Manchmal braucht es zuerst einen Chefwechsel

24 Zürich
Tages-Anzeiger – Samstag, 25. Februar 2017
Manchmal braucht es zuerst einen Chefwechsel
Wirtschaftsprofessorin Sybille Sachs engagiert sich seit zwei Jahrzehnten für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Sie stellt langsame Fortschritte fest.
leney, dem früheren Swissair-Personalchef. Sie hielten viele Vorträge und besuchten Firmen. «Wir haben aufgezeigt,
dass nicht nur die Angestellten von flexiblen Arbeitszeiten profitieren, sondern auch das Unternehmen, weil Mitarbeitende zusätzliche Erfahrungen einbringen und weniger gestresst sind.»
Den Erfolg ihrer Botschaftertätigkeit
beurteilt Sachs dennoch kritisch: «Wir
konnten jene bestärken, die gewillt waren, etwas zu verändern.» Wenn ein
Unternehmen aber nicht wolle, dass
auch Männer Teilzeit arbeiten oder
Frauen mit einem Teilzeitpensum in
Führungspositionen kommen, dann sei
kaum etwas zu machen. «Dann braucht
es zuerst einen Wechsel in der Geschäftsleitung.»
Susanne Anderegg
Führungspersonen von 30 internationalen Unternehmen trafen sich diese
­Woche in Zürich zur «Diversity & Inclu­
sion»-Tagung. Sie tauschten sich dar­
über aus, wie Firmen mehr Diversität in
ihren Teams erreichen können. Das
heisst eine gute Mischung aus Frauen
und Männern, Alten und Jungen, Ein­
heimischen und Ausländern. Diversität
gilt als Schlüssel zum Erfolg. Der Begriff
hat sich in der Wirtschaft durchgesetzt,
kaum jemand redet noch von Gleich­
berechtigung, obwohl der Schwerpunkt
der Bemühungen weiterhin genau darauf liegt: mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen.
«Vom Thema Gleichstellung hatten
viele ein bisschen genug», sagt Wirtschaftsprofessorin Sybille Sachs, die
sich seit Jahrzehnten für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf starkmacht
und 1994 die erste Uniprofessorin mit
einem Jobsharing war. Auch sie redet
von «Diversity», weil es den Fokus öffne
und einen Schritt weiter gehe. In ihren
Vorlesungen über strategisches Management an der Hochschule für Wirtschaft
Zürich (HWZ) ist Diversität ein wichtiges
Thema. Sachs stellt fest, dass die jungen
Leute anders als früher ein Bewusstsein
dafür haben und sich Gedanken über
ihre eigene Situation machen. In einem
Seminar über «qualifizierte Teilzeitarbeit» habe ein Student kürzlich gesagt:
«Es ist mir wichtig, dass ich mehrere
Rollen haben darf.»
«Von flexiblen
Arbeitszeiten profitieren
nicht nur die
Angestellten, sondern
auch die Unternehmen.»
Sybille Sachs, Wirtschaftsprofessorin
Frau und Mann je 80 Prozent
Was bei Frauen üblich ist – dass sie nicht
ausschliesslich auf ihren Job fixiert sind,
sondern auch andere Sachen machen
wollen –, diesen Wunsch stellt Sachs zunehmend auch bei jungen Männern fest.
«Es gibt inzwischen viele Familien, bei
denen beide Elternteile 80 Prozent
arbeiten und die Kinder drei Tage in die
Krippe gehen.» Allerdings sei das nur
möglich, wenn beide gut qualifiziert
sind und entsprechend verdienen. In
der Mehrzahl der Familien arbeitet
auch heute meist nur die Frau Teilzeit –
zusätzlich zu Haushalt und Kinder­
betreuung.
Der Wille der Männer, sich zu verändern, ist das eine. Das andere ist die Bereitschaft der Firmen, flexible Arbeitsmodelle anzubieten. Sachs war von
2008 bis 2011 Botschafterin des Kantons
Zürich für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, zusammen mit Matthias Möl-
«Vom Thema Gleichstellung hatten viele ein bisschen genug, heute spricht man von Diversity: Sybille Sachs. Foto: Sabina Bobst
Im Vorfeld der internationalen Tagung hat Sybille Sachs wieder einmal
Überzeugungsarbeit geleistet. Sie hielt
das Eingangsreferat am «Tag der Zürcher Unternehmen», welchen die kantonale Fachstelle für Gleichstellung organisiert hat und an dem 40 KMU-Chefs
teilnahmen.
