"Bilals Weg in den Terror".

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Radiokunst
Kulturforum
Bilals Weg in den Terror
Feature von Philip Meinhold
Mit: Nina Weniger, Camill Jammal, Judith Engel und der Autor
Musik: Gudrun Gut
Technische Realisation: Martin Seelig, Bernd Bechtold, Benjamin Ihnow, Venke
Decker und Katrin Witt
Assistenz: Sarah Krüger
Regie: Nikolai von Koslowski
Redaktion: Ulrike Toma und Jens Jarisch
NDR/rbb 2017
Sendung: 28.02.2017
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MUSIK
Intro O-Ton-Collage
Mutter
Il n’aimait pas faire de problèmes. Il était toujours prêt à m’aider, même quand je lui laissais sa
petite sœur. Ok, je vais là-bas. Il était toujours là, il me supportais toujours. F1 Il a été pour nous
comme une ange vivant.
darauf Sprecherin
Er wollte keine Probleme machen. Er hat mir immer geholfen, auch wenn er auf seine kleine
Schwester aufpassen musste, wenn ich wegmusste. Er war immer da und hat mich unterstützt. Er
war für uns wie ein lebendiger Engel.
Lehrer von Fintel: Florent war damals ein quirliger Junge …
Lehrer Berens: Und er war ein ganz beliebter Schüler …
Pastor Wilm: Er hatte Freunde, die auch zur Moschee ging und die haben ihn dann irgendwann
mitgenommen …
Salafist Omar auf YouTube
Sollen Sie! Wenn aber der Prophet beleidigt wird, vallahi, tut mir Leid, dass ich sage, dann ist mir
das scheißegal! Sie brauchen nur Allahu akbar hören …
Mutter
Il a dit c’est pour aller aider les femmes, les enfants, et puis, pour aider les sœurs. Non, quelles
sœurs et frères? Nous sommes ta maman, tes frères et sœurs, quelles sœurs et frères en Syrie? Nous
les sommes, tes soeurs et tes frères, ta famille.
darauf Sprecherin
Er hat gesagt, er würde dahin reisen, um den Frauen und Kindern zu helfen, um den Schwestern zu
helfen. Welche Brüder und Schwestern, hab ich gefragt. Ich habe ihm gesagt, wir sind deine Brüder
und Schwestern, deine Familie.
MUSIK
Ansage:
Bilals Weg in den Terror
Feature von Philip Meinhold
1
ATMO Kirchenglocken, Trauerfeier
Autor
Ende Mai 2016 findet in Hamburg eine Trauerfeier für den 17-jährigen Florent statt. Es ist der
Wunsch seiner Mutter. Einen Leichnam, den sie bestatten könnte, gibt es nicht. Niemand weiß, ob
Florent in Syrien oder Irak beerdigt wurde oder irgendwo in der Wüste verscharrt. Aber wenigstens
Abschied möchte seine Mutter nehmen. Gemeinsam mit einem Imam richtet Pastor Sieghard Wilm
die Trauerfeier in der St.-Pauli-Kirche aus.
Pastor Wilm
Seit 2008 war er auf St. Pauli, ein aufgeweckter Junge, fröhlich und frech – so ein St. Pauli-Junge
eben. Immer zu einem Spaß aufgelegt.
ATMO Pressekonferenz
Pastor Wilm: Sie sind von, aus Berlin von Al-Jazeera?
Reporter: Al-Jazeera, ja. Können Sie machen in Englisch, bitte?
Pastor Wilm: In Englisch?
Reporterin: Geht das, einmal Antwort auf Englisch?
Pastor Wilm: Ja, ich versuche es, ich versuche es …
Autor
Bereits eine Stunde vor der Trauerfeier findet eine improvisierte Pressekonferenz vor der Kirche
statt. Dutzende Kamerateams und Journalisten stehen wie eine Wand vor dem Pastor.
NDR-Reporter
Herr Wilm, Sie machen ‛ne Trauerfeier für jemanden, der nach Syrien gereist ist, um Menschen zu
töten. Das ist ein Vorwurf. Warum machen Sie das?
Pastor Wilm
Das ist der bedauerliche Irrweg von Florent, der sich dann später Bilal nannte. Wir machen diese
Trauerfeier, weil wir der Familie und den Freunden helfen wollen, in ihrer Trauer weiterzukommen;
das muss bearbeitet werden. Wir machen aber auch diese Trauerfeier, weil es gerade junge Menschen warnen wird, diesen Weg nicht zu gehen. Das tun wir gemeinsam mit der MoscheeGemeinde, und das ist ein starkes Signal, und das wird Jugendliche nicht unbeeindruckt lassen.
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ATMO Kirchenglocken, Trauerfeier
Autor: Zur Trauerfeier in die Kirche dürfen die Kamerateams und Fotografen nicht.
ATMO Klaviermusik in Kirche
Autor
Vor dem Altar steht ein großes, gerahmtes Bild von Florent, links und rechts zwei Vasen mit seinen
Lieblingsblumen – orangefarbenen Gerbera. Schräg auf dem Bilderrahmen hängt ein rotes Basecap,
davor stehen seine Lieblingsschuhe: ein Paar graue, ausgetretene Adidas.
Pastor Wilm
Mit 14 sagte er zu mir: „Ich heiße jetzt Bilal.‟ Ich habe ihn dann gefragt: „Darf ich dich weiterhin
Florent nennen?‟ Und er hat gegrinst. Auf diesen Namen ist er getauft.
Autor
Pastor Wilm kennt Florent noch von früher: Er war ein Freund seines Pflegesohns. Fast täglich
kommt der damals Zehnjährige in die Jugendgemeinde der Kirche, sitzt mit am Abendbrottisch des
Pastors.
Pastor Wilm
Mit 14 wusste er alles besser; ich dachte: typisch Pubertät. Gerne hätte ich mit ihm diskutiert, aber
das war nicht mehr möglich. Er durfte schon nicht mehr in unser Jugendhaus; das hatten ihm die
Brüder, die auf ihn aufgepasst haben, verboten.
MUSIK
Autor
Florent wird 1997 in Kamerun geboren. Als er zwei ist, geht seine Mutter nach Deutschland und
beantragt Asyl. Ihre beiden Söhne bleiben in Kamerun bei der Tante. Als er vier ist, holt sie ihn und
seinen Bruder nach. Zu dritt wohnen sie in einem Asylbewerberheim in Belzig in Brandenburg.
Zum Vater in Kamerun haben sie keinen Kontakt. 2008 zieht die Familie nach Hamburg, in eine
kleine Wohnung nahe der Reeperbahn. Der 11-Jährige kommt an Sex-Shops, Spielhallen und Knei3
pen vorbei; einem Kino mit Kontaktlandschaft und Pärchenkabinen. Auf dem Gehweg dazwischen
schlafen Obdachlose. Florent geht zum Fußball und in den Jugendclub der St. Pauli Kirche. Auf der
Stadtteilschule am Hafen findet er Freunde.
Lehrer Berens
Ich hab auf dem Schulhof immer so Schulhoffreundschaften, immer wenn man Aufsicht hat, fallen
einem immer Schüler auf, und Florent hat Kontakt zu mir gesucht.
Autor: Christoph Berens, Florents Gesellschaftskundelehrer.
Lehrer Berens
Und er war ‛n ganz beliebter Schüler und hat sozusagen auch so ‛ne, find ich, ne stille Autorität als
Junge gehabt, zu dem ähm seine Freunde gekommen sind.
Autor
Florent stammt aus einer christlichen Familie. Seine Mutter ist eine gläubige Frau. Als er 14 ist,
konvertiert er – wofür im Islam keine aufwändige Zeremonie nötig ist. Es genügt, in aufrechter Absicht vor zwei Zeugen das Glaubensbekenntnis zu sprechen: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt,
außer Allah, und dass Mohammed der Gesandte Allahs ist.“
Pastor Wilm
Er hatte Freunde, die auch zur Moschee gingen, die haben ihn irgendwann mitgenommen, und was
ich mitbekommen habe, ist, dass dann eben bei der benachbarten Moschee hier ähm andere Menschen sich eingeschlichen haben mit salafistischem Hintergrund, die ganz gezielt Jugendliche angesprochen und abgeworben haben.
ATMO Moschee, Muezzin
Autor
Die Moschee ist nicht weit von Florents Schule entfernt. Es handelt sich um einen flachen, mit
Graffiti übersäten Bau – einen früheren Möbelladen. Rund 300 Menschen kommen hier zum Freitagsgebet, dem einzigen Gebet, das man im Islam gemeinsam verrichten soll. Es ist so voll, dass
etliche Männer ihre Gebetsteppiche auf dem Bürgersteig ausrollen müssen.
