implizit beeinflussen, ob wir das
wollen oder nicht und auch ob wir das merken oder nicht. Die Unterscheidung
zwischen den beiden Vorurteilskonzepten ist wichtig, aber sie ist auch nicht immer
eindeutig zu treffen. Es gibt keine klare Grenze zwischen expliziten Vorurteilen und
impliziten Einflüssen auf unsere Wahrnehmung von Menschen und Gruppen.
An dieser Stelle statten wir Juliane Degner einen Besuch in Hamburg ab, um mehr
über diese impliziten Einflüsse zu erfahren, die große Menschen eher in
Führungspositionen bringen und möglicherweise auch unsere Autorin zu ihrem
inneren „typisch!“ gebracht haben. Juliane Degner ist Professorin für
Sozialpsychologie und ihr Blick auf Vorurteile ein etwas anderer als der des
Historikers:
O-Ton Juliane Degner:
Da geht es uns eher darum, wie unser Gehirn, also unser kognitiver Apparat mit
Wissen um Menschen und soziale Gruppen umgeht, es speichert und verarbeitet.
Sprecherin:
Dahinter stecke, erzählt sie uns, zunächst einmal ein einfacher Lernprozess:
O-Ton Juliane Degner:
Ich nehme zwei Dinge wahr: Eine Gruppenzugehörigkeit, eine Kategorie und eine
bestimmte Eigenschaft, ein bestimmtes Merkmal. Wenn ich die häufig miteinander
wahrnehme, speicher ich die miteinander ab. Nun heißt „miteinander wahrnehmen“
nicht unbedingt, dass ich immer ein Gruppenmitglied sehe, dass sich so und so
verhält. Sondern jemand erzählt mir das oder ich nehme es vermittelt wahr aus
sonstigen Quellen.
Sprecherin:
Fernsehen, Kinderlieder, Schulbücher, eine Erfahrung des Großvaters - es kann alles
Mögliche sein.
O-Ton Juliane Degner:
Diese kognitive Betrachtung sagt erst mal nur: Es gibt einen Link zwischen
Wissenseinträgen im Gedächtnis und der wird wieder aktiviert, wenn ich an einen
Teil dieser Einheiten denke. Wenn ich zum Beispiel an „Frau“ denke, dann wird
automatisch alles aktiviert, was ich mit Weiblichkeit verbinde. Das hat nichts damit zu
tun, dass ich denke, dass Frauen so sind oder so sein müssen, sondern es ist erst
mal nur relativ passiv gespeichertes Wissen.
Sprecherin:
Aber dieses Wissen, dieser Eindruck der Bilder auf unser Gedächtnis, soll sich
messen lassen können.
Sprecher:
Die wohl bekannteste Messmethode, um solche verborgenen Gedächtniseinträge
nachzuweisen, ist der „Implizite Assoziationstest“, kurz IAT, den Harvardforscher in
den 90er-Jahren entwickelt haben. Ein einfacher Computertest, bei dem Probanden
möglichst schnell und möglichst fehlerfrei bestimmte Begriffe übergeordneten
Kategorien zuordnen müssen. Zum Beispiel männliche und weibliche Vornamen den
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Kategorien „männlich“ und weiblich“ oder Begriffe wie gut / böse / schön / schrecklich
den Kategorien „positiv“ oder „negativ“.
Sprecherin:
Die Autorin wird den Test jetzt für Geschlecht-Wissenschaft durchführen. Sie hat ein
Diplom in Physik und ist der Überzeugung, dass die Eignung für Natur- wie auch für
Geisteswissenschaften von vielen Faktoren abhängt, aber nicht vom Geschlecht. Wir
werden sehen, ob sich das auch in dem impliziten Assoziationstest widerspiegelt.
Sprecher:
Es geht darum herauszufinden, ob die Autorin Begriffe aus den Kategorien
„männlich“ und „weiblich“ trotzdem eher der Kategorie „Naturwissenschaft“ oder der
Kategorie „Geisteswissenschaft“ zuordnet. Ob in ihrem Gehirn zwischen bestimmten
Gruppen engere Verknüpfungen bestehen.
Sprecherin:
Ob sie das nun will oder nicht.
