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Umschlaggestaltung www.buerosued.de, München unter Verwendung von Bildern von © Susanne Fox / Trevillion Images und www.buerosued.de Gesetzt aus der Aldus durch die LVD GmbH, Berlin Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany Printed in Germany www.aufbau-verlag.de 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Kapitel 1 Sarah Havensworth Gegenwart Der Portier des Palace Hotel führte mich in den Saal des historischen Garden Court, wo der warme Lichtschein die Pailletten auf meinem goldenen Etuikleid zum Funkeln brachte. Einige Männer in Anzügen und Frauen in Cocktailkleidern hatten sich bereits versammelt. Unter den prächtigen Kristallkronleuchtern und der verglasten Decke fühlte ich mich in die Zeit der Jahrhundertwende zurückversetzt. Ich sah meinen Mann Hunter an einer der Marmorsäulen unter dem eleganten Gewölbe lehnen. Sein Anzug saß wie angegossen, und sein dunkles, dichtes Haar fiel ihm seitlich in die Stirn. »Ein Glas Champagner für Sie?«, fragte mich ein Kellner. »Ja, bitte.« Ich nahm ein Glas vom Tablett. Der Champagner perlte auf meiner Zunge. Vielleicht würde ich mich heute Abend entspannen können, wenn ich genug davon trank. Auf den Wohltätigkeitsveranstaltungen meiner Schwiegermutter fühlte ich mich meist fehl am Platz. In Menschenansammlungen war mir ohnehin nie besonders wohl, und auch jetzt spürte ich, wie mir die Panik allmählich den Nacken hochkroch. Ein Luftzug durch die offenstehende Tür blies mir die Haare aus dem Gesicht. Sofort strich ich die Strähnen zurück, damit 5 man die dünne weiße Narbe auf meiner Stirn nicht sah. War sie jemandem aufgefallen? Ich holte tief Luft. Ich war in Sicherheit. Niemand achtete auf meine Narbe. Außer mir natürlich. Langsam atmete ich wieder aus. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und legte meine Hand auf Hunters Arm. Er strahlte mich an, und Grübchen erschienen auf seinen Wangen. Ein hinreißendes Lächeln, nur für mich. »Hey. Wie schön, dass du es geschafft hast. Und wie geht es meiner liebsten jungen Dame heute Abend?« Ich lachte leise. Wenn man bedachte, wie viele Damen mit bläulich getöntem Haar sich heute Abend für die Kunst und für einen guten Zweck versammelt hatten, gehörte ich tatsächlich zu den jüngeren – eine willkommene Abwechslung, denn unter meinen Freunden und ehemaligen Kollegen Jen und Nick fühlte ich mich inzwischen uralt. Letzten Monat an meinem dreißigsten Geburtstag war mir mit einem Mal klargeworden, dass ich inzwischen Gefallen daran fand, um zehn Uhr abends ins Bett zu gehen oder am Wochenende früh aufzustehen, um mal ganz unverkatert über den Bauernmarkt zu schlendern. Die Welt von Frauen in ihren Zwanzigern wurde mir immer fremder. Ich verstand einfach das Prinzip von Tinder nicht, und es fiel mir schwer, meinen jüngeren Freundinnen begreiflich zu machen, dass man tatsächlich von zwei Gläsern Wein Kopfschmerzen bekommen konnte. Mit einem Lächeln auf den Lippen schwebte Hunters Mutter Gwyneth auf uns zu. Sie trug ein langes hellblaues Kleid, und an ihrem Handgelenk baumelte ein diamantbesetztes Armband. Ich versteckte meine Hände hinter dem Rücken – hätte ich mir für heute Abend doch wenigstens die Nägel lackiert. Die Mani6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 küre meiner Schwiegermutter war tadellos wie eh und je. Sie küsste erst Hunter auf die Wange und wandte sich dann an mich. »Hallo Sarah. Du siehst bezaubernd aus. Wie schön, dass du kommen konntest.« »Danke«, sagte ich und ließ mich von ihr in die Arme schließen. Hunter beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr. »Du bist atemberaubend in diesem Kleid. Niemand in diesem Saal kann sich glücklicher schätzen als ich.« Mir wurde warm, und ein angenehmes Kribbeln lief mir den Nacken hinab, wo ich eben noch Hunters Atem gespürt hatte. »Sarah, du denkst doch an die Gala, die ich ausrichten werde – ›Canova bei Mondschein‹?«, wollte Gwyneth wissen. »Ich könnte vor der großen Enthüllung deine Hilfe gebrauchen.« O nein. Davon hatte sie mir schon erzählt. »Natürlich helfe ich dir«, sagte ich, auch wenn mir nur noch wenige Wochen für die Abschlussarbeit meines Master of Fine Arts blieben und ich eigentlich geplant hatte, diese Zeit ausschließlich zum Schreiben zu nutzen. Beim Gedanken an meinen Roman und wie er auf meinem Computer verkümmerte, krampfte sich mein Magen zusammen – eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich zuletzt keinen Satz mehr zustande gebracht hatte. »Dreißigster Mai. Trag es dir in deinen Kalender ein. Der Vorsitzende der National Gallery von Irland wird einfliegen und bei uns zu Gast sein.« Sie lächelte stolz. »Walter ist auch im Ausschuss. Der Kultusminister hat ihn für fünf Jahre ernannt. Walter und Colin waren damals zusammen auf der London School of Economics, sie sind alte Freunde.« 7 Ich nickte. Es erstaunte mich immer wieder, was mein Schwiegervater alles erreicht hatte. Und sosehr ich mich auch bemühte, ihn zu beeindrucken, seinen Anforderungen würde ich nie gerecht werden. Doch wer konnte das schon? Er hatte in Harvard studiert, war Geschäftsführer seiner eigenen Investmentbanking-Firma Havensworth & Associates und Präsident der Havensworth-Kunstakademie. Hunter räusperte sich. »Mom, Sarah arbeitet gerade an ihrer Masterarbeit, und sie muss sie bald abgeben. Da hat sie momentan ziemlich viel zu tun.« »Ach, sei still«, sagte Gwyneth und zwinkerte mir zu. »Sie kann sich bestimmt ein bisschen freischaufeln. Wir wollen einen Jahrgangsrosé servieren, und irgendjemand muss doch mit mir zur Weinprobe vor dem großen Abend gehen. Das wirst du doch, oder, meine Liebe?« Ich lachte. »Da sehe ich überhaupt kein Problem.« »Was war noch mal das Abschlussprojekt für deinen Master?«, wollte Gwyneth wissen und strich sich eine imaginäre lose Strähne zurück in ihren eleganten Dutt. »Schreibst du nicht einen Roman?« Schuldbewusst sah ich auf meine Hände hinab. Dort glitzerte neben meinem goldenen Ehering mein in Roségold eingefasster rechteckiger Smaragd. Ein Familienerbstück der Havensworths mit mehr als drei Karat, eingefasst in einem Kranz von Diamanten, das mir regelmäßig Komplimente von Fremden einbrachte. Doch so gern ich auch erzählte, dass mein Verlobungsring bereits über hundert Jahre alt war, so rätselhaft war die Geschichte des prachtvollen Steins. Niemand aus Hunters Familie konnte mir sagen, wem er einst gehört hatte. 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Ich drehte den Ring gerade. Dank der Unterstützung meines Mannes konnte ich mich zwar ganz meinem Schreiben widmen, dennoch hatte ich es irgendwie geschafft, die Chance, die sich mir bot, zu vergeuden. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Genau. Einen Roman, der im späten neunzehnten Jahrhundert in Barbary Coast spielt, dem Rotlichtviertel von San Francisco. Es geht um eine verwitwete Wirtin und die schrulligen Bewohner ihrer Pension.