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Nach dem Gebet treffe ich den Imam sowie Yassin, ein Mitglied der Jugendgemeinde. Imam Namli,
ein hagerer Mann mit grauem Bart, hat sich hinter seinem Schreibtisch verschanzt und schaut mich
über seine Brille hinweg an.
Imam spricht türkisch
Übersetzer: Also, wir wissen auch gar nicht, um wen es geht. Wir kennen die Person nicht.
Autor: Ich hab ein Foto mitgebracht, kennst Du ihn?
Yassin
Nein. Ich bin vielleicht nach dem Imam schon mit am öftesten hier, und ich hab den leider noch nie
gesehen.
Autor
Was würde die Gemeinde machen, wenn sie sowas mitbekommt, dass hier andere Leute probieren,
welche abzuwerben?
Imam spricht türkisch
Autor
Der Imam wiegelt ab: Externe Personen könnten bei ihnen keine Aktivitäten durchführen – und bei
denen, die an den Gemeinde-Aktivitäten teilnehmen, sei so etwas ausgeschlossen. Ihm sei auch kein
einziger Fall bekannt, bei dem sich eines ihrer Gemeindemitglieder radikalisiert hätte.
MUSIK
Lehrer Berens
Ich glaub, das war im Frühjahr 2012, als er dann auch sagte von wegen, ich möchte nicht mehr Florent genannt werden, sondern Bilal, und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann trug er
damals auch schon ‛n langes Gewand und hat auch noch ganz offensichtlich die Diskussion mit uns
gesucht und wollte uns quasi als Sparringspartner haben.
Autor Florent ist jetzt vierzehn und in der 8. Klasse. Sein Lehrer Christoph Berens erinnert sich.
Lehrer Berens
Also, da haben wir auf dem Schulhof wirklich diskutiert, und das fand ich am Anfang sehr, auch
sehr anregende Diskussionen.
Autor Wie würden Sie die umschreiben?
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Lehrer Berens
Also, aufgefallen ist uns, dass plötzlich Verschwörungstheorien im Raum waren: Es ging um den
11. September; es ging auch um Israel. Vorher kannten wir Diskussionen mit ihm, aber wir kannten
diese politische Dimension nicht und diese Verschwörungstheorien; die waren ganz vehement. Er
hat immer probiert, Israel bzw. Menschen jüdischen Glaubens pauschal zu verurteilen: Die haben ja
alle Geld, also diese klassischen antisemitischen Äußerungen, die kamen von ihm.
MUSIK
Autor
Die Schule erkennt das Problem und reagiert darauf: Sie bildet einen runden Tisch aus Lehrern und
Sozialarbeitern. Als Ergebnis erhalten die Lehrer eine Fortbildung zum Thema „Islam, Islamismus
und Demokratie‟. Gleichzeitig gibt es in Bilals Klasse drei zweistündige Workshops mit dem Titel
„Wie wollen wir leben?‟ zu Fragen von Religion und Identität.
Workshop-Leiter Gleitsmann: Und er war dann da – aber er ist dann abgehauen.
Autor: Nadim Gleitsmann hat die Workshops damals geleitet.
Workshop-Leiter Gleitsmann
Er hat das nicht angenommen, dieses Gesprächsangebot letztendlich. Und das ist eigentlich – also
wissen wir heute – ist so was immer ein Alarmsignal eigentlich.
Autor: Haben Sie denn mitbekommen, wo und wie er sich radikalisiert hat?
Workshop-Leiter Gleitsmann
Nee, das eigentlich nicht. Ich weiß halt, dass die sich im Untergrund treffen, also sie versuchen‛s
dann erst in irgendwelchen Moscheen, das sind dann so so Moscheevereine von Gastarbeitern häufig, also hier in der Gegend auf jeden Fall. Und da hab ich dann eben auch n paar Gestalten gesehen, so Jungerwachsene, also, es war schon zu sehen, dass die dann vor der Moschee die Jugendlichen so‛n bisschen abgegriffen haben. Und dass die sich dann in irgendwelchen Privatkreisen treffen, das macht das, glaub ich, auch so spannend, weil das ist dann so konspirativ: Wir sind verboten, alle sind gegen uns. Das zeigt, dass wir auf dem rechten Weg sind – und jetzt müssen wir halt in
den Untergrund und uns da stark machen, so, ne.
MUSIK
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Autor
Seine Mutter hat Florent christlich erzogen: Wie findet sie es, dass er mit vierzehn zum Islam
konvertiert?
Mutter
Non, je n’ai pas eu de problème. Parce que tous les chemins mènent à Dieu, ce n’est que le nom qui
change dans chaque religion. Moi, en tant que croyante, je n’ai jamais dit «ta religion n’est pas
bien.» Je lui ai dit, fais ce que ton intérieur te demande, te pousse à faire.
darauf Sprecherin
Ich hatte kein Problem damit. Denn alle Wege führen zu Gott, es ist nur der Name, der sich in den
Religionen verändert. Als Gläubige habe ich nie gesagt, seine Religion sei nicht gut. Ich habe ihm
gesagt, du musst das machen, was dir dein Inneres sagt.
Autor: Was hat ihm gefallen am Islam, dass er konvertiert ist?
Mutter
Donc sur cette histoire, il y a un côté positif, qui l’a beaucoup fasciné. Cette familiarité. Et il me
disait que dans l’islam il n’y a pas de tromperie. Il n’y a pas de méchanceté, que de positifs. Je lui ai
dit que si ce n’est que ce côté -là, c’est bon.
darauf Sprecherin
In dieser Religion ist etwas Positives, das ihn sehr fasziniert hat. Eine Vertrautheit. Er hat mir
gesagt, im Islam gibt es keinen Betrug. Es gibt keine Bosheit, nur Positives. Ich habe ihm gesagt,
wenn es nur diese Seite sein soll, umso besser.
Autor
Nun ist der Islam ja nicht gleich Salafismus, und er ist offensichtlich ja in salafistische Kreise
hineingeraten. Haben Sie davon was mitbekommen?
Mutter: Je ne crois pas que lui-même savait que c’était ce milieu.
Sprecherin: Ich glaube, er wusste selbst nicht, dass es diese Kreise waren.
Autor
Zuhause hat sie von dieser religiösen Strenge nichts bemerkt, wie sie erzählt. Nur einmal verlangt
Florent von seiner Mutter, dass sie ebenfalls konvertiert. Was sie ablehnt.
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ATMO Trauerfeier
Mutter
Und ich möchte mich als Mutter, mich entschuldigen zu Florent, was ich nicht vorher gemerkt habe.
Autor
Florents Mutter spricht auch auf der Trauerfeier. In der einzigen Passage, bei der sie deutsch spricht,
entschuldigt sie sich dafür, dass sie nichts gemerkt hat.
Mutter
Und ich möchte, dass Florent mir verzeiht, Hoffentlichkeit, und ich möchte auch sein Bruder auch
mir verzeiht, auch von Gott und von allen, danke!
ATMO Gospel
Autor
Mit einem Mal wird es unruhig in der Kirche. Die schwere Eingangstür öffnet sich, die Leute drehen sich um – auch ich werfe einen Blick nach hinten: Ein halbes Dutzend junger Männer mit Anzügen und Sonnenbrillen hat die Kirche betreten. Einer von ihnen trägt einen Blumenstrauß.
Pastor Wilm
Alle, die ein bisschen später gekommen sind, herzlich Willkommen. Gut, dass ihr da seid!
Autor
Einen Augenblick stehen sie unschlüssig rum, dann setzen sie sich in eine der hinteren Bankreihen.
Rund eine Stunde dauert die Trauerfeier für Florent in der St.-Pauli-Kirche. Anschließend gehe ich
mit ins Jugendhaus der Gemeinde gleich nebenan. Dort sind ehemalige Lehrer und Mitschüler von
Florent; auch die Gruppe junger Männer, die zur Trauerfeier zu spät gekommen ist. Ich spreche einen von ihnen an.
MUSIK
Autor
Er trägt einen Vollbart, wirkt ernst und verschlossen – Bilals bester Freund, wie er sagt. Sie seien
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zusammen auf die Schule gegangen; keiner kenne ihn so gut wie er. Bilals Freund erzählt mir, wie
sie früher zusammen ins Jugendhaus gegangen sind; wie Bilal hier mit freiem Oberkörper zu Hip
Hop tanzte. Es klingt wie aus einer anderen Zeit. Er schimpft auf den IS, die keine Muslime seien.
Gleichzeitig erklärt er mir, dass man der Bibel nicht glauben könne, da sie im Unterschied zum Koran von Menschen stamme, und dass auch Christen eigentlich Muslime seien. Auf Bilals FacebookSeite entdecke ich später einen Kommentar von ihm: „Wir Muslime sind inschaallah immer die
Sieger ob im Schlachtfeld oder beim Sterben.‟ Ich frage mich, wie ernst das zu nehmen ist: Was ist
jugendliche Provokation? Was strenger Glaube? Was bereits Extremismus?