Sprecher:
Die Kategorien werden jeweils links oder rechts auf dem Bildschirm eingeblendet, mit
zwei Tasten – links und rechts – soll sie so schnell wie möglich die für einen kurzen
Moment eingeblendeten Begriffe auf die richtige Seite sortieren.
Erst muss sie Begriffe aus dem Themenfeld „weiblich“ oder „männlich“ richtig
zuordnen, dann Begriffe aus den Kategorien Naturwissenschaft /
Geisteswissenschaft.
Sprecherin:
Das sind gewissermaßen Vorübungen.
Sprecher:
Dann kommt die eigentliche Messung: Die beiden Aufgaben werden gemischt. Die
Autorin muss gleichzeitig Begriffe aus den Kategorien männlich/weiblich richtig
zuordnen und aus den Kategorien Naturwissenschaft / Geisteswissenschaft. Sie hat
dafür aber nicht vier, sondern weiter nur zwei Tasten zur Verfügung.
Sprecherin:
Jede der beiden Antworttasten ist also mit zwei Kategorien belegt – zum Beispiel erst
mit weiblich / Naturwissenschaft und männlich / Geisteswissenschaft, im zweiten
Durchgang dann umgekehrt.
Sprecher:
Gemessen wird die mittlere Reaktionszeit zwischen dem Erscheinen des Begriffs und
dem Drücken der Antworttaste. Die Entwickler des Tests deuten eine kürzere
Reaktionszeit als engere Assoziation zwischen den beiden Kategorien, mit denen die
jeweilige Antworttaste belegt ist:
Autorin:
So, jetzt kommt hier die Interpretation meines IAT-Ergebnisses. Ihre Daten lassen
vermuten: Starke Assoziation von „männlich“ mit „Naturwissenschaft“ und „weiblich“
mit „Geisteswissenschaft“. Hm.
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Sprecherin:
Also doch eine verkappte Sexistin.
Sprecher:
Aber lässt sich aus der Reaktionszeit wirklich auf verborgene
Voreingenommenheiten schließen?
Autorin:
Egal, was es ist, ich will das einfach nur noch loswerden.
Sprecherin:
Während sie sich noch grämt, kehren wir zurück zu Juliane Degner.
O-Ton Juliane Degner:
Es gibt mehrere Alternativerklärungen für ein und denselben Effekt.
Sprecher:
Die geringere Reaktionszeit könnte zum Beispiel auch damit zusammenhängen,
dass der Probandin bestimmte Begriffe vertrauter sind:
O-Ton Juliane Degner:
Es findet sich auch, dass Menschen, die besser sind, zwischen Aufgaben zu
wechseln, mehr kognitive Kapazitäten haben, kleinere IAT-Effekte haben. Das liegt
nicht unbedingt daran, dass die weniger Vorurteile haben: Die können die Aufgabe
einfach besser erfüllen.
Sprecher:
Trotzdem: Die Entwickler des Tests interpretieren das Ergebnis mit einer klaren
Assoziation zwischen bestimmten Begriffsgruppen.
O-Ton Juliane Degner:
Wenn wir wirklich davon ausgehen, dass Assoziationen gemessen werden, muss
man sich fragen: Was bedeutet das?
Sprecher:
Eigentlich erst einmal nur, dass es diese Verbindung gibt. Es wird nicht interpretiert,
woher genau die Assoziation kommt.
Sprecherin:
Jungs sind gut in Mathe und Mädchen in Sprachen.
Sprecher:
In der Physikvorlesung der Autorin an der Uni lag der Frauenanteil bei 20 Prozent, im
Physik-LK an der Schule saß außer ihr nur noch eine andere.
Sprecherin:
Vielleicht hält die Autorin aber insgeheim tatsächlich Männer für
naturwissenschaftstauglicher und rechnet Frauen eher den Geisteswissenschaften
zu. Wer weiß.
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Sprecher:
Oder sie hat im Hinterkopf, dass Frauen als eher technikfremd gelten.
Sprecherin:
Oder die Autorin denkt, dass es Frauen bis heute schwerer haben in den
Naturwissenschaften als Männer.