« Eine Pause entstand, und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Es war eine so banale Idee, das war mir inzwischen klargeworden. Genau deshalb hatte ich auch die vergangenen Wochen ohne jegliche Inspiration auf meinen weißen Computerbildschirm gestarrt. Meine Figuren hatten mir einfach nichts mehr zu sagen. Ich war nichts als eine Heuchlerin – eine ehemalige Journalistin, die so tat, als sei sie Romanautorin, und ihre Zeit verschwendete, indem sie einem dummen Traum hinterherjagte. Ich konnte es nicht fassen, dass Hunter mich meinen Job hatte aufgeben lassen, um dieser Geschichte nachzugehen. Ich geriet ins Plappern. »Ich habe Zeitungsartikel aus den 1870ern für meine Recherchen gelesen. Unglaublich, wie viele Verbrechen damals begangen wurden. Es muss entsetzlich in North Beach gewesen sein, als die Polizisten und Politiker allesamt korrupt waren. Wenn man daran denkt, dass ich mein wunderschönes Hochzeitskleid von Vera Wang genau dort gekauft habe, wo damals Menschen mitten auf der Straße umgebracht wurden.« »Unsere Stadt hat wahrhaftig eine bewegte Vergangenheit«, sagte Gwyneth. Strahlend lächelnd tätschelte sie mir die Hand. 9 »Ich unterbreche dich ja nur ungern, aber die Vorsitzende vom De Young Museum ist gerade angekommen, ich muss sie begrüßen.« Sie winkte einer Frau mit hochtoupiertem Haar und ging davon. »Ich finde, es klingt unheimlich vielversprechend«, sagte Hunter und sah mir beruhigend in die Augen. »Ich kenne dich, Sarah. Eine Geschichte, die du schreibst, kann nur gut werden. Du bist begabt, und es gibt niemanden, der so hart arbeitet wie du. Ich hoffe, dass dein Roman irgendwann veröffentlicht wird und die ganze Welt erfährt, wie gut meine Frau schreiben kann.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, und ich murmelte: »Danke.« Ich brachte es nicht über mich, ihm zu erzählen, dass ich alles andere als eine echte Autorin war. Alles, was ich tippte, löschte ich fünf Minuten später. Meine Nachmittage hatte ich damit vertan, in der Hoffnung auf Inspiration in Jackson Square herumzuspazieren, wo auch die Redaktion des Magazins Pulse of the City lag, in der ich bis vor kurzem noch gearbeitet hatte. Doch wenn ich nun die Backsteingebäude dort betrachtete, in denen einst Tanzsäle, Bars und Bordelle waren, fühlte ich mich verloren wie nie zuvor. Ich schluckte, als ich bemerkte, wie sehr sich der Saal mittlerweile gefüllt hatte. Die Wände schienen näher zusammenzurücken. Es war heiß hier drin. Warum starrten mich alle an? Ich strich mir den Pony glatt, damit meine Narbe gut verdeckt war. Noch immer konnte ich das Geflüster hören, das mir auf den Straßen meiner Heimatstadt und durch die Schulflure gefolgt war. Spürte die düsteren, anklagenden Blicke wie Dolche in meinem Rücken. Alles begann sich um mich herum zu drehen, 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 dabei hatte ich noch nicht einmal meinen Champagner ausgetrunken. Nicht daran denken. »Hey.« Ich suchte Hunters Blick, sah das warme Braun seiner Augen mit den leuchtenden grünen Punkten darin. »Ich gehe mich kurz frisch machen. Bin gleich wieder da.« »Okay. Ich warte hier auf dich.« Ich spürte, wie Hunter mir nachsah, als ich den Saum meines Paillettenkleids herunterzog und mir zügig einen Weg durch die Menge bahnte. Wenn ich tief durchatmete und auf den Boden schaute, könnte ich die Erinnerung an die quietschenden Bremsen und an die Erschütterung beim Aufprall womöglich fernhalten. Im Vorraum der Damentoilette standen mit edlem Samt bezogene Palisandersofas. Kristallkronleuchter mit goldenen Verzierungen spiegelten sich im glänzenden Marmorfußboden. Ich trat ans Waschbecken und benetzte meine Wangen mit Wasser. Im Spiegel blickte mir mein unscheinbares Ebenbild entgegen: ein blasses Gesicht mit großen braunen Augen, umrahmt von dunkelblondem Haar, und mitten darin eine etwas zu groß geratene Nase, auf der ich allzu oft einen Sonnenbrand bekam. In Wisconsin mochte ich noch als hübsch durchgegangen sein, ganz sicher jedoch strahlte ich nicht den urbanen Glamour der Frauen in San Francisco aus. Ich war mit Erdnussbutter und Marmelade auf meinem Toast und Thunfischauflauf zum Abendessen groß geworden. In den Sommerferien gingen meine Eltern und ich mit einem alten, muffigen Zelt campen, wobei Komfort für uns bedeutete, dass man eine Luftmatratze dabeihatte. Erst Hunter hatte mich in die Welt der Yachten, 11 Sommerhäuser und Country Clubs eingeführt. Hin und wieder fragte er mich, ob ich nicht mit ihm nach Eagle River fahren wolle, damit er endlich sehen könne, wo ich aufgewachsen war. Meine Eltern sind tot, sagte ich dann. Es gibt dort nichts mehr, was mit mir zu tun hat. Dabei sehnte ich mich danach, mit meinem Mann in einer einfachen Jägerhütte an einem der vielen Seen meiner Heimat zu übernachten und in den Sternenhimmel zu schauen. Doch ich konnte nicht mehr zurück. Hunter liebte die Frau, die ich jetzt war, er wusste nicht, wer ich vorher gewesen war. Diesen Teil von mir hatte ich ihm vorenthalten. Als unser beider Welten vor vier Jahren auf einer Party aufeinanderstießen, die mein Magazin unter dem Motto »Das Beste von San Francisco« ausrichtete, war ich gerade an der Meeresfrüchtetheke damit beschäftigt, so zu tun, als hätte ich mir nicht schon mindestens fünf Austern einverleibt, da stand Hunter plötzlich neben mir. »Hey«, sagte er mit einem Grinsen. »Du hast ja mein T-Shirt an.« »Wie bitte?«, erwiderte ich und wurde sofort rot. Schaudernd machte ich mich auf einen fürchterlichen Spruch gefasst, der irgendwie mit dem Ablegen der Kleidung zu tun hätte. Er deutete auf mein graues Shirt mit V-Ausschnitt. »Das ist von Have-Clothing, oder?« Ich befühlte den weichen Stoff. Das T-Shirt hatte ich online gekauft, da ich wusste, dass Have-Clothing den Erlös jedes gekauften Artikels an Obdachlosenvereinigungen spendete, und außerdem hatte mir gefallen, dass die Biobaumwolle, aus der es gemacht war, fair gehandelt war. Weil das Material angenehm 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 zu tragen war und ich die aufgedruckten Federn so schön fand, war es zu meinem Lieblings-T-Shirt geworden. »Äh, ja«, antwortete ich. »Woher weißt du das?« »Ich habe das Unternehmen mitbegründet«, erklärte Hunter, und bei seinem Lächeln erschien ein bezauberndes Grübchen auf seiner Wange. Ich lachte. »Das gibt’s doch nicht. Unglaublich. Ich finde es toll, was ihr macht.« Mit einem Mal spürte ich am ganzen Körper, dass ich schon ein paar Oolong-Tee-Cocktails getrunken hatte. Die Lampions an den unverputzten Wänden brachten Hunters grünbraune Augen zum Funkeln. »Und«, fragte er, »was machst du so?« »Ich bin leitende Redakteurin bei Pulse of the City.« Ich war so stolz auf meinen neuen Titel, ich konnte die Aufregung in meiner Stimme nicht verbergen. Er hob sein Glas. »Darauf trinken wir. Mir gefallen eure Artikel wirklich gut. Was für ein cooler Job.« Ich betrachtete ihn näher, sein gutsitzendes Hemd, seine Designerjeans, seine edlen Lederschuhe. Er sah genau so aus, wie man sich den Gründer eines innovativen Start-ups vorstellte. Bloß, dass er nicht so arrogant war wie so viele reiche junge Typen in seiner Branche. »Weißt du, dass die besten Austern gar nicht aus San Francisco kommen?