4. Makroökonomische Probleme und Krisen

Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
März 2017
Die Logik der Marktwirtschaft
4. Makroökonomische Risiken und Krisen
4.1 Makroökonomische Ungleichgewichte
1. Große makroökonomische Krisen
01
2. Inflatorische und deflatorische Lücken
06
3. Die Höhe der Beschäftigung
10
4. Reale und monetäre Ungleichgewichte
13
4. Überbeschäftigung und Inflation
19
5. Unterbeschäftigung und Kreditkrise
26
Anhang: Das makroökonomische Modell
31
4.2 Makroökonomische Krisen und Staat
1. Expansive Fiskalpolitik
32
2. Staatsverschuldung und Kapitalmarkt
37
2. Grenzen der Staatsverschuldung
40
3.Schuldenkrisen
45
Literatur zu Kapitel 4
49
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
4. Makroökonomische Risiken und Krisen1
4.1 Makroökonomische Ungleichgewichte
1. Große makroökonomische Krisen
1. Die im vorigen Kapitel beschriebenen Risiken einer Marktwirtschaft beruhen darauf, dass
ökonomische Entscheidungen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten Verluste nach sich ziehen.
Dies ist insbesondere der Fall bei Kapitalanlagen, deren Erträge von unsicheren zukünftigen
Marktlagen abhängen, so dass es neben Gewinnern auch Verlierer gibt. Bei breiter
Risikostreuung muss dies nicht für die Gesamtwirtschaft gelten. Für diese überwiegen in der
Regel und zumindest im langfristigen Durchschnitt die Gewinne, so dass zwar
mikroökonomische, aber keine makroökonomischen Verlustrisiken vorliegen. Wie sich zeigt,
sind jedoch von Zeit zu Zeit die einzelwirtschaftlichen Gewinn- und
Verlustwahrscheinlichkeiten nicht mehr stochastisch unabhängig, so dass sich Risiken und
Verluste nicht ausgleichen. Dann kommt es zu makroökonomischen Krisen, die in extremen
Fällen als ernsthafte Bedrohung der Marktwirtschaft wahrgenommen werden. Als Beispiele
verweist Bernanke, Präsident der US-Notenbank, auf "the great depression" nach 1930, "the
great inflation" vor und nach 1970, sowie "the financial crisis and the great recession" zu
Beginn dieses Jahrhunderts (Bernanke 2013).
Der makroökonomische Charakter dieser Krisen zeigt sich darin, dass jede von ihnen die
Allgemeinheit betrifft. Bei einer Inflation steigt das allgemeine Preisniveau, weil
Preiserhöhungen bei einzelnen Gütern nicht mehr von Preissenkungen bei anderen Gütern
ausgeglichen werden. Preise von Gütern und Produktionsfaktoren steigen gleichzeitig. Geld
und Geldanlagen verlieren an Wert, es gibt keine zuverlässige Versicherung gegen drohende
Vermögensverluste, und im Extremfall gefährdet eine Inflation die Währung und damit die
Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft. Auch Rezessionen und Depressionen betreffen die
gesamte Wirtschaft. Normalerweise stehen Verlusten an Erträgen und Arbeitsplätzen bei
einzelnen Unternehmungen Gewinne und neue Beschäftigungsmöglichkeiten bei anderen
Unternehmungen gegenüber, aber bei den genannten Krisen fehlt dieser Ausgleich.
1
Dieser Abschnitt verdankt besonders viel langen Diskussionen mit Jörg Flemmig und seinen kritischen
Anmerkungen und Anregungen.
1
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Kapazitäten sind unterausgelastet, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Wahrscheinlichkeit einen
Arbeitsplatz zu finden gering. Es gibt Einkommensverluste, Überschuldung und Finanzkrisen.
Solche Krisen können durch exogene Veränderungen von Produktionsmöglichkeiten oder
Bedarfsstrukturen entstehen. So gibt es negative Produktivitätsschocks durch
Naturkatastrophen oder Kriege oder durch die Verknappung von Produktionsfaktoren, wie bei
der Ölkrise der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im günstigsten Fall schlagen sich
diese in einem neuen Gleichgewicht mit einem geringeren Sozialprodukt und einer
niedrigeren Entlohnung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nieder. Ungleichgewichte
entstehen, wenn sich die Preise dieser Faktoren nicht oder nur zögerlich anpassen, z.B. weil
schon höhere Preise vereinbart waren oder weil sich die Marktparteien gegen Preissenkungen
wehren, wie bei er Ölkrise, bei der ein Konflikt um die Verteilung der Belastungen eine
Lohnpreisspirale auslöste. Exogene Schocks kann man sich auch auf der Bedarfsseite
vorstellen, z.B. bei einer allgemeinen Nachfragesättigung oder einem veränderten
Sparverhalten. Auch hier könnten Anpassungsprobleme zu unterausgelasteten Kapazitäten
mit Arbeitslosigkeit oder zu einer inflationären Überhitzung beitragen.
Neben solch exogenen Schocks entstehen makroökonomische Risiken mit Krisenpotential
aber vor allem durch makroökonomische Ungleichgewichte. Ursächlich dafür sind
Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage, die auf unsicheren Erwartungen
beruhen, von denen vor allem die Investitionstätigkeit betroffen ist. Als wesentlicher Teil der
laufenden hängt sie gleichzeitig von Erwartungen über die zukünftige makroökonomische
Nachfrage ab, die wiederum den gleichen Gesetzen unterliegt. Auf diese Weise wird die
Güternachfrage von einer Abfolge unsicherer Erwartungen über ihre eigene Entwicklung
bestimmt. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um die Frage, ob diese Erwartungen
zutreffen oder nicht, sondern darum, dass die mit ihnen verbundene Unsicherheit
Ungleichgewichte erzeugen kann, die sich in Inflationsprozessen, Rezessionen, Depressionen
mit Arbeitslosigkeit und Finanzkrisen niederschlagen.
2. Solche Risiken und Krisen stehen im Zusammenhang mit der Bildung und Verzinsung von
Produktionskapital, weil diese Faktoren einerseits die langfristige Entwicklung des
Sozialprodukts, andererseits aber auch seine Schwankungen bis hin zu krisenhaften
Einbrüchen bestimmen. Für ihre Analyse stehen zwei makroökonomische Standardmodelle
zur Verfügung: Einerseits ein neoklassisches Wachstumsmodell, das neben einer
gleichgewichtigen Entwicklung auch krisenhafte Abweichungen aufgrund exogener Schocks
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aufzeigen kann, andererseits ein postkeynesianisches ISLM-Modell, das für Risiken und
Krisen endogene makroökonomische Ungleichgewichte verantwortlich macht. Beide
Varianten beleuchten zusammenhängende Aspekte der makroökonomischen Entwicklung.
Wie ein Blick in die Literatur, vor allem auch in gängige Lehrbücher zeigt, sind sie aber nicht
von vornherein kompatibel. Insbesondere werden Kapitalbildung und –verzinsung
unterschiedlich erklärt. In einem neoklassischen Wachstumsmodell bestimmt der Kapitalstock
das Sozialprodukt, den Kapitalzins und die Kapitalbildung. Im ISLM-Modell hängt die
Kapitalbildung von Absatzerwartungen ab. Diese bestimmen zusammen mit der
Geldversorgung der Ökonomie die Kapitalverzinsung und das Sozialprodukt. Eine
umfassende makroökonomische Analyse erfordert eine Integration der beiden Varianten, bei
der die Bildung und Verzinsung von Kapital konsistent erklärt wird. Dies ist die Absicht des
folgenden makroökonomischen Modells, das im Anhang zum Abschnitt A.1 dieses Kapitels
zusammengefasst dargestellt wird.
Im Zentrum des Wachstumsmodells steht der Unternehmungssektor, in dem beim jeweiligen
Stand der Technik durch Einsatz von Arbeit und Kapital das Sozialprodukt erstellt wird. Der
entsprechende produktionstechnische Zusammenhang wird durch die makroökonomische
Produktionsfunktion Y°=F(TN, K) beschrieben. Dabei bezeichnet Y° das Sozialprodukt,
das bei Vollbeschäftigung der vorhandenen Arbeitskräfte N mit dem vorhandenen
Kapitalstock K möglich ist 2. T beschreibt den jeweiligen Stand der Technik, der die
Effizienz des Arbeitseinsatzes bestimmt. Die Produktionsfunktion weist konstante
Skalenerträge in Arbeit und Kapital auf. Sie kann deshalb auch in der Form
Y° = F(TN,K) = f(TN/K)K
geschrieben werden, wobei die Funktion die Eigenschaften f'>0 und f''<0 besitzt.
Für den Einsatz der Produktionsfaktoren gelten folgende Voraussetzungen. Erstens, in jeder
Periode ist bei ausreichender Güternachfrage Vollbeschäftigung möglich. Dies wird erreicht
durch Lohnvereinbarungen, bei denen die Unternehmer zur Schaffung einer ausreichenden
Anzahl von Arbeitsplätzen bereit sind. Der Einfachheit halber wird diese Anzahl und damit
das Arbeitsangebot auf N=1 normiert. Zweitens, für die Entwicklung der Technik wird
unterstellt, dass der durch T gegebene Stand der Technik im Zeitablauf durch endogenen
technischen Fortschritt mit der Kapitalbildung steigt, weil diese als treibende Kraft von
Wachstum und Entwicklung die Produktionsmöglichkeiten nicht nur einzelwirtschaftlich
(über die Produktionsfunktion), sondern zusätzlich auch noch gesamtwirtschaftlich erhöht,
2
Y° steht also für das Sozialprodukt bei Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren. Mit Y wird in der
weiteren Darstellung das Sozialprodukt bei Über- oder Unterauslastung der Produktionsfaktoren bezeichnet.
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wenn sie über externe Effekte auch Arbeitsproduktivität, Ressourcenverbrauch und
Produkteigenschaften positiv beeinflusst. Auf besonders einfache Weise kann man diesen
Einfluss als Zusammenhang T=K mit einem gegebenen Proportionalitätsfaktor τ
beschreiben. Unter diesen beiden Voraussetzungen ist NT/K=τ, und die Kapitalproduktivität
Y°/K=f(NT/K)=f(τ) ist bei gegebenem τ konstant, so dass in diesem Fall auch einfach
Y°/K=f geschrieben werden kann.
Für die Produktion des Sozialprodukts bezahlen die Unternehmer beim Lohnsatz w Löhne in
Höhe von wN und beim Zinssatz r Zinsen auf Kapital3 in Höhe von rK. Der
Unternehmergewinn ist dann
Y°-wN-rK.
Für ein bestimmtes Sozialprodukt Y° werden die Unternehmer einen Einsatz von Arbeit und
Kapital planen, bei dem die Kosten der Produktion wN+rK möglichst gering sind.
Bedingung für diese Minimalkostenkombination ist, dass das Verhältnis der
Grenzproduktivität der Arbeit, ∂Y°/∂N, zur Grenzproduktivität des Kapitals, ∂Y°/∂K, dem
Verhältnis der Faktorpreise w/r entspricht. Bei der angegebenen Produktionsfunktion ist die
Grenzproduktivität der Arbeit Tf'=ηfK, die des Kapitals (1-η)f. Dabei ist η:=τf'/f die
Elastizität der Produktionsfunktion f, die bei gegebenem τ und N=1 konstant ist. Als
Bedingung für die Minimalkostenkombination ergibt sich
w = [η/(1-η)]rK/N.
Die Unternehmer planen bei einem korrekt erwarteten Lohn-Zinsverhältnis die
Kapitalintensität K/N ihrer Anlagen und damit ein festes Einsatzverhältnis von Arbeit und
Kapital, das kurzfristig nicht mehr geändert werden kann. Wenn sie ihren Kapitalstock K in
Verbindung mit der geplanten Anzahl N von Arbeitsplätzen eingerichtet haben, ergibt sich
das erwartete Lohn-Zinsverhältnis, so wie es die Gleichung der Minimalkostenkombination
ausdrückt. Diese kann bei gegebenem oder geplantem Kapitalstock als Arbeitsnachfrage auf
dem Arbeitsmarkt interpretiert werden. Ein Marktgleichgewicht liegt vor bei einem Lohnsatz,
bei dem N=1 Arbeitsplätze für alle Arbeitsanbieter geschaffen werden 4.
Bei diesem Lohnsatz und einem gegebenen Zinssatz ist der Unternehmergewinn
3
Diese enthalten auch Opportunitätskosten (entgangene Kapitalmarktzinsen) für die Anlage von Eigenkapital.
4
Der Lohnsatz entwickelt sich damit proportional zum Zinssatz. Wenn der Zinssatz auf null fällt, was bei
makroökonomischen Krisen nicht ausgeschlossen werden kann, würde das demnach auch für den Reallohn
gelten. Dieses unplausible Ergebnis lässt sich vermeiden, wenn man z.B. Abschreibungen unterstellt, etwa in
Höhe von δK. Dann ist das Faktorpreisverhältnis w/(r+δ), d.h. der Lohnsatz ist proportional zu (r+δ), bleibt
also auch bei r=0 positiv. Um die Ausführungen möglichst einfach zu halten, wird auf diese Ergänzung hier
verzichtet.
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Y°-wN-rK = (1-r/rK)fK,
mit rK=(1-η)f als Grenzproduktivität des Kapitals. Wenn diese höher ist als der Zinssatz,
also r/rK<1, bringt jede Kapitaleinheit einen Gewinn. Von daher ist es unter dem
Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung vorteilhaft, soviel Kapital wie möglich einzusetzen.
Dies setzt allerdings voraus, dass sich die damit mögliche Produktion in Höhe von Y°=fK
auch absetzen lässt, also eine entsprechend hohe Güternachfrage zu erwarten ist, was zunächst
unterstellt, aber im weiteren Verlauf in Frage gestellt wird. Durch die Konkurrenz um Kapital
wird dann der Zinssatz der Grenzproduktivität des Kapitals entsprechen, also beim Wert r=rK
liegen, bei dem keine Gewinne mehr anfallen5.
3. Der Kapitalstock steigt im Zeitablauf mit den Investitionen I, die von den
Unternehmungen auf dem Markt erworben und mit Ersparnissen der Haushalte finanziert
werden. Wenn die Investoren mit keinen Engpässen auf ihren Absatzmärkten rechnen, werden
sie bei jedem Zinssatz r≤rK das gesamte Sparangebot der Haushalte aufnehmen. Die
Investitionsnachfrage ist dann beim Zinssatz r=rK völlig elastisch. Bei jedem höheren
Zinssatz würde sie einbrechen, weil die Kapitalbildung unrentabel wäre. Dies ist zweifellos
eine sehr spezielle Investitionsfunktion, mit der aber gerade krisenhafte Entwicklungen, wie
z.B. der schlagartige Einbruch der Investitionsnachfrage bei hohen Zinssätzen, gut erfasst
werden können.
Die Ersparnisse nehmen im Allgemeinen mit steigendem Einkommen und Zinssatz zu. Man
kann diesen Zusammenhang einfach aber ausreichend mit einer Sparfunktion S(r,Y)=s(r)Y°
ausdrücken, mit s'(r)>0. Bei jedem Zinssatz r>rK ist die Investition niedriger, bei jedem
Zinssatz r<rK höher als die Ersparnis. Ein Gleichgewicht von Investition und Ersparnis liegt
vor, wenn der Zinssatz der Grenzproduktivität des Kapitals entspricht, also bei r=rK. Es kann
durch
(IS)
I = S(r,Y) = s(r)Y
beschrieben werden, mit Y=Y° und r=rK. Die Investitionen werden beim
Gleichgewichtszinssatz r=rK, bei dem weder Gewinne noch Verluste entstehen, von den
Ersparnissen bestimmt. Dabei wächst der Kapitalstock mit der Rate
g=I/K=s(rK)f.
Bei Vollbeschäftigung ist dies auch die Wachstumsrate des Sozialprodukts und des
Lohnsatzes. Sie ist konstant, solange sich der Technologieparameter τ nicht ändert, weil
5
Die Minimalkostenbedingung zeigt, dass dann der Lohnsatz der Grenzproduktivität der Arbeit entspricht.
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dann auch die durchschnittliche Produktivität f und die Grenzproduktivität rK des Kapitals
konstant bleiben.
Von einer krisenhaften Entwicklung kann man sprechen, wenn die Produktivität des Kapitals
einbricht, z.B. aufgrund einer allgemeinen Rohstoffverknappung, die sich durch
Kapitalbildung nicht neutralisieren lässt. Dann fallen Niveau und Wachstum des
Sozialprodukts. Es würde sich dabei um einen exogenen Schock handeln, den die
Makroökonomie, ohne ihn ausgelöst zu haben, im Idealfall effizient in einem neuen
Gleichgewicht verarbeitet. Ersparnisse und Investitionen stimmen auch bei den geänderten
Verhältnissen wieder überein, d.h. der Kapitalmarkt bliebe im Gleichgewicht. Damit wird
zugleich ein Gleichgewicht des makroökonomischen Gütermarktes beschrieben. Dieses liegt
vor, wenn das Güterangebot Y° bei Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren der
Konsumnachfrage C plus der Investitionsnachfrage I entspricht, also Y°=C+I ist. Bei
geplanten Ersparnissen in Höhe von S=Y°-C ist diese Bedingung äquivalent zur Bedingung
I=S, also zur Übereinstimmung von geplanten Investitionen und Ersparnissen.
Wie die Erfahrung zeigt, sind die genannten großen makroökonomischen Krisen aber in der
Regel gerade mit Ungleichgewichten auf dem Güter- und Kapitalmarkt verbunden. So
entstehen Inflationen nicht zuletzt durch eine allgemeine Übernachfrage auf dem Gütermarkt,
die man deshalb auch als inflatorische Lücke bezeichnet. Rezessionen werden durch ein
allgemeines Überangebot auf dem Gütermarkt, eine sogenannte deflatorische Lücke,
ausgelöst. Beide Ungleichgewichte spiegeln sich auf dem Kapitalmarkt, auf dem sie als
Finanzierungs- oder Kreditkrisen in Erscheinung treten. Umgekehrt können
Finanztransaktionen auf dem Kapitalmarkt über Variationen des Zinssatzes inflatorische und
deflatorische Lücken auf dem Gütermarkt erzeugen oder verstärken. Dies schließt nicht aus,
dass tatsächliche oder erwartete exogene Schocks die eigentlichen Ursachen
makroökonomischer Krisen sein können. Aber ihre Folgen zeigen sich dann normalerweise in
solchen makroökonomischen Ungleichgewichten.
2. Inflatorische und deflatorische Lücken
1. Auslöser und Verstärker makroökonomischer Ungleichgewichte ist vor allem der
Gütermarkt. Makroökonomische Risiken entstehen durch Störungen dieses Gleichgewichts,
bei inflatorischen oder deflatorischen Lücken. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die
Investitionsnachfrage, weil sie in besonderer Weise von unsicheren Erwartungen abhängt,
insbesondere im Hinblick auf die Absatzmöglichkeiten. Auch wenn der Zinssatz auf dem
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Kapitalmarkt unter der Grenzproduktivität des Kapitals liegt, also bei r<r K, ist eine
Investition nur rentabel, wenn dafür eine entsprechende zusätzliche Nachfrage erwartet
werden kann, die oft nur schwer prognostizierbar ist.
Diese Abhängigkeit kann man folgendermaßen spezifizieren. Für eine erwartete Nachfrage
YE muss der vorhandene Kapitalstock K um Investitionen in Höhe von I=(Y E/f)-K
aufgestockt werden. Bezeichnet man mit yE:=(YE-Y°)/Y° die Wachstumsrate, mit der YE
die vorliegende Produktionsmöglichkeit Y°=fK übersteigt, dann ist I=yEK, d.h. der
Kapitalstock wächst mit eben der erwarteten Wachstumsrate yE. Dies ist dann auch die
Wachstumsrate des Sozialprodukts Y°.