Workshop-Leiter Gleitsmann
Man kann es halt einfach nicht pauschal sagen, man muss den Jugendlichen kennenlernen. Man
muss herausfinden, was ist seine Lebenssituation, um das richtig einschätzen zu können.
Autor
Nadim Gleitsmann, der in Schulen Präventionsworkshops gibt.
Workshop-Leiter Gleitsmann
Ist das jetzt ‛ne Provokation? Oder steckt dahinter ‛ne waschechte salafistische Gesinnung?
MUSIK
Autor
Was Bilals Lehrer nicht wissen: Er beteiligt sich an den Koran-Ständen der „Lies‟-Kampagne. Diese wird im Herbst 2011 von dem Kölner Prediger Ibrahim Abou-Nagie und seiner Organisation
„Die wahre Religion‟ gegründet. Das Ziel: die Missionierung von Nicht-Muslimen. Auf den ersten
Blick kommen diese Stände harmlos daher, doch der Verfassungsschutz beobachtet sie trotzdem.
Autor: Der Sprecher des Hamburger Verfassungsschutzes Marco Haase:
Haase (Verfassungsschutz)
Das sind keine harmlosen Koran-Verteilungsstände, weil uns interessiert auch nicht, ob da Korane,
Grundgesetze oder Bibeln verteilt werden – überhaupt nicht. Uns interessieren die Leute, die dahinter stehen: Das sind politische Salafisten und insofern Verfassungsfeinde.
9
Autor
Das gezielte Missionieren, die sogenannte Dawa, ist ein wichtiger Bestandteil des Salafismus, wie
mir der ehemalige Salafist Dominic Schmitz erzählt.
Dominic
Und man hat bei der Dawa immer ‛n Hintergedanken und zwar ‛ne Art Schneeballsystem: nämlich
wenn man Leute zum Islam bringt oder zu guten Werken bringt, kriegt man dafür auch deren Belohnung, ohne dass deren Belohnung geschmälert wird. Also, wie in ‛ner Drückerkolonne: Der erste
kriegt von allen alles. Also, der Prophet Mohammed würde quasi von allen Muslimen die guten
Taten bekommen, weil er der Initiator ist.
MUSIK
Autor
Auf Bilals Facebook-Seite fällt mir auf, dass der Weg in den Dschihad im Grunde schon lange vor
seiner Ausreise ein Thema ist. Auch wenn ihm selbst das vielleicht gar nicht bewusst gewesen sein
mag. Immer wieder postet er Löwen-Bilder, einem Symbol für muslimische Kämpfer. Einmal ein
Bild mit der Aufschrift „Ich bin der edle Krieger. Ich bin das Schwert Allahs‟. Bereits mit 13 postet
er ein Lied des ehemaligen Berliner Gangster-Rappers Deso Dogg alias Denis Cuspert, der heute zu
den bekanntesten IS-Kämpfern zählt:
Naschid Deso Dogg
Wandert aus, wandert aus! Usbekistan, Afghanistan, wir kämpfen in Chorassan / Alahu akbar, Alahu
akbar.
MUSIK
Autor
Es handelt sich bei diesem Lied um einen sogenannten Naschid. Ursprünglich waren Naschids
fromme islamische Lieder; mit Extremismus hatten sie nichts zu tun hatten. Heute dienen sie Islamisten als dschihadistische Hymnen. Der IS unterlegt seine Videos damit.
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Dominic
Im Endeffekt ist das auch wieder ein Teil dieser Jugendbewegung. Es ist ein Hip-Hop-Ersatz sozusagen.
Autor
Weil viele Salafisten Musikinstrumente als verboten betrachten, hört auch Dominic während seiner
Zeit in der salafistischen Szene Naschids.
Dominic
Ja, es ist immer der Tenor natürlich: das ewige Leben im Paradies usw., ja, und oft, das ist jetzt wieder ein anderes Thema, aber oft wird dann auch die Mutter thematisiert: Oh, Mutter, weine nicht
usw., dein Sohn ist im Dschihad und so. Und es wird natürlich immer glorifiziert: sich für seine
Geschwister einzusetzen und dann im besten Falle zu sterben, auf dem Wege Gottes, um dann eben
alle Sünden vergeben zu bekommen und ja die guten alten Paradies-Frauen zu ergattern sozusagen,
die immer wieder Thema sind.
Naschid
Wir haben uns entschieden, wir haben uns schon längst entschieden, für Allah und seinen Gesandten und das Leben nach dem Tod …
darauf Autor
„Sterben, um zu Leben‟ ist der Titel eines anderen Naschids, den Bilal mit 14 postet. Darunter fällt
mir der Kommentar einer Facebook-Freundin namens Anke auf. Zitat: „Und Grüße an den Verfassungsschutz, ich hoffe, die haben ihre Augen auf und geben gut auf euch Acht.‟ Anke ist eine der
wenigen weiblichen Facebook-Freunde, die Bilal hat.
Anke
Na, ich dachte, er ist komplett aufm falschen Weg aus irgendeinem Grund Ich kenn ihn als feinfühlig. Und von daher hat mich das sehr erschrocken, solche Videos bei ihm zu sehen, unkommentiert
und weiter geteilt. Und da hab ich mir eben Sorgen gemacht und wollte gerne wissen, mit wem er
zu tun hat. Und wenn ich ihn darauf angesprochen hab, hat er die gelöscht. Die waren ein paar Tage
später einfach kommentarlos verschwunden. Was dann eben so langsam aber sicher zur Folge hatte,
dass er mir immer weniger gezeigt und erzählt hat. Und ich dadurch halt immer beunruhigter wurde.
11
MUSIK
Autor
In der 9. Klasse macht Bilal seinen Hauptschulabschluss; im Sommer 2014, nach der 10. Klasse,
geht er ab.
Lehrer Berens
Und ich glaube, dass dieser Verlust dieser Gemeinschaftsschule, die er seit acht Jahren da auf St.
Pauli kannte, dass das für ihn wirklich ‛n einschlagendes Erlebnis gewesen ist, weil der war in seiner Klasse, der war, der war da richtig zuhause.
Autor
Da er keine Lehrstelle hat, geht er auf die Gewerbeschule G7. Dort besucht er die duale Ausbildungsvorbereitung, eine Kombination aus zwei Schul- und drei Praktikumstagen pro Woche.
Lehrer Berens
Und ist dann auch häufiger nicht zur Schule gegangen, hat dann, soweit ich weiß, sogar ein Absentismus-Verfahren bekommen, also Schule hat sich gekümmert, und das ist so gerade die schwierige
Übergangszeit zwischen allgemeinbildender Schule und Übergang in den Beruf, und meine These
ist: Wäre er in Ausbildungsplatz gekommen, hätte er sozusagen was gefunden für sich, dann würden
wir jetzt mit ihm hier sitzen.
MUSIK
Autor
Bereits zur Einschulungsveranstaltung an seiner neuen Schule im August 2014 erscheint Bilal nicht.
Direktorin Kettgen
Das Problem mit den Fehlzeiten hat sich fortgesetzt, das heißt, es ist schwierig gewesen, überhaupt
zu Florent Kontakt zu haben.
Autor: Die Direktorin der Gewerbeschule, Ulrike Kettgen.
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Direktorin Kettgen
Das heißt, ständige Schreiben an die Mutter, an Florent, Anrufe, zum größten Teil haben sie ihn
nicht erreicht, unangemeldete Hausbesuche – ja. Das nächste, was ich erinnere, ist, dass er dann
einen Gerichtstermin hatte. Er war in den Weihnachtsferien in U-Haft, glaub ich, wegen welches
Deliktes, weiß ich nicht.
MUSIK
Autor
Von einem Prozess hat mir bisher noch niemand erzählt. Bereits Anfang 2014 findet die Polizei ein
gestohlenes Handy bei ihm. Da Bilal zu Gerichtsterminen im September und Dezember nicht erscheint, muss er vom 27. bis 31. Dezember 2014 in U-Haft. Im Februar 2015 wird er wegen Hehlerei zu fünf Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt.
Direktorin Kettgen
Und er ist dann danach, ab Februar 2015 nicht mehr erreichbar gewesen für uns. Also, überhaupt
nicht, auch die Mutter nicht mehr.
Mutter
Il me dit qu’il y a des gens qui veulent qu’il voyage en Syrie, je lui ai dit non, il ne faut pas aller, et
il a dit je ne pars pas. Et c’est tout.
darauf Sprecherin
Er hat mir gesagt, dass es Leute gibt, die wollen, dass er nach Syrien reist. Ich habe ihm gesagt:
Nein, er soll nicht gehen. Woraufhin er gesagt hat, er würde nicht gehen. Das ist alles.