«, fragte er mich mit gesenkter Stimme. Ein heißes Kribbeln durchlief mich. Unter all den gutaussehenden Männern hier im Raum hatte Hunter etwas Besonderes an sich. »Sag das nicht laut«, flüsterte ich. »Das ist ein Sakrileg.« 13 Er lächelte erneut. »Warst du schon mal bei Hog Island in der Tomales-Bucht essen?« Ich schlürfte eine weitere Auster; seidig weiches Fleisch und Salzwasser glitten in meinen Mund, so dass ich nur den Kopf schüttelte. »Ist nur eine kurze Autofahrt entfernt, in Marin County die Küste hoch. Man kann die Austern selber öffnen und direkt vor Ort an Picknicktischen mit Blick aufs Wasser essen.« Er hielt inne und räusperte sich. »Hast du Lust, mal mit mir hinzufahren?« »Auf jeden Fall«, sagte ich und stellte meinen Drink ab. »Wieso nicht?« Nachdem Hunter meine Nummer gespeichert und sich wieder unter die Gäste gemischt hatte, tauchte meine Kollegin Jen neben mir auf und packte mich am Arm. »Autsch! Was soll das denn?« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Weißt du eigentlich, wer das ist?« Wir drehten uns beide um und sahen Hunter nach. Ich grinste. »Der Mitbegründer von Have-Clothing, Schöpfer des T-Shirts, das ich heute Abend trage. Er ist süß, und er engagiert sich gegen Obdachlosigkeit. Ein netter Typ.« Jen legte sich eine Hand an die Stirn. »Sarah. Dieser ›nette Typ‹ ist Hunter Havensworth – wie in Havensworth-Kunstakademie und Havensworth & Associates Investment. Und natürlich hat er auch ein eigenes Start-up. Er schwimmt im Geld! Klingelt es langsam bei dir?« Ich war schon mehrmals an den Gebäuden der Kunstakademie vorbeigekommen, wenn ich im Bankenviertel laufen gewe14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sen war, aber der Name sagte mir nichts. »Meinst du, das alles gehört seiner Familie?« Jen fuhr sich durch ihre schwarzglänzenden Haare. »Aber ja doch! Hast du eine Ahnung, wie viele Gebäude auf dem Campus der Kunstakademie stehen? Denen gehört die ganze Stadt. Er zählt quasi zum Hochadel von San Francisco.« Hunter schenkte mir ein Lächeln vom anderen Ende des Raumes. »Aber ich interessiere mich doch nicht deswegen für ihn«, erklärte ich, allerdings spürte ich einen Knoten im Bauch. »Viel Glück. Jede zweite Hetero-Frau dieser Stadt versucht, ihn in die Klauen zu bekommen. Pass auf, womöglich ist er ein Frauenheld.« An einem reichen, attraktiven Kerl, der sich seinen Lebensunterhalt noch nie hatte selbst verdienen müssen, konnte eine Warnflagge heften. Doch Hunter verdiente sich seinen Lebensunterhalt sehr wohl selbst und half auch noch den weniger vom Glück Begünstigten. Auf mich machte er ganz und gar keinen leichtfertigen Eindruck. Er schien nett und normal zu sein. Und das war er auch. Bei unserer ersten Verabredung im Hog Island an der Tomales-Bucht aßen wir Austern und sprachen über alles Mögliche, angefangen bei den Haustieren, die wir als Kinder hatten, bis hin zu Lieblingsbüchern und Lieblingssushirestaurants. Hunter war jemand, den man einfach gernhaben musste. Er lachte sich kaputt, als mein Austernmesser in hohem Bogen ins Wasser flog, und als ich mir die Finger an der rauen Schale schnitt, nahm er sie fürsorglich in die Hand und küsste sie. Mit ihm zusammen zu sein war unkompliziert und fühlte 15 sich ganz natürlich an. Zum ersten Mal seit langem hatte ich das Gefühl, dass ich wieder jemandem vertrauen könnte. Als ich jetzt in den Saal zurückkam, ließ ich meinen Blick auf der Suche nach Hunter über das Meer aus Anzügen und glitzernden Kleidern schweifen. Er stand noch dort, wo ich ihn verlassen hatte, und lächelte, als er mich sah. Erleichterung durchströmte mich. »Hey«, sagte ich und griff nach seinem Arm. »Meinst du, deine Mutter wäre enttäuscht, wenn ich früher gehe?« Hunter nahm meine Hand in seine. »Alles in Ordnung bei dir? Du bist doch gerade erst angekommen.« »Ich muss wohl heute Mittag etwas gegessen haben, das mir nicht bekommen ist. Mir ist übel.« Mit der stummen Bitte um Verständnis sah ich ihm fest in die Augen. Hunter wusste, dass ich unter Panikattacken litt, doch die Ursache dafür kannte er nicht. Meine Narbe pochte, und mir war flau im Magen. Ich hatte meine Clonazepam in der Handtasche, nur für den Fall, dass meine Angstzustände außer Kontrolle gerieten. Denn es war meine Schuld. Meine Schuld. Hunters Lächeln erlosch. »Kannst du nicht noch eine Stunde bleiben? Ich mag nicht allein hier sein. Komm, ich hole dir ein Glas Mineralwasser, das ist besser für deinen Magen.« »Nein«, sagte ich und biss mir auf die Lippe. »Tut mir leid, aber mir geht es wirklich nicht gut.« Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte all die Blicke auf mir in diesem überfüllten Saal nicht ertragen. Schon zu oft hatte ich sie gespürt. Für Alkoholiker oder Shoppingsüchtige, für Heroin- und Kokainabhängige gab es Selbsthilfegruppen. Für Leute wie mich gab es nichts. Keine Hilfe. 16 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Soll ich mitkommen?«, fragte er und zog mich an sich. Seine Hand fühlte sich an wie eine Rettungsleine, die mir sicheren Halt gab. Was, wenn ich ihn einfach umarmte und bei ihm bliebe? Und ihm die Wahrheit sagte? »Nein«, antwortete ich stattdessen und schüttelte den Kopf. »Bleib ruhig.« Er ließ meine Hand los, und ich sah, wie enttäuscht er war. Das Problem war ich, ich selbst war der Grund, weshalb wir uns voneinander entfernten. »Sag deiner Mutter, dass es mir leidtut«, sagte ich. »Wir sehen uns dann zu Hause.« Während ich davonging, fragte ich mich, was für ein Mensch ich eigentlich war, dass ich meinen Mann einfach stehenließ, wo er doch die Kluft zwischen uns hatte überwinden wollen, um sich um mich zu kümmern, wie er es immer tat. Ich fühlte, wie meine Panik bereits wieder abebbte, und ich hätte mich ganz einfach wieder umdrehen und zurückgehen können. Aber das tat ich nicht. Ich hatte meine Entscheidung bereits getroffen. *** Zurück in unserer Wohnung am Yachthafen lauschte ich mit einer Tasse Kamillentee in den Händen den friedlich ans Ufer schlagenden Wellen. Auf unserer Kücheninsel aus Granit thronte eine verchromte italienische Espressomaschine, doch ich trank nach zwölf Uhr mittags nie Kaffee, selbst wenn ich noch spät arbeiten musste. Wie hatten sie den Stil unserer Wohnung in dem Artikel in San Francisco Style genannt – moderner Chic? Unser Zuhause glich in keinerlei Hinsicht dem 17 Heim, in dem ich aufgewachsen war, mit seinen Arbeitsflächen aus Resopal und dem fleckigen braunen Teppich. Unser Kater Redford kletterte auf meinen Schoß und machte es sich bequem. Ich streichelte sein orangefarbenes Fell. Er presste seine Pfoten in meinen Oberschenkel und schnurrte wie ein winziger Motor. Mit seinen Krallen blieb er im Stoff meiner Lieblingsjeans hängen, aber er sah zu zufrieden aus, als dass ich ihn hätte runtersetzen wollen. Vor den bodentiefen Fenstern hingen dichte Nebelschleier, durch die die roten Lichter an der Golden Gate Bridge blinkten. Auf der anderen Seite der Bucht erkannte man gestochen