O-Ton Juliane Degner:
Oder-oder-oder. Sie sehen, es gibt tausend verschiedene Möglichkeiten, so eine
Valenzassoziation zu interpretieren.
Sprecherin:
Begnügen wir uns also damit, dass es diese Bilder gibt und unsere Autorin, da sie
nicht seit ihrer Geburt als Einsiedlerin gelebt hat, auch davon betroffen ist.
Autorin:
Aber ich habe es nur gedacht! Ich habe nur „typisch!“ gedacht!
O-Ton Juliane Degner:
Das ist das, was Sie meinen: Sie merken, Sie haben's im Kopf, Sie sprechen es nicht
– vielleicht, vielleicht aber doch, wenn niemand dabei ist – weil es von Ihrer
Überzeugung abweicht.
Sprecher:
Aber es also die Möglichkeit, die automatisch aktivierten Bildern, wenn es denn
welche waren, nicht auch ins Verhalten übergehen zu lassen - immerhin!
O-Ton Juliane Degner:
Wenn ich das merke! Und wenn ich dann auch noch die kognitiven Fähigkeiten habe,
das zu verhindern.
Sprecher:
Nicht immer habe ich aber offenbar diese kognitiven Kapazitäten frei. Weil ich zum
Beispiel in der ungewöhnlichen Situation einer Fernsehsendung sitze und die
Verbindungen in meinem Gedächtnis nicht vollständig kontrollieren kann ...
Sprecherin:
... ohne das entschuldigen zu wollen ...
Sprecher:
... oder ich unter Zeitdruck handeln muss ohne die Situation, in der ich mich befinde,
vollständig zu überblicken.
Sprecher:
An dieser Stelle schalten wir zurück nach Chicago zu Bernd Wittenbrink. Er erforscht
genau solche Situationen - in denen implizite Einflüsse sich auch auf unser Verhalten
auswirken.
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O-Ton Bernd Wittenbrink:
Die Idee ist die, dass unter bestimmten Bedingungen solche kulturellen Inhalte
durchaus die Wahrnehmung und das Handeln beeinflussen.
Sprecher:
Aufmerksam geworden sind wir auf Bernd Wittenbrinks Forschung im
Zusammenhang mit der anhaltenden Polizeigewalt gegen Schwarze in Amerika. In
seiner Forschung geht es aber nicht um Situationen, in denen ganz offenbar explizite
Hintergründe eine Rolle spielen – wenn zum Beispiel Polizisten unbewaffneten
Schwarzen Menschen in den Rücken schießen. Es geht um Situationen, in denen
Menschen unter Zeitdruck handeln, ohne dass sie genügend Informationen haben,
um die Situation vollständig zu erfassen. Oft wird die nur in Augenblicken getroffene
Entscheidung dann von Bildern geleitet wird, die im Gedächtnis verankert sind.
In den Shooter Studies, die Bernd Wittenbrink seit einigen Jahren durchführt, werden
die Versuchspersonen gebeten, in einer Computersimulation diejenigen Menschen
zu erschießen, die eine Waffe tragen. Auf dem Bildschirm ist erst ein
Landschaftshintergrund zu sehen – ein Hinterhof, ein Park, eine Straße – dann wird
für einen Augenblick das Bild einer Person eingeblendet. Sie hält entweder eine
Schusswaffe in der Hand oder einen harmlosen Gegenstand, ein Handy oder eine
Brieftasche. Und die Person ist entweder Schwarz oder Weiß.
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Unsere Studien dokumentieren dann klare Befangenheit aufgrund der Hautfarbe der
Zielperson. Versuchspersonen schießen schneller und häufiger, wenn die Zielperson
schwarzer Hautfarbe ist.
Sprecherin:
Übrigens sowohl weiße als auch schwarze Probanden.
Sprecher:
Und kamen diese Ergebnisse für Sie überraschend?
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Nein, die kamen nicht überraschend, denke ich. Von der psychologischen Seite sind
diese Ergebnisse eigentlich bestens erklärlich und vorhersehbar. Intuitiv denken wir,
dass solche Ergebnisse auftauchen aufgrund von expliziten Einflüssen – dass wir
denken, wir mögen diese Art von Menschen nicht und handeln entsprechend. In den
Shooter Studien ist das ein anderer Effekt.