Autor: Warum wollte er nach Syrien? Was hat er gesagt?
Mutter
Il a dit c’est pour aller aider les femmes, les enfants, et puis, pour aider les sœurs. Non, quelles
sœurs et frères? Nous sommes ta maman, tes frères et sœurs, quelles sœurs et frères en Syrie? Ça
n’a rien à voir. C’est ce que je lui ai fait comprendre, ce ne sont pas tes sœurs ou tes frères. Nous les
sommes, tes soeurs et tes frères, ta famille.
darauf Sprecherin
Er hat gesagt, er würde dahin reisen, um den Frauen und Kindern zu helfen, um den Schwestern zu
helfen. Welche Brüder und Schwestern, hab ich gefragt. Ich habe ihm gesagt, wir sind deine Brüder
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und Schwesten, deine Familie. Welche syrischen Brüder und Schwestern meinst du? Ich wollte ihm
zu verstehen geben, dass das nicht seine Familie ist.
Autor
Dieses Gespräch findet ein paar Monate vor seiner Ausreise statt. Gleichzeitig hat er neben seinen
alten Schulfreunden neue Freunde.
Mutter
Il a eu ses amis, ses grands garçons qui venaient à la maison. Ils étaient beaucoup, je ne les
remarque même pas, ils venaient aussi la nuit. Et ils mangeaient et buvaient tout ce qu’il y avait à la
maison, tout tout tout. Je n’avais même pas le droit, de faire quelque chose. Ils dormaient là-bas, ils
lavaient là-bas. Je demandais toujours, Dieu, ça me fait mal, mais c’est ta volonté donc je n’ai pas le
droit de parler.
darauf Sprecherin
Es waren große Jungs, die zu uns nach Hause gekommen sind. Und es waren viele, ich habe sie
nicht mal bemerkt, weil sie auch nachts gekommen sind. Sie haben alles gegessen und getrunken,
was es zu Hause gab. Alles. Ich konnte nichts machen.
Mutter
Ce que je veux dire par là, c’est qu’avec Bilal, pour moi j’étais maman. Mais à un niveau, je devais
seulement le laisser faire, parce que pour moi, la vie de Bilal a été une vie de missionnaire, il était
déjà devant moi comme quelqu’un qui devait faire une mission. Parce que j’avais une vision de cet
enfant en tant que missionnaire. Donc je n’avais plus certains droits sur lui, en tant que maman. Et
selon ma croyance, selon mes visions.
darauf Sprecherin
Was ich damit sagen will, ist, dass ich für Bilal zwar Mutter war. Aber ab einem bestimmten Punkt
konnte ich ihn einfach nur machen lassen. Er stand vor mir wie jemand, der eine Aufgabe zu
erfüllen hat. Ich hatte eine Vision dieses Kindes als jemand mit einer besonderen Mission. Von
daher hatte ich als Mutter nicht mehr so viel Recht auf ihn. Durch meinen Glauben und meine
Visionen.
Mutter
Mais je savais que, selon mes visions je n’avais pas le droit de chasser ces enfants. Puisque dans ma
vision on m’a demandé de ne jamais chasser un de ces enfants, de toujours les laisser venir. Et de
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laisser Bilal faire comme il veut. De sortir comme il veut, de faire ce qu’il veut, de ne même pas
l’empêcher de faire quelque chose. C’était une de mes dernières visions à propos de lui, de le laisser
faire ce qu’il veut, quand il veut, avec n’importe qui.
darauf Sprecherin
Ich wusste, auch wegen meiner Eingebung, dass ich nicht das Recht hatte, diese Freunde aus dem
Haus zu vertreiben. In meiner Vision wurde ich gebeten, die Kinder nie zu verscheuchen. Und Bilal
das tun zu lassen, was er will. Ihn ausgehen zu lassen, wie er will, ihn von nichts abzuhalten. Das
war eine der letzten Eingebungen über ihn, ihn einfach das machen zu lassen, was er will, wann er
will, wo er will und mit wem er will.
MUSIK
Autor
Anfang Mai 2015 wird es schließlich ruhig in der kleinen Wohnung nahe der Reeperbahn. Die
neuen Freunde des Sohnes bleiben aus, Bilals Matratze bleibt leer.
Mutter
Je ne savais pas où il était. Je suis allée le déclarer comme quelqu’un de disparu, parce que je ne le
joignais pas au téléphone, je n’arrivais pas à laisser de messages, donc je suis allée à la police. Il
n’avait pas encore 18 ans. J’ai dit je n’arrive pas à le joindre, c’est tout ce que j’ai fait. Que ça, pas
plus.
darauf Sprecherin
Ich wusste nicht, wo er ist. Weil ich ihn weder per SMS noch telefonisch erreichen konnte, habe ich
ihn als vermisst gemeldet. Er war damals noch minderjährig. Ich sagte der Polizei, ich könne ihn
nicht erreichen. Das war alles, was ich getan habe, sonst nichts.
MUSIK
Autor
Erst zwei Wochen später erfährt sie von einem Freund ihres Sohnes, dass er in Syrien ist. Dieser
Schulfreund wird nach Bilals Tod von der Polizei vorgeladen. Da er sich von der Situation
überfordert fühlt, bittet er seinen ehemaligen Lehrer Christoph Berens, ihn zu begleiten.
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Lehrer Berens
Was er wusste, war dass Florent mit einem falschen Pass von Hamburg ausgereist es, vom
Hamburger Flughafen, dann in die Türkei geflogen ist und dann über die grüne Grenze nach Syrien
gereist ist und dann in ein Europa-Haus, so haben sie's genannt, gegangen ist, wo dann die
Neuankömmlinge ausgebildet werden, um in den Kampf zu ziehen. Der Schüler war mit Florent
über WhatsApp in Kontakt und über Facebook, aber in der Regel haben sie das über WhatsApp
gemacht, über Sprachmemos. Und Florent war sozusagen dann auch soweit, dass er seinen Freund
gebeten hat, Kontakt mit der Mutter aufzunehmen, um sie zu informieren.
Autor: Und ist er alleine ausgereist?
Lehrer Berens
Nach Aussage ist er nicht alleine ausgereist, sondern es gab eine Kontaktperson in Hamburg, die ihn
angesprochen hat und dann mit ihm gemeinsam ausgereist ist.
MUSIK
Autor
Wie geht es für Bilal und die anderen jungen IS-Kämpfer weiter, wenn sie in Syrien angekommen
sind? Was erwartet sie dort? Um darüber Genaueres zu erfahren, treffe ich einen Kämpfer, der im
Unterschied zu Bilal nach Deutschland zurückgekehrt ist: den 27-jährigen Harry S. aus Bremen. Er
ist zur gleichen Zeit beim IS wie Bilal – von April bis Juli 2015.
MUSIK
Harry
Es sind ja mehrere Deutsche schon unten gewesen, und mit denen kannst du ja easy Kontakt
aufbauen heute; man hat ja social network, wo man die Leute anschreibt und die die gewisse
Adressen und Nummern austauschen. Der Kontakt war auf jeden Fall schon da, ja.
MUSIK
Autor
Die Route, die sie nehmen, ist die gängige: über Istanbul nach Sanliurfa im Südosten der Türkei, im
Volksmund „Urfa‟ genannt. Damals eine Durchgangsstation für Dschihadisten aus aller Welt. Hier
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betreibt der IS sogenannte „safe houses‟ als Unterkunft. Schlepper bringen die ausländischen ISAnwärter zur syrischen Grenze. Die ist etwa 50 Kilometer entfernt.
Harry
Wir waren zuerst in einem sicheren Haus außerhalb von Urfa, haben dann gewartet. Die Leute
kamen mit zwei Wagen angefahren, haben uns dann alle eingeteilt – die Frauen und Kinder und die
Männer unter sich –, sind dann mit dem Auto zur Grenze gefahren, wurden dann rausgeschmissen
aus dem Wagen und mussten dann quasi hinter den türkischen Grenzposten ein Schleichweg rüber
nach Syrien laufen.
Autor: Und auf der anderen Seite der Grenze, wie ging‛s weiter?
Harry
Auf der anderen Seite der Grenze wurden wir in Empfang genommen, in einem anderen sicheren
Haus, in der Stadt Tall Abyad, dort wurden wir dann registriert, also die Namen wurden genommen,
Fingerabdrücke wurden genommen, Blutproben wurden genommen, Herkunftsländer, Größe,
Namen der Geschwister, was man studiert hat – also, richtig wie in einem Staat, richtige
Anmeldung musste man dort durchführen, ja.
Autor: Was war‛s für ein Gefühl zuerst, dort anzukommen?