Auch hier bleibt die Investitionsnachfrage beschränkt durch die Bedingung, dass der Zinssatz
die Grenzproduktivität des Kapitals nicht übersteigt, also r≤rK ist. Bei einem höheren
Zinssatz wären Investitionen nicht mehr rentabel, die Investitionsnachfrage bräche zusammen.
Besonders bedeutsam ist aber, dass sie bei r≤r K unabhängig vom Zinssatz durch die
erwartete Nachfrage YE bzw. die erwartete Wachstumsrate yE bestimmt ist. Die
Investitionsfunktion weist damit auf die makroökonomische Rolle von unsicheren
"Konjunkturerwartungen" hin, also z.B. von Vorstellungen über Sättigungstendenzen oder
Aufkommen neuer Märkte, auch von politischen Entscheidungen oder natürlichen Abläufen,
die Märkte beeinflussen und für die es keine objektiven Wahrscheinlichkeiten gibt, die
vielleicht noch nicht einmal bekannt sind, und die zu Hoffnungen und Befürchtungen,
Vertrauen und Misstrauen, Optimismus oder Pessimismus Anlass geben6. Die Unsicherheit,
die mit solchen Erwartungen verbunden ist, wird schon deutlich, wenn man sich vor Augen
führt, dass die erwartete Nachfrage auch Erwartungen über die zukünftige
Investitionsnachfrage einschließt. Bei Übereinstimmung von Investitionen und Ersparnissen,
I=S, und der Sparfunktion S=sY° beträgt das Gleichgewichtseinkommen einer Periode
Y°=I/s. Wenn dies für das erwartete Einkommen angenommen wird, also Y E=IE/s, dann ist
die laufende Investitionsnachfrage I=(I E/sf)-K. Sie hängt damit von der
Investitionsnachfrage der nachfolgenden Periode ab, diese wiederum von der erwarteten
Nachfrage der übernächsten Periode usw. Jede laufende Investitionsplanung beruht somit
letztlich auf Erwartungen über alle zukünftigen Investitionsplanungen. Sie kann deshalb nicht
allein Ergebnis eines rationalen Kalküls sein, sondern ist auch abhängig von Stimmungen,
6
Auch von Vertretern einer gleichgewichtsorientierten Sichtweise wird seit einiger Zeit die Rolle von
optimistischen oder pessimistischen Erwartungen als Ursache makroökonomischer Krisen berücksichtigt, vgl.
z.B. Jaimovich und Rebelo (2009, S. 1097 und 1099), Lorenzini (209, S. 2050f.) und Milani (2011, S. 379f.,
400).
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Eindrücken, Gefühlen und Intuition, oder, wie Keynes es genannt hat, von "animal spirits",
die einen weiten Spielraum bei der Einschätzung von yE eröffnen7.
2. Mit der Investitions- und Sparfunktion kann man das makroökonomische Gleichgewicht
bzw. Ungleichgewicht auf dem Gütermarkt näher spezifizieren. Die Bedingung für ein
solches Gleichgewicht kann wieder mit der Gleichung (IS) beschrieben werden:
S(r,Y°) = I,
aber hier allgemein mit einem Zinssatz zwischen rK und 0. Mit der angegebenen
Investitions- und Sparfunktion lautet sie s(r)Y°=yEK, bzw.
s(r)f = yE.
mit der Beschränkung 0≤r≤r K. Existenz und Eigenschaften eines solchen Gleichgewichts
hängen damit entscheidend von den Erwartungen der Investoren über die zukünftige
Entwicklung der Nachfrage ab. Je nach Höhe der erwarteten Wachstumsrate ergeben sich
unterschiedliche (multiple) Gleichgewichte, oder unter Umständen auch Ungleichgewichte8.
Ein solches IS-Gleichgewicht existiert nämlich nicht bei allen Werten von yE, weil ein
Gleichgewichtszinssatz nur zwischen der Grenzproduktivität r=r K und (im Allgemeinen)
r=0 liegen kann. Würde er über der Grenzproduktivität des Kapitals liegen, so würde die
Investitionsnachfrage einbrechen. Andererseits könnte das Sparangebot nicht kleiner sein als
s(0)Y, wenn der Zinssatz nicht unter null fallen kann. Die Bedingung 0≤r≤r K wird verletzt,
wenn die erwartete Wachstumsrate höher ist als s(rK)f oder niedriger als s(0)f.
Wachstumsraten yE, bei denen ein Gleichgewicht existiert, liegen im Intervall s(0)f≤yE
≤s(rK)f. Das Problem ist, dass es viele solche Wachstumsraten gibt, die Investoren sich aber
für eine entscheiden müssen. In der oben angegebenen klassischen Variante ist das nicht der
Fall. Dort ist der Zinssatz durch den Wettbewerb bei r=r K gegeben, so dass die einzige
Wachstumsrate, die ein Gütermarktgleichgewicht garantiert, g=s(r K)f ist. Bei rationalen
Erwartungen werden Investoren diese Wachstumsrate wählen. Hier hingegen müssen sie sich
zwischen alternativen Wachstumsraten entscheiden. Sie könnten z.B. eine durchschnittliche
Wachstumsrate, also etwa den Erwartungswert wählen. Aber da die Erwartungen von vielen
7
Für eine ausführliche Darstellung von "Animal Spirits" empfiehlt sich das gleichnamige Buch von Akerlof und
Shiller (2009).
8
Entscheidend für dieses Ergebnis ist die Annahme eines endogenen technischen Fortschritts, durch den die
Kapitalproduktivität konstant bleibt. Wäre der technische Fortschritt exogen, so würde das Wachstum des
Kapitalstocks langfristig durch ihn bestimmt. In der Gleichgewichtsbedingung s(r)f=y wäre y dann exogen.
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Faktoren geprägt werden, insbesondere auch von Optimismus oder Pessimismus, können auch
Abweichungen nach oben oder unten vorteilhaft erscheinen.
Im Folgenden bezeichnet y° eine erwartete Wachstumsrate, für die s(0)f≤y°≤s(rK)f gilt.
Mit ihr existiert ein Gütermarktgleichgewicht bei einem Zinssatz r°, der (im angegebenen
Intervall) durch
s(r°)f = y°
also durch animal spirits bestimmt ist. Wenn er niedriger ist als die Grenzproduktivität des
Kapitals ist, r<rK, entstehen Unternehmergewinne (Extraprofite). Bei unbeschränkten
Absatzerwartungen würden diese wegfallen, weil jede Unternehmung einen Anreiz hätte,
wegen der Extraprofite möglichst viel Kapital nachzufragen. Dieser Anreiz würde erst in
einem Gleichgewicht bei r=rK verschwinden. Aber in dem hier betrachteten Fall wird die
Kapitalnachfrage durch die erwartete Güternachfrage Y E beschränkt. Investoren werden
diese Beschränkung berücksichtigen, weil sie sonst Gefahr liefen, Fehlinvestitionen zu
tätigen, die keinen Ertrag bringen. Wenn die Nachfrageerwartungen von allen potentiellen
Investoren geteilt werden, dann wird der erwünschte Kapitalstock dadurch beschränkt, auch
wenn dabei Extraprofite anfallen.
Diese schlagen sich im Wert der Unternehmungen und damit ihrer Beteiligungen nieder, also
z.B. im Aktienkurs. Während die Anlage einer Geldeinheit als Fremdkapital den Zinssatz r
erbringt, erwirtschaftet sie als Eigenkapital die Grenzproduktivität r K. Unterschiedliche
Erträge werden über Arbitrage durch den Aktienkurs ausgeglichen. Beim Kurs q ist der Wert
der Kapitalanlage rK/q. Im Arbitrage-Gleichgewicht 9 ist rK/q=r. Firmeneigentümer können
Extraprofite dadurch realisieren, dass sie ihre Anteile zu einem entsprechenden Kurs
verkaufen.
Wenn der Zinssatz nur durch das Kapitalangebot aus Ersparnissen und die Kapitalnachfrage
für Investitionen bestimmt wäre, dann würde er bei einer inflatorischen Lücke (I>S) steigen
und bei einer deflatorischen Lücke (S>I) fallen. Das beschriebene Gleichgewicht wäre dann
beim Zinssatz r° stabil. Tatsächlich spielen bei der Zinsbestimmung aber neben Investitionen
und Ersparnissen auch das Geldangebot und die Geldnachfrage der Ökonomie eine Rolle.
Wie später erörtert wird, kann der Gleichgewichtszins eines umfassenden Kreditmarktes von
dem Zinssatz abweichen, der den Gütermarkt ausgleichen würde, so dass über den
Finanzmarkt auf dem Gütermarkt ein Ungleichgewicht entsteht. Bei einen Zinssatz r>r° läge
z.B. bei yE=y° mit s(r)f>yE eine deflatorische Lücke (S>I) vor, bei r<r° mit s(r)f<yE
9
In der Praxis vergleicht man den Marktzins nicht mit dem Gewinn-Kursverhältnis, das empirisch bei etwa 14
liegt, aber statt dem Grenzertrag des Kapitals den Gesamtgewinn betrachtet.
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eine inflatorische Lücke (I>S). Wenn sich der Zinssatz in diesen Fällen nicht an den Wert r°
anpasst, also der geschilderte Zinsmechanismus nicht funktioniert, ist das Gleichgewicht (y°,
r°) nicht stabil.
Besonders problematisch sind die Fälle, in denen kein Gleichgewicht auf dem Gütermarkt
existiert, also von vornherein I≠S ist. Das ist der Fall, wenn yE nicht in dem angegebenen
Intervall liegt.
Ein Beispiel wäre eine sehr hohe erwartete Wachstumsrate yE=yH mit
s(rK)f < yH.
Wenn beim Zinssatz r=rK die erwartete Wachstumsrate zu hoch ist für ein Gleichgewicht,
dann wäre das auch bei niedrigeren Zinssätzen der Fall, weil dann die Sparquote niedriger
wäre. Bei yE=yH existiert also kein IS-Gleichgewicht.
Eine erwartete Wachstumsrate yE=yN mit
s(0)f > yN
wäre beim Zinssatz r=0 zu niedrig für ein Gleichgewicht, damit dann auch bei allen
positiven Zinssätzen, weil dann die Sparquote höher wäre. Auch bei yE=yN existiert also kein
IS-Gleichgewicht.
Damit sind wesentliche Ursachen makroökonomischer Risiken und Krisen benannt. Wenn ein
IS-Gleichgewicht nicht existiert oder nicht stabil ist, entstehen resistente inflatorische oder
deflatorische Lücken, mit denen sich, wie im Folgenden ausgeführt wird, Inflationen,
Rezessionen und auch Finanzkrisen erklären lassen.
3. Die Höhe der Beschäftigung
1. Auch wenn der Zinsmechanismus nicht funktioniert, schlägt sich ein Ungleichgewicht auf
dem Gütermarkt bei einem zu hohen oder zu niedrigen Zinssatz nicht unbedingt in einer
inflatorischen oder deflatorischen Lücke nieder, also in einer Differenz zwischen geplanten
Investitionen und Ersparnissen. Das liegt daran, dass die Unternehmungen ihr Angebot bis zu
einem gewissen Grad an die Nachfrage anpassen können, indem sie den Auslastungsgrad der
Produktionsanlagen ändern. Sie erhöhen ihn bei einer Übernachfrage und senken ihn bei
Nachfragemangel. Auf diese Weise gleichen sie ihr Angebot an die jeweils vorliegende
Nachfrage an. Statt in einer offenen inflatorischen oder deflatorischen Lücke schlägt sich das
Ungleichgewicht dann in einer Abweichung von einer Normal- bzw. Vollauslastung der
Produktionsanlagen nieder.
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Marktwirtschaft Kapitel 4
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Um dies genauer darzustellen, wird die nachfragestimmte Produktionshöhe, die von der
Produktion bei Vollbeschäftigung (Y°) abweichen kann, mit Y bezeichnet. Gleichgewicht
auf dem Gütermarkt bedeutet dann, dass die Unternehmer diese Nachfrage richtig erwarten
und ihr Angebot danach richten. Es ist also Y=C+I, bzw. mit der (IS)-Gleichung:
S(r,Y) = I.
In der klassischen Variante dieser Gleichung bestimmt die Investitionsnachfrage bei Y=Y°
den Gleichgewichtszins. Hier hingegen folgt bei jedem gegebenen Zinssatz, der im zulässigen
Intervall liegt, die Höhe von Y, bei der Angebot und Nachfrage auf dem Gütermarkt
übereinstimmen. Je nach Höhe von Investition und Zinssatz kann Y mehr oder weniger von
Y° abweichen. Diese Abweichung schlägt sich in einem Auslastungsgrad a der
Produktionskapazität nieder, der bei Vollauslastung den Wert Eins annimmt, bei
Unterauslastung kleiner und bei Überauslastung größer als Eins ist. Wenn die
Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, so wie das oben dargelegt wurde, in einem festen
Verhältnis zu einander stehen, werden beide von Variationen der Auslastung gleichermaßen
betroffen. Bei einem Auslastungsgrad in Höhe von a wird Kapital in Höhe von aK
eingesetzt, von N=1 vorhandenen Arbeitsplätzen werden nur aN=a beschäftigt. Dann
beträgt die Produktion, die dem Sozialprodukt bzw. Volkseinkommen entspricht,
Y=f(TaN/aK)aK=af(τ)K=aY°. Der Auslastungsgrad überbrückt damit eine Differenz Y°-Y
(ein "output gap") zwischen dem Angebot bei Vollbeschäftigung und der
gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage. Empirisch stellt man wechselnde Phasen solcher
"output gaps" mit Über- oder Unterauslastung der Kapazitäten fest.
Beim Auslastungsgrad a wird eine Produktion Y=aY° auf den Markt gebracht, die dann
dem Sozialprodukt bzw. Volkseinkommen entspricht. Wenn der Konsum mit der
Konsumquote (1-s) von diesem Einkommen abhängt10, ist die Nachfrage C+I=(1-s)aY°+I.
Gleichheit von Produktion und Nachfrage liegt vor bei einem Auslastungsgrad, der durch
saY°=I bestimmt ist. Beim Auslastungsgrad a=I/sY° stimmen die geplanten Investitionen
wieder mit den freiwilligen Ersparnissen überein. Mit yE=I/K folgt für jeden der
angegebenen Werte y°, yH oder yN,
sfa = yE.
10
Bei der Sparfunktion S=sY folgt sowohl S als auch der Konsum C=Y-S den Bewegungen des
Sozialprodukts Y. Im Einklang mit Theorien der Konsumglättung würde man stattdessen annehmen, dass sich
der Konsum am mittleren Einkommen Y° orientiert, so dass C=(1-s)Y° ist. Dann ist S=(s+a-1)Y°. Die
Gleichgewichtsbedingung I=S ergibt dann a=1+(yE-sf)/f. Die folgenden Ausführungen ändern sich dadurch
nicht.
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Vollauslastung bzw. Vollbeschäftigung liegt vor, wenn yE=sf ist, wenn also die erwartete
Wachstumsrate mit dem Wachstum des Kapitalstocks übereinstimmt, das bei a=1 mit den
vorliegenden Ersparnissen möglich ist.
2. In einem makroökonomischen Gleichgewicht sind die Produktionskapazitäten voll
ausgelastet, es ist a=1. Angebot und Nachfrage sind auf allen Makromärkten ausgeglichen.
Auf dem Gütermarkt stimmen geplante Ersparnisse und Investitionen überein. Arbeit und
Kapital sind vollbeschäftigt, die Auslastung der Anlagen ist optimal Auf dem Arbeitsmarkt
herrscht Vollbeschäftigung bei dem vereinbarten Lohnsatz. Im obigen Modellbeispiel ist das
der Fall bei der Wachstumsrate y° und dem Zinssatz r°.
Überbeschäftigung (a>1) entsteht bei yE>sf, wenn also ein Wachstum erwartet wird, das
höher ist als sf. Kapital und Arbeit sind überbeschäftigt, normale Laufzeiten der Anlagen
werden verlängert und Überstunden angesetzt. Zu Unterbeschäftigung (a<1) kommt es bei
yE<sf , wenn das mögliche Wachstum unterschätzt wird. Arbeit und Kapital sind
unterbeschäftigt, Anlagen stehen leer, Arbeitskräfte werden (betriebsbedingt) entlassen oder
bleiben von vornherein arbeitslos, ihre Arbeitsplätze bleiben frei oder es gibt Kurzarbeit.
Die Wachstumsrate beträgt in diesen Fällen y=asf. Sie liegt damit bei Überauslastung über,
bei Unterauslastung unter der gleichgewichtigen Rate sf.
Auch der Unternehmergewinn ändert sich mit dem Auslastungsgrad, weil im Unterschied zu
Umsatz und Arbeitskosten die Kapitalkosten davon unabhängig sind. Während er aus diesem
Grund bei Unterauslastung auf alle Fälle sinkt, ist eine Zunahme bei Überauslastung
ungewiss, weil Abweichungen von einer optimalen Auslastung immer auch zusätzliche
Kosten verursachen.
Um die Bedeutung der effektiven bzw. erwarteten Güternachfrage auf den Arbeitseinsatz klar
zu machen, werden im Folgenden Einflüsse von Lohnschwankungen vernachlässigt. Beim
Reallohn, bei dem die Unternehmer bereit sind, Arbeitsplätze für alle Arbeitsanbieter zu
schaffen, ist eine Überlastung oder Freisetzung von Beschäftigten ausschließlich Folge von
Ungleichgewichten auf dem Gütermarkt, die sich in Über- oder Unterbeschäftigung
niederschlagen. Wenn die Güternachfrage ausreicht, können alle Arbeitsplätze besetzt
werden, andernfalls bleibt ein Teil unterausgelastet oder unbesetzt. Im Unterschied zur
klassischen Arbeitslosigkeit, die durch einen zu hohen Reallohn verursacht wird (vgl. dazu
Kapitel 5, Abschnitt 3.2), wird Arbeitslosigkeit also im Folgenden mit fehlender
Güternachfrage erklärt.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
13
3. Eine vollständige Anpassung der Kapazitäten an die jeweilige Nachfrage ist aber nicht
immer oder zumindest nicht immer ohne zeitliche Verzögerung möglich. Häufig lässt sich
weder der Betrieb der vorhandenen Anlagen noch der Einsatz von Arbeitskräften ohne
Verzögerung an Schwankungen der Nachfrage anpassen, insbesondere wenn diese unerwartet
eintreten, und bei größeren Schwankungen stößt eine Anpassung ohnedies an Grenzen. Das
ist offensichtlich der Fall bei einer Überauslastung. Arbeits- und Maschinenlaufzeiten können
nicht beliebig erhöht werden. Aber auch eine Reduktion der Auslastung ist aus ökonomischen
und technischen Gründen nur beschränkt möglich. Beschäftigte können nicht ohne weiteres
fristlos gekündigt werden, und Stilllegungen und Wiederinbetriebnahme von Anlagen sind in
der Regel nicht kostenlos. Wegen solcher Anpassungszeiten und –grenzen kann deshalb auch
das geschilderte Verhalten der Unternehmungen nicht immer ein Gleichgewicht auf dem
Gütermarkt garantieren, so dass bei einem gegebenen Zinssatz doch eine inflatorische oder
deflatorische Lücke S(r,Y)≠I vorliegt, weil sich der Auslastungsgrades nicht ausreichend
variieren lässt.