Sachs empfahl den Chefs, ihren Fokus zu erweitern. Über das bestehende
Kader hinauszublicken, das eigene Netzwerk auszubauen und mehr Frauen einzubeziehen. Geschlechtergemischte
Führungsgremien können strategische
Vorteile bringen, wie Studien zeigten.
Sachs erklärt das so: «Es kommen neue
Themen zur Sprache, und die Geschäftsleitungsmitglieder bereiten sich deshalb
besser vor.» Nicht zu unterschätzen sei
auch die positive Ausstrahlung nach innen, auf junge Talente in der Firma, und
nach aussen, auf die Kundinnen und
Kunden.
Schweizer Unternehmen haben dies
offensichtlich beherzigt. Soeben meldet
der bekannte Führungskräftevermittler
Guido Schilling einen «Rekordanteil an
Frauen unter neuen Geschäftsleitungsmitgliedern». Schilling, der die Entwicklung seit vielen Jahren verfolgt, wird seinen neusten Report übernächste Woche
veröffentlichen.
Grossneffe muss sechseinhalb Jahre ins Gefängnis Der sensationelle Afghane
Der 22-jährige Schweizer,
der seine Grosstante
halb tot schlug, ist wegen
schwerer Körperverletzung
verurteilt worden.
Thomas Hasler
Dielsdorf
Am Schluss der Urteilseröffnung musste
man sich kurz Sorgen machen um den
22-jährigen, bleichen Mann. Es schien,
als kippe er beim Verlassen des Gerichtssaals jeden Moment um, sodass der Gerichtsvorsitzende die beiden ihn begleitenden Polizisten anwies, dafür zu sorgen, dass dies nicht passiert.
Ob ihm das soeben gehörte Verdikt
des Bezirksgerichts Dielsdorf – verurteilt
wegen schwerer Körperverletzung und
Diebstahls, bestraft mit einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren – derart
zusetzte, muss offen bleiben. Nachdem
die Staatsanwältin tags zuvor wegen versuchter vorsätzlicher Tötung gar eine
Strafe von elfeinhalb Jahren gefordert
hatte, musste er realistischerweise mit
einer höheren Strafe rechnen, als mit
den drei Jahren, welche seine Ver­
teidigerin beantragt hatte.
Immerhin folgte das Gericht in der
rechtlichen Beurteilung dieser «brutalen, äusserst verwerflichen Tat» dem
Antrag der Verteidigerin. Dass er den
Tod seiner 76-jährigen Grosstante in
Kauf ­genommen habe, lasse sich nicht
be­weisen. Aber es sei klar, dass «er ihr
wehtun wollte – und zwar zünftig», hielt
das ­B ezirksgericht fest.
«Ich habe Mist gebaut»
Die brutale Attacke auf seine Grosstante
stellte nicht einmal der junge Mann in
Abrede. Er hatte sie im März letzten Jahres in ihrem Haus, in dem er mit ihr seit
einigen Monaten lebte, zuerst von hinten
mit einem zwei Kilo schweren Stein auf
den Hinterkopf niedergeschlagen. Dann
traktierte er sie, als sie wieder aufstehen
wollte, mit Faustschlägen und Fusstritten gegen den Kopf und warf einen Stuhl
nach ihr. Während die 76-Jährige um
Hilfe und vor Schmerzen schrie, holte er
im unteren Stock eine volle Flasche Rotwein und schlug sie ihr über den Kopf, sodass die Flasche zerbrach. Ehe er das
Zimmer verliess, begrub er die am Boden
liegenden Frau unter diversen Gegenständen: Lattenrost, Matratze, Decken,
Kissen, Stuhl, Stofftiere. Nachbarn, die
die Hilfeschreie hörten, alarmierten die
Polizei. Die 76-Jährige, die sich unter den
Gegenständen nicht mehr bewegen
konnte, wurde in der Folge durch die
Polizei aus der für sie lebensgefährlichen
Lage befreit. Der 22-Jährige liess sich widerstandslos festnehmen. «Ich habe Mist
gebaut», sagte er den Beamten.
Das Bezirksgericht unterstellte dem
Beschuldigten keinen Tötungswillen. Mit
den im Haus vorhandenen Waffen hätte
er die Frau töten können, wenn er die
Tatwerkzeuge «mit letzter Konsequenz»
eingesetzt hätte. Er habe ihren Tod auch
nicht in Kauf genommen. Denn dass die
Frau an den ihr zugefügten Verletzungen
«im Extremfall» hätte sterben können,
sei für ihn nicht voraussehbar gewesen
und könne ihm auch nicht vorgeworfen
werden. Ihn treffe aber objektiv ein
schweres bis sehr schweres Verschulden.