scharf die Umrisse der hügeligen Küstenlandschaft der Marin Headlands vor dem lilagrauen Himmel. Ein Nebelhorn ertönte. Hier in der behaglichen Ruhe meines Zuhauses konnte ich wieder atmen. Ich öffnete eine Nachricht auf meinem Laptop, die mich zusammenfahren ließ. Meine Betreuerin von der University of San Francisco wollte sich nächste Woche mit mir treffen, um über meine »Fortschritte« zu sprechen – und alles, was ich vorzuweisen hatte, waren fünfzig miserable Seiten eines Romans, an den ich nicht mehr glaubte. Meine Hauptfigur Mrs McGeary, die verwitwete Gastwirtin Mitte vierzig, schien mir so eindimensional wie eine Pappfigur. Wer war sie, und was wollte sie überhaupt? Ich seufzte und öffnete meinen Browser, um mich in Recherchen treiben zu lassen. Die Schönheit und Rauheit San Franciscos im neunzehnten Jahrhundert und die historischen Bilder dieser vergangenen Welt hatten mich schon immer fasziniert. Die Journalistin in mir konnte nicht anders, als die digitalen Archive der Daily Alta California und der Sacramento Daily Union, 18 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 San Franciscos ältester Zeitungen, nach historischen Fundstücken für mein Buch zu durchwühlen. Ich nahm den Laptop mit an meinen Schreibtisch und betrachtete das große gerahmte Hochzeitsfoto von Hunter und mir, auf dem wir ausgelassen lachten. Ein Schauer lief mir den Rücken hinab. Dieser Mann, den ich liebte, wusste nur das über mich, was ich ihm erzählt hatte. Ich war Waise und hatte mit einem Stipendium an der University of California studiert. Zu meinen Freunden aus der Schulzeit hatte ich keinen Kontakt mehr, weil ich mit Eagle River einfach zu viele traurige Erinnerungen verband. Was für eine Erleichterung, als ich meinen Namen auf unserem Trauschein zum ersten Mal geändert sah. Endlich war ich nicht mehr Sarah Schmidt, von ewigem Raunen verfolgt. Von nun an war ich Sarah Havensworth. Vor dem Altar wartete mit Hunter die Aussicht auf ein neues Leben auf mich. Eine Zeitlang glaubte ich noch daran, dass ich ihm die Wahrheit sagen würde. Doch die Angst, alles zu verlieren, ließ mich schweigen. Ich atmete tief aus und gab Barbary Coast bei Google ein. Oft half es mir beim Schreiben, wenn ich mir Bilder von San Francisco vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts ansah. Unzählige Links tauchten auf meinem Bildschirm auf. Das Rotlichtviertel erstreckte sich damals auf einem Karree von neun Blocks, eingerahmt von der Montgomery Street, der Washington Street, der Stockton Street und dem Broadway. Heute standen hier strahlende Wolkenkratzer, und nichts erinnerte mehr an das holprige Kopfsteinpflaster von einst. In der Hoffnung auf Inspiration klickte ich mich durch die Links und verwarf nichtssagende Seiten für Touristen. Ich hatte 19 mit dem Gedanken gespielt, eine Liebesgeschichte zwischen Mrs McGeary und dem deutsch-jüdischen Kaufmann Herrn Blumberg, der das Juweliergeschäft gegenüber von ihrer Pension betrieb, aufkeimen zu lassen. Als historischer Hintergrund diente mir der Silberrausch, während dessen in der Region ein Vermögen mit den Funden aus der Comstock Lode in Nevada verdient wurde. Ähnlich zwiegespalten wie beim Tech-Boom im heutigen San Francisco war die Stadt auch damals gewesen. Der Silberrausch des Viktorianischen Zeitalters trieb zwar den Reichtum in die Höhe, ließ dabei jedoch die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden. Indem ich mich auf die Lebensumstände der Arbeiterklasse konzentrierte, wollte ich in meinem Roman auch von diesem Konflikt erzählen. Den Blick erneut auf unser Hochzeitsfoto gerichtet, biss ich mir auf die Lippe. Ich hatte mir eine kleine, schlichte Feier in einer Scheune oder auf einem Weingut gewünscht, doch Hunters Eltern Gwyneth und Walter hatten auf der Flood Mansion bestanden, einem prachtvollen denkmalgeschützten Stadthaus in Pacific Heights, das einst James Clair Flood gehörte, einem der ursprünglichen »Bonanza Kings« und Profiteure des Silberrauschs. Großzügig hatten sie vorgeschlagen, für die Feierlichkeiten aufzukommen, und da meine Eltern nicht mehr am Leben waren, nahm ich das Angebot an. Die ausgiebige Zeremonie und der Empfang mit zweihundert Gästen waren wundervoll gewesen, auch wenn ich es mir anders ausgesucht hätte. Das viktorianische Wohnhaus meiner Schwiegereltern mit seiner begehrten Lage in Pacific Heights kam der Flood Mansion, was Größe und Opulenz anging, ziemlich nahe, und doch lebten Gwyneth und Walter allein dort, sah man von ihrer Haushälterin Rosa ab. 20 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Ich rieb mir die Schläfen und dachte an die Durchschnittsbevölkerung dieser Stadt in den 1870er Jahren: Hafenarbeiter, chinesische Bahnarbeiter, eingewanderte Familien. Diese Menschen und ihre Schicksale interessierten mich. Dennoch war es mir nicht gelungen, meine Geschichte mit Leben zu füllen. Vielleicht musste ich eine weitere Figur einführen, um meiner Phantasie neuen Antrieb zu geben? Ich klickte weiter, bis ich auf die Überschrift Vorfälle im Westen, 1876 auf PBS .org stieß. Ich folgte dem Pfad und fand eine Nachrichtenchronik aus San Francisco. 8. Juni: Tom Williams in der Bucht ertrunken. Ein Mann namens Jones plötzlich in einem Saloon verstorben. 3. Juli: John Miller wegen Geldfälscherei festgenommen. 7. August: Jim McGreevy, Blechschmied, vom Gerüst gefallen und verstorben. 15. September: Einem von Mrs Wilsons Kindern ein Fuß von der Straßenbahn abgetrennt. Ich atmete scharf ein. Wie fürchterlich. 10. Oktober: Die Tabakfabriken Harris & Co. sowie Moore & Co. abgebrannt. Chinesischer Junge im Feuer umgekommen. 17. November: Beachtliche Menge geschmuggeltes Opium sichergestellt. 6. Dezember: Frankreich gewinnt eine Schlacht im Koalitionskrieg. 10. Januar: Vermisste Näherinnen gelten als ermordet. Ein Kribbeln überlief mich. Arbeitende Frauen hatten es in der damaligen Zeit schwer gehabt. Um mehr über diese Näherin21 nen zu erfahren, klickte ich auf das Zitat aus dem Zeitungsartikel vom 10. Januar 1876 in der Daily Alta California. Hunter zog mich manchmal damit auf, dass ich eine Feministin sei, aber die schweren Schicksale der Frauen über die Jahrhunderte interessierten mich einfach mehr als die unzähligen Männer, die es als ihr Recht ansahen, zu vergewaltigen und zu plündern und Einheimischen ihr Land wegzunehmen. Ich sah, dass die Daily Alta California Teil der California Digital Newspaper Collection war, und kurz darauf erschien die eingescannte Zeitung als graues Bild auf meinem Monitor. Ich zoomte sie heran und klickte auf die einzelnen Texte, bis ich den richtigen Artikel fand. Er war in einer altmodischen Schriftart gedruckt, und im Bemühen, sie zu entziffern, kniff ich die Augen zusammen. SIND DIE VERMISSTEN NÄHERINNEN TOT? Seit heute Morgen vermutet man, dass im südlichen Teil der Stadt zwei grausame Morde begangen worden sein könnten. Folgendes ist bisher bekannt: Miss Margaret O’Brien, eine junge Irin, und Miss Hannelore Schaeffer, eine junge Deutsche, arbeiten als Näherinnen in Walton’s Tailor