Solche Anpassungsprobleme werden im Folgenden durch jeweils gegebene Werte amin und
amax des Auslastungsgrades beschrieben. Dabei bezeichnet amin einen Auslastungsgrad, der
kurz- oder auch längerfristig nicht unterschritten werden kann. Entsprechend steht a max für
die maximale Auslastung, die kurzfristig möglich ist, oder auch einfach für eine
Kapazitätsgrenze der Produktion.
Bei
s(r)famax < yE
übersteigen die geplanten Investitionen die freiwilligen Ersparnisse, die inflatorische Lücke
I>S wird nicht geschlossen. Diese Lücke beschreibt eine Differenz zwischen geplanten oder
ex ante Größen. Ex post stimmen die realisierten Werte von Investitionen und Ersparnissen
immer überein. So ist es vorstellbar, dass die Konsumnachfrage durch Abbau von Lagern voll
befriedigt werden kann, während nicht realisierte Investitionsnachfrage entfällt oder mit
Lieferfristen in Auftragsbeständen geparkt wird. Dann entsprich die Investition ex post der
Ersparnis und liegt damit um I-S>0 unter dem geplanten Wert. Wenn umgekehrt die
Investitionsnachfrage voll bedient werden kann, fallen bei den Haushalten ungeplante
Ersparnisse in Höhe von I-S>0 an.
Bei
s(r)famin > yE
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
14
wird das minimale Angebot unterschritten, es liegt eine deflatorische Lücke vor: Wegen S>I
reichen die geplanten Investitionen nicht aus zur Aufnahme der Ersparnisse. In diesem Fall
können sich die Investitionen ex post durch Lageraufbau an die Ersparnisse anpassen, so dass
sie ex post um S-I>0 über dem geplanten Wert liegen, oder es entfallen geplante Ersparnisse,
weil ein Teil der Produktion aus Absatzmangel nicht weiter verwendbar ist. Der folgende
Abschnitt zeigt, wie sich solche Ungleichgewichte auf der Finanzseite der Ökonomie
niederschlagen.
4. Reale und monetäre Ungleichgewichte
1. Ungleichgewichte des Gütermarktes können sich in der einen oder anderen Weise auf die
Finanzseite der Ökonomie übertragen, also vom realen auf den monetären Sektor der
Ökonomie. Bei einer Divergenz von Ersparnissen und Investitionen ist dies unmittelbar
einleuchtend. Wenn die Ersparnisse nicht ausreichen, um die geplanten Investitionen zu
finanzieren, dann müssen dafür zusätzliche Kredite aufgebracht werden, entweder aus
vorhandenem Geldvermögen oder über Geldschöpfung. Umgekehrt müssen Ersparnisse, die
nicht zur Finanzierung von Investitionen benötigt werden, in alternativen Geldanlagen
untergebracht werden. Um diese Zusammenhänge im Kreislauf der Märkte genauer zu
erfassen, wird das Makromodell auf möglichst einfache Weise durch einen
makroökonomischen Kreditmarkt ergänzt, auf dem Unternehmungen, Haushalte und der
Bankensektor tätig sind.
Unternehmungen finanzieren ihren Kapitalstock K und eine etwaige Geldhaltung M U mit
Kapital von Seiten der Haushalte in Höhe von KH und vom Bankensektor in Höhe von KB,
so dass K+MU=KH+KB ist. Das Vermögen V der Haushalte besteht aus den Kapitalanlagen
KH und einem Geldvermögen MH, beträgt also V=KH+MH. (Kredite des Bankensektors an
die Haushalte sind implizit erfasst, wenn sie in KH negativ und in KB positiv enthalten
sind). Der Bankensektor erwirbt seine Kapitalanlagen mit der Geldmenge M, d.h. es ist
KB=M. Diese geht dadurch zunächst an die Unternehmungen, bevor sie in den Geldbeständen
der Haushalte und Unternehmungen landet, so dass M=MH+MU ist. Mit diesen Beziehungen
zeigt sich, das V=K ist, d.h. das Vermögen der Haushalte besteht letztlich im Kapitalstock.
Zu Beginn jeder Periode fragen die Unternehmungen Kredite nach zur Refinanzierung des
vorhandenen Kapitalstocks K und zum Erwerb der geplanten Investitionen I, modifiziert um
eine eventuell erwünschte Änderung ΔLU ihrer Liquidität. Die gesamte Nachfrage nach
Finanzierungsmitteln ist K+I+ΔLU. Das Kreditangebot kommt von den Haushalten und vom
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
15
Bankensektor. Das Angebot der Haushalte entspricht dem Wert ihres Vermögens K
zuzüglich ihrer Ersparnisse S, evtl. vermindert um eine erwünschte Veränderung ihrer
Kassenbestände ΔLH, beträgt also K+S-ΔLH. Es wird ergänzt durch die Geldschöpfung ΔM
des Bankensystems. Gleichgewicht auf dem Kreditmarkt liegt vor bei K+I+ΔLU=K+SΔLH+ΔM. Dem Geldangebot M des Bankensystems steht die gesamte Geldnachfrage L
gegenüber. Bezeichnet man mit M0 den vorhandenen Geldbestand, dann beschreibt die
Differenz ΔM=M-M0 die Geldschöpfung des Bankensystems, und die Differenz
ΔL=ΔLU+ΔLH=L-M0 die insgesamt erwünschte Änderung der Geldmenge. Daraus folgt, dass
der Kreditmarkt im Gleichgewicht ist bei
(KM)
I-S = M-L.
Eine inflatorische oder deflatorische Lücke entspricht in diesem Gleichgewicht der Differenz
zwischen dem Geldangebot und der Geldnachfrage 11.
Das Gleichgewicht wird durch den Zinssatz des Kreditmarktes hergestellt. Dieser steigt bei
einer Übernachfrage nach Krediten, also bei I+L>M+S, und er fällt bei einem Überangebot,
also bei M+S>I+L. Gleichgewicht entsteht, wenn mit steigendem Zinssatz das Kreditangebot
zu- und die Kreditnachfrage abnimmt. Dies ist durch übliche Verhaltensweisen von Anbietern
und Nachfragern gewährleistet, weil mit steigendem Zinssatz sowohl die Ersparnis als unter
Umständen auch das Geldangebot der Geschäftsbanken zunimmt, also M+S steigt, und
gleichzeitig die Nachfrage nach Investitionsgütern und nach Geld sinkt, also I+L abnimmt.
Im Gleichgewicht des Kreditmarktes ist ein Ungleichgewicht des Gütermarktes mit einem
Ungleichgewicht von Geldangebot und Geldnachfrage verbunden. Wenn der
Gleichgewichtszins des Kreditmarktes vom Zinssatz r° abweicht, bei dem I=S ist, dann
spiegelt sich dieses Ungleichgewicht in der Differenz M-L.
Neben dem Kreditmarkt gibt es im Finanzsektor der Ökonomie auch einen Markt für
Unternehmungsbeteiligungen, einen Aktienmarkt. Wenn der Zinssatz im Gleichgewicht des
Kreditmarkts unter der Grenzproduktivität des Kapitals liegt, also r<rK ist, fallen
Unternehmergewinne an, die den Wert der Unternehmung und damit den Aktienkurs
bestimmen. Wie oben schon dargelegt wurde, kann man das Verhältnis r K/r als Indikator für
diesen Kurs betrachten.
11
Das Ergebnis bleibt erhalten, wenn man die Aufteilung des Gesamtkapitals auf Eigen- und Fremdkapital
berücksichtigt. Die Kreditnachfrage der Unternehmungen fällt dann bei einer Erhöhung des Eigenkapitals, die
von Haushalten und Banken zur Verfügung gestellt wird und dadurch auch ihr Kreditangebot entsprechend
verringert.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
16
2. Bei der Darstellung muss berücksichtigt werden, dass auf dem Kreditmarkt monetäre
Größen angeboten und nachgefragt werden. Investitionen, Ersparnisse, Sozialprodukt und
Kapitalstock stehen im Modell für reale Größen. Um ihren Geldwert auszudrücken, müssen
sie mit dem Preisniveau multipliziert werden. Dies gilt auch für die Geldnachfrage, wenn man
L als erwünschten realen Wert der Geldmenge versteht. Als monetäre Größen sind sie mit
dem nominellen Geldangebot kompatibel. Die Vergleichbarkeit bleibt erhalten, wenn man
stattdessen unter M das reale Geldangebot versteht, das man erhält, wenn man das nominelle
Geldangebot MN durch das Preisniveau P dividiert, wenn also das reale Geldangebot durch
M:=MN/P definiert ist.
In diesem Zusammenhang ist außerdem zu beachten, dass es sich beim Zinssatz des
Kreditmarktes um den Geldzinssatz handelt, der für Geldanlagen gezahlt wird. Er
unterscheidet sich vom Realzinssatz, den Investitionen erbringen, weil die Erträge von
Geldanlagen auch von Änderungen des Preisniveaus abhängen. Bezeichnet man den
Geldzinssatz mit z, das erwartete Preisniveau mit P E und seine erwartete Änderungsrate mit
pE:=(PE-P)/P, so ist z=r+pE. Der Geldzins übersteigt den Realzins um die erwartete
Inflationsrate, weil dadurch ein befürchteter Wertverlust des Geldes bei einer Inflation im
Vergleich mit Realanlagen gerade ausgeglichen wird. Während Ersparnisse und Investitionen
vom Realzins abhängen, orientieren sich Angebot und Nachfrage von Geld am Geldzins.
Im obigen Modell wird die Investitionsnachfrage bei allen Zinssätzen r≤r K nur von der
Höhe der erwarteten Nachfrage bestimmt, ist also zinsunelastisch, während sie bei r>r K
einbricht. Wie schon erwähnt, kann man mit dieser speziellen Annahme riskante
makroökonomische Entwicklungen besonders gut aufzeigen. Unterstellt wird weiterhin die
Sparfunktion S=s(r)Y mit s'(r)>0. Die Geldnachfrage, die man auch als Liquiditätspräferenz
bezeichnet, nimmt mit steigendem Einkommen zu und mit steigendem Geldzins ab. Eine
einfache Funktion, die dies zum Ausdruck bringt, ist L=(z)Y mit λ'(z)<0. Dass neben
zinstragenden Anlagen überhaupt zinslose liquide Mittel gehalten werden, liegt in erster Linie
daran, dass man sie zum Erwerb von Gütern und Diensten benötigt, für die eine
Kreditaufnahme zu aufwändig wäre. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer
Transaktionskasse, die zur Abwicklung laufender Geschäfte erforderlich ist. Eine sogenannte
Spekulationskasse erleichtert den schnellen und unkomplizierten Erwerb günstiger
Finanzanlagen. Schließlich dient Geld zumindest bei Preisstabilität auch der
Wertaufbewahrung, wenn es mögliche Verluste bei riskanten Anlagen bis zu einem gewissen
Grad ausgleicht. Diesen Vorteilen der Kassenhaltung stehen Alternativ- oder
Opportunitätskosten entgegen, wenn man Geld auch zum Geldzinssatz z anlegen könnte.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
17
Eine Abwägung solcher Nutzen und Kosten der Geldhaltung begründet die angegebene
Liquiditätspräferenz. Hinter der Funktion  stecken die skizzierten Nutzenvorteile der
Liquidität, die mit steigendem Zinssatz abnehmen, weil die Geldhaltung dann teurer wird.
Das Gleichgewicht des Kreditmarkts wird damit durch
I(r) – s(r)Y = M – λ(z)Y
beschrieben, mit M=MN/P, z=r+pE und I=yEK mit r≤rK.
3. Bei ausgeglichenem Gütermarkt, I=S, ist über den Kreditmarkt auch der "Geldmarkt"
ausgeglichen, M=L. Die Eigenschaften dieses Gleichgewichts werden vom ISLM-Modell
beschrieben, mit dem Hicks (1937) die Allgemeine Theorie der Beschäftigung von Keynes
(1936) formalisiert hat. Bei Preisstabilität (p=p E=0) bestimmen die beiden Gleichungen
(ISLM)
S(r,Y) = I
und L(r,Y) = M
bei gegebener Höhe von Investitionsnachfrage und Geldangebot simultan den Zinssatz r und
das Sozialprodukt Y. In dem hier diskutierten spezifischen Modell folgt z.B. der
Gleichgewichtszins aus der Bedingung s(r)/λ(r)=I/M. Bei diesem Zinssatz ist das
Sozialprodukt Y=I/s(r).
Im einzelnen kann man in diesem Modell das ISLM-Gleichgewicht durch die folgenden
Gleichgewichtsbedingungen für den Auslastungsgrad a und den Realzins r in Abhängigkeit
von yE und M/K darstellen, sofern a zwischen amax und amin und r zwischen rK und 0
liegt:
s(r)fa = yE
und
λ(r)fa = M/K.
Der Gleichgewichtswert des Zinssatzes ergibt sich aus
λ(r)/s(r) = (M/K)/yE.
Er nimmt mit steigendem M/K ab und mit steigendem yE zu. Bei diesem Zinssatz ist der
Gleichgewichtswert des Auslastungsgrades
a=yE/s(r)f.
Er nimmt mit steigendem Zinssatz ab.
Bei Vollauslastung, also a=1, folgt der Gleichgewichtszinssatz r=r° aus der I=S-Bedingung
S(r,Y°)=I
bzw.
s(r°)f = y°.
Zustande kommt er aber auf dem Kreditmarkt bei L=M, wenn das Geldangebot
M = M° = L(r°,Y°) = λ(r°)fK
beträgt. M ist das reale Geldangebot, das durch M=MN/P definiert ist. Das angegebene
Gleichgewicht ist stabil, wenn das Preisniveau bei gegebener Geldmenge M N den Wert
P=MN/M° annimmt.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
18
Dies kann durch einen makroökonomischen Preismechanismus bewirkt werden, der auf
übliche Weise funktioniert. Bei einer Übernachfrage steigt, bei einem Überangebot fällt das
Preisniveau. Während ein solcher Preismechanismus mikroökonomische Ungleichgewichte
direkt beseitigt, weil die betroffenen Güter im Vergleich mit anderen Gütern teurer oder
billiger werden, ist der makroökonomische Zusammenhang komplexer. Bei Änderungen des
Preisniveaus verändert sich der Wert der Güter im Verhältnis zum Geld. Dies schlägt sich
nieder in Änderungen des Zinssatzes, die das Ungleichgewicht verringern. Damit lässt sich
die Stabilität des Gleichgewichts bei Vollbeschäftigung (a=1) bei der erwarteten
Wachstumsrate y=y° und beim Zinssatz r=r° begründen. Wäre etwa r<r°, so wäre s(r)f<y°
und M>M°. Als Folge der Übernachfrage auf dem Gütermarkt ergäbe sich ein höheres
Preisniveau. Bei dem entsprechend niedrigeren realen Geldangebot M=M N/P wäre auch der
Zinssatz höher, im Gleichgewicht beim Wert r=r°. Entsprechend wäre bei r>r° das
Preisniveau niedriger, so dass sich auch hier der Gleichgewichtszins r=r° ergäbe. Wenn der
Preis-Zinsmechanismus diese Anpassung gewährleistet, dann ergibt sich eine
gleichgewichtige Entwicklung bei Vollbeschäftigung, in welcher der Kapitalstock und mit
ihm das Sozialprodukt mit der Rate y° wachsen.
Auf die Wirksamkeit dieses Preismechanismus kann man sich aber nicht unbedingt verlassen.
Zwar wird das Preisniveau bei Überbeschäftigung steigen. Aber solange die
Wachstumserwartungen hoch bleiben, kann dies zu einem Inflationsprozess führen, der das
Ungleichgewicht verstärkt, weil Inflationserwartungen den Realzins senken. Auch bei
Unterbeschäftigung ist eine Stabilisierung über Preise nicht garantiert. Erstens gibt es
Widerstände gegen Preissenkungen, die eine ausgeprägte Deflation verhindern. Zweitens
kann der Realzins nicht unbegrenzt sinken, wenn der Geldzins nicht unter null fallen kann.
Und drittens ist es fraglich, ob Zinssenkungen die Unterbeschäftigung überhaupt beheben
können, wenn die Wachstumserwartungen schwach sind.
4. Diese Skepsis ist besonders berechtigt, wenn die Produktion nicht an die Nachfrage
angepasst werden kann, weil der Auslastungsgrad kurzfristig oder auch dauerhaft nicht über
einen Maximalwert amax steigen oder unter einen Minimalwert amin fallen kann. Dies könnte
der Fall sein, wenn die Unternehmungen die Höhe der Produktion schon festgelegt haben,
bevor die Höhe der Nachfrage feststeht, oder wenn eine Erhöhung oder Senkung des
Auslastungsgrades aus technischen oder ökonomischen Gründen nicht möglich ist. Dann ist
ein Gleichgewicht auf dem Kreditmarkt mit einer inflatorischen oder deflatorischen Lücke
I≠S verbunden, die sich in Kassenüberschüssen oder einem Liquiditätsmangel M≠L
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
19
niederschlägt. Der Zinssatz des Kreditmarktes liegt dabei zwischen den Werten, die den
Gütermarkt bzw. den "Geldmarkt" ausgleichen würden. In der Form
[λ(r)-s(r)]Y = M-I
der Gleichgewichtsbedingung des Kreditmarkts erkennt man unmittelbar, dass (mit der
empirisch plausiblen Annahme M>I) der Zinssatz r mit steigender Nachfrage Y zunimmt.
Die möglichen Folgen der geschilderten makroökonomischen Ungleichgewichte lassen sich
mit dieser Annahme besonders einfach und anschaulich beschreiben.
Der kritische Fall einer inflatorischen Lücke tritt auf, wenn bei einer hohen
Investitionsnachfrage ein ISLM-Gleichgewicht bei einem Zinssatz r*≤rK einen
Auslastungsgrad a*>amax erfordern würde. Dann ist beim maximalen Auslastungsgrad
a=amax der Zinssatz, der den Kreditmarkt ausgleicht, niedriger als r*. Wegen a max<a* und
r<r* ist die Ersparnis S niedriger als bei (a*;r*). Infolgedessen ist I>S, und wegen des
Gleichgewichts auf dem Wertpapiermarkt auch M-L=I-S>0. In Höhe der positiven Differenz
M-L liegen unerwünschte Geldbestände vor, d.h. es ist mehr Geld vorhanden, als Haushalte
und Unternehmungen halten wollen. Wegen der Übernachfrage auf dem Gütermarkt kann ein
Teil der Konsum- und Investitionsnachfrage nicht befriedigt werden. Ex post erfolgt der
Ausgleich von Ersparnissen und Investitionen durch Zwangsersparnisse der Haushalte und
ungeplanten Lagerabbau bei den Unternehmungen. Zwangsersparnisse entstehen in dem Maß,
in dem der erwünschte Konsum nicht realisiert werden kann. Mit einem Lagerabbau, der die
geplanten Investitionen entsprechend reduziert, reagieren die Unternehmungen auf die
Übernachfrage. Beide Aktivitäten schlagen sich in ungeplanter und in diesem Sinne
unerwünschter Liquidität nieder.
Der kritische Fall einer deflatorischen Lücke tritt auf, wenn bei einer niedrigen
Investitionsnachfrage ein ISLM-Gleichgewicht bei einem Zinssatz r*≥0 einen
Auslastungsgrad a<amin erfordern würde. Dann liegt der Gleichgewichtszins des
Kreditmarktes bei a=amin über r*. Das bedeutet, dass die Ersparnis bei a=a min höher ist als
bei (a*,r*). Infolgedessen ist S>I, und aufgrund des Gleichgewichts auf dem
Wertpapiermarkt auch L-M=S-I>0. Die positive Differenz L-M beschreibt einen
Liquiditätsmangel, der durch das Überangebot auf dem Gütermarkt verursacht wird. Da nicht
alle produzierten Güter abgesetzt werden können, müssen überschüssige Güter auf Lager
genommen oder vielleicht sogar entsorgt werden, so dass erwartete Geldzuflüsse ausbleiben.