Er habe die Angriffe vor allem auf den
Kopf ausgeführt. Mit dem Zudecken der
Frau habe er ihr Leiden noch verstärkt.
Die Frau soll eine Genugtuung von
20 000 Franken erhalten.
Rauswurf aus Wohnung drohte
Das Bezirksgericht übersah bei der Strafzumessung auch nicht die schwierige
Lebensgeschichte des jungen Mannes.
In einer Familie mit acht Geschwistern
aufgewachsen und von Eltern grossgezogen, die sich vom normalen Zivilisationsleben in der Schweiz über ein Leben in einem Indianerzelt bis in die Abgeschiedenheit eines Bauernhofes in
Polen zurückgezogen hatten, erlebte er
nach Meinung seiner Grossmutter eine
«furchtbare» Kindheit in ärmlichsten
Verhältnissen. Erst ein halbes Jahr vor
der Tat war er in die Schweiz gekommen,
um hier den Militärdienst zu absolvieren.
Dabei wurde er zur Grosstante abge­
schoben, die dazu nicht gefragt worden
war, was in der Folge zu einer sich stetig
zuspitzenden, konfliktreichen Wohn­
situation führte. Zur Tat kam es, als die
76-Jährige ihn rauswerfen wollte.
Es gebe keine Flüchtlinge auf
Zürcher Bauernhöfen, hiess
es am Donnerstag. Falsch: Es
gibt sie, aber selten. So etwa
auf dem Spargelhof Rafz.
Thomas Widmer
Eben las man auf Twitter folgendes
Statement: «Zürcher Bauern wollen
keine Flüchtlinge anstellen – stimmt
nicht!» Ein Beweisfoto zeigte einen dunkelhäutigen Mann bei der Hofarbeit, und
ein Link verwies auf die Homepage der
Juckerfarm, von welcher der Tweet kam.
Die Juckerfarm in Seegräben: ein Riesenbetrieb, weitum bekannt sind die Kürbisausstellungen. Bauer Martin Jucker
reagierte mit seinem Tweet auf eine Meldung zu einem Projekt des Schweizer
Bauernverbandes. Dieser vermittelt anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene an Schweizer Bauern. Bloss
hat der Verband festgestellt: Zürcher
Höfe machen bisher nicht mit. Die Zürcher Regierung hat eine GLP-Anfrage zu
dem Manko so beantwortet: Zürcher
Landwirte setzten in erster Linie auf osteuropäische Arbeitskräfte.
Gross ist das Projekt nicht, bei dem
der Bauernverband mit dem Staatssekretariat für Migration zusammenspannt. Im ersten Projektjahr wurden
schweizweit 13 Flüchtlinge vermittelt.
Vergleichszahl: Jährlich arbeiten in der
Erntezeit 25 000 bis 35 000 ausländische Leute auf Schweizer Höfen. Juckers
Ausländer stammt auch nicht aus dem
Projekt des Bauernverbandes. Den Eritreer auf dem Tweet-Foto hatte eine Integrationsstelle in Rapperswil-Jona vermittelt. Allerdings ist das zeitlich begrenzte Praktikum mittlerweile vorbei.
Der Eritreer, ein anerkannter Flüchtling, ist nicht mehr auf dem juckerschen
Bächlihof in Jona SG tätig.
Harte Arbeit am Spargel
Der Tweet stimmt grundsätzlich trotzdem. Denn zu Juckers Reich gehört auch
der Spargelhof Rafz. Dort arbeitet ein Afghane. «Er ist, soweit ich höre, sensationell», sagt Jucker. Drei andere Asylbewerber seien allerdings ziemlich unregelmässig erschienen, sie hätten Mühe
mit dem Arbeitsrhythmus gehabt. «Fairerweise muss man beifügen, dass auch
mancher Schweizer nicht mithalten
könnte.» Vermittelt hat den Afghanen
und die anderen Asylbewerber Rolf
Sigg, der dafür in Rafz und Eglisau bei
den Gemeinden zuständig ist. Es handle
sich um Personen im laufenden Asylverfahren, sagt Sigg. Für ihren Einsatz bekämen sie kein Geld, so sei das gesetzlich festgelegt. Trotzdem sei es sinnvoll,
dass Asylbewerber arbeiteten, findet
Sigg. Das gebe ihnen Struktur in den
Tag, eine Beschäftigung, Sinn. Auch
lernten sie die Schweizer Arbeitswelt
kennen, was zum Beispiel hilfreich sei,
falls sie am Schluss bleiben dürften.