Shop in der Montgomery Street 42. Am gestrigen Morgen sind die beiden besagten jungen Damen jedoch nicht zu ihrer Schicht um acht Uhr erschienen. Mrs Jane Cunningham, Inhaberin des Ladens, berichtet, dass sie am Vorabend von ihrem Fenster aus gesehen habe, wie Miss O’Brien in Begleitung eines Mannes auf dem Weg in Richtung der Bars auf der Kearny Street war. Mehrere grässliche Morde sind in letzter Zeit in San Francisco County an jungen Damen begangen worden. Vor vier Mo22 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 naten wurde eine Prostituierte tot vor dem Saloon unter dem Freudenhaus an der nordöstlichen Ecke von Hinkley Alley und Dupont Street aufgefunden. Aus ihren Ohren war Blut gelaufen, als hätte man ihr den Schädel zertrümmert, und Flecken an Hals und Mund ließen darauf schließen, dass sie erwürgt wurde. Ist es möglich, dass den beiden Näherinnen das gleiche Schicksal widerfahren ist? Hannelore Schaeffer ist circa zwanzig Jahre alt, hat dunkles Haar und helle Augen, und sie spricht gutes Englisch mit deutschem Akzent. Margaret O’Brien ist etwa neunzehn Jahre alt, hat rotes Haar und blaue Augen, ist äußerst ansehnlich und spricht Englisch mit irischem Akzent. Obwohl bisher keine Spuren der Leichen Schaeffers oder O’Briens entdeckt wurden, befürchten Anwohner, bald wieder in Angst und Schrecken zu geraten, sollte der Mörder nicht für diese fürchterlichen Verbrechen gefasst werden und weiter sein Unwesen treiben. Ich bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Zwei junge Näherinnen waren spurlos verschwunden, während ein Mörder frei herumlief? Der Raum um mich schien in den Hintergrund zu rücken, und mein Bildschirm trat umso schärfer hervor. Ich spürte eine knisternde Energie, wie ich sie seit meiner Zeit beim Magazin nicht mehr erlebt hatte – mein Bauch sagte mir, dass ich auf die richtige Geschichte gestoßen war. Ich schloss das Dokument, das meinen Roman beherbergte, und öffnete ein neues. Meine Finger flogen nur so über die Tastatur. Mein Roman konnte warten. Etwas an dieser Geschichte, dieser wahren Geschichte, ließ 23 mich nicht mehr los. Wer waren diese Frauen gewesen? Was war ihnen zugestoßen? Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, als ich meine eigene Schlagzeile vor mir auf dem Bildschirm las: Die verschwundenen Näherinnen von Barbary Coast. 24 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Kapitel 2 Hannelore Schaeffer San Francisco, Januar 1876 Die Ohrfeige ihres Vaters brannte auf Hannelores Wange wie heiße Kohlen. Er beugte sich so dicht an sie heran, dass sie den Whiskey in seinem Atem riechen konnte. Blut lief ihr aus der Nase und hinterließ den Geschmack von Metall auf ihrer Zunge. Mit seinem sehnigen, rußigen Arm holte ihr Vater nun zum nächsten Schlag aus, wobei er sich vor Hanna aufbäumte wie ein brüllender, mit Schmierfett verdreckter Bär. Hanna spürte, wie ihr das Herz in der Brust klopfte. Würde er sie diesmal umbringen, wie er auch ihre Mutter umgebracht hatte? Als sie sich wegduckte, ließ sie die Schale mit den kleinen gekochten Kartoffeln fallen. Lärmend schlug sie auf dem nackten Erdboden auf, und die Kartoffeln kullerten heraus. Unter dem Küchentisch kauerten ihre kleinen Geschwister Hans und Katja, wimmernd vor Angst. »Du dumme Kuh!«, stieß Vater auf Deutsch aus und kam noch näher an sie heran. Durch die jahrelange Arbeit als Hufschmied hatte er gewaltige Muskeln, und Hanna wich angstvoll seinen Schlägen aus. In diesem Moment kam ihr Bruder Martin aus seinem Versteck hervorgeschossen und begann, mit den Fäusten auf Vaters stäm25 mige Brust zu trommeln. Er war zwölf, und seine Arme waren zwar spindeldürr, aber stark. Was für ein mutiger, dummer Junge. Vater warf Martin zu Boden, wo dieser dumpf aufschlug. Seine Brust hob und senkte sich schwer, und er blähte die Nasenflügel. »Hör auf!«, schrie er. »Tu ihr nicht weh.« Vater legte sich die Hände auf den massigen Bauch und lachte. Er trank nicht nur zu viel Ale, er ließ es sich in den Spielhäusern auch gut schmecken, wo den Männern ein warmes Mittagessen serviert wurde. Seinen Kindern gab er nichts davon, und so konnten Hanna und ihre Geschwister ihren Hunger nie stillen. Sein Gelächter wurde immer lauter. »Du klingst wie ein Amerikaner«, bellte er und wischte sich eine Träne von seinem rotangelaufenen Gesicht. Es folgte noch eine, und sie hinterließ eine Spur auf seiner Wange, bevor sie in seinem schwarzen Bart verschwand. Hannas jüngerer Bruder Martin sprach Englisch völlig ohne Akzent, und auch seine Erinnerungen an das Schiff, das sie an diesen gottverlassenen Ort gebracht hatte, waren nur vage. Nun stand er bebend auf, die Hände neben seinem Körper zu Fäusten geballt. Vater starrte Hanna aus blutunterlaufenen Augen an, warf den Kopf in den Nacken und lachte gackernd. Mit angehaltenem Atem wartete Hanna ab, bis er zurückstolperte und sich rücklings auf seinen Stuhl fallen ließ. »Wo ist mein Geld?«, wollte er wissen und zeigte mit seinem wulstigen Finger auf sie. Er war so betrunken, dass es ihm nicht gelang, seine Hand ruhig zu halten. »Wir haben dir schon alles gegeben.« Martin baute sich zwi26 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 schen ihnen auf. »Sie hat kein Geld. Sag’s ihm, Hanna. Sag ihm, dass wir keins haben.« »Ich habe kein Geld«, sagte Hanna mit zitternder Stimme. »Ich habe dir jeden einzelnen Penny von meinem Lohn gegeben, und du hast alles verprasst!« Vater stürzte sich erneut auf sie, und diesmal traf er sie hart am Kiefer. Sie hätte darauf gefasst sein müssen. Niemals würde er sich widerstandslos etwas von ihr sagen lassen. Doch Hanna wich nicht von der Stelle. Vater ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken, und noch während er sie wütend anfunkelte, fielen ihm die Augen zu. Schon im nächsten Augenblick ertönte ein dröhnendes Schnarchen aus seiner Kehle. Er war eingeschlafen, betrunken, mit offenem Mund, und seine grausamen Hände hingen schlaff herunter. »Kommt«, flüsterte Hanna. Sie schloss Katja und Hans in ihre Arme. »Esst rasch eure Kartoffeln.« Sie stellte die Schale auf den einfachen Holztisch, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und rang sich ein Lächeln ab. Mit schmutzigen Fingern griffen die drei Geschwister nach dem Essen und verschlangen es gierig, was das Knurren in Hannas Magen jedoch nicht zum Verstummen brachte. Wie sie sich nach dem Geschmack von Fleisch sehnte, und so lange schon hatte sie keine Bratwurst mehr gegessen. Hanna strich die dunklen Locken ihrer kleinen Schwester glatt und gab ihr einen Kuss auf die feuchte Stirn. »Iss alles auf, mein Rehlein.« Katja blickte ängstlich auf ihren schlummernden Vater. »Ist schon gut«, flüsterte Hanna. Sie hoffte, Katja würde nicht krank werden. Einmal hatte sie ihre kleine Schwester nach einem 27 der Wutausbrüche ihres Vaters zusammengerollt und bibbernd draußen im Gras gefunden wie ein hilfloses Rehkitz auf der Wiese. Da ihre Mutter tot und ihr Vater von keinerlei Nutzen war, musste Hanna allein dafür Sorge tragen, dass ihre Geschwister Kleider am Leib und genug zu essen hatten. Einen Anteil ihres Lohns aus dem Schneidersalon bekam ihre Nachbarin, die alte Frau Kruger, die tagsüber auf Katja und Hans aufpasste. Die Witwe gab ihnen dunkles Brot und Eier zu essen. Gott sei Dank, denn oftmals blieb ihnen sonst nichts anderes als Speisereste, die Hanna ihnen zusammensammelte. Vater verschleuderte derweil jeden Penny in den Bars. Er schlug sie, wenn er Hanna verdächtigte, Geld vor ihm zu verbergen – was sie auch tat. Beinahe acht Dollar hatte sie bereits in einem Glas gesammelt, das sie sicher versteckt hielt. Bald wäre es genug, um zu entkommen. Hanna schloss die Augen und atmete tief ein. Die frische Luft in den Bergen. Der Duft der Wildblumen. In ihrer Erinnerung sah sie die grünen Wiesen vor sich, die ihr Haus in Mittenwald im oberen Isartal umgaben, und die sanften und doch kräftigen Hände ihrer Mutter, wie sie Teig für das süße Gebäck kneteten, die Schnecken, die sie ihren Kindern stets buk. Doch als Hanna die Augen wieder aufschlug, war ihre Mutter fort. Ein eisiger Wind blies durch die Risse ihres baufälligen Hauses und ließ Hanna erzittern. Während ihre Geschwister noch aßen, ging sie ins Schlafzimmer, löste die lockere Diele und legte ein paar weitere Münzen in ihre Sparbüchse. Neben dem Glas stand der zierliche Teller, den ihre Mutter mit einer idyllischen Landschaft bemalt hatte. Könnte Hanna doch nur 28 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 unter diesen Trauerweiden leben. Sie fuhr mit dem Finger die Pinselstriche nach und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Mutter vom Himmel aus über sie wachte. Hanna schluckte die Tränen hinunter und zog ihren Schal enger um die Schultern, dessen abgetragener Stoff kaum Schutz vor der feuchten, kühlen Luft bot. Sie steckte das Dielenbrett wieder an seinen Platz und ignorierte ihren knurrenden Magen. Hoffentlich hatten wenigstens die Kleinen genug gegessen. Vater ächzte im Schlaf, und sie fuhr zusammen. Wie töricht es von ihrer Mutter gewesen war, sich zu verlieben. Damit machte man sich verletzlich und zeigte Schwäche. Und das konnte Hanna sich auf keinen Fall erlauben, wenn sie überleben wollte. Vaters Habgier war der Grund gewesen, weshalb ihre Familie Bayern hatte verlassen müssen und an diesem abscheulichen, sündigen Ort gelandet war. Über Hannas Schicksal, dessen war sie sich gewiss, würde kein Mann entscheiden, nicht ihr Vater, kein Ehemann, niemand. Von der Küchentür aus konnte Hanna Martins Gesicht sehen, auf das der Schein ihrer Petroleumlampe fiel. Seine Unterlippe zitterte. »Martin«, fragte sie, »was ist mit dir?« Als er sich zu ihr umdrehte, glänzten seine Augen vor Tränen. Hanna brauchte keine weiteren Erklärungen. Es schmerzte sie alle wie eine offene Wunde, dass ihre Mutter nicht mehr bei ihnen war. »Erinnerst du dich noch an das Schiff?«, wollte Martin wissen. »Und an den Zug von Hamburg und wie wir verladen wurden wie Schweine?« Er schüttelte den Kopf. »Mutter hatte eine 29 Lungenentzündung, und trotzdem hat Vater darauf bestanden, dass wir unsere Reise nach Amerika antreten. Wir hätten niemals herkommen sollen.« Martin war erst sieben gewesen bei ihrer Reise im Bauch des Dampfers, wo der Gestank nach Fäkalien und Verwesung allgegenwärtig gewesen war. Hanna hatte nicht damit gerechnet, dass sich ihr Bruder an den rasselnden Husten oder den unregelmäßigen Atem ihrer Mutter erinnern könnte. Doch vielleicht brannten sich einem die schmerzvollsten Dinge im Leben am tiefsten ins Gedächtnis. »Ich weiß.« Auch Hanna fühlte die Erinnerung an diese Tage schwer auf ihren Schultern lasten. »Aber wir können nichts tun. San Francisco ist jetzt unser Zuhause. Kommt, es ist Zeit, schlafen zu gehen.« Vater grunzte, und Hanna ballte die Fäuste. Sie könnte ein Päckchen Rattengift in einem der Lebensmittelgeschäfte kaufen und ihm untermischen. Doch wäre sie dazu imstande, zu einem Mord? Vermutlich nicht. Vielleicht könnte man Vater unter Drogen setzen, ihm eins überziehen und ihn auf ein Handelsschiff verfrachten, das in ferne Länder unterwegs war. Niemand würde ihn vermissen. »Hanna, ich hab immer noch solchen Hunger.« Der kleine Hans zog am Saum ihres Dirndls. Mit seinen blauen Augen sah er sie flehentlich an. Sie kniete sich vor ihn auf die Erde und schloss ihn fest in ihre Arme. Katja versteckte sich hinter Hannas Rock, den Blick auf ihren im Schlaf zuckenden Vater gerichtet. »Ana, hab Angst.« »Du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte Hanna sie. »Kommt, ich sing euch ein Schlaflied.« 30 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Die Kleinen nickten. Sie nahm Hans und Katja an den Händen, ging mit ihnen in die kleine Kammer, die sie miteinander teilten, und brachte sie ins Bett. Martin stand noch in der Küche und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Was ersehnte er sich, das dort in der Ferne in den Sternen lag? Auch Hanna würde ihre Träume nicht aufgeben. Vater würde nicht für immer über sie herrschen. »Martin«, flüsterte sie. »Kommst du auch ins Bett?« »Gleich«, sagte er. »Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Hanna zog Mutters Decke hoch bis unter Hans’ herzförmiges Gesicht und strich über den dicken Baumwollstoff. Die Farben waren verblasst, doch das verschlungene Muster aus Vögeln und Blumen war noch erkennbar. Jeden Tag aufs Neue dankte Hanna ihrer Mutter im Stillen dafür, dass sie ihr so beharrlich das Nähen beigebracht hatte. Als Kind hatte Hanna es gehasst, jetzt war es ihre wertvollste Fertigkeit. Sie schloss die Augen und dachte an die Stimme ihrer Mutter. Ein Lied bahnte sich leise seinen Weg über ihre Lippen. Während sie sang, strich sie Katja über die Wange. Schlaf, Kindlein, schlaf. Am Himmel zieh’n die Schaf. Hanna blies die Petroleumlampe aus und stellte sie neben dem Bett ab. Dort, wo ihr Vater sie geschlagen hatte, schmerzte ihr Kiefer, und als sie mit ihren kühlen Fingerspitzen über die empfindliche Stelle strich, stockte ihr der Atem. In der Ferne läuteten Schiffsglocken, und Hanna kuschelte sich an Hans’ und 31 Katjas warme Kinderkörper. In der stickigen Dunkelheit wurden ihre Lider schwer, und sie ließ sich tiefer in die unebene Matratze aus Baumwolle und Stroh sinken. *** Hanna stieß die Tür zu Walton’s Tailor Shop auf und ging am Verkaufstresen vorbei ins Hinterzimmer. Stapelweise Seidenund Taftkleider warteten hier darauf, von ihr ausgebessert zu werden, Stoffe so prachtvoll und festlich, wie Hanna es sich für sich selbst nie erträumen würde. »Gib acht mit deinen schmutzigen Händen«, wies Mrs Cunningham sie mit einem Blick über ihre Halbbrille an. »Die Perlen für den Kragen von Miss Jamesons Kleid sind mehr wert, als du dir vorstellen kannst.« »Ja, Ma’am.« Hanna rieb sich über ihre Finger, die schon gerötet und wund waren, so sehr hatte sie sie zu Hause mit Seife bearbeitet. Mrs Cunningham verzog den Mund, als ihr Blick auf Hannas Wange fiel. »Bleib heute im Hinterzimmer.« Hanna fasste sich ins Gesicht. Wahrscheinlich sah man mittlerweile den blauen Fleck. »Ja, Ma’am.