Dadurch können Unternehmungen in eine Liquiditätsklemme geraten, sofern sie die Ausfälle
nicht an ihre Produktionsfaktoren weitergeben und damit diese entsprechend belasten können.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
20
Die beschriebenen kritischen Fälle zeigen, dass sehr optimistische oder sehr pessimistische
Erwartungen Ungleichgewichte auf dem Gütermarkt verursachen können, die sich nicht mehr
durch Anpassungen des Beschäftigungsgrades verhindern lassen. Solche Ungleichgewichte
können makroökonomische Krisen auslösen und darüber hinaus verstärken, weil sie sich auch
in Ungleichgewichten der Geldversorgung und damit möglicherweise auch in Finanzkrisen
niederschlagen.
5. Überbeschäftigung und Inflation
1. Eine dauerhafte Übernachfrage auf dem Gütermarkt ist eine hinreichende Bedingung für
eine Inflation, weil sie direkt einen Anstieg des Preisniveaus verursacht. Es kann allerdings
auch Phasen geben, in denen das Preisniveau ohne Übernachfrage steigt, z.B. bei
Verteilungskonflikten zwischen Arbeit und Kapital, die Lohn-Preisspiralen auslösen (vgl.
dazu Abschnitt 5.3.1). Dies konnte man etwa in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
beobachten, als ein solcher Konflikt aufgrund der ersten Ölkrise mit steigenden Ölpreisen
trotz stagnierender Konjunktur eine inflationäre Entwicklung entfachte. Im Allgemeinen kann
man aber davon ausgehen, dass einer Inflation ohne eine gewisse Übernachfrage der Boden
fehlt. Anderseits führt nicht jede kurzzeitige Übernachfrage sofort zu einer Inflation. Wie
oben schon ausgeführt wurde, kann ein Anstieg des Preisniveaus in Analogie zu
Preisänderungen auf einzelnen Märkten zu einem makroökonomischen Gleichgewicht führen,
wenn dadurch über den Kreditmarkt der Zinssatz steigt und die Übernachfrage beseitigt. Von
einer Inflation kann erst die Rede sein, wenn das Preisniveau dauerhaft ansteigt. Auch dies
würde keine makroökonomische Krise bedeuten, wenn die Inflationsrate konstant bliebe, so
dass man sich relativ leicht darauf einrichten könnte. Problematisch wird die Entwicklung
erst, wenn die Inflationsrate höher ist als erwartet und zudem steigt.
Damit ist bei einer ausgeprägten Übernachfrage zu rechnen. Diese entsteht, wie ausgeführt
wurde, vor allem bei besonders optimistischen Wachstumserwartungen, die eine hohe
Investitionsnachfrage begünstigen. Optimistische Erwartungen verstärken zudem die
Konsumnachfrage, weil die Haushalte bei guten Einkommenserwartungen weniger sparen
und sich dafür stärker verschulden12, und die Gesamtnachfrage steigt außerdem, weil wegen
erwarteter Preissteigerungen geplante Käufe zeitlich vorgezogen werden. Im folgenden
Abschnitt wird schließlich dargelegt, dass auch eine defizitfinanzierte öffentliche Nachfrage
eine inflatorische Lücke begünstigt. Wenn ein Anstieg des Preisniveaus die Übernachfrage
12
Vgl. dazu z.B. Garon (2011).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
21
nicht beseitigt, ist zu befürchten, dass er sich verstärkt. Bei einer stabilen Übernachfrage hat
nämlich jeder Anbieter einen Anreiz, seinen Preis etwas mehr zu erhöhen als die Konkurrenz,
weil er wegen unbefriedigter Nachfrage nicht befürchten muss, Kunden zu verlieren. Wenn
z.B. allgemein ein Preisniveau PE erwartet wird, kann es für den einzelnen Anbieter
vorteilhaft erscheinen, einen höheren Preis zu verlangen. Wenn alle so handeln, ist auch das
tatsächliche Preisniveau höher als erwartet, P>P E. Das gilt dann auch entsprechend für das
Verhältnis von tatsächlicher und erwarteter Inflationsrate p:=P/P, bzw. pE:=(PE-P)/P, denn
dann ist auch p>pE. Die Inflationsrate ist unterschätzt worden. Als Folge davon werden die
Erwartungen nach oben korrigiert. Wegen p>pE treibt diese Erwartungskorrektur auch die
tatsächliche Inflationsrate nach oben, so dass eine akzelerierende Inflation mit stets
unterschätzten Inflationsraten entsteht 13. Die Möglichkeit, Verteilungspositionen zu
verteidigen oder zu verbessern, breitet sich dabei über den Gütermarkt auch auf die
Faktormärkte aus, weil auch diese überausgelastet sind.
Mit der Inflation entstehen wachsende einzel- und gesamtwirtschaftliche Kosten. In erster
Linie sind davon die Besitzer von Geld und Geldvermögen betroffen, wenn sie sich gegen die
inflationäre Entwertung ihrer Anlagen nicht mehr schützen können. Das ist der Fall, wenn die
Inflation auf die schon beschriebene Weise systematisch unterschätzt wird, wenn also p>pE
ist, weil jede erwartete eine noch höhere Inflationsrate nach sich zieht. Es ist dann nicht mehr
möglich, sich gegen Wertverluste durch entsprechend höhere Geldzinssätze zu schützen, denn
jeder Versuch, sich mit einem Geldzins r+pE gegen eine erwartete Inflation pE abzusichern,
bleibt hinter der tatsächlichen Entwertung zurück.
Gleichermaßen betroffen sind Arbeitnehmer, die sich vor der Inflation durch steigende
Geldlöhne schützen wollen. Bei einem angestrebten Reallohn w und einem festen
Preisniveau P ist der Geldlohn W=wP. In dem geschilderten Inflationsprozess versuchen
Arbeitnehmer ihre relative Position w zu halten, indem sie einen Geldlohn in Höhe von
W/P=wPE/P fordern und durchsetzen. Aber bei einer unerwarteten Inflation, also bei P>P E
bzw. p>pE, misslingt diese Strategie, weil der Reallohn W/P sinkt.
2. Grundlage der hier thematisierten Inflation ist eine Überbeschäftigung, ausgelöst durch
eine Übernachfrage, die sich in einem Auslastungsgrad a>1 niederschlägt. Auf dem
Gütermarkt ist (bei a≤a max)
s(r)fa = yE.
13
Eine solche adaptive Anpassung der Erwartungen an vergangene Entwicklungen ist naheliegend, wenn kein
Gleichgewicht erkennbar ist, auf das die Entwicklung zuläuft.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
22
Bei gegebenen Nachfrageerwartungen ist der Realzins bei a>1 für ein Gleichgewicht bei
Vollauslastung (a=1) zu niedrig. In Analogie zum üblichen Marktmechanismus könnte man
erwarten, dass eine Inflation die Übernachfrage und damit die Überauslastung beseitigt und
das Marktgleichgewicht wieder herstellt. Wenn das Preisniveau infolge der Überauslastung
(Übernachfrage) steigt, sinkt das reale Geldangebot M auf dem Kreditmarkt auf einen Wert
M/K = λ(r°)f,
bei dem sich ein Zinssatz r° ergibt, der den Gütermarkt beim Auslastungsgrad a=1 ins
Gleichgewicht s(r°)f=yE bringt.
Dieser Mechanismus scheitert von vornherein bei einer hohen erwarteten Wachstumsrate yH,
bei der gar kein Gleichgewicht existiert, weil beim Höchstzinssatz r K wegen s(rK)f<yH
immer noch eine Übernachfrage vorliegt. Diese könnte zwar durch die Inflation beseitigt
werden, wenn der Zinssatz über die Grenzproduktivität r K steigt, weil dann die
Investitionsnachfrage einbricht. Aber es ist a priori unklar, wohin ein solcher Einbruch führen
würde. Dies hängt davon ab, wie sich bei einer solchen Entwicklung die Erwartungen ändern.
Aber auch bei mittleren Erwartungen ist nicht gewährleistet, dass der Zinsmechanismus die
Übernachfrage beseitigt. Erstens kann eine Reduktion des realen Geldangebotes M°=MN/P
durch eine Erhöhung der nominalen Geldmenge MN konterkariert werden, und zweitens
können durch Preissteigerungen Inflationserwartungen entstehen, durch die auch die
Geldnachfrage sinkt.
So wird eine stabilisierende Reduktion der realen Geldmenge verhindert, wenn die Notenbank
den herrschenden Zinssatz verteidigt, indem sie die nominale Geldmenge mit dem
Preisniveau erhöht. Ein Beispiel, das allerdings empirisch kaum relevant ist, wäre der
Versuch, durch eine "neutrale" Geldpolitik einen realen Gleichgewichtszins zu stabilisieren.
Immer wieder bedeutsam ist hingegen die währungs- oder finanzpolitisch motivierte
Verteidigung eines festen Geldzinses zur Garantie eines bestimmten Wechselkurses oder
eines ausgeglichenen öffentlichen Budgets.
Außerdem kann der Zinsmechanismus auch durch eine expansive Geldschöpfung der
Geschäftsbanken erschwert oder behindert werden, wenn diese als Folge allgemein
optimistischer Erwartungen freizügig Kredite vergeben 14 und damit die nominelle Geldmenge
so ausweiten, dass der höhere Gleichgewichtszinssatz nicht erreicht wird.
14
Wie Schularick und Taylor (2012) für die Zeitspanne von 1870 bis 2008 zeigen, steigen Bankkredite in
solchen Phasen regelmäßig deutlich stärker an als das Geldangebot der Notenbanken. Die Autoren zitieren
Schumpeter, der in diesem Zusammenhang von "reckless lending" gesprochen hat (S.1032).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
23
Schließlich kann eine Zinsanpassung auch durch Inflationserwartungen verhindert werden.
Zunächst einmal reduzieren diese bei gegebenem Realzins die Geldnachfrage, weil sie den
Geldzins erhöhen. Im LM-Gleichgewicht entspricht das monetäre Geldangebot MN bei der
erwarteten Inflationsrare pE der Geldnachfrage λ(r+pE)PY, die wegen λ'<0 mit steigendem
pE fällt. Es ist also
MN/Y = Pλ(r+pE).
Wenn MN/Y konstant ist (z.B. durch eine entsprechende Geldpolitik), dann entwickelt sich
der Realzins bei einer Inflationsrate p und einer Änderungsrate dp E/dt der erwarteten
Inflationsrate gemäß
dr/dt = (-λ/λ')p – dpE/dt.
Durch eine positive Inflationsrate steigt der Realzins. Steigende Inflationserwartungen
reduzieren diesen Anstieg, und sie können sogar, wenn sie stark genug sind, dazu führen, dass
der Realzins sinkt.
Es gibt noch stärkere Gründe für einen Rückgang der Geldnachfrage bei anhaltender Inflation.
Wenn die Anleger die Erfahrung machen, dass der Wert ihrer Geldanlagen trotz steigendem
Geldzins ständig fällt, weil sie (bei p/pE>1) die tatsächliche Geldentwertung ständig
systematisch unterschätzen, dann werden sie ihre Anlagen reduzieren. Dies wird erst recht der
Fall sein, wenn die Inflation die Währung und damit die Geldvermögen überhaupt zu
gefährden droht. Dann wird bei jedem Geldzins immer weniger Geld nachgefragt, d.h. die
Funktion λ fällt [die Kurve λ(z) verschiebt sich bei jedem z nach unten]. Dies wird
anschaulicher, wenn man den Kehrwert dieser Funktion betrachtet, die sogenannte
Umlaufsgeschwindigkeit v:=1/λ des Geldes. Bei einer anhaltenden und vor allem bei einer
akzelerierenden Inflation steigt diese Geschwindigkeit, weil alle versuchen, Geld möglichst
schnell loszuwerden15. Durch die fallende Geldnachfrage sinkt der Geldzins und mit ihm (bei
nicht fallenden Inflationserwartungen) der Realzins. Das bedeutet, dass das Ungleichgewicht
auf dem Gütermarkt nicht verschwindet, sondern sich vergrößert. Die IS-Gleichung
s(r)fa = yE
bestätigt, dass der Auslastungsgrad mit sinkendem Realzins steigt.
3. Der für inflationäre Prozesse charakteristische Wunsch, Geldbestände möglichst schnell
loszuwerden, wird besonders ausgeprägt, wenn auch beim jeweils maximalen
15
Erfahrungsgemäß liegt die Umlaufsgeschwindigkeit in Zeiten mit keiner oder nur geringer Inflation im
einstelligen Bereich. Sie nimmt mit steigender Inflationsrate zu. In der deutschen Hyperinflation der zwanziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sie z.B. Werte um 1000 erreicht.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
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Auslastungsgrad eine inflatorische Lücke, I>S, bestehen bleibt. Dann liegt bei Gleichgewicht
auf dem Kreditmarkt als Pendant zu dieser Lücke ein Überhang des Geldangebots über die
Geldnachfrage vor, (M/P)-L>0. Es entstehen ungeplante Kassenbestände, einerseits bei den
Haushalten in Form von Zwangsersparnissen, weil sie den erwünschten Konsum nicht voll
realisieren können, andererseits bei den Unternehmungen durch Lagerverkäufe, die ihre
geplanten Investitionen reduzieren, oder schließlich auch bei Geldanbietern, wenn z.B. nicht
benötigte Investitionskredite vorzeitig zurückgezahlt werden. Geldbesitzer versuchen, die
überschüssigen Kassenbestände zu reduzieren, indem sie mehr Güter und zinsbringende
Anlagen nachfragen. Auf diese Weise steigt auch hier die Umlaufsgeschwindigkeit des
Geldes. Es sinkt der Zinssatz, und zwar jeweils so weit, dass das Gleichgewicht des
Kreditmarkts bei I-S=M-L und damit auch der Geldüberhang erhalten bleibt. Die fallende
Liquiditätspräferenz (bzw. höhere Umlaufsgeschwindigkeit) wird praktisch durch den
sinkenden Zinssatz konstant gehalten16. Im ökonomischen Kreislauf wird das
Ungleichgewicht der Geldversorgung nicht beseitigt, weil die überschüssige Liquidität nicht
verschwindet. Sie kommt zwar zunächst bei Verkäufern von Gütern und zinsbringenden
Anlagen an, die damit selbst Käufe tätigen oder Schulden zurückzahlen, aber bei den
Empfängern taucht das Problem erneut auf.
Damit wird eine krisenhafte Entwicklung verstärkt und beschleunigt, die ohnedies
charakteristisch ist für inflationäre Prozesse, nämlich die Flucht in Realwerte. Sie vergrößert
die Übernachfrage auf dem Gütermarkt durch zusätzliche Nachfrage nach langlebigen
Konsumgütern, und sie schafft Übernachfrage und Preissteigerungen auf Märkten für
wertbeständige Anlagen, wie Immobilien, Aktien und Gold. So steigt z.B. der Aktienkurs bei
sinkenden Realzinsen mit dem Verhältnis rK/r.
Ob eine Absicherung gegen Wertverluste auf diese Weise überhaupt gelingt, hängt vom
Kaufpreis und der Wertentwicklung des erworbenen Gutes ab. So erscheint es sinnvoll,
Geldvermögen, dessen Wert sich mit dem Faktor 1+p vermindert, in einer Immobilie
anzulegen, die ihren Wert behält. Aber der Anbieter einer Immobilie mit dem
augenblicklichen Wert 1 wird einen Kaufpreis von mindestens 1+p fordern, um nicht zu
verlieren. Wenn der Nachfrager diesen Preis bezahlt, kommt er nur auf den gleichen Wert 1,
den er auch mit seinem Geldvermögen haben würde, d.h. er kann sich nicht wirklich
absichern. Diese Problematik wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass die
16
In einem Diagramm des Kreditmarktes kann man sich das so verdeutlichen, dass ein Gleichgewicht im
Schnittpunkt einer fallenden Geldnachfragekurve und einer konstanten Angebotskurve (M/P)-(I-S) liegt, wobei
sich die Nachfragekure ständig nach unten verschiebt, weil in jedem Gleichgewicht (M/P)>L ist.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
25
relativen Preise der begehrten Realwerte steigen, und zwar nicht nur durch die zunächst
ausgelöste Übernachfrage, sondern in der Erwartung weiter steigender Preise durch
zusätzliche spekulative Käufe. In diesen Phasen einer allgemeinen Überhitzung der Märkte
entfernen sich die Preise immer weiter von ihren Gleichgewichtswerten 17, die allein von den
Präferenzen und nicht auch vom Wunsch nach Wertsicherung und Spekulationsgewinnen
bestimmt wären. Die Folge sind Verzerrungen und Effizienzverluste auf Güter- und
Finanzmärkten.
Das Hauptproblem der Inflation besteht darin, dass sie die Funktionsweise des Geldes
beeinträchtigt und aufs Spiel setzt. Sie verteuert die Wertaufbewahrungsfunktion, die dazu
dient, sich gegen Verluste bei risikobehafteten Anlagen abzusichern. Laufende finanzielle
Transaktionen, die in liquider Form erfolgen müssen, können nicht mehr effizient abgewickelt
werden, weil niemand die dafür benötigten Mittel halten möchte 18. Mit steigender Inflation
wird der Zahlungsverkehr zunehmend erschwert, bei einer Hyperinflation würde er
schließlich zusammenbrechen, weil Geld seine Zahlungsmittelfunktion verliert.
Die Kosten der Inflation bestehen in erster Linie, aber nicht nur, in der Entwertung des
Geldvermögens. Auch die Besitzer von Realvermögen können zu den Verlierern gehören,
wenn sich bei Rückkehr zu normalen Preisen ihre Preiserwartungen auf Aktien-, Immobilien
und anderen Märkten als überhöht erweisen. Zusätzliche Probleme treten auf, wenn reale
Vermögensanlagen mit Krediten finanziert worden sind, die aufgrund von
Vermögensverlusten nicht zurückgezahlt werden können. Über all dem schaffen solche
Umschichtungen unklare Vermögensverhältnisse, die Anlass für Vertrauenskrisen auf den
Kreditmärkten geben. Schließlich werden auch Fehlinvestitionen aufgedeckt, die durch den
Wunsch nach Wertsicherung begünstigt wurden. Ein Musterbeispiel sind Bauinvestitionen,
für die nun die Nachfrage fehlt 19.
4. Offensichtlich bietet die Beschränkung auf eine neutrale Geldpolitik, die sich nur an realen
Größen orientiert, noch keine Garantie gegen makroökonomische Krisen durch eine
17
18
In Kapitel 2, Abschnitt 3.1 sind solche Spekulationsprozesse und ihre Folgen beschrieben worden.
Man kann diese Effizienzverluste als verlorene Marktrente zeigen, so wie dies in Kapitel 2 dargestellt worden
ist, wobei die entsprechende Fläche hier unter der Kurve der Geldnachfrage liegt, die von der Inflationsrate
abhängt.
19
Ein gutes Beispiel für Gläubigergewinne, die durch Fehlinvestitionen verloren gehen, ist Hugo Stinnes, der
sich in der Hyperinflation nach dem ersten Weltkrieg durch günstige Kredite ein Industrieimperium aufbauen
konnte, dieses aber nach dem Zusammenbruch der Inflation aufgrund von Fehleinschätzungen über die Märkte
wieder verlor.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
26
akzelerierende Inflation. Erforderlich ist vielmehr eine restriktive Geldpolitik, die einen
Rückgang des realen Geldangebotes durch eine Reduktion der Geldmenge unterstützt und
verstärkt. Erfahrungsgemäß ist eine solche Stabilitätspolitik immer erfolgreich, wenn sie
entschieden genug betrieben wird, weil eine Notenbank die Geld- und Kreditversorgung und
damit auch die Geldschöpfungsmöglichkeiten der Geschäftsbanken im Ernstfall auch zum
Erliegen bringen könnte.