Harry
Man denkt jetzt: Ich hab‛s geschafft, ich bin im Kalifat. Auch eine Art Erleichterung nach so ‛ner
langen Reise. Ähm, man hat ja an dieses Utopia geglaubt, an diese Illusion, dass man jetzt in ein
paradiesisches Land eintretet. Und man hat sich dann als, wie soll ich sagen, größeres Teil dieser
Gemeinschaft jetzt gefühlt, dass man dort angekommen ist.
MUSIK
Autor
Nach drei Tagen kommt Harry in ein Ausbildungscamp für eine Spezialeinheit des IS. Drei Wochen
ist er in einer wüstenähnlichen Gegend nahe Rakka.
Harry
Das Training war Intensivtraining, also es ging um Kondition, Laufen, Robben auf dem Boden,
Springen, kein Schlaf, wenig Essen, wenig Trinken, Erniedrigung war allgegenwärtig. Wenn man
nicht mehr konnte, wurde man ausgepeitscht, Leute wurden an Masten gebunden, ähm Leute
wurden in Gefängnisse auf dem Trainingsgelände verweist, weil sie aufgegeben haben.
17
Autor
Zweimal kommen Mitglieder des IS-Geheimdienstes auf Harry zu. Sie fragen ihn, ob er zu
Selbstmordanschlägen in Deutschland bereit sei.
Harry
Ein Brite mit englischem Akzent hat mich dann gefragt, mich persönlich, ob ich nicht nach England
oder Deutschland gehen will, um Anschläge zu machen, da ich ja beide Länder kenne. Und dort
haben sie mir dann gesagt, dass es schwer für sie wäre, in Deutschland und in England Fuß zu
fassen, aber dass sie in Frankreich keine Probleme haben; dass sie da genügend Leute hätten. Und
sie brauchen unbedingt Deutsche, die bereit sind ihr Leben zu geben für diese Sache, ja.
Autor
Während Harry weiter im Trainingscamp ist, ist auch Bilal nach Syrien gekommen. Auch über
seinen Aufenthalt sind Informationen bekannt, denn er berichtet seinen Hamburger Mitschülern in
einer Audionachricht davon.
Bilal
Guck, Bruder, das ist so: Wo ich hier angekommen bin, ich hatt so ‛ne Last in meinem Herzen, ich
bin hier angekommen, die Last ist weggegangen. Ersten Tag, wo ich hier war, alles war baba.
Zweiten Tag auch. Dann war das erste Haus, wo wir waren, die Neuen, die neu kommen: Ich steh
da, kein Problem.
Autor
Bilal schildert seine Ankunft in der syrischen IS-Hochburg Rakka, wo ihn der IS zusammen mit
anderen Deutschen in einem Haus unterbringt. Immer wieder fragen sie, wann sie in ein
Trainingscamp kommen, werden aber jedes Mal wieder vertröstet.
Bilal
Die sagen immer, wir gehen jetzt Trainingslager, aber wir sind nie Trainingslager gegangen. Die
haben uns immer angelogen. Die haben niemals die Wahrheit gesagt, Bruder.
Autor: Dann werden sie in ein anderes Haus verlegt.
18
Bilal
In dieses Haus wir dürfen nicht rausgehen; wir dürfen nix. Die bringen uns Essen, hamdulilallah,
und Trinken. Die Brüder streiten sich, da ist zu viel Fitna. Streit, Streit. Es ist, wir dürfen nicht mal
Moschee beten; wir dürfen nirgendswo raus. Die sagen: „Ja, ihr seid neu hier, ihr dürft nicht raus
und so.‟
Autor
Es ist heiß in Bilals Unterkunft, und der Strom funktioniert nicht. Aber darum kümmert sich
niemand. Obwohl er das Haus nicht verlassen darf, geht er gemeinsam mit anderen raus.
Bilal
Ich, Erkan und noch ein anderer Bruder sind einfach rausgegangen, haben drauf geschissen, was die
Amir gesagt haben, haben in der Moschee gebetet, haben draus gegessen; da war ich schön, vallah,
mein Herz war da wieder frei. Danach ich geh wieder in dieses Haus, es war so wie ein Gefängnis.
Autor
Nach etwa zwanzig Tagen kommen sie für kurze Zeit doch noch in ein Trainingslager, anschließend
in ein Haus in Mossul im Norden Iraks. Wieder dürfen sie das Haus nicht verlassen. Bisher hat Bilal
in seiner Audiobotschaft sich vor allem über die Lebensbedingungen beschwert. Es ist klar, dass
dies dem IS nicht gefallen kann, aber im Grunde ist es nicht mehr als eine Beschwerde.
Bilal
Wir chillen da ein paar Tage, gleich passiert Schlägerei in diesem Haus, mit Brüder unter Brüder,
Schlägerei und so.
Autor
Doch mit dem, was er jetzt sagt, begeht Bilal Verrat. Er schildert die Begegnung mit arabischen
Brüdern, die ihm von der Front erzählen. Es ist eine Warnung an seine Hamburger Freunde – und
letztlich an alle, die mit dem IS sympathisieren.
Bilal
Jetzt kommt das Derbste: Bruder, der Amir, Bruder, da wo die kämpfen, sagt einfach zu denen: „Ja,
kämpft einfach! Geht einfach nach vorne, stürmt einfach nach vorne.‟ Die fragen: „Ja, haben wir
keinen Plan? Haben wir keine Taktik und so?‟ Er sagt: „Nein, kämpft einfach und so.‟ Er schickt
19
die einfach zum Tod. Das ist so: Du kannst gleich ‘ne Pistole nehmen und Dir ins Kopf schießen,
das ist genau so. Die schicken einfach die Brüder zum Tod. Wir sind hier hergekommen, um Allahs
Gesetze zu verbreiten, um die Schwester zu helfen, und nicht einfach zu sterben, verstehst Du, was
ich meine. Bruder, und dieser Amir, das ist nicht, das ist nicht, Bruder, der ist nicht auf haqq, Mann.
Der schickt die Brüder zum Tod.
Autor
Es ist völlig klar, dass wenn der IS von Bilals Audiobotschaft erfährt, dies seinen Tod bedeutet.
Bilal
Jetzt sind Brüder verschwunden; wir wissen nicht, wo die Brüder sind! Ja, nee, die sind einfach
verschwunden und so. Es gibt sogar paar Brüder da, die kämpfen ohne Amir, Bruder. Der Amir sitzt
nur, sagen: „Geht kämpfen‟, und sitzen und machen selber nichts. Verstehst Du? Das ist nicht nach
islamischer Hinsicht so richtig, Bruder.
MUSIK
ATMO Gefängnis, elektrische Tür
Autor
Im Unterschied zu Bilal gelingt es Harry zu fliehen und nach Deutschland zurückzukehren. Im Juli
2016 wird er wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland‟ zu drei Jahren
Haft verurteilt. Vor Gericht sagt er umfassend aus.
Harry
Ich hab relativ schnell gemerkt, dass es Schwachsinn ist. Ich glaube, innerhalb der ersten Woche
kamen schon die ersten Zweifel, und die Angst konnte man fühlen. Diese Angst der Menschen in
diesen Gebieten, und all diese Versprechen, die diese Leute dir vorgegaukelt hatten, dass du hier
paradiesisch lebst und wir eine Gemeinschaft wären und wir helfen den Syrern, wir unterstützen sie,
wo wir nur können; wir bauen einen Staat auf für sie – es hat mir nicht den Anschein gemacht. Man
hat gesehen, dass es nicht das ist, wonach man eigentlich getrachtet hat oder woran man eigentlich
geglaubt hat.
Autor: Ich frage ihn, ob er Bilal in Syrien begegnet ist. Schließlich waren sie gleichzeitig dort.
20
Harry: Nein. Also, ich hab ihm, bin ihm nicht begegnet.
Autor: Das heißt, es ist auch nicht so, dass sich alle Europäer dort automatisch begegnen?
Harry :
Doch, nachdem das Training beendet ist, lebst du ja in der Stadt sozusagen, und dort begegnet man
sich automatisch. Wahrscheinlich, als er im Mai gekommen ist, war er noch im Trainingscamp, und
deswegen hab ich ihn nicht gesehen.
Autor :
Harry ist nicht so, wie ich mir einen IS-Kämpfer vorgestellt habe; er wirkt weder gewalttätig noch
gefühlskalt. Stattdessen scheint er empfindsam und freundlich. Doch einige Wochen nach meinem
Gespräch mit ihm gerät dieser positive Eindruck wieder ins Wanken. In den Medien tauchen
Videoaufnahmen auf, die nahelegen, dass Harry an einer Hinrichtung beteiligt gewesen ist. Die
Aufnahmen zeigen, wie er in der syrischen Stadt Palmyra eine Pistole zieht und auf eine Person
zielt. Ob er tatsächlich schießt, ist dabei nicht zu erkennen. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe
wirft ihm deswegen vor, gemeinsam mit anderen IS-Kämpfern an der Ermordung von sechs
Gefangenen sowie Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Ich bin irritiert: Wie kann es sein,
dass jemand so einen sympathischen und aufrichtigen Eindruck macht und möglicherweise
trotzdem an Gräueltaten beteiligt war?
MUSIK
Autor
Eine andere Frage, die sich mir stellt – und die mir während meiner Recherche immer wieder
begegnet: Wieso muss jemand erst nach Syrien fahren, um herauszufinden, dass es sich beim IS um
Mörder und Verbrecher handelt? Bei all dem, was über die Terrormiliz bekannt ist? Warum ist Bilal
zum IS gegangen? Was hat ihn dazu getrieben?
Die Ausreise zum IS ist nur der letzte Schritt eines Wegs, der viel früher beginnt. Im Fall von Bilal
sind es rund drei Jahre, die er in der salafistischen Szene verbringt. Um besser zu verstehen, was das
mit ihm gemacht hat, treffe ich mich mit Dominic Schmitz. Er ist einer der wenigen ehemaligen
Salafisten, die sich öffentlich äußern. Heute ist er 28 Jahre alt, sein Einstieg bei den Salafisten liegt
zehn Jahre zurück.
21
Dominic
Also, die erste bewusste Berührung zum Islam war durch ‛n marokkanischen Bekannten, den ich
länger nicht gesehen hatte, der eigentlich vorher genauso gelebt hatte wie ich, ja: gekifft hat, getrunken hat, Partys gemacht hat, gerappt hat – und nach diesem Jahr sozusagen stand er dann irgendwann bei mir vorm Fenster mit ‛nem langen schwarzen Bart, und natürlich hab ich dann gefragt: „Was ist mit dir passiert? Warum siehst du so aus, wie du jetzt aussiehst? Warum hörst du
keine Musik mehr?‟ Warum machst du dies nicht mehr und das nicht mehr? So, und ja, in der folgenden Zeit kam er dann immer wieder, hat wahrscheinlich gespürt, dass auch ich auf der Suche
war, dass ich …
Autor: Wie schnell ging das?
Dominic
In ungefähr drei, maximal vier Monaten. Und natürlich kann man in dieser Zeit keine Religion erlernen usw. Es ging dann mehr um das Lebensgefühl, das ich in der Zeit hatte. Es war ein sehr positives Gefühl. Ein Gefühl oder eine Situation, ein Moment, der mir Kraft gegeben hat, der mir dabei
geholfen hat, aus dem Kiffen rauszukommen, der mir einen Sinn im Leben aufgezeigt hat; ja, also,
wenn ich an diese Zeit, 2005, im Sommer, zurückdenke, dann ist es eigentlich ein positives Gefühl.
Erstmal.
MUSIK
Autor
Der Islam, den Dominic kennenlernt, hat die Ausprägung des Salafismus. Eine Bezeichnung, die
aus dem Arabischen stammt: „as-Salaf as-Salih‟ – was so viel heißt wie: „die frommen Altvorderen‟.
Dominic
Es geht letzten Endes darum, wie die ersten drei Generationen nach dem Propheten Mohammed
seine Worte gelebt und ja interpretiert haben. Und jede Änderung, jede Abweichung ist abzulehnen.
Also, es geht da wirklich um den sogenannten Ur-Islam: was im Koran steht, was in der Sunna
steht, also im Leben des Propheten, und wie die drei Folge-Generationen diese Worte gelebt haben.
Es fängt dabei an, dass man Frauen nicht die Hand gibt, Frauen nicht in die Augen guckt, dass man
nicht mit Frauen spricht, dass man keine Musik hört, dass man nicht mit Ungläubigen seine Zeit
verschwendet – bis zu Dingen, wo man sagt: Okay, das ist jetzt keine Pflicht in dem Sinne, aber wir
müssen dem Propheten nacheifern; das geht dann soweit, dass man sagt: Wir müssen mit dem lin22
ken Fuß in die Toilette gehen, mit dem rechten Fuß raus; manche Salafisten geben den Kuffar, den
Ungläubigen, nur die linke Hand, die dreckige sozusagen, aber das ist dann auch schon so‛n bisschen Interpretation. Da gibt‛s auch dann unter Salafisten Meinungsverschiedenheiten, aber eigentlich im Prinzip waren all die Dinge mindestens verpönt, meistens sogar verboten, die für mich normal waren als 17-Jähriger.
Autor
Heute bezeichnet Dominic die Salafisten als Sekte – und das, was sie mit jungen Menschen machen, als Gehirnwäsche.
Dominic
Jede Entscheidung, die ich getroffen habe, hab ich selbstständig getroffen, aber jede Entscheidung
basiert auf ‛ner bestimmten Grundlage, so, und die Grundlage ist bei Salafisten, entweder Folge zu
leisten oder eben zu sündigen und in die Hölle zu kommen im schlimmsten Fall. Und genau das ist
eben eine Art Manipulation, weil eben die Ideologie die volle Palette an Entscheidungsmöglichkeiten wegnimmt und nur noch zwei übrig lässt: nämlich folgen oder eben abzudriften, auszuscheiden
oder eben zu sündigen.
Autor: Das heißt, es gibt nur Schwarz und Weiß?
Dominic
Auf jeden Fall. Also, das zeichnet den Salafismus ganz klar aus, dass es eben nur ‛ne bipolare Welt
gibt, so, die Schwarz und Weiß hat, Freund und Feind, richtig und falsch. Es gibt keine Grauzonen
dazwischen.
MUSIK
Autor
Inwieweit hat Bilal dieses Weltbild verinnerlicht? Was bedeutet es, so zu denken? Um das herauszufinden, schaue ich mir gemeinsam mit Dominic Bilals Facebook-Profil an. Es reicht zurück bis ins
Jahr 2011. Auf den ersten Blick das ganze normale Profil eines Dreizehnjährigen: Bilal gefallen
Bushido und Notorious B.I.G., die Filme Hangover, Crank und Rambo; Burger King Altona hat er
mit einer „1‟ bewertet. Er postet Quatsch wie: „Bei 30 Likes sag ich, wen ich liebe‟. Aber auch
schon ein erstes Video von Pierre Vogel: „Lerne das Gebet mit Abu Hamza.‟ Bald folgt er weiteren
Islamisten wie Bernhard Falk, Sven Lau oder Marcel Krass – dem „Who-is-Who‟ der salafistischen
Szene in Deutschland.
23
Autor
Bilal, das sieht man hier auch auf einem Bild, trägt teilweise auch die typische Kleidung der
Salafisten, also Kaftan, Käppi. Du hast das auch getan, das getragen. Warum tut man das?
Dominic
Ja, in erster Linie hab ich damit angefangen, weil man natürlich Zugehörigkeit zeigen will, und was
auch immer ‛ne große Rolle gespielt hat, waren diese Sätze von Pierre Vogel zum Beispiel: „Ihr
müsst stolz auf eure Religion sein und so, ne.‟ Und ich hab halt gedacht: Gut, mit blauen Augen
und blonden Haaren durch die Stadt, durch Mönchengladbach zu gehen, mit meinem Gewand, voller Stolz usw., keiner kann mir was, das ist auch ‘ne Art von Dawa sozusagen, und das zeigt einfach
‛ne Abgrenzung von der Gesellschaft, ‛ne Art Rebellion irgendwo, genauso wie Punks das auch tun,
es wird zu ‛ner Art Subkultur, zu ‘ner Jugendkultur
Autor
Ein großes Thema für ihn ist – schon ganz früh, mit 13, 14 – das Verhalten, das richtige Verhalten
von Frauen. Also, da kommen immer wieder Einträge; da schreibt er zum Beispiel hier: „Einem
guten Mädchen braucht man nichts verbieten, weil sie von alleine weiß, was falsch ist‟; oder:
„Wenn man euch anschaut, weil ihr enge Hosen anzieht, sagt ihr: Guck nicht! Dann bedeckt euch
mit Hijab, damit man nichts zu gucken hat.‟ Warum ist das so ein großes Thema?
Dominic
Ja, weil natürlich dieser Junge sich auch einfach nur nach ‛ner Freundin gesehnt hat, nach der ersten
Liebe usw., aber man halt direkt diese Argumentation dann adaptiert von wegen: Frauen, die kein
Kopftuch tragen, sind unrein; Frauen, die sich nicht nach den Gesetzen Allahs verhalten oder richten, die sind auf dem Weg in die Hölle. Und man hat schon Angst, ‛ner Frau in die Augen zu gucken, mit ‛ner Frau zu kommunizieren, das könnte Sünde sein, das könnte zum Sex verleiten, was
natürlich ja utopischer Schwachsinn ist. Aber wenn man sich in diese Welt rein begibt und die lebt,
dann fühlt es sich wirklich so an.