« Als Mrs Cunningham nach vorn gegangen war, breitete Hanna das erste Kleid auf dem Tisch aus. Was hatte die Trägerin nur getan, dass der Faltensaum an ihrem gestreiften Seidenkleid gerissen war? Vielleicht hatte sie auf einer der exklusiven Feiern in den oberen Kreisen der Stadt getanzt, in einer fremden Welt, zu der Hanna niemals Zutritt haben würde. Die schwarzen Knöpfe am Oberteil des Kleides saßen locker, als hätte man 32 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sie in Eile aufgeknöpft. Hanna fädelte einen Faden ein und begann mit der Arbeit an einem Riss im Stoff der breiten Tournüre. Kurz darauf läutete die Ladenglocke. »Entschuldigen Sie, dass ich zu spät bin, Ma’am.« Margaret huschte mit von der Kälte geröteten Wangen herein und sah Mrs Cunningham an. »Meine Schwester hat Fieber. Sie ist noch so klein, da musste ich mich um sie kümmern, bis es etwas abgeklungen ist.« »Deine Privatangelegenheiten sind mir gleich«, entgegnete Mrs Cunningham. »Unzählige andere Mädchen wären dankbar für deine Stelle hier.« Margaret biss sich auf die Lippe. Eilig ging sie ins Hinterzimmer und nahm neben Hanna Platz. Die Sorge stand ihr in ihr hübsches Gesicht geschrieben. »Ist es wieder Finna?«, erkundigte sich Hanna und streckte die Hand nach ihrer Freundin aus. Margaret ergriff sie. »Oh, Hanna, ich mache mir solche Sorgen.« Hanna nickte. »Ich kann heute länger bleiben. Du solltest aufbrechen und nach ihr sehen, sobald Mrs Cunningham nach Hause geht.« Margaret schüttelte den Kopf, dass ihre dunkelroten Locken wippten. »Das ist wirklich lieb von dir, aber es ist doch viel zu viel Arbeit für eine allein.« Sie sah Hanna besorgt ins Gesicht. »Oh, Liebes, tut es weh?« Hanna zuckte die Achseln. »Es geht schon.« Margaret fädelte ihren Faden ein und griff nach einem kurzärmeligen Ballkleid aus gelber Seide mit großen Schleifen. »Al33 kohol ist ein Fluch, das sage ich dir. Genau wie das verdammte Glücksspiel. Acht Mäuler zu stopfen, und mein Vater wirft das Geld aufs Roulette, als wär er Mr Rockefeller persönlich. Dabei brauche ich doch jeden Penny für Finnas Medizin.« Margaret plagten die gleichen Sorgen wie Hanna, allerdings hatte sie zudem noch mehr Geschwister, als manch einer zählen konnte. Oft zeichneten dunkelviolette Ringe unter den Augen ihr blasses Gesicht. Wie so viele irische Einwanderer war auch Margarets Vater im Straßenbau tätig und hob Erde aus, um Straßen in den umliegenden Bergen zu errichten. Und genau wie Hannas Vater griff er gern zum Whiskey. »Was soll sie denn kosten?«, wollte Hanna wissen. Margaret runzelte die Stirn. »Zwanzig Cent.« Hanna griff in ihren Geldbeutel. »Hier«, sagte sie und reichte Margaret zwei silberne Dimes. »Nimm.« Margaret machte große Augen. »Oh, Hanna. Danke, tausend Dank.« Mrs Cunningham trat zu ihnen ins Hinterzimmer. Der Spitzenkragen ihres Kleids war mit einer großen Opalbrosche eng um ihren Hals geschlossen. »Hört auf zu schwatzen und macht eure Arbeit, oder ihr seid bald beide auf der Straße.« Hanna arbeitete flink, sie nähte Knöpfe wieder an und besserte Plisseefalten aus, bis ihr die Finger bluteten. Irgendwann fragte sie sich, wie sich eine einzige Frau nur mit so vielen Rüschen schmücken konnte wie bei diesen Kleidern. Die Gestelle für die Tournüren, die Korsette, Mäntel, Röcke und Hüte, an denen sie arbeitete, waren allesamt so aufwendig wie Kostüme für die Oper. Wenn Hanna durch die Stadt ging, kicherten die 34 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Frauen manchmal über ihr Dirndl. In Hannas ländlicher Heimatstadt war das einfache Baumwollkleid mit seinem Blümchenmuster angemessen gewesen, doch hier in Amerika schien es nichts als Lumpen. Margarets Tageskleid entsprach schon eher der aktuellen Mode, war aber ebenso aus einfacher Baumwolle in einem schlichten Braunton. Und so sehnsüchtig, wie Margaret die Satinschleifen und Perlen, den Brokat, die schwarzen Gagatknöpfe und die Spitzenkragen der edlen Kleider ansah, war für Hanna offensichtlich, dass auch ihre Freundin davon träumte, etwas Schönes zu tragen, und sei es auch nur ein einziges Mal. Die Ladenglocke läutete erneut, und zwei Männer betraten das Atelier. An ihren Zylindern, goldenen Uhrketten und maßgeschneiderten Anzugwesten erkannte Hanna, dass es sich um honorige Persönlichkeiten handelte. Solange das Silber aus der Comstock Lode in Nevada in die Stadt floss, wurden Männer wie diese zu Millionären, und mochten die Einwandererfamilien noch so sehr hungern. Der ältere der beiden Männer sah zu ihr ins Hinterzimmer herüber, und Hanna erstarrte. Mist! Sie hatte vergessen, die Tür zu schließen. Obwohl der Mann gutaussehend war, lag etwas in seinen dunklen Augen, das Hanna erschauern ließ. Seine langen, mit goldenen Ringen geschmückten Finger schlossen sich um den Knauf seines Gehstocks. Alles an ihm strahlte Macht aus – und etwas Düsteres, das sich dahinter verbarg. »Guten Tag, wir haben hier ein paar Anzüge zum Ausbessern«, sagte der jüngere der beiden und reichte Mrs Cunningham die Jacketts und Hosen. Seine blauen Augen funkelten freundlich. Als er seinen Zylinder abnahm, kamen dichte gol35 dene Locken darunter zum Vorschein, die sich der Pomade widersetzten. »Das ist Weiberarbeit, Lucas«, sagte der Ältere und klopfte mit seinem Gehstock auf den Boden. »Gib der Alten ein paar Münzen und lass uns weitergehen.« »Ein wenig Respekt, Robert«, sagte Lucas. Margaret, die sich eben hatte setzen wollen, stieß dabei mit dem Knie ans Tischbein und brachte ein mit Perlen gefülltes Glas zum Umfallen. Hanna schlug sich die Hand vor den Mund, als die Perlen auf den Boden kullerten. Auch Margaret hielt erschrocken den Atem an und sah Hanna mit aufgerissenen Augen an. »O Gott, sie wird mich rausschmeißen!« Hanna bückte sich hastig und versuchte, den Blicken der Männer auszuweichen, während sie eifrig eine Perle nach der anderen aufsammelte. Mrs Cunningham funkelte Hanna wütend an, behielt jedoch einen freundlichen Ton bei. »Du liebe Güte! Entschuldigen Sie vielmals, Gentlemen. Anscheinend beschäftige ich ein ungeschicktes Ding mit zwei linken Händen in meinem Laden.« »Verzeihen Sie«, sagte Hanna, »es war meine Schuld.« Nun kniete sich auch Margaret neben Hanna auf den Boden und suchte ihn nach den kostbaren Perlen ab. »Danke«, flüsterte sie Hanna zu. »Hier«, sagte Lucas und kniete sich hin, um ihr eine Perle zu reichen. »Sie haben eine übersehen.« Hanna sah ihm in die Augen, und sie waren so blau wie der Himmel im Sommer. »Danke.« Sie hielt ihm ihre geöffnete Hand hin, und ihr wurde ganz warm, als Lucas die Perle hineinlegte und sie dabei berührte. 36 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Der ältere der beiden, Robert, hatte ungeduldig an der Tür gestanden, drehte sich jetzt jedoch um und blickte zu Margaret, als wäre sie ein saftiges Steak. »Mädchen«, fuhr Mrs Cunningham Margaret an. »Mach dich nützlich und nimm die Anzüge, während ich einen Beleg ausstelle.« Lucas lächelte. »Danke. Ich fürchte, ich habe auf dem Regatta-Ball zu heftig getanzt. An der Schulter ist eine Naht geplatzt.« Margaret kicherte. »Sie sollten mich mal tanzen sehen, da reißt schnell mal die eine oder andere Naht auf.« Mrs Cunningham warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, worauf Margaret davonhuschte. Dann wandte sich Mrs Cunningham an Hanna. »Was stehst du hier so herum? Räum lieber die Perlen weg, bevor jemand darauf ausrutscht und sich das Genick bricht.« »Ja, Ma’am.« Hanna verschwand wieder im Hinterzimmer, stellte das Glas aufrecht hin und ließ die Perlen aus ihrer Hand hineinrollen. »Ich bitte nochmals um Entschuldigung, meine Herren«, sagte Mrs Cunningham. »Eins der Mädchen wird Ihnen einen Tee bringen, während Sie warten. Es dauert nur einen Augenblick.« Robert räusperte sich. »Für mich nicht, danke.« Er sah Lucas an. »Lass uns gehen. Wir haben in einer Viertelstunde unsere Verabredung im Palace Hotel.« »Also, ich hätte eigentlich nichts gegen eine Tasse heißen Tee«, sagte Lucas. »Du«, zischte Mrs Cunningham Hanna zu, als sie den Kopf 37 durch die Tür zum Hinterzimmer steckte. »Mach dem Herrn eine Tasse Tee, und zwar sofort!« Hannas Hände zitterten, als sie den dampfenden Tee aus der silbernen Kanne in eine Porzellantasse mit Goldrand einschenkte. Ihr Magen grummelte. Wie schön wäre es, an einem so kalten Wintertag eine Tasse heißen Tee zu trinken. Doch er war nur für die Kunden bestimmt. »Milch und Zucker, Sir?«, fragte Hanna. »Ja, bitte«, antwortete Lucas. Sie spürte, wie Lucas sie an der Hand berührte, als sie ihm die Untertasse reichte. Ihre Wangen glühten. »Bitte sehr.« »Danke«, sagte er. »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?« Hannas Kehle war ganz trocken. »Hannelore Schaeffer, Sir.« »Ein echter Zungenbrecher.« Lucas zog die Augenbrauen hoch. Er nippte an seinem Tee. »Nennen Ihre Freunde Sie denn Hannelore?« Sie bemerkte die Grübchen, die sein freundliches Lächeln einrahmten und ihm etwas Jungenhaftes verliehen. »Nein. Meine Freunde nennen mich Hanna. Wenn Sie möchten, dürfen Sie mich auch gern so nennen …« Dann stockte sie, und sie spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. »Oh, Sir, es tut mir leid. Ich meinte nicht …« Lucas lachte. »Was, können wir denn keine Freunde sein?« Hanna lächelte. »Doch, ich denke schon.« Robert schnaubte, und Lucas’ Lächeln verschwand. Er richtete sich auf, als würde er sich seiner Stellung in der Gesellschaft erinnern. Dann neigte er den Kopf und sah Hanna fragend an. »Sie sind nicht von hier, wenn ich mich nicht täusche, oder? Sie haben einen Akzent.« 38 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Ich stamme aus Deutschland«, erklärte Hanna. »Aber ich lebe schon seit fünf Jahren hier.« »Dein Englisch ist recht anständig«, warf Robert mit hochgezogener Augenbraue ein, als würde er ihr das zum Vorwurf machen. »Wie ungewöhnlich.« Hanna senkte den Blick. »Ja, das ist es wohl.« »Du trägst die Haare anders als die meisten Frauen«, sagte Robert. »Wie ein Bauernmädchen. Bist du vielleicht in einer Scheune unter Schafen und Rindern aufgewachsen?« Hanna sah auf. Sie berührte ihre geflochtenen dunklen Zöpfe, die sie auf dem Kopf festgesteckt hatte. Ihr brannte die Schamesröte auf den Wangen. Sie hatte weder Geld für falsche Haarteile, für lange, wippende Locken, die bis auf die Schultern fielen, noch für einen dekorativen kleinen Hut. Wenn sie ehrlich war, fand Hanna die Kopfbedeckungen der Frauen der Gesellschaft ohnehin lächerlich mit all ihren Rüschen und Federn, ihren Blumen und Blättern oder dem unechten Obst. Wozu sollte ihr solches Zeug zunutze sein? »Ich habe keine Zeit für Locken«, erklärte sie. Und wieder zeigte Lucas sein freundliches Lächeln und ließ die Grübchen erscheinen. »Sie sind sehr praktisch veranlagt.« Hanna schaute zu ihm und begegnete seinen Augen, die ihr so offen und unvoreingenommen schienen. Ein ungebetenes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Doch als Robert ihm einen düsteren Blick zuwarf, erlosch das Funkeln in Lucas’ Augen erneut. Er räusperte sich und strich sich sein Ascot-Halstuch glatt. »Danke für das Ausbessern der Anzüge«, sagte er. »Ich bin sicher, dass sie wieder wie neu aussehen werden. Und sagen Sie bitte auch Ihrer Freundin vielen Dank.« 39 »Wie heißt sie?«, wollte Robert wissen. Seine Augen waren kalt. »Margaret O’Brien, Sir«, sagte Hanna. »Das scheinen mir tüchtige Geschöpfe«, murmelte Robert, während er den Knauf seines Gehstocks mit einem Taschentuch polierte. »Bei denen fließt eine Menge Bauernblut in den Adern.« Hanna schnürte sich der Magen zusammen, doch sie entgegnete nichts auf Roberts Beleidigung. Auch Lucas blieb stumm, doch seine Wangen verfärbten sich. Mrs Cunningham kehrte mit dem Beleg zurück, und Hanna beeilte sich, Lucas’ Untertasse und Tasse wieder abzuräumen. »Darf ich?« Er nickte und reichte ihr das Geschirr, so dass sich ihre Finger erneut berührten. Ein Kribbeln durchlief Hanna, und sie fragte sich, ob Lucas die Berührung wohl beabsichtigt hatte. »Ihre Anzüge sind in drei Tagen fertig«, erklärte Mrs Cunningham. »Das macht insgesamt vier Dollar.« Hanna staunte angesichts dieser hohen Summe. Sie und Margaret verdienten weniger als einen Dollar am Tag. Robert klopfte mit seinem Stock auf den Boden. »Gut, das hätten wir also. Komm, Lucas.« Lucas setzte seinen Zylinder auf und nickte Hanna zu. »Auf Wiedersehen, Miss Schaeffer.« Hanna nickte ebenfalls. »Auf Wiedersehen.« Mrs Cunningham wandte sich ab, und Robert stieß die Ladentür auf. Ein kalter Windzug fuhr herein. Lucas drehte sich ebenfalls zum Gehen, blieb in der Tür jedoch noch einmal stehen. »Nur damit Sie es wissen«, sagte er leise zu ihr, ohne sich dabei 40 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 umzudrehen, »mir gefallen Ihre Haare sehr gut so, wie sie sind.« Hanna hatte das Gefühl, als hätten ein paar Vögel in ihrer Magengrube zu flattern begonnen. Ohne ein weiteres Wort folgte Lucas seinem Begleiter aus dem Laden auf die gepflasterte Straße. Als Hanna zu Margaret ins Hinterzimmer zurückkehrte, hellte sich deren Gesicht auf. »Hast du mit ihm gesprochen?«, wollte sie wissen. Hanna strich ein pinkfarbenes Taftkleid auf dem Tisch glatt. »Ja.« »Was für ein feiner Bursche.« Margaret sah Hanna mit funkelnden Augen an. »Und so gutaussehend! Gefällt er dir?« »Er war nett«, sagte Hanna und nahm eine Nadel auf, als sie merkte, wie sie wieder rot wurde. Der Stoff glitt durch ihre Finger, während sie in sauberen Linien nähte. »Aber ich bin nicht so töricht, dass ich mich in einen Gentleman vergucken würde. Ich weiß, was ich bin.« Margaret stieß Hanna in die Seite. »Eine gute Näherin und eine gute Freundin. Er könnte sich glücklich schätzen, eine Frau wie dich an seiner Seite zu haben.« Hanna lächelte Margaret an. »Wohl kaum, du albernes Huhn.« Sie unterdrückten ihr Kichern, bevor Mrs Cunningham sie erneut zurechtweisen konnte. Hanna biss sich auf die Lippe. Würde jemand wie Lucas sich jemals für ein Mädchen wie sie interessieren? Ihr fiel eine alte deutsche Redewendung ein: Schuster, bleib bei deinem Leisten. 41
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