Eine besonders radikale Variante einer solchen Politik wäre die Festlegung einer Geldmenge
in Höhe von M=λ(rK+p)Y, die bei jeder positiven Inflationsrate entsprechend reduziert wird.
Dann würde sich im Gleichgewicht auf dem Kreditmarkt bei I-S≥0 ein Realzins in Höhe von
r ≥ rK+p-pE
ergeben20, der bei einer unerwarteten Inflation sofort über der Grenzproduktivität des Kapitals
läge. Dies würde zu einem Einbruch der Investitionsnachfrage und damit auch zur
Beseitigung der Übernachfrage als Quelle der Inflation führen, aber damit gleichzeitig auch
zur Gefahr eines jähen Absturzes in eine deflatorische Lücke mit Unterauslastung und
Arbeitslosigkeit. Anstelle einer abrupten Zinserhöhung empfiehlt sich deshalb eine
allmähliche Erhöhung des Zinsniveaus, die den Unternehmern signalisiert, dass die
Investitionstätigkeit riskanter wird, und sie deshalb veranlasst, ihre Investitionsnachfrage zu
reduzieren. Dies kann z.B. erreicht werden mit einer Geldmenge M = λ[r+p-(dr/dt)]Y, die
reduziert wird, wenn der Zinssatz sinken könnte (bei dr/dt<0). Dann ist der Kreditmarkt im
Gleichgewicht bei einer Zinsentwicklung, die bei I≥S durch die Bedingung
dr/dt ≥ p-pE
beschrieben werden kann21, die angibt, dass der Zinssatz mit der unerwarteten Inflation nur
marginal steigt. Für risikoscheue Unternehmer ist es dann sinnvoll, ihre Investitionen selbst
bei gleicher erwarteter Nachfrage aus Risikoerwägungen so zu reduzieren, dass die
inflatorische Lücke nicht abrupt in ihr Gegenteil umschlägt, sondern langsam abgebaut
wird22. Mit ihrem Rückgang werden gleichzeitig überhöhte Nachfrageerwartungen gedämpft,
so dass eine sanfte Landung in einem makroökonomischen Gleichgewicht vorstellbar ist. Die
Erfahrung zeigt allerdings die Schwierigkeit einer solchen Steuerung, weil sich Erwartungen
(über Nachfrage- und Zinsentwicklung) nicht perfekt kontrollieren lassen. So besteht immer
20
Das folgt aus der Gleichung λ(r K+p) = λ(r+pE) +(I-S)/Y.
21
Das folgt aus der Gleichung λ[r+p-(dr/dt)]= λ(r+pE) +(I-S)/Y.
22
Der erwartete Kapitalertrag (r K-r)K ist positiv für r<r K und negativ für r>r K. Bei Risikoscheu vergleicht
man den jeweiligen Nutzen, multipliziert mit den erwarteten Wahrscheinlichkeiten. Wenn die
Wahrscheinlichkeit für r>rK steigt, ist es vorteilhaft, auch bei günstigen Nachfrageerwartungen die
Investitionen zu reduzieren.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
27
das makroökonomische Risiko, dass die Überwindung einer inflatorischen nur auf Kosten
einer deflatorischen Lücke gelingt.
6. Unterbeschäftigung und Kreditkrise
1. Das Gegenstück zu einer inflationären Übernachfrage ist ein makroökonomisches
Überangebot, bei dem die Produktionsfaktoren nicht voll beschäftigt werden können. Ein
solches Ungleichgewicht kann durch exogene Faktoren ausgelöst werden, etwa durch
Naturkatastrophen oder politische Krisen. Aber es gibt auch endogene Ursachen oder
zumindest Verstärker, wie den geschilderten Zusammenbruch einer Inflation oder eines
Nachfragebooms, der auf zu optimistischen Erwartungen beruhte, oder auch eine gewisse
Nachfragesättigung, z.B. bei fehlenden Produktinnovationen. In solchen Fällen ist die von den
Investoren erwartete Wachstumsrate der Nachfrage niedriger als die geplante Zuwachsrate
des Kapitalvermögens, yE<sf, was bei Vollbeschäftigung einer deflatorischen Lücke S>I
entspräche, also einem Überschuss der freiwilligen Ersparnisse über die geplanten
Investitionen. Als Folge davon sind die Produktionskapazitäten unterausgelastet, es herrscht
Arbeitslosigkeit, verbunden mit Einbußen bei Einkommen und Wachstum. Ein solcher
Zustand kann bei längerer Dauer sogar die Produktionsmöglichkeiten beeinträchtigen. Bei
Langzeitarbeitslosigkeit sinkt die Produktivität der Betroffenen, und bei dauerhafter
Unterauslastung müssen unbenutzte Kapazitäten schließlich abgeschrieben werden. In einer
solch teilweisen De-Industrialisierung fällt der Kapitalstock zurück auf aK. Besonders
problematisch sind solche Zustände, wenn die deflatorische Lücke auch bei einer
Mindestauslastung der Kapazitäten bestehen bleibt, weil die Ersparnisse selbst bei einem
Zinssatz von Null noch höher sind als die Investitionsnachfrage. Dies ist der Fall bei der
erwarteten Wachstumsrate yN<s(0)famin.
Bei besonders pessimistischen Erwartungen ist eine makroökonomische Stabilisierung über
den Preismechanismus noch weniger gewährleistet als bei einer inflatorischen Lücke. Die
klassische Hoffnung, dass bei Arbeitslosigkeit sinkende Löhne zu einer Erhöhung der
Beschäftigung führen, wird enttäuscht, wenn die Unternehmungen gerade in einer Phase
mangelnder Nachfrage sinkende Geldlöhne in ihren Verkaufspreisen weitergeben, um im
Wettbewerb auf dem Gütermarkt Nachfrage zu gewinnen oder wenigstens keine Nachfrage an
die Konkurrenz zu verlieren. Dann bleibt der Reallohn gleich, so dass kein Anreiz für die
Schaffung neuer Arbeitsplätze entsteht. Immerhin würde dadurch das Preisniveau sinken und
so vielleicht doch den bekannten makroökonomischen Stabilitätsmechanismus in Gang
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
28
setzen. Ein Anstieg des realen Geldangebots MN/P könnte auf dem Kreditmarkt zu einem
fallenden Zinssatz führen, so dass die Güternachfrage steigt. Eben dies ist aber nicht
gewährleistet. Zusätzliche Investitionen können auch bei einem minimalen Zinssatz an eben
den pessimistischen Nachfrageerwartungen scheitern, auf denen die deflatorische Lücke
beruht. Ebenso ist es fraglich, ob bei solchen Erwartungen sinkende Zinsen den Konsum
anregen und die Ersparnisse reduzieren, weil es sich unter diesen Umständen, z.B. im
Interesser einer ausreichenden Zukunftsvorsorge, als sinnvoll erweisen kann, mehr zu sparen.
Wie noch ausgeführt werden wird, kommt dazu, dass in dem geschilderten Zustand die
Kreditmöglichkeiten beschränkt sind, so dass man auf Ersparnisse angewiesen sein kann.
In der Tat stützt sich eine klassische Begründung für eine Nachfragebelebung durch eine
Deflation auch nicht auf den Zinssatz, sondern auf einen steigenden Wert des Geldvermögens.
Dieser Realkassen- oder Pigoueffekt wäre aber selbst bei einer ausreichenden Deflation
zweifelhaft. Erstens wird in Erwartung fallender Preise Nachfrage eher auf später verschoben.
Zweitens wird bei dieser Sichtweise vernachlässigt, dass jedem Geldvermögen an irgendeiner
Stelle des wirtschaftlichen Kreislaufs eine entsprechende Verschuldung gegenüber steht,
wenn dieses Vermögen wie üblich über Kredite in den Kreislauf gekommen ist. Damit wird
jede Wertsteigerung von Geldvermögen gewissermaßen durch Verluste im Wert der
korrespondierenden Verbindlichkeiten ausgeglichen, so dass der Nettoeffekt auf die
Nachfrage zumindest unklar ist 23. Dies zeigt sich, wenn man die Verteilung der
Realvermögen in dem oben geschilderten Vermögenskreislauf betrachtet. Das Geldvermögen
der Haushalte beträgt MH. Es entspricht einer Forderung, deren Wert mit sinkenden
Güterpreisen zunimmt. Aber es taucht als Verbindlichkeit bei den Unternehmungen auf.
Diese finanzieren sich auch mit Krediten des Bankensystems in Höhe von M. Wenn sie
davon MU als Kasse halten, dann sind die entsprechenden Verbindlichkeiten gerade MMU=MH, also ebenso hoch wie die Geldforderungen der Haushalte. Wenn eine Deflation die
Vermögenswerte verändert, dann erleiden die Unternehmungen Verluste, weil der Realwert
ihrer Verbindlichkeiten steigt.
2. In eben diesem Umstand zeigt sich als Hauptproblem einer anhaltenden Unterauslastung
eine mögliche Überschuldung von Unternehmungen. Diese entsteht nicht nur durch fallende
Vermögenswerte, sondern vor allem auch durch Ertragseinbußen und mögliche Verluste bei
einem Einbruch der Nachfrage und damit des Umsatzes, die sich nicht durch entsprechende
Kostensenkungen auffangen lassen, weil es festgelegte Zinsverpflichtungen gibt und auch
23
Dieses Argument findet sich schon bei Fisher (1933).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
29
Arbeitsverträge nicht ohne weiteres kurzfristig gekündigt werden können. Der Gewinn pro
Kapitaleinheit, der bei a=1, also bei Vollauslastung, π=(1-r/rK)f beträgt, fällt bei a<1 auf
aπ-(1-a)r. Er nimmt mit dem Auslastungsgrad ab und kann dabei auch negativ werden, so dass
den Unternehmungen bei Unterauslastung ein Rentabilitätsproblem droht.
Um dieses zu beseitigen, müsste der Zinssatz fallen. Stattdessen ist die gegenteilige
Entwicklung zu erwarten. Wenn die Unternehmungen bei Verlusten ihre Zinsverpflichtungen
nicht mehr aus laufenden Erträgen finanzieren können, müssen sie dazu zusätzliche Kredite
nachfragen. Dem steht entgegen, dass potentielle Kreditanbieter bei Verlustrisiken eher auf
Geldhaltung umsteigen. Ihre Liquiditätspräferenz nimmt zu (die Umlaufsgeschwindigkeit des
Geldes sinkt), d.h. die λ(r)-Kurve der Geldnachfrage verschiebt sich bei jedem Zinssatz nach
oben. Aus gestiegener Nachfrage und verringertem Angebot ergibt sich ein höherer Zinssatz,
so dass sich das Rentabilitätsproblem verschärft. Bei anhaltenden Verlusten und hohen
Zinssätzen droht die Gefahr einer Überschuldung und einer Kreditkrise.
Eine solche Fehlentwicklung des Marktes zu verhindern, gehört zu den Aufgaben der
Notenbank. Diese ist im Prinzip lösbar, wenn ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung
existiert, wenn es also einen Zinssatz r° mit s(r°)f=yE gibt, bei dem der Gütermarkt
ausgeglichen ist. Die Notenbank kann diesen Zinssatz mit einer Geldmenge M° durchsetzen,
die den Kreditmarkt in ein Gleichgewicht bei M°=λ(r°)fK bringt.
Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Politik ist, dass die erwartete Wachstumsrate yE
in einem mittleren Bereich liegt, in dem ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht existiert. Das
ist nicht der Fall, wenn die Nachfrage so gering ist, dass sie auch bei einem minimalen
Auslastungsgrad noch unter der Produktion liegt. In diesem Fall entstehen zusätzliche
Verluste, weil ein Teil der Produktion nicht abgesetzt werden kann. Bei der Produktion
Y=aminY° und der Konsumnachfrage C=Y-S fällt der Gewinn auf
C+I-(wN+rK) = Y-(wN+rK)-(S-I).
Er vermindert sich also bei gegebenen Kosten noch um den Betrag der deflatorischen Lücke,
was z.B. bei einem völligen Einbruch der Investitionen und einer Sparquote von 10%
immerhin auch 10% des Sozialprodukts ausmachen könnte.
Ein Teil des Rückgangs wird durch eine Senkung der Lohnkosten aufgefangen, wenn die Zahl
der Beschäftigten auf aN fällt. Ob darüber hinaus auch fallende Geldlöhne dazu beitragen
können, ist fraglich, wenn diese aus den schon genannten Wettbewerbsgründen in den Preisen
weitergegeben werden, so dass der Reallohn nicht betroffen ist. Ohne einen Rückgang des
Reallohns entstehen immer noch Gewinneinbußen, und zwar, wie sich zeigt, nicht nur
indirekt durch den niedrigeren Auslastungsgrad, sondern auch direkt durch die deflatorische
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
30
Lücke. Das Rentabilitätsproblem ist also noch bedrohlicher als im oben geschilderten Fall.
Zugleich vergrößert sich auch die Gefahr einer krisenhaften Entwicklung durch steigende
Zinsen. Bei Fortbestand der deflatorischen Lücke, S>I, wird das Überangebot auf dem
Gütermarkt bei Gleichgewicht auf dem Kreditmarkt durch eine Übernachfrage auf dem
"Geldmarkt" kompensiert, d.h. es ist I-S=M-L<0. Wie im Abschnitt über den Kreditmarkt
schon ausgeführt wurde, liegt dies daran, dass die Unternehmungen die von ihnen erwünschte
Liquidität nicht realisieren können, weil ein Teil ihrer Produktion nicht absetzbar ist.
Während sich das Ungleichgewicht auf der Güterseite in ungeplanten Lagerbeständen oder
überhaupt unverkäuflichen Produkten niederschlägt, fehlen auf der Geldseite die geplanten
Einnahmen. Wenn die Unternehmungen ausfallende Beträge nicht auf die
Produktionsfaktoren verlagern können, bleibt ihr Geldbestand um den Betrag der
deflatorischen Lücke hinter dem erwünschten Bestand zurück. Bei einer höheren
deflatorischen Lücke könnte sich sogar Zahlungsunfähigkeit ergeben. Jedenfalls kommt
dadurch zum Rentabilitätsproblem ein Liquiditätsproblem hinzu, dessen Lösung zusätzliche
Kredite erforderlich macht. Die dadurch ausgelösten Zinssteigerungen würden aber wiederum
das Rentabilitätsproblem verschärfen.
Beide Probleme erhöhen nicht nur die Kreditnachfrage, sondern senken gleichzeitig das
Kreditangebot. Aufgrund der prekären Lage der Unternehmungen und nun noch verstärkt
durch die geschilderten Kassendefizite strukturieren die Haushalte in der oben schon
beschriebenen Weise ihr Vermögen von Geldanlagen zu Geldhaltung um. Ihre
Liquiditätspräferenz, die sich in λ(r) ausdrückt, steigt bei jedem Zinssatz, was
gleichbedeutend ist mit einer sinkenden Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes. Bei gegebenem
Geldangebot wird dieser Wunsch nach mehr Liquidität aber ständig frustriert, weil im
Kreislauf nicht mehr Geld vorhanden ist. Die wachsende Liquiditätspräferenz schlägt sich nur
in einem steigenden Zinssatz nieder. Diese Entwicklung verstärkt sich, wenn gleichzeitig
auch die Geschäftsbanken ihre Kreditvergabe reduzieren, so dass auch das Geldangebot
abnimmt. Spiegelbild dieser Entwicklung auf dem Kreditmarkt sind sinkende Aktienkurse
aufgrund fallender Rentabilität und steigender Verlustrisiken. Es entsteht eine Kreditkrise, die
nicht nur die Finanzierung der Produktionsanlagen, sondern darüber hinaus auch die normale
Produktionstätigkeit beeinträchtigt, für die Unternehmungen ebenfalls auf Kredite angewiesen
sind, weil sie Vorleistungen finanzieren müssen, bevor sie selbst Erträge erzielen.
3. Die deflatorische Lücke wird dabei durch die Kreditkrise, die sie verursacht, eher noch
verstärkt. Bei steigendem Zinssatz und sinkenden Aktienkursen leidet die Investitionstätigkeit
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
31
nicht nur unter fehlender Nachfrage, sondern zusätzlich unter Finanzierungsproblemen.
Empirische Beobachtungen deuten zudem darauf hin, dass die Ersparnisse steigen, wenn
Kreditmöglichkeiten wegfallen, so dass sich die Lücke weiter öffnet.
Wenn die deflatorische Lücke, S>I, auch beim jeweils minimalen Auslastungsgrad a=amin
nicht verschwindet, sind die Stabilisierungsmöglichkeiten der Notenbank begrenzt, weil diese
sowohl das Rentabilitäts- als auch das Liquiditätsproblem verursacht. Zwar kann eine
expansive Geldpolitik nicht nur Zinssteigerungen verhindern, sondern auch Zinssenkungen
durchsetzen und dadurch das Rentabilitätsproblem abmildern. Aber selbst ohne
Berücksichtigung der deflatorischen Lücke würde der Gewinn auch bei einem Zinssatz von
null auf aminrKK fallen, und mit dieser Lücke zusätzlich um den Betrag S-I.
Auch das Liquiditätsproblem wird durch die deflatorische Lücke bestimmt, die im
Gleichgewicht des Kreditmarktes dazu führt, dass die Geldmenge nicht ausreicht, um die
Liquiditätsbedürfnisse zu befriedigen. Das ist besonders problematisch, wenn davon die
Unternehmungen betroffen sind. Wie oben ausgeführt wurde, erleiden sie im Extremfall ein
Liquiditätsdefizit in Höhe der deflatorischen Lücke S-I, das unter Umständen auch
Illiquidität bedeuten könnte. Um dieses Liquiditätsproblem zu beseitigen, müsste das
Geldangebot mit einer "akkomodierenden" Politik laufend der Geldnachfrage angepasst wird,
so dass ständig M=L wäre. Dann läge aber auf dem Kreditmarkt wegen der deflatorischen
Lücke bei jedem Zinssatz ein Überangebot vor, das zu laufenden Zinssenkungen führen
würde, bis schließlich bei einem "zero lower bound" ein Zinssatz r=0 erreicht wäre. Für das
weiterhin bestehende Überangebot In Höhe der deflatorischen Lücke gäbe es keine
produktiven Anlagemöglichkeiten. Ein Teil der Ersparnisse kann nicht investiert werden, weil
dafür wegen pessimistischer Nachfrageerwartungen die geplanten Investitionen nicht
ausreichen. Wegen des Rentabilitätsproblems werden risikoscheue Anleger auch zögern, sich
in Beteiligungen zu engagieren. Sie werden stattdessen auf reale Vermögensanlagen
ausweichen, wie Immobilien und Gold. Wenn sich dadurch das Anlageproblem nicht aus der
Welt schaffen lässt, weil es bei den Verkäufern wieder auftaucht, kommt es auf den
entsprechenden Märkten zu spekulativen Prozessen, mit negativen externen Effekten, so wie
dies in Kapitel 2, Abschnitt 3.1 beschrieben worden ist. Jedenfalls wird auf diese Weise "das
Überfließen von Fonds vom Geldmarkt auf den Kapitalmarkt durch eine unsichtbare
Schranke von Misstrauen und Pessimismus verhindert ", wie es schon 1937 zutreffend in
einer Untersuchung für den Völkerbund heißt24.
24
Aus Haberler (1948, S.65).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
32
Das Grundproblem besteht darin, dass die Geldpolitik die deflatorische Lücke nicht beseitigt.