Autor
Die Angst vor der Hölle begleitet auch Bilal. Er postet ein Video des Hamburger SalafistenPredigers Abu Abdullah mit dem Titel „Die Hölle – Krasser Trailer‟.
YouTube Hölle
Diese Hölle, die heult auf, und die schreit, und die pfeift, und die atmet, und die gerät in Wallung,
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und sie will sich losreißen von den Seilen der Engel und will auf die Menschen los, damit sie die
verbrennt für ihre Sünden, damit sie sich rächt für Allah …
Autor: Bilal schreibt: „Wer nicht den Islam annimmt, wird für die Ewigkeit in der Hölle brennen.‟
Autor: Hat man da – das ist schwer vorstellbar für mich – hat man da tatsächlich Angst vor?
Dominic
Ja, auf jeden Fall. Also, für Salafisten ist die Hölle eine sehr sehr realistische Vorstellung, die auch
genauso existiert. Ja, und man stellt sich eben die Hölle wie einen Ort vor, an dem man ewig brennt,
an dem einem die Haut abgerissen wird und einem wieder neue Haut wächst, nur damit sie dann
wieder abgerissen werden kann, oder Steine auf Köpfe fliegen und dann ein neuer Kopf wächst.
Also, es klingt wirklich wie ein Science-Fiction-Film. Aber wenn man dieses Bewusstsein, dieses
Lebensgefühl hat, dann wird das wirklich so eine reelle Vorstellung und man richtet sein Leben darauf aus.
MUSIK
Vogel: Ja, hallo. Ich nehm das Gespräch auch auf, ja? Ich mach das nur zur Sicherheit, falls irgendwas entstellt werden sollte. Weil, wir haben ja schon viele negative Erfahrungen gemacht.
Autor
Pierre Vogel ist ein ehemaliger Profi-Boxer und Konvertit und der bekannteste Prediger des
Salafismus in Deutschland. Auf Facebook hat er über 200.000 Fans. Für seine Anhänger ist er nicht
nur religiöse Autorität, sondern auch eine Art großer Bruder und Kummerkasten. Sie fragen ihn
Dinge wie: „Darf ein Mädchen während der Periode fasten?‟, „Darf man im Ramadan Zahnpasta
benutzen?‟, „Ist es haram, also verboten, einen bestimmten Handy-Vertrag abzuschließen?‟. Auch
für Bilal spielt er eine wichtige Rolle. Es gibt ein YouTube-Video von Vogel, dass viel über ihn und
sein Islam-Verständnis verrät.
Vogel auf YouTube
Guck mal einer auf die Uhr, wenn er Sekundenzähler hat. Ich mach dir jetzt Islam, bring ich dir jetzt
in 30 Sekunden bei. Ganz einfach, kann jeder. Guckst du auf die Uhr? Okay! Islam ist: „Wir glauben an einen Gott. Dieser Gott ist der allmächtige Schöpfer, Lenker, Herrscher des gesamten Universums. Dieser Gott hat die Menschen erschaffen, damit sie ihm dienen. Deswegen hat er Gesand25
te geschickt, deswegen hat er Bücher geschickt. Wer an die Gesandten glaubt und den Büchern
folgt, wird ins Paradies gehen; wer das nicht macht, der wird in die Hölle gehen. Der letzte Gesandte ist der Prophet Mohammed. Er kam mit dem Buch, den Koran; an den hast du zu glauben, das ist
die letzte Botschaft des allmächtigen Gottes. So kommst du ins Paradies; wenn du dich verweigerst,
gehst du in die Hölle. Punkt. Das war Islam. Wie lang hat das gedauert?
Autor
Bilal gefallen diese Videos. Er teilt sie auf Facebook, fährt zu Vogels Kundgebungen. Ich erzähle
ihm, das Bilal ein Fan von ihm war.
Autor
Der hat auf Facebook Ihre Vorträge geteilt, der ist zu Ihren Veranstaltungen in Hamburg und Bremen gefahren, der hat mit Ihnen das Gebet gelernt. Trotzdem ist er zum IS gegangen. Haben Sie da
‛ne Erklärung für?
Vogel: Also, Sie meinen, der hat durch meine Videos das Gebet gelernt (lacht).
Autor
Nee, nee, nicht persönlich, aber der war – kann man schon so sagen: Sie waren ‛ne wichtige Person
für den.
Vogel
Mich hatte nie jemand persönlich gefragt, soll ich zum IS gehen? Oder soll ich nach Syrien gehen?
Mich hat nie jemand persönlich gesprochen. Fakt ist: Es gibt viele, die sich von – es gibt EINIGE,
die sich von uns abgewandt haben, weil halt die Dawa, der Ruf, zu diesen Gruppen auch da ist. Ich
verliere Leute. Wir können auch eine andere Gemeinsamkeit finden: Ich kann Ihnen sagen – 100
Prozent von denjenigen, die nach Syrien ausgewandert sind, haben irgendwann mal in einer Ditib
oder Milli-Görüs-Moschee gebetet. Warum? Weil es überall Ditib- und Milli-Görüs-Moscheen gibt
und die zwangsläufig mal da sind. Jeder von denen, der in Deutschland aufgewachsen ist, ist in
Deutschland zur Schule gegangen. Keiner kommt aber auf die Idee zu sagen, das war bestimmt der
Klassenlehrer an der Schule Schuld. So, jetzt könnt man sagen: Ja, das ist ja auch absurd, warum
sollen die Schuld daran sein? Ja, genau so kann ich sagen: Ja, es ist ja absurd zu sagen, ich bin
Schuld, wenn sich Leute von mir abwenden und dann auf einmal einen andern Weg einschlagen.
MUSIK
26
Autor
Das letzte Lebenszeichen, das von Bilal bekannt ist, ist die Audiobotschaft, mit der er seine Freunde
warnt. Am 7. Juli 2015 macht auf Facebook dann die Nachricht von seinem Tod die Runde: Freunde
ersetzen ihre Profilbilder durch Fotos von ihm oder schreiben Beileidsbekundungen an seine Pinnwand:
„Mein Bruder, ich weiß noch Boxen. Du hast das Herz eines Löwen.‟
„Ruhe in Frieden, mein Starker! Inshallah kommst du ins Paradies!‟
„Mein Beileid, Bruderherz. Ich weiß die Zeiten, als wir gemeinsam Quran-Schule waren. Du warst
immer motiviert, was zu lernen.‟
Autor
Als ich mir diese Beileidsbekundungen genauer ansehe, bin ich irritiert: Denn der Abschiedsgruß
„Mein Bruder, ich weiß noch Boxen. Du hast das Herz eines Löwen‟ wurde von Bilals eigenem
Account aus geliked – das heißt, nach seinem Tod. Wann und wie also ist Bilal umgekommen? Und
woher weiß man überhaupt, dass er tot ist? Der Hamburger Verfassungsschutz teilt mir mit, dass es
aus dem Dschihad-Gebiet natürlich nicht solche Belege über den Tod eines Menschen gebe, wie wir
sie aus Deutschland kennen. Dennoch sei nach den vorliegenden Erkenntnissen – Zitat – „sehr davon auszugehen‟, dass Bilal ums Leben gekommen ist. Der Sprecher des Verfassungsschutzes Marco Haase:
Haase (Verfassungsschutz)
Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute unklar. Nach unsern Erkenntnissen gibt es aber
bestimmte Thesen und Vermutungen in der salafistischen Szene, die bis heute geäußert werden. So
kann es sein, dass Bilal von IS-Angehörigen vor Ort selbst umgebracht worden sein könnte, als man
gemerkt hat: Dieser junge Mann hat uns durchschaut, kritisiert die Zustände dort und insofern könnte Bilal als Abtrünniger behandelt worden sein.
Autor: Ist bekannt, ob er an Kampfhandlungen teilgenommen hat?
Haase (Verfassungsschutz): Die genauen Umstände sind nicht bekannt, nein.
Autor
Tatsache ist: Seit Anfang Juli 2015 hat Bilal sich nicht mehr gemeldet, weder bei dem Schulfreund,
mit dem er nach seiner Ausreise in Kontakt stand, noch bei seiner Mutter, mit der er zweimal telefoniert hat.
27
Autor: Wie war das? Worüber haben Sie da gesprochen?
Mutter
Ce point je ne peux pas répondre, seulement que là-bas c’est très … c‛est pour moi très fort.
darauf Sprecherin: Diesen Punkt kann ich nicht beantworten. … Für mich ist das zu schwer.
Autor
Es tut mir Leid, dass ich so viele schmerzhafte Fragen vielleicht auch stelle. Ich möchte trotzdem
fragen, wie Sie von dem Tod Ihres Sohnes erfahren haben?
Mutter
J’ai fait un rêve. Le premier, qu’il ne vit plus, et le six les gars sont venus me dire qu’il est mort.
C’est lui qui m’a dit. Et après j’ai dit, voilà c’est depuis le premier. J’ai dit que j’ai fait un rêve,
qu’il est mort le 1er entre 2 et 4 heures. Et non le 6. J‛ai montré mon cahier, voilà c‛est écrit.
darauf Sprecherin
Ich hatte einen Traum. Am 1. Juli, dass er nicht mehr lebt, und am 6. haben seine Freunde mir gesagt, dass er tot ist. Der, der angerufen hat, hat es mir gesagt. Und ich habe dann gesagt, dass er seit
dem ersten tot ist. Ich habe gesagt, dass ich geträumt habe, dass er am ersten Juli zwischen 2 und 4
Uhr gestorben ist. Und nicht am sechsten. So steht es in meinem Notizbuch.
MUSIK
Autor: Gleichzeitig mit seiner Mutter erfährt auch Anke von seinem Tod.
Anke
Ich hab ihn angeschrieben, weil ich mir Sorgen gemacht hab, dann hat jemand geantwortet, dass er
tot ist.
Autor
Am 22. Juni schreibt sie ihm auf Facebook: „Ich wünsche dir einen schönen Ramadan.‟ Da sie keine Antwort bekommt, fragt sie am 6. Juli um 15:57 Uhr nach: „Wo bist du, Kleiner, oder Großer???? Muss ich mir etwa Sorgen machen??‟ Die Antwort von seinem Account kommt eine Minute später:
Account von Bilal: (Bling) Akhi Bilal ist shaheed ınsha allah
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Autor: Shaheed heißt Märtyrer.
Anke: Wer schreibt hier?
Antwort: Freund – Bilal
Anke: Ist alles ok? Gleich ist Fastenbrechen. Wo bist du???????
Antwort: (Bling) Akhi Bilal shaheed ınsha allah
Anke: Why? Who are you?
Antwort: (Bling) Friend Bilal
Anke: What happened to him?
Antwort: The kuffaar shoot him (die Ungläubigen). May allah accept him.
Anke: I want to see a picture!!!!!!! Before I inform his mother.
Anke
Das kann er ja nicht mehr selber gewesen sein. Ich konnte auch nicht erkennen, wo die Nachricht
geschrieben wurde. Ob das überhaupt aus dem Irak oder aus Syrien kam die Nachricht oder aus
Hamburg oder sonst woher, weiß ich nicht. Das kam auf jeden Fall von seinem Facebook-Account,
aber das kann ja überall gewesen sein.
Autor
Danach gibt es keine weitere Antwort des Fremden. Ein Blogger, der sich mit der dschihadistischen
Szene aus Deutschland beschäftigt, schreibt seine Kontakte im Kampfgebiet für mich an. Ohne Ergebnis. Doch dann komme ich über Umwege an eine weitere Sprachnachricht von Bilal. Die Nachricht ist nicht lang, etwa 30 Sekunden – und vermutlich ist es Bilals letzte.
Bilal
Assalamu ‘alaikum wa rahmatullahi wa barakatuh. Wenn ich falle, wenn ich zu Allah zurückkehre
mit Rahmah, macht Dua für mich, dass Allah mich annimmt. Wenn ich zu Allah zurückkehre, dann
wird dieser Bruder auf Französisch eine Sprachnummer senden oder ja, auf Französisch eine
Sprachnummer senden, dass ich tot bin. Dann zeigst du sie … Wenn du seine Stimme hörst, dann
weißt du, dass ich gefallen bin. Assalamu ‘alaikum wa rahmatullahi wa barak ...
29
Autor
Wenn er fällt, wird ein französischer Kampfgefährte seinen Hamburger Freund informieren. Über
den soll die Todesnachricht dann zur Mutter gelangen.
Autor: Und, was wissen Sie durch den Freund über den Tod?
Mutter
Pas plus rien. Seulement qu’ils sont allés dans une ville là, mais je … une ville pour aller pour les
armes, mais après ça je ne sais pas ce qui s’est passé.
darauf Sprecherin
Nichts mehr – nur, dass sie dort in eine Stadt gegangen sind, um zu kämpfen, aber mehr weiß ich
darüber nicht.
Autor: Und was hatte der Freund nochmal über diesen Kampfeinsatz geschildert?
Lehrer Berens
Also, er hatte geschildert, dass die in einer Formation, glaub ich, mit zehn Leuten in Kampfeinsatz
geschickt worden sind: drei vorne, vier in der Mitte und drei hinten, und Florent war anscheinend in
der ersten Reihe und ist dann wohl relativ schnell angeschossen worden. Das sind auch Aussagen,
die er getätigt hat, wo ich aber nicht weiß, woher die kommen.
MUSIK
Autor
Vielleicht war es also auch nur das, was sowieso für ihn und seine Kampfgefährten vorgesehen war.
Ein Kampfeinsatz, wie ihn Bilal in seiner ersten Audiobotschaft im Grunde vorweg genommen hat.
Bilal
„Ja, kämpft einfach! Geht einfach nach vorne, stürmt einfach nach vorne.‟ Die fragen: „Ja, haben
wir keinen Plan? Haben wir keine Taktik und so?‟ Er sagt: „Nein, kämpft einfach und so.‟ Er
schickt die einfach zum Tod. Das ist so: Du kannst gleich ne Pistole nehmen und dir ins Kopf
schießen, das ist genauso. Die schicken einfach die Brüder zum Tod.
Autor
Für Bilals Mutter ist diese Audiobotschaft der einzige Trost, den es gibt. Es ist ein bisschen so, als
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wäre ihr Sohn als Bilal zum IS gegangen, und in der Botschaft als Florent zu ihr zurückgekehrt: Am
Ende hat er andere gewarnt.
Mutter
Je peux dire, que selon les visions que j’avais sur Bilal, depuis des années, ça a été une preuve que
vraiment il était là pour une mission telle que celle-ci, pour mettre une fin, un début à une fin.
Qu’est-ce que je veux dire par là? Pour mettre une fin à une catastrophe. Une fin à quelque chose
qui l’a traumatisé, qui l’a fait verser beaucoup de larmes. Pour faire ouvrir les yeux de certaines
personnes. Et pour mettre fin à certaines choses. Parce que ces visions, à propos de Bilal, pour moi
je ne savais pas ou ça allait. Mais à partir de ce message, j’ai su que cette vision est déjà accomplie,
mais parce que j’ai perdu quelqu’un de très bien, qui a fait pour les autres.
darauf Sprecherin
Ich kann sagen, dass ich meinen Eingebungen zufolge wusste, dass Bilal für eine solche Mission
hier ist. Dass er hier ist, um dem Ende einen Anfang zu geben. Was will ich damit sagen? Um einer
Katastrophe ein Ende zu bereiten. Einem Erlebnis, das ihn traumatisiert hat, das ihn viele Tränen
hat vergießen lassen. Um hier gewissen Menschen die Augen zu öffnen. Um manche Dinge zu
beenden. Ich wusste nicht genau, wo das hinführt. Aber nach dieser Nachricht wusste ich, dass diese
Vision eingetreten ist. Ich habe jemanden verloren, der ein guter Mensch war.
MUSIK
Pastor Wilm
Was ich selber natürlich als Pastor nie mitmache, das hab ich ja auch bei anderen Trauergesprächen,
das ist ne Überhöhung der verstorbenen Person; ich sage, Florent ist etwas gelungen, ihm ist es
gelungen, seine Freunde zu warnen; damit hat er möglicherweise andere bewahrt, dem IS zu folgen,
und trotzdem ist er ein Irregeleiteter und hat schlichtweg ne Radikalisierung gewählt und Vertrauen
zu den falschen Leuten gefasst – und das ist einfach auch traurig, ne. Und es ist auch traurig, dass
wir ihm nicht haben stärker helfen können, dass wir nicht dichter an ihm dran waren.
MUSIK
„Verführt werden, fest sitzen, gebrochen sein. Nicht verstehen, nicht verzeihen“
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Absage:
Bilals Weg in den Terror
Feature von Philip Meinhold
Es sprachen:
Nina Weniger, Camill Jammal, Judith Engel und der Autor
Ton:
Martin Seelig, Bernd Bechtold, Benjamin Ihnow, Venke Decker und Katrin Witt
Assistenz:
Sarah Krüger
Musik:
Gudrun Gut
Regie:
Nikolai von Koslowski
Redaktion:
Ulrike Toma und Jens Jarisch
Eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg 2017.
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