Sprecher:
Weil die Versuchspersonen in der harmlosen Laborsituation keinen Grund haben, die
Aufgabe nicht zu erfüllen – und die kann korrekt gelöst werden. Sie lautet ganz
eindeutig: Schießen, wenn die Zielperson eine Waffe trägt. Dann und nur dann. Und
obwohl die Probanden es wollen, gelingt es ihnen nicht. Weil sie es nicht schaffen,
die Hautfarbe außer Acht zu lassen:
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Und ich denke, das ist wichtig. Es ist nicht damit getan, dass wir die schwarzen
Schafe unter Polizisten aussortieren, sondern es ist wichtig zu verstehen, dass in
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dieser Gesellschaft, in der wir leben, wir mit diesem Problem konfrontiert werden. Ob
wir nun Vorurteile haben oder keine Vorurteile haben.
Sprecher:
Aber wie es so ist mit gesellschaftlichen Erklärungen: Schlüssig sind sie meistens,
ein konstruktiver Ausgangspunkt zur Lösung des Problems aber selten.
Es passt aber zu dem Interesse an der Idee, die unliebsamen impliziten Einflüsse
könnten sich möglicherweise auch ohne viel eigenes Zutun im Labor beheben
lassen.
Sprecherin:
Vorurteilsfrei in 30 Tagen.
Sprecher:
Eine einfache Lernaufgabe am Tag und ein paar Tonsignale in der Tiefschlafphase,
mit denen neue Assoziationen angelegt werden – solche Forschungsansätze gibt es.
Autorin:
Vielleicht wär' das ja eine Möglichkeit?
Sprecherin:
Vielleicht, ja. Wenn die Autorin im Anschluss in den Laborräumen bliebe und fortan
keinen Kontakt mehr zur Außenwelt unterhielte.
Sprecher:
Wir dürfen getrost annehmen, dass die alltäglichen Bilder und Stereotype, mit denen
wir uns umgeben, einen nachhaltigeren Eindruck im Gedächtnis hinterlassen als ein
paar kurzzeitig im Schlaflabor gelegte Verbindungen zwischen Kategorien und
Begriffsgruppen.
Autorin:
Frau Degner, habe ich also überhaupt eine Chance, meine Vorurteile loszuwerden?
O-Ton Juliane Degner:
Nein! So pessimistisch das klingt. Ich glaube nicht, denn wir haben die ja mit einem
Grund. Die Funktion von Stereotypen und Vorurteilen, die Verarbeitung sozialer
Information zu vereinfachen, die bleibt ja.
Autorin:
Herr Benz?
O-Ton Wolfgang Benz:
Negative Vorurteile zu überwinden wäre natürlich in jedem Fall hilfreich, angenehm,
gut für die Gesellschaft. Aber nichts ist auch so zählebig und so dauerhaft verankert
wie ein Vorurteil. Und wenn man das auch noch in früher Sozialisation erlernt hat,
wird man das nur schwer los.
O-Ton Juliane Degner:
Was wir vielleicht erreichen können, ist eine bestimmte Bewusstheit. Wenn ich weiß,
dass solche Prozesse am Wirken sind und ich das nicht möchte, dann kann ich
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versuchen, mir in bestimmten Situationen die Zeit zu nehmen, meine eigenen
Entscheidungen und Eindrücke zu hinterfragen.
O-Ton Bernd Wittenbrink:
Ich denke, was am besten gegen Vorurteile hilft, sind vielfältige direkte Erfahrungen
mit Menschen mit allen möglichen unterschiedlichen Hintergründen und eine offene
Weltansicht bei diesen Erfahrungen. Das dürfte am besten helfen.
Georg Kreisler:
Sehen Sie, was man mitmacht!
Das ist wieder typisch!
Da kommt ein Ausländer
In unsre Stadt voll List
Geht überall aus und ein
Ich schleiche hinterdrein
Seh' alles, was er macht
Bleib' auf die ganze Nacht
Geh' selber nicht nach Haus
Und dann stellt sich heraus
Dass dieser Ausländer ein Einheimischer ist
Ist doch wieder typisch!
*****
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