Sie kann mit zusätzlichen Mitteln die Kreditkrise eindämmen, die bei einer solchen Lücke
entsteht. Aber sie kauft mit diesen Mitteln nicht die Güter, die bei Vollauslastung zusätzlich
produzierbar wären. Dies ist erst der Fall, wenn der Staat im Sinne einer Keynesianischen
Beschäftigungspolitik durch zusätzliche Nachfrage, die unter Umständen auch von der
Notenbank finanziert wird, freie Produktionskapazitäten in Anspruch nimmt. Möglichkeiten,
Alternativen und Grenzen einer solchen Politik werden im nächsten Abschnitt erörtert.
Anhang: Das makroökonomische Modell
Das neoklassische Wachstumsmodell
(1)
Y° = F(TN;K) = FNN+FKK
(2)
T = τK
(3)
N=1
(4)
dK/dt (= I) = S(r,Y°)
(5)
w/r = FN/FK
(6)
r = FK
Das sind 6 Gleichungen für die Variablen Y°, T, N, K (über dK/dt), w und r,
gegeben die Funktionen F und S, sowie K und τ.
Das ISLM-Modell
(7)
S(r,Y) = I
(8)
I = yEK
(9)
M = L(r,Y)
Das sind 3 Gleichungen für Y, r und I, gegeben die Funktionen S und L, sowie K, M und
yE.
Differenzen zwischen r und FK beeinflussen die Rentabilität von K.
Ungleichgewichte
(A)
Y ≠ Y°
Bei Y>Y° besteht Überbeschäftigung mit Inflationsgefahr.
Bei Y<Y° besteht Unterbeschäftigung mit Rentabilitätsproblemen.
(B)
I ≠ S, verbunden mit M ≠ L.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
33
Bei I>S besteht Überbeschäftigung mit Inflationsgefahr, die sich verschärft, weil dann
wegen M>L auch unerwünschte Kassenbestände vorliegen.
Bei I<S besteht Unterbeschäftigung mit Rentabilitätsproblemen, wegen M<L noch
verbunden mit Liquiditätsproblemen.
4.2 Makroökonomische Krisen und Staat
1. Expansive Fiskalpolitik
1. Höhe und Schwankungen der Beschäftigung werden entscheidend von der
makroökonomischen Güternachfrage bestimmt. Einen wesentlichen Teil davon macht die
Nachfrage durch den Staat aus. Um makroökonomische Probleme und Risiken zu verstehen,
muss deshalb auch dieser Teil in die Analyse einbezogen werden. Zur Nachfrage für privaten
Konsum C und private Investitionen I kommt die staatliche Nachfrage G nach Gütern und
Diensten hinzu, es ist Y=C+I+G. Staatsausgaben werden finanziert durch Steuern T und
Kreditaufnahme. Unter Berücksichtigung der Steuern beträgt das private verfügbare
Einkommen, das für Konsum und Ersparnis zur Verfügung steht, Y-T. Die private Ersparnis
ist definiert als S=Y-T-C. Bei einer konstanten Sparquote s wird sie durch die Sparfunktion
S=s(Y-T) bestimmt. Der Gütermarkt kann dann durch die Gleichung
sY=I+G-(1-s)T
beschrieben werden25. Sie zeigt die Möglichkeiten des Staates, die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage und damit die Beschäftigung durch Staatsausgaben, Steuereinnahmen und auch
durch die Differenz zwischen beiden, den Budgetsaldo G-T, zu beeinflussen. Die jeweilige
Budget- bzw. Fiskalpolitik kann einerseits makroökonomische Probleme verursachen oder
verschärfen, andererseits auch verringern oder verhindern. Eine gewisse automatische
Stabilisierung durch das Budget ergibt sich durch kontrazyklische Entwicklungen der Steuern
(bzw. auch von Transferzahlungen mit dem entgegengesetzten Vorzeichen). In einer
Hochkonjunktur dämpfen steigende Steuerpflichten den privaten Konsum und damit eine
Überbeschäftigung, in einem Konjunkturtief ist das Gegenteil der Fall. Während auf diese
Weise kleinere Abweichungen von Vollbeschäftigung in Verbindung mit normalen
Marktmechanismen ohne zusätzliche Budgetpolitik in Grenzen gehalten werden können, ist
bei makroökonomischen Krisen unter Umständen eine aktive Konjunkturpolitik des Staates
25
Hierbei werden zunächst Zinsen auf die Staatsschuld vernachlässigt, die im folgenden Abschnitt über
Staatsverschuldung Berücksichtigung finden.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
34
angebracht26. Von besonderer Bedeutung ist eine expansive Fiskalpolitik, die mit
Kombinationen von Staatsausgaben und Steuern zur Überwindung einer Depression und
Stagnation beitragen kann. Wenn die private Nachfrage in einer solchen Lage für
Vollbeschäftigung nicht ausreicht, kann eine Erhöhung der Beschäftigung gemäß der obigen
Gleichung prinzipiell durch Änderungen von Staatsausgaben und Steuern erreicht werden:
Die entsprechenden Veränderungen von G und T sind
sY=G-(1-s)T
allgemein,
und Y=G bei G=T.
In Frage kommen also Steuersenkungen (T<0), sowie zusätzliche steuer- oder
kreditfinanzierte Staatsausgaben (G>0). Diese Möglichkeiten werden im Folgenden erörtert.
Der expansive Effekt von Steuersenkungen würde darauf beruhen, dass man private
Einkommen entlastet und dadurch zusätzliche private Nachfrage anregt. Diese Wirkung ist
allerdings fraglich, wenn dadurch der Ausgleich des Budgets nicht in Frage gestellt werden
soll. Zur Deckung der Staatsausgaben sind dann nämlich zunächst Kredite erforderlich, die
später mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Bei sonst unverändertem Budgetverlauf
kann dies nur über spätere Steuererhöhungen geschehen. Die Steuerpflichtigen werden dann
nicht wirklich entlastet, die Zahlung wird nur verschoben 27. Um den späteren Verpflichtungen
nachkommen zu können, müssten sie im Zeitpunkt der Entlastung zusätzliche Ersparnisse in
Höhe der Steuersenkung tätigen, weil diese dann mit den Zinserträgen gerade für die
Rückzahlung der zusätzlichen Staatschulden ausreichen würden. Wenn sie damit rechnen,
dass sie für Steuergeschenke heute entsprechend höhere Steuern morgen bezahlen müssen,
werden sie ihre Nachfrage nicht erhöhen. Dies bedeutet, dass man das Sozialprodukt bei
gleichbleibenden Staatsausgaben nicht durch Steuersenkungen erhöhen kann, wenn die
Steuerzahler zukünftige kompensierende Belastungen voraussehen, die ein Budgetausgleich
erfordert. Mutatis mutandis gilt das gleiche für eine Erhöhung von Transferausgaben, die man
als negative Steuern interpretieren kann. Unter den genannten Voraussetzungen kann man
eine Erhöhung des Sozialprodukts also weder auf die eine noch auf die andere Weise dadurch
erreichen, dass man den Bürgern mehr Geld zur Verfügung stellt, wenn man dieses später
wieder zurückholen muss.
26
Die nach Keynes entstandene Vorstellung, dass es möglich und wünschenswert sei, den Zyklus von
Konjunktur und Wachstum mit "fine tuning" zu steuern, hat sich als illusorisch erwiesen. Zum Vertrauen auf
Marktmechanismen bei normalen und zur Notwendigkeit einer Stabilisierungspolitik bei größeren
Abweichungen vgl. Frydman, Goldberg (2012).
27
In der Literatur bezeichnet man dies als Ricardo-Äquivalenz.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
35
Stattdessen empfiehlt es sich dann, die Wirtschaft mit höheren Staatsausgaben anzukurbeln
und das dadurch entstehende Defizit durch Steuererhöhungen oder durch eine
kompensierende Reduktion der Staatsausgaben zu einem späteren Zeitpunkt auszugleichen.
Bei einer steuerfinanzierten Ausgabenerhöhung ergibt sich als Änderung des Sozialprodukts
Y=G=T. Nach den obigen Ausführungen macht es dabei keinen Unterschied, ob die
zusätzlichen Steuern in der laufenden Periode oder später erhoben werden, wenn zukünftige
Belastungen bei der Konsumentscheidung vorweg genommen werden. In beiden Fällen ergibt
sich bei einer Ausgabensteigerung in Höhe von G eine Erhöhung des Sozialprodukts um
den gleichen Betrag28. Obwohl Steuererhöhungen zunächst ungeeignet erscheinen, weil sie
private Nachfrage verdrängen, kann eine solche Politik doch deshalb expansiv wirken, weil
das niedrigere private Nettoeinkommen nicht nur die Konsumnachfrage sondern auch die
Ersparnisse mindert, während die zusätzlichen Steuereinnahmen voll ausgegeben werden.
Man nutzt eine Beschäftigungslücke in Höhe von Y, die von den Privaten nicht beansprucht
wird, zu einer einmaligen Erhöhung der Staatsausgaben, indem man öffentliche Aufgaben in
Angriff nimmt, die bei der normalen Budgetplanung nicht berücksichtigt werden. Da kein
Defizit entstehen darf, finanziert man diese Ausgaben mit zusätzlichen Steuern. Auf diese
Weise ließe sich das Beschäftigungsproblem prinzipiell durch eine einfache temporäre
Umverteilung der Ressourcen vom privaten zum öffentlichen Sektor lösen. Man ergänzt die
unzureichende private Nachfrage durch eine steuerfinanzierte öffentliche Nachfrage, so dass
das Budget von vornherein ausgeglichen bleibt. Einnahmen und Ausgaben des Staates werden
gewissermaßen um den Betrag erhöht, um den die Beschäftigung steigen soll. Die
Beschäftigungslücke wird ausschließlich für die Durchführung der zusätzlichen öffentlichen
Aufgaben verwendet, privater Konsum und private Ersparnis ändern sich nicht. Die Wirkung
einer solchen steuerfinanzierten Erhöhung der Staatsausgaben lässt sich recht einfach
beschreiben. Die bisher Beschäftigten produzieren das gleiche Sozialprodukt wie vorher. Mit
ihren höheren Steuern werden bisher unbeschäftigte Produktionsfaktoren, also vor allem
Arbeitskräfte bezahlt, die dafür öffentliche Güter herstellen. Es wird also gewissermaßen das
bisherige Einkommen gleichmäßig auf alle verteilt (auch netto, wenn auch die öffentlich
Beschäftigten in gleicher Höhe besteuert werden), und dafür stehen allen zusätzliche
öffentliche Güter zur Verfügung. Neben eher technischen Schwierigkeiten kann eine solche
Lösung aber politisch am Widerstand der Mehrheit der bisher Beschäftigten scheitern, die
28
Bei einer sofortigen Besteuerung wäre S=s(Y-T)=G-T=0. Bei einer Besteuerung in der nächsten
Periode ist S=sY+(1-s)T=G. Mit G=T folgt in beiden Fällen das angegebene Ergebnis. Es handelt sich
dabei um den sogenannten Multiplikator eines ausgeglichenen Budgets.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
36
dabei Einkommen verlieren, weil sie höhere Steuern zahlen. Außerdem könnte eine
vorübergehende Änderung eines etablierten Steuertarifs als problematisch empfunden werden.
Abgesehen davon ist eine solche Politik auch nicht billig. Um eine Vorstellung von
möglichen Größenordnungen zu erhalten, kann man z.B. annehmen, dass der bisherige Anteil
der Staatsausgaben am Sozialprodukt 25% beträgt. Dann braucht man für eine Erhöhung des
Sozialprodukts um ein Prozent eine Erhöhung der Staatsausgaben um vier Prozent 29.
2. Statt durch Steuererhöhungen lassen sich höhere zusätzliche Staatsausgaben auch durch
eine entsprechende Reduktion dieser Ausgaben in späteren Perioden finanzieren, durch die
der langfristige Ausgleich des Budgets gesichert wird. Die laufende Erhöhung muss dann
durch Kredite finanziert werden. Bei dieser Form einer Defizitfinanzierung ist sY=G. Der
Staat besorgt sich hierbei die nötigen Finanzierungsmittel in Höhe von G=sY auf dem
Kapitalmarkt, dem sie in gleicher Höhe aus zusätzlichen privaten Ersparnissen zufließen. Wie
man sieht, ist die für eine bestimmte Zunahme des Sozialprodukts erforderliche Erhöhung der
Staatsausgaben signifikant niedriger als bei einem jederzeit ausgeglichenen Budget. Nimmt
man zur Veranschaulichung der Größenordnung wieder einen bisherigen Staatsanteil von
25% und dazu eine Sparquote von s=0,2 , dann braucht man für eine einprozentige Erhöhung
des Sozialprodukts nur eine Erhöhung der Staatsausgaben um 0,8 Prozent, also wesentlich
weniger als bei einer Steuerfinanzierung 30. Das liegt daran, dass nun auch über eine höhere
private Konsumnachfrage zusätzliche Beschäftigung geschaffen wird.
Für den Erfolg einer solchen kreditfinanzierten Fiskalpolitik müssen allerdings einige
Voraussetzungen gewährleistet sein. Um die langfristige Budgetplanung nicht zu verletzen,
müssen mit den zusätzlichen Mitteln öffentliche Aufgaben finanziert werden, die ohnedies
geplant waren und nun nur vorgezogen werden. Dies kann nur gelingen, wenn die in der
Rezession freigesetzten Kapazitäten dafür geeignet sind. Das dürfte z.B. vor allem in der
Bauwirtschaft zutreffen, die von einer Rezession in der Regel besonders stark betroffen und
deshalb ohne große Schwierigkeiten für öffentliche Bautätigkeiten verfügbar ist. Ferner muss
glaubwürdig sein, dass es sich dabei wirklich um vorgezogene Maßnahmen handelt, die später
wegfallen. Wenn man darauf nicht vertrauen kann, fällt die mögliche Expansion von
Y=G/s zurück zu der beschriebenen Variante mit Y=G. Schließlich ist zu beachten,
dass die kompensierende Reduktion der Staatsausgaben erst dann erfolgt, wenn die dadurch
frei werdenden Kapazitäten wieder von einer entsprechend hohen privaten
29
Bei ΔY=ΔG ist Y/Y=(G/Y)G/G.
30
Bei sΔY=ΔG ist sY/Y=(G/Y)ΔG/G.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
37
Investitionsnachfrage besetzt werden, so dass die höhere Beschäftigung bei einer
gleichgewichtigen Verteilung der Ressourcen gesichert bleibt.
In dieser Perspektive kann man auch noch einmal Steuersenkungen in Erwägung ziehen.
Wenn die Steuerzahler damit rechnen können, dass es sich um eine echte Entlastung handelt,
weil nach einer wirtschaftlichen Erholung die Staatsausgaben um den gleichen Betrag
reduziert werden, dann würden sie ihre Nachfrage erhöhen, und es ergäbe sich eine Zunahme
des Sozialprodukts um Y=-T(1-s)/s. Diese stünde dann ganz zur Befriedigung zusätzlicher
privater Nachfrage zur Verfügung, die an die Stelle öffentlicher Ausgaben tritt. Um auch hier
eine Vorstellung von möglichen Größenordnungen zu erhalten, kann man z.B. bei einem
bisherigen Steueranteil von 0,25 und einer Sparquote von 0,2 feststellen, dass man für eine
erwünschte prozentuale Erhöhung des Sozialprodukts die Steuern um den gleichen
Prozentsatz senken müsste. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass man mit dieser Politik im
Gegensatz zu den vorherigen Vorschlägen die langfristige Budgetplanung ändern müsste,
weil sie mit einer dauerhaften Senkung der Staatsausgaben einherginge.
In allen geschilderten Fällen ist eine normale Kreditfinanzierung nur möglich, wenn eine
höhere Staatsverschuldung akzeptiert wird, weil der Staat als zuverlässiger Schuldner gilt, bei
dem man mit einer ordnungsgemäßen Tilgung zum angegebenen Zeitpunkt rechnen kann.
Dies setzt z.B. voraus, dass eine angekündigte spätere Reduktion von Staatsausgaben
glaubwürdig ist. Sollten Staatspapiere nicht akzeptiert werden, so bliebe als weitere
Möglichkeit eine Kombination der Fiskal- mit der Geldpolitik, nämlich eine Finanzierung
über Geldschöpfung, also praktisch über direkte Kredite der Notenbank. Grundsätzlich kann
damit der gleiche Effekt erzielt werden wie bei einer Finanzierung über den Kreditmarkt. Mit
der Geldschöpfung wird über den Kauf von Gütern die deflatorische Lücke auf dem
Gütermarkt geschlossen und gleichzeitig das damit verbundene Liquiditätsdefizit behoben31.
Insgesamt ist festzustellen, dass eine resistente Unterbeschäftigung auch über die Fiskalpolitik
nicht durch eine automatische Stabilisierung beseitigt werden kann, sondern nur durch
entsprechende Abweichungen von einer solchen Politik. Wie die obigen idealtypischen
Ausführungen zeigen, kommt dafür am ehesten eine vorübergehende Erhöhung der
Staatsausgaben in Betracht, die durch Steuererhöhungen finanziert wird, oder man zieht
ohnedies geplante Staatsausgaben vor, die dann später entfallen. Der Staat nimmt dabei
Ressourcen in Anspruch, die normalerweise für private Nachfrage zur Verfügung stehen. Dies
31
Im Gleichgewicht des Kreditmarktes verschwindet die deflatorische Lücke S-I>0 durch zusätzliche staatliche
Nachfrage. Auf der Geldseite wird durch die Geldschöpfung die Liquiditätslücke L-M>0 beseitigt. Die
Investitionen und Ersparnisse enthalten dabei auch die entsprechenden staatlichen Komponenten.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
38
setzt voraus, dass die zusätzliche öffentliche Nachfrage mit diesen Ressourcen auch befriedigt
werden kann. Um den langfristigen Ausgleich des Budgets nicht zu gefährden, müssen diese
Ressourcen wieder freigegeben werden, sobald dafür wieder private Nachfrage vorhanden ist.
Es ist klar, dass es sich dabei um Aufgaben handelt, die sowohl im Bezug auf ihre
Größenordnung als auch ihre zeitliche Abwicklung hohe Anforderungen an Planung und
Durchführung stellen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Bisherige Erfahrungen vermitteln
nicht den Eindruck, dass die Fiskalpolitik bisher irgendwo auf diese Anforderungen gut
vorbereitet gewesen wäre.
2. Staatsverschuldung und Kapitalmarkt
1. Ein längerfristiger Ausgleich des öffentlichen Budgets ist deshalb von so großer
Bedeutung, weil anhaltende Budgetdefizite selbst ursächlich für makroökonomische Krisen
sein können. Sie belasten den Kapitalmarkt, auf dem Ersparnisse angeboten und für
Investitionen nachgefragt werden, weil sie ihm Mittel entziehen, die sonst für private
Investitionen zur Verfügung stünden. Damit reduzieren sie das Wachstumspotential der
Wirtschaft. Ohne längerfristigen Budgetausgleich steigt die Staatschuld und damit die Zinsund Tilgungslast des Staates. Wenn unklar ist, ob und wann der Staat seine Schulden
zurückzahlen kann, leidet seine Kreditfähigkeit. Um solche Entwicklungen zu verhindern,
sind Grenzen der Staatsverschuldung zu beachten32.
Dabei ist zunächst festzustellen, dass es für öffentliche Schulden innerhalb solcher Grenzen
gute Gründe gibt. So lassen sich z.B. notwendige öffentliche Aufgaben nicht mehr allein mit
Steuern finanzieren, wenn man bei der Besteuerung an volkswirtschaftliche Grenzen der
Belastbarkeit stößt, weil die Zusatzlasten der Besteuerung, die in Abschnitt 2.4.2 erörtert
worden sind, als zu hoch erachtet werden oder sogar höhere Steuereinnahmen verhindern.
Ferner kann eine Kreditfinanzierung einen Teil öffentlicher Ausgaben auf zukünftige
Steuerzahler verlagern, die davon ebenfalls einen Nutzen haben, also entsprechende
Gegenleistungen erhalten. Eine gesamtwirtschaftliche Belastung entsteht dabei insofern nicht,
als den Zins- und Tilgungszahlungen ja Einnahmen der Gläubiger in gleicher Höhe
entgegenstehen, so dass die Steuerzahlungen direkt in die Wirtschaft zurückfließen. Im
Extremfall ist sogar vorstellbar, dass die Gläubiger (oder ihre Erben) ihre Ansprüche letztlich
mit eigenen Steuern finanzieren. Wie im Folgenden noch ausgeführt wird, können Zins- und
Tilgungsverpflichtungen des Staates statt über Steuern teilweise auch dauerhaft mit neuen
32
Eine leicht verständliche Einführung zu diesem Abschnitt bieten Konrad und Tschäpitz (2010).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
39
Krediten finanziert werden, sofern dabei die Staatsschuld Grenzen nicht überschreitet, die
durch die Höhe des Sozialprodukts bestimmt sind.
2. Eine Verschuldung des Staates entsteht dadurch, dass die Steuereinnahmen die Ausgaben
für Güter und Dienste und für Zinszahlungen auf bisherige Schulden nicht decken. Im
Folgenden werden die Steuereinnahmen mit T, die Ausgaben für Güter und Dienste mit G
und die Staatsschuld mit D bezeichnet. Bei einem gegebenen Bruttozinssatz rb, bei dem
noch keine Besteuerung berücksichtigt ist, fallen Zinszahlungen in Höhe von rbD an. Dann
beträgt die Veränderung der Staatsschuld D=rbD+G-T. Ob die Verschuldung steigt, fällt
oder gleich bleibt, hängt davon ab, ob die Differenz T-G zwischen Steuereinnahmen und
Staatsausgaben zur Deckung der Zinsverpflichtungen ausreicht. Man bezeichnet diese
Differenz auch als Saldo des Grundbudgets oder als Primärüberschuss. Dieser ist dadurch
beschränkt, dass einerseits die Steuerbelastungen der Bürger nicht beliebig erhöht,
andererseits öffentliche Aufgaben nicht ohne weiteres abgebaut werden können. Wenn das
Grundbudget zur Zahlung der laufenden Zinsverpflichtungen nicht ausreicht, muss das Defizit
durch eine Neuverschuldung finanziert werden, die weitere Zinszahlungen nach sich zieht.
Im Folgenden wird ein einfacher Steuertarif mit einem konstanten Steuersatz t auf das
Einkommen Y und die Zinszahlungen rbD des Staates unterstellt, nämlich T=t(Y+r bD).
Dann ist der Saldo des Grundbudgets t(Y+rbD)-G. Die Änderung der Staatsschuld lässt sich
dann durch
D=rD-bY
ausdrücken, mit r:=(1-t)rb als Nettozinssatz auf die Staatsschuld und b:=(tY-G)/Y als
Indikator für den Überschuss bzw. das Defizit des Grundbudgets. Die Wachstumsrate der
Staatsschuld, d:=D/D beträgt somit
d=r-b/θ
mit θ:=D/Y als Anteil der Staatsschuld am Sozialprodukt. Sie steigt mit dem Nettozinssatz,
an den sie sich mit wachsendem Schuldenanteil annähert, und mit einem zunehmenden
Budgetdefizit.
Zusätzlich zur Neuverschuldung in Höhe von D ist eine weitere Kreditaufnahme zur
Finanzierung einer vereinbarten Tilgung vorhandener Schulden erforderlich. Wenn z.B. in
jeder Periode ein Anteil D zurückgezahlt werden muss (0<<1), dann beträgt das gesamte
Budgetdefizit D+D. Auch wenn netto trotzdem nur eine Neuverschuldung in Höhe von
D vorliegt, weil die Staatsschuld gleichzeitig um D sinkt, beschreibt das Budgetdefizit
die Belastung des Kapitalmarktes, weil der Staat dort die entsprechende Summe aufnehmen
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
40
muss. Man kann diese Beanspruchung des Kapitalmarkts noch genauer erkennen, wenn man
berücksichtigt, dass das Budgetdefizit der Differenz zwischen staatlichen Investitionen und
Ersparnissen entspricht 33, dass also D+D=IS-SS ist. Gesamtwirtschaftlich muss im
Kapitalmarktgleichgewicht gelten, dass private und staatliche Investitionen aus den gesamten
Ersparnissen finanziert werden. Für den Kapitalmarkt insgesamt gilt somit die
Gleichgewichtsbedingung IS+IP=SS+SP, also die Gleichheit von öffentlich und privat
geplanten Investitionen und Ersparnissen. Mit der Gleichung für das Budgetdefizit ist
demnach
IP=SP-(D+D).
Mit einer Bruttokreditnachfrage in Höhe von D+D konkurriert der Staat auf dem
Kapitalmarkt mit privaten Investoren um das Kreditangebot aus privaten Ersparnissen. Von
diesen geht ein Teil in die private Kapitalbildung, ein Teil wird zur Finanzierung öffentlicher
Ausgaben verwendet 34.
Im Hinblick auf die private Kapitalbildung und damit auf das wirtschaftliche Wachstum,
sowie auf die Entwicklung der Staatsschuld, sind relative Größen entscheidend, nämlich Höhe
und Veränderung der Staatsschuld im Verhältnis zum Sozialprodukt Y, also θ=D/Y und
D/Y. Das sind auch die strategischen Größen, für die z.B. der Maastrichtvertrag der
europäischen Währungsunion Grenzwerte festgelegt hat, die im Interesse einer tragbaren
Entwicklung der öffentlichen Verschuldung nicht überschritten werden sollen 35. Die Figur
4.2, die im Folgenden erklärt wird, zeigt die Bedeutung dieser Größen für Wachstum und
Staatsverschuldung.
Die Bedeutung der Schuldenquote θ=D/Y und des Anteils der Neuverschuldung am
Sozialprodukt ΔD/Y zeigt sich, wenn man sie zum Anteil der Investitionen und Ersparnisse
am Sozialprodukt in Beziehung setzt, also zu IP/Y und SP/Y. Vom Anteil der privaten
Investitionen am Sozialprodukt hängt das Wachstum der Wirtschaft ab. Das Sozialprodukt
steigt mit dem Kapitalstock K und dieser mit den Investitionen, K=IP. Im Folgenden wird
33
Die staatliche Ersparnis ist SS=T-CS-(r°+)D. Die Ausgaben des Staates sind Ausgaben für Konsum und
Investition, G=CS+IS. Infolgedessen ist SS-IS=T-G-(r°+)D, und mit D=r°D+G-T folgt die angegebene
Beziehung. Im folgenden steht der Index S für staatlich, und der Index P für privat.
34
In einer offenen Volkswirtschaft werden die inländischen Ersparnisse außerdem durch Kapitalimporte ergänzt
oder für Kapitalexporte verwendet. Im folgenden wird eine geschlossene Volkswirtschaft oder eine
ausgeglichene Kapitalverkehrsbilanz unterstellt, so dass internationale Kapitalbewegungen unberücksichtigt
bleiben.
35
Die Maastrichtkriterien verlangen, dass der Schuldenanteil nicht über 60% und der Anteil der
Neuverschuldung nicht über 3% liegen soll.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
41
der entsprechende Zusammenhang mit einer makroökonomischen Produktionsfunktion
Y=K veranschaulicht, in der die Kapitalproduktivität  durch laufenden technischen
Fortschritt konstant gehalten wird 36. Dann ist Y=K=IP, und die Wachstumsrate des
Sozialprodukts ist y:=Y/Y=IP/Y, steigt also proportional mit dem Anteil der privaten
Investitionen am Sozialprodukt. Der Anteil der privaten Ersparnisse S P/Y folgt aus dem
privaten verfügbaren Einkommen Y+(r°+)D-T. Bei einer konstanten Sparquote s und dem
Steuertarif T=t(Y+r°D) mit dem konstanten Steuersatz t beträgt die private Ersparnis
SP=s(1-t)(Y+r°D)+sD. Dann ist SP/Y=s(1-t)(1+r°θ)+sθ.
3. Grenzen der Staatsverschuldung
1. Mit diesen Angaben kann man die obige Gleichgewichtsbedingung für den Kapitalmarkt
SP = IP + (ΔD+δD)
entsprechend umformulieren. Ein Teil der privaten Ersparnisse wird nun durch das
Budgetdefizit absorbiert. Wenn die Haushalte damit rechnen, dass sie ein solches Defizit
früher oder später doch durch höhere Steuern finanzieren müssen, werden sie, um dafür
gerüstet zu sein, ihre Ersparnisse entsprechend erhöhen 37. Das Budgetdefizit würde praktisch
privaten Konsum verdrängen. Empirische Beobachtungen deuten eher darauf hin, dass
stattdessen private Investitionen verdrängt werden, weil durch die staatliche Kreditnachfrage
der Zinssatz steigt, so dass die Rentabilität von Investitionen gefährdet ist. Unternehmungen
werden dann aus Risikoscheu ihre Investitionen reduzieren. Im Folgenden wird deshalb der
Fall betrachtet, bei dem der Staat durch seine Kreditnachfrage beim jeweiligen Zinssatz nicht
den Konsum, sondern die Investitionen verdrängt. Dadurch sinkt die Wachstumsrate des
Kapitalstocks, ΔK/K=IP/K, und mit ihr gleichermaßen die des Sozialprodukts y:=Y/Y (weil
Y/K=α konstant ist). Durch entsprechende Umformulierung der Gleichgewichtsbedingung
des Kapitalmarkts38 ergibt sich als Wachstumsrate
y=g(1-θ/θ°)-D/Y,
mit θ°:=[(1-s)-sr]-1(1-t)s.
Dabei ist g:=(1-t)s die Wachstumsrate, die sich ohne Staatsverschuldung ergäbe. Die
Wachstumsrate y ist umso niedriger, je höher der Anteil θ der bestehenden Staatsschuld
und der Anteil D/Y der Neuverschuldung am Sozialprodukt ist, weil dann mehr private
36
Wie in Abschnitt 4.1 wird auch hier wieder eine makroökonomische Produktionsfunktion mit einer konstanten
Kapitalproduktivität unterstellt, die hier mit α bezeichnet wird. Es ist also Y=K.
37
Das wäre wieder das oben schon erwähnte Ricardo-Äquivalenztheorem.
38
Man teilt die IS-Gleichung durch K und formt entsprechend um.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
42
Investitionen verdrängt werden. In Figur 4 wird dieser Zusammenhang grafisch dargestellt.
Dabei ist θ°>0 unterstellt, was bei plausiblen Parameterwerten, insbesondere auch im
Hinblick auf den Tilgungsparameter , realistisch erscheint.
D/Y
(1-t)s
gθ
(D/Y)*
D/Y
θ*
θ°
FIGUR 4
Auf der fallenden Geraden mit den Achsenabschnitten (1-t)s und θ° liegen alle
Kombinationen von D/Y und D/Y, bei denen y=0 ist, also das Sozialprodukt nicht mehr
wächst. Diese Gerade beschreibt eine kritische Grenze. Bei jedem ihrer Punkte würden die
gesamten privaten Ersparnisse dem Staat zufließen, so dass wegen fehlender privater
Investitionen kein wirtschaftliches Wachstum mehr möglich wäre. Gleichzeitig würde eine
noch höhere Staatsverschuldung scheitern, weil die private Ersparnis S P nicht mehr
ausreichen würde, um das Budgetdefizit D+D zu finanzieren, d.h. der Staat wäre
zahlungsunfähig. Praktisch muss man damit rechnen, dass er auch schon dann keine Kredite
mehr erhalten würde, wenn abzusehen ist, dass sich der Schuldenanteil auf diese Grenze zu
bewegt. Rationale Anleger würden keine Staatspapiere mehr kaufen, wenn sie befürchten
müssen, dass diese nicht mehr bedient werden können. Wenn man die beschriebene Gerade
parallel nach links unten verschiebt, erhält man Kombinationen von D/Y und D/Y mit
positiven und steigenden Werten der Wachstumsrate y, weil dann entsprechend mehr
Ressourcen für die private Kapitalbildung zur Verfügung stehen. Im Nullpunkt, wenn es keine
Staatsschuld und keine Neuverschuldung gäbe, wäre die Wachstumsrate y=g=(1-t)s.
Im Zeitablauf ändert sich der Anteil der Verschuldung, D/Y, mit der Differenz der
Wachstumsrate d:=D/D der Staatsschuld und der Wachstumsrate y des Sozialprodukts. Er
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
43
steigt, fällt oder bleibt gleich bei d-y>0, d-y=0 oder d-y<0. Ebenso wie y lässt sich auch d
für jede Kombination von D/Y und D/Y bestimmen. Es ist nämlich einfach
d=(D/Y)/(D/Y).
Die Wachstumsrate der Staatsschuld entspricht in jedem Punkt in der Figur (bei jeder
Kombination von D/Y und D/Y) der Steigung des Fahrstrahls vom Ursprung zu diesem
Punkt. Alle Punkte, auf denen d=0, also der Schuldenstand konstant ist, liegen auf der
horizontalen Achse. Über dieser Achse, also bei allen positiven Werten von D/Y, ist d>0,
d.h. die Staatsschuld steigt, während sie bei D/Y<0, also unterhalb der Achse fällt, so dass
hier d<0 ist.
2. Damit kommt man zu folgenden Erkenntnissen. Eine nachhaltige Schuldenpolitik ist
überhaupt nur möglich bei Kombinationen von D/Y und D/Y, die unterhalb der fallenden
Geraden mit den Achsenabschnitten (1-t)s und θ° liegen. Das ist der Bereich, in dem y>0
ist, in dem das Sozialprodukt also auch bei Staatsverschuldung wächst. Daraus folgt, dass bei
D/Y<0 der Anteil der Staatsverschuldung am Sozialprodukt, D/Y, fällt, weil hier
gleichzeitig Y wegen y>0 steigt und D wegen d<0 fällt. Dies wird durch den nach links
gerichteten Pfeil in der Figur unterhalb der horizontalen Achse deutlich gemacht. Bei einer
Neuverschuldung, also D/Y>0, sind beide Wachstumsraten positiv. Den Nettoeffekt kann
man erkennen, wenn man die Werte von D/Y und D/Y betrachtet, bei denen d=y ist. Das
ist der Fall für alle Kombinationen, bei denen
D/Y = gθ(1-θ/θ°)/(1+θ)
ist. Sie liegen auf der hügelförmigen y=d-Kurve, mit D/Y=0 bei θ=0 und bei θ=θ° (und
mit der Steigung g im Nullpunkt). Mit Hilfe der Gleichungen für d und y erkennt man,
dass auf allen Punkten unterhalb der Kurve das Sozialprodukt schneller wächst als die
Verschuldung, y>d, so dass der Anteil der Staatsschuld am Sozialprodukt fällt, während
oberhalb der Kurve das Gegenteil der Fall ist, so dass D/Y wegen y<d steigt 39. Auch diese
Bewegungen werden durch entsprechende Pfeile angezeigt.
Eine nachhaltige Staatsverschuldung setzt offenbar voraus, dass sich die Anteile der
Neuverschuldung und der Gesamtverschuldung am Sozialprodukt in dem in Figur 4
39
Mit den Gleichungen für y und d kann man folgendes erkennen. Bei jedem Punkt auf der Kurve für y=d
gilt bei einem festen Wert von θ, dass mit steigendem D/Y die Wachstumsrate y fällt und die
Wachstumsrate von d steigt, so dass y<d ist. Bei fallendem D/Y steigt y, während d sinkt, so dass d<y
ist.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
44
skizzierten kritischen Bereich befinden, mit D/Y(D/Y)* und D/Yθ*, oder dass bei
höheren Werten des Schuldenanteils, D/Y>θ*, der Anteil der Neuverschuldung nicht über der
Kurve für d=y (und für θ>θ° nicht über der Kurve für y=0) liegt. Bei allen anderen Werten
der beiden Anteile steigt der Schuldenanteil am Sozialprodukt und bewegt sich damit auf die
kritische Grenze der Staatsverschuldung (bei y=0) zu. Entscheidend dafür ist die Differenz
der Wachstumsraten d-y, die sich aus der Entwicklung der Staatsschuld, D=rD-bY, ergibt,
nämlich
d-y=(r-y)-b/θ.
Wie die Ausführungen im vorigen Abschnitt gezeigt haben, tendiert ein hoher Schuldenanteil
dazu weiter zu steigen, weil dann die Wachstumsrate des Sozialprodukts niedrig und
infolgedessen die Differenz (r-y) entsprechend hoch ist.
Auf dem steigenden Ast der y=d-Kurve liegen stabile Gleichgewichte. Das sind
Kombinationen von D/Y und D/Y, bei denen der Anteil der Schulden am Sozialprodukt
konstant bleibt, und die außerdem bei jeder positiven Neuverschuldung erreicht werden, wenn
man von einem Punkt unter der Kurve startet, oder auch von einem Punkt oberhalb der Kurve,
solange der Anteil der Neuverschuldung nicht größer ist als (D/Y)*. Ein solches stabiles
Gleichgewicht kann gesichert werden, wenn der Anteil der Schulden höchstens den Wert θ*
annehmen und gleichzeitig der Anteil der Neuverschuldung nicht höher ist als (D/Y)* sein
darf. In dem damit definierten Bereich führt jeder Ausgangspunkt zu einem stabilen
Gleichgewicht auf dem steigenden Ast der Kurve 40.
Dabei ist zu beachten, dass ein solches Gleichgewicht vor allem dann, wenn der Zinssatz
höher ist als die Wachstumsrate, einen positiven Saldo des Grundbudgets erfordert, weil
ansonsten der Schuldenanteil θ=D/Y steigen würde. Der notwendige Überschuss ergibt sich
aus der Bedingung
b = (+1/θ)-1 [r-g+(r+g/θ°)θ],
40
Wie schon erwähnt, schreibt der Maastricht-Vertrag solche Werte vor. Er verlangt, dass der Anteil der
Schulden nicht über 60% und der Anteil der Neuverschuldung nicht über 3% liegen darf. Ob diese Werte
Stabilität garantieren, ist allerdings zweifelhaft. Wenn die Werte von D/Y und D/Y den Maastrichtkriterien
entsprechen, beträgt die Wachstumsrate der Staatsschuld d=0,03/0,6=0,05. Um sie zu kompensieren, müsste das
Sozialprodukt mit mindestens 5% wachsen, was zumindest in entwickelten Marktwirtschaften nach bisherigen
Erfahrungen nicht zu erwarten ist. Es ist deshalb zu befürchten, dass die angegebenen Werte oberhalb der y=dKurve und damit in einem Bereich liegen, in dem der Schuldenanteil steigt und sich damit auf die Grenze zu
bewegt, bei der die Kreditnachfrage des Staates nicht mehr befriedigt werden kann.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
45
die aus y=d folgt. Zumindest bei rg ist eine nachhaltige Schuldenpolitik (mit y=d) also
nur möglich bei einem Überschuss der Grundbudgets. Mit dieser Voraussetzung kann die
Staatsverschuldung aber auch dauerhaft problemlos mit der Wachstumsrate des
Sozialprodukts wachsen, wenn durch die Neuaufnahme von Krediten ein Teil der laufenden
Zinsverpflichtungen und auslaufende Kredite finanziert werden.
4. Schuldenkrisen
1. Schuldenkrisen entstehen, wenn ein hoher Schuldenanteil (θ=D/Y) durch Budgetdefizite
(b<0) weiter ansteigt. Die Wachstumsrate
d-y = (r-g-b) + (r+g/θ°)θ-b/θ <0
ist negativ, die Problematik verschärft sich. Ein steigender Schuldenanteil gefährdet
zunehmend die Fähigkeit des Staates, seinen Zins- und Tilgungsverpflichtungen
nachzukommen, so dass die Beschaffung notwendiger Mittel immer schwieriger wird. Diese
Problematik überträgt sich auf Finanzinstitute, also vor allem auf Banken, die Spareinlagen in
Staatspapiere investiert haben. Wenn Verzinsung und Tilgung dieser Papiere nicht mehr
gewährleistet ist, sind auch Bankeinlagen gefährdet. Dies wird Sparer veranlassen, Mittel
zurückzuziehen oder gar nicht erst anzulegen. Auf diese Weise wird die über den
Finanzsektor vermittelte Finanzierung der laufenden Produktion und insbesondere auch der
Investitionstätigkeit beeinträchtigt. Eine staatliche Überschuldung kann so eine
makroökonomische Krise auslösen.
Zur Stabilisierung des Staatsanteils wäre ein Übergang zu einer nachhaltigen Schuldenpolitik
naheliegend, also eine Sanierung des Budgets mit verringerten Staatsausgaben und/oder
höheren Steuern. Erforderlich für d-y0 wäre ein Überschuss des Grundbudgets mit
b  (+1/θ)-1 [r-g+(r+g/θ°)θ].
Je höher der Wert θ des Schuldenanteils, umso höher müsste der Primärüberschuss sein. Die
Durchsetzung einer solchen Reform kann aber problematisch oder sogar unmöglich sein. Als
Nebenwirkung schwächt sie die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage. Bei einer allgemeinen
Übernachfrage mag dies willkommen sein, aber nicht, wenn dadurch eine Unterbeschäftigung
verursacht oder verstärkt wird 41. Neben makroökonomischen Verlusten könnte eine solche
Entwicklung auch die geplante Sanierung aufs Spiel setzen, weil mit fallendem Sozialprodukt
auch der Anteil der Staatsschuld steigt statt zu fallen. Vor allem aber kann eine Budgetreform
41
Der Einfluss der Politik auf das Sozialprodukt zeigt sich an der IS-Gleichung, die hier in der Form Y=[s+(1-
s)t)]-1{I+G+(1-s)[r+]D} vorliegt. Das Sozialprodukt Y fällt mit sinkendem G und steigendem t.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
46
scheitern, wenn sich die dafür erforderlichen Steuerbelastungen und Ausgabensenkungen
nicht durchsetzen lassen, und wenn ein Abbau öffentlicher Aufgaben das Wachstum schwächt
und damit die erwünschte Reduktion von d-y erschwert oder verhindert.
In solchen Fällen erzwingt ein Übergang zu einer nachhaltigen Schuldenpolitik eine
unkonventionelle Reduktion des Schuldenanteils, und zwar auf einen Wert θ*, bei dem ein
hinreichender Überschuss des Grundbudgets, ausgedrückt durch b*, ökonomisch ermöglicht
und politisch durchgesetzt werden kann. Eine radikale Lösung wäre ein Schuldenschnitt, der
in erster Linie einer Umverteilung von Kreditgebern zu Schuldnern gleichkommt. Verlierer
sind die Gläubiger, Gewinner die Steuerzahler, die eigentlich für die Schulden aufkommen
sollten. Jedoch ist eine solche Umverteilung kein Nullsummenspiel, weil sie zu
Vertrauensverlusten führt und dadurch die Kreditwürdigkeit der Schuldner beeinträchtigt.
Dies betrifft natürlich in erster Linie den Staat, der seinen Verpflichtungen nicht
nachgekommen ist. Betroffen sind aber auch Finanzinstitute, die in Staatspapiere investiert
hatten und mit dem Wert dieser Papiere gleichzeitig das Vertrauen ihrer Anleger verlieren.
Ein Schuldenschnitt ändert also zunächst nichts an der Gefahr einer makroökonomischen
Krise, die dadurch ausgelöst wird, dass die Finanzierung der laufenden Produktion und
insbesondere der Investitionstätigkeit über den Finanzsektor gefährdet ist.
2. Weniger radikal ist ein Abbau des Schuldenanteils durch vorübergehende Ankäufe
staatlicher Schuldtitel durch die Notenbank 42. Mit einer solchen Politik kann der
Schuldenanteil auf einen Wert reduziert werden, der konstant bleibt, weil er einen
ausreichenden Überschuss des Grundbudgets ermöglicht. Wenn die Notenbank z.B. pro
Periode Staatspapiere in Höhe von Z übernimmt, fällt die Erhöhung der Staatsschuld von
D=rD-bPY auf D+=D-Z. Dann ist die Änderungsrate der Staatsschuld d+:=D+/D=dZ/D, und der Schuldenanteil ändert sich mit der Rate d +-y=(d-y)-Z/D. Bei Wahl von Z>(dy)D sinkt θ, und damit auch der Primärüberschuss, der für eine nachhaltige Schuldenpolitik
erforderlich ist.
Auf den ersten Blick können durch eine solche Schuldenfinanzierung die Gläubiger ohne
Belastung der Allgemeinheit befriedigt werden. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber
auch hier mögliche Folgekosten. Wenn Gläubiger bedient werden, ohne dass Steuerzahler
dafür aufkommen, wird die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage aufgrund der zusätzlichen
42
Im Allgemeinen ist es Notenbanken untersagt, Budgetdefizite direkt zu finanzieren, also neu ausgegebene
Wertpapiere auf dem sogenannten "primären Markt" zu übernehmen. Als Alternative können sie im Stil einer
Offenmarktpolitik auf dem "sekundären Markt" schon gehandelte Wertpapiere erwerben.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
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Mittel steigen. Dies kann zu Preissteigerungen führen, die praktisch wie eine Besteuerung
wirken. In der Tat wird das zentrale Problem notenbankfinanzierter Budgetdefizite in einer
Inflation gesehen. Diese senkt zwar gleichzeitig den Realwert der Staatsschuld und damit den
Schuldenanteil am Sozialprodukt, so dass die Kreditwürdigkeit des Staates auch aus diesem
Grund wieder steigt. Aber sie entwertet nicht nur Forderungen gegen den Staat sondern
Geldvermögen überhaupt. Um dies zu vermeiden, müsste die Geldschöpfung zur
Finanzierung von Staatsausgaben durch Geldvernichtung an anderer Stelle neutralisiert
werden. Anstelle einer Inflation würden dann aber Belastungen der Allgemeinheit dort
entstehen, wo Finanzierungsmittel fehlen.
Den inflationären Einfluss einer Erhöhung der Geldmenge zeigt die LM-Gleichung M=PY,
mit P als Preisniveau, Y als Sozialprodukt, PY als Geldnachfrage und M als
Geldangebot43. Bei gegebenen Werten von  und Y steigt das Preisniveau mit der
Wachstumsrate der Geldmenge. Es ist dann p=m, mit p:=P/P als Inflationsrate und
m:=M/M als Wachstumsrate der Geldmenge. Zur Beschreibung einer Inflation benutzt man
statt  häufig den Kehrwert, V:=1/, die sogenannte Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes.
Dann erhält man als Gleichgewichtsbedingung des Geldmarktes die sogenannte
Quantitätsgleichung des Geldes P=VM/Y und die Inflationsrate
p=m-y+v,
mit y als Wachstumsrate des Sozialprodukts und v als Änderungsrate der
Umlaufsgeschwindigkeit. Wenn die Notenbank durch entsprechende Anpassungen des
Geldangebots Veränderungen der Geldnachfrage bei Variationen der Umlaufsgeschwindigkeit
kompensiert, dann ist (ohne Schuldenfinanzierung) die Änderung der Geldmenge M=(yv)M, die Wachstumsrate der Geldmenge also m=y-v, und somit die Inflationsrate p=my+v=0.
3. Diese inflationsfreie Entwicklung kann durch eine Finanzierung von Staatsschulden
gefährdet sein. Wenn die Notenbank Staatspapiere in Höhe von Z aufkauft, erhöht sich die
Geldmenge um den entsprechenden Betrag, M=(y-v)M+Z. Ihre Wachstumsrate, m=yv+Z/M, verursacht eine Inflationsrate in Höhe von p=Z/M. Im Folgenden wird unterstellt,
dass die Notenbank diese Inflationsrate zuverlässig schätzen und glaubwürdig ankündigen
kann, so dass sie korrekt erwartet wird.
43
Da eine Inflation eine inflatorische Lücke I>S voraussetzt, muss bei Gleichgewicht auf dem Kreditmarkt
auch M>L sein. Die folgenden Ausführungen bleiben davon unberührt, wenn man unterstellt, dass M um
einen konstanten Prozentsatz höher ist als L.
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Einerseits erhöht die Inflation zwar die Kosten der Staatsschuld, weil die Zinszahlungen
durch den höheren Geldzins auf (1-t)(r°+p)D steigen. Auf der anderen Seite sinkt der
Realwert D/P der Verschuldung. Insgesamt kommt es zu einer Änderung der Staatsschuld in
Höhe von
D+=rD+(1-t)pD-bPY-Z.
Mit d:=r-b/θ und Z=pM ist ihre Wachstumsrate d+=D/D=d+(1-t)p-pM/D. Daraus ergibt
sich als Wachstumsrate des Schuldenanteils θ=D/PY:
d+-p-y (=d+-m) = (d-y)-(t+M/D)p.
Der Schuldenanteil sinkt, wenn d+-p-y < 0 ist. Dies kann erreicht werden, wenn die
Inflationsrate hinreichend hoch ist, nämlich
p> (d-y)/(t+M/D).
Durch die Wahl von Z kann die Notenbank eine entsprechende Inflationsrate p=Z/M
durchsetzte und damit den Schuldenanteil auf einen Wert θ* drücken, der ohne weitere
Inflation stabil ist, in dem also d-y=p=0 ist. Dieser Wert θ* ergibt sich aus d-y=0 bei einem
durch b*>0 festgelegten Überschuss des Grundbudgets, der ökonomisch und politisch
durchsetzbar ist und für eine nachhaltige Schuldenpolitik ausreicht. Eine inflationäre
Reduktion des Schuldenanteils kann nur vertreten werden, wenn sich der Staat auf einen
solchen Primärüberschuss glaubwürdig verpflichtet.
Als Beispiel für eine erfolgreiche Schuldenpolitik kann man sich z.B. eine Wahl von
Z*=p*M vorstellen, mit einer Inflationsrate p=p*=(d-y)D/M, die positiv von der bisherigen
Höhe der Staatsschuld und ihrer Wachstumsrate abhängt. Bei dieser Inflationsrate sinkt d-y,
damit auch D/M, und damit gleichzeitig die stabilisierende Inflationsrate selbst. Die
Entwicklung mündet in den erwünschten Zustand d-y=0, der auch die Inflation beendet. In
Figur 4 wird ein stabiles Gleichgewicht auf dem steigenden Ast der hügelförmigen Kurve
erreicht, und zwar entweder direkt, oder auf dem fallenden Ast, von dem aus eine einmalige
zusätzliche leichte Inflation in den Stabilitätsbereich führt.
Bei der Beurteilung einer solchen Politik wird man zunächst fragen, wie hoch die
Inflationsrate p*=(d-y)D/M sein kann. Bei D/M=1 und bei Gültigkeit der
Maastrichtkriterien wäre z.B. die maximale Wachstumsrate der Staatsschuld d=0,05 und die
Inflationsrate läge unter 5%. Aber bei Schuldenkrisen, in denen die Kriterien verletzt werden,
könnte d-y und damit p* auch zweistellig werden. Allerdings würde die Inflation bei
konsequenter Anwendung der Politik laufend zurückgehen. Wenn sie außerdem nicht
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
49
unerwartet kommt, besteht auch grundsätzlich die Möglichkeit, sich dagegen abzusichern 44.
Schließlich wäre die Inflationsgefahr in einer Phase der Unterbeschäftigung bei fehlender
makroökonomischer Nachfrage wesentlich geringer 45.
Aus diesen Gründen lässt sich eine Reduktion des Schuldenanteils durch die Notenbank
ökonomisch rechtfertigen, wenn diese unausweichlich ist, um überhaupt erst einmal eine
Basis für eine nachhaltige Budgetpolitik zu schaffen. Dann erscheint die geschilderte Politik
günstiger als ein radikaler Schuldenschnitt, weil sie mit dem Gläubigerschutz zugleich im
Interesse makroökonomischer Stabilität liegt. Der Staat kann seine Kreditwürdigkeit wieder
herstellen, wenn er als Voraussetzung für eine gelingende Sanierung sein Budget in Ordnung
bringt. Gleichzeitig kann die Notenbank den Finanzsektor stabilisieren, wenn sie ihm
Staatspapiere abnimmt, die seine Funktionsfähigkeit behindern.
Literaturangaben zu Kapitel 4
Makroökonomische Probleme und Krisen, wie Inflation und Depression, werden in der
modernen Makroökonomie seit langem kontrovers diskutiert, wobei sich vor allem
neoklassische und neo-keynesianische Ansätze gegenüberstehen (vgl. dazu den kritischen
Überblick bei Flemmig, 1995). Auf Seiten der Neoklassik dominieren Wachstumsmodelle
vom Typ DSGE (dynamic stochastic general equilibrium), die im Anschluss an die "theory of
real business cycles" entwickelt worden sind. In diesen Modellen optimiert ein repräsentativer
44
Was sich ja u.a. in der Entwicklung des Geldzinses niederschlägt. Trotzdem sind einige Einschränkungen zu
beachten. Erstens verursacht auch eine erwartete Inflation Kosten, z.B. Verzerrungen der relativen Preise und
damit verbundene Rentenverluste bei der Geldnachfrage oder bei nicht angepassten Steuersystemen. Ferner kann
man sich nicht immer gegen eine erwartete Inflation absichern, z.B. bei schon bestehenden Verträgen und
Ansprüchen, die nicht oder nicht ohne weiteres angepasst werden können.
45
Bei einer Unterbeschäftigung sind eher Preissenkungen zu erwarten, die tendenziell zu Vollbeschäftigung
führen könnten. Da diese in der Regel nur zögerlich eintreten, kann hier eine Erhöhung der Geldmenge sogar
erwünscht sein, um eine Rückkehr zu Vollbeschäftigung zu unterstützen. Wenn die Notenbank mit der
zusätzlichen Geldmenge Staatspapiere aufkauft, können die Empfänger damit Güter nachfragen, ohne andere
private Nachfrage zu verdrängen, weil mit der höheren Beschäftigung das Güterangebot entsprechend steigt. In
einer Phase der Unterbeschäftigung kann also die geschilderte Politik gleichzeitig als expansive
Offenmarktpolitik der Ankurbelung der Konjunktur dienen. Nicht empfehlenswert wäre eine solche Politik
hingegen bei Überbeschäftigung, weil ein schon vorhandener Inflationsdruck verstärkt würde. Hier ist, wie
schon erwähnt, eher eine Budgetsanierung angebracht.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
50
Haushalt den Erwartungswert einer intertemporalen Nutzensumme durch Wahl von Arbeit
und Freizeit so, dass die Grenzrate der Substitution zwischen Konsum und Freizeit gleich dem
Reallohn und die intertemporale Grenzrate der Substitution von Gegenwarts- und
Zukunftskonsum gleich dem Zinssatz ist. Lohnsatz und Zinssatz entsprechen der
Grenzproduktivität der Arbeit bzw. des Kapitals, die sich aus einer makroökonomischen
Produktionsfunktion ergeben. Abgesehen von den wirklichkeitsfremden
Rationalitätsannahmen bieten solche Modelle eine bewährte Grundlage zur Erklärung des
wirtschaftlichen Wachstums, also der langfristigen durchschnittlichen Entwicklung. Sie sind
dabei aber, wie ihr Name schon sagt, auf Gleichgewichtszustände fixiert, so dass sie
makroökonomische Probleme und Krisen, die auf Ungleichgewichten beruhen, nicht erfassen
(vgl. dazu die Einschätzungen und Beurteilungen bei Blanchard, 2016, P. Romer, 2016 und
bei Caballero, 2010). Auch Versuche, makroökonomische Ungleichgewichte mit rigiden
Güterpreisen zu erklären, haben sich nicht wirklich als erfolgreich erwiesen, weil diese Preise
im Allgemeinen flexibel auf Ungleichgewichte reagieren 46.
Bessere Erklärungen liefern hier neo-keynesianische Makromodelle, die vor allem nach der
"great recession" zu Beginn des Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewonnen haben (vgl.
dazu z.B. Galí, 2008, Akerlof und Shiller, 2009, Skidelsky, 2010 und Taylor, 2010). Im
Zentrum steht das ISLM-Modell, mit dem Hicks (1937) die Allgemeine Theorie der
Beschäftigung von Keynes zu formalisieren versucht hat, ergänzt durch eine Phillipskurve
(benannt nach Phillips, 1958), die einen Zusammenhang zwischen Beschäftigung und
Preisentwicklung angibt. Mit einem solchen neo-keynesiansichen Makromodell hat z.B. De
Grauwe (2012) makorökkonomische Schwankungen dargestellt und analysiert.
Da solche Schwankungen auch Abweichungen von einem Wachstumspfad darstellen,
integriert das in diesem Kapital vorgeschlagene Modell ein neo-keynesianisches ISLMModell in ein einfaches neoklassisches Wachstumsmodell. Es stellt damit auch einen
konsistenten Zusammenhang zwischen der Kapital- und Zinsbildung in den beiden
Modelltypen her, die bei einer Erklärung makroökonomischer Krisen eine zentrale Rolle
spielt. Bei der Zinserklärung wird außerdem auf die Theorie der ausleihbaren Fonds (loanable
funds) zurückgegriffen, die in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts vor allem von
schwedischen Ökonomen entwickelt worden ist (vgl. dazu z.B. Haberler, 1948, Kapitel 8,
46
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat man versucht, makroökonomische Ungleichgewichte mit
starren Preisen zu erklären, bei denen die Angebots- oder Nachfrageseite rationiert wird. Diese Versuche haben
sich aber als Sackgasse erwiesen, vgl. dazu Flemmig (1995, S. 24) und Vogt (1979).
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
51
insbesondere S. 180). Zu den Kreditkrisen, die dabei erklärt werden, empfiehlt sich die
Lektüre von Minsky (2011).
Literaturangaben im einzelnen:
Akerlof, G.A., Shiller, R.J., Animal Spirits. How Human Psychology Drives the Economy
and Why it Matters for global capitalism. Princeton University Press, 2009 (deutsch:
Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert. Frankfurt/New York, Campus
2009.
Bernanke, B. S., A Century of US Central Banking: Goals, Frameworks, Accountability.
Journal of Economic Perspectives, Fall 2013, 3-16.
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Economics, August 2016
Caballero, R.J., Macroeconomics after the Crisis: Time to Deal with the Pretense-ofKnowledge Syndrome. Journal of Economic Perspectives, Fall 2010, 85-102.
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Fisher, I., The Debt-Deflation Theory of Great Depressions, Econometrica 1933, 337-357.
Flemmig, J., Moderne Makroökonomik: Eine kritische Bestandsaufnahme, in ders., Moderne
Makroökonomik – eine kritische Bestandsaufnahme, Marburg 1995, S. 11-90.
Frydman, R., Goldberg, M.D., Jenseits rationaler Märkte. Die neue Marktwirtschaft nach
Keynes und Hayek. Wiley-VCH, Weinheim 2012.
Galí, J., Monetary Policy, Inflation and the Business Cycle, Princeton University Press 2008.
Garon, S., Beyond Our Means. Why America Spends While the World Saves, Princeton
2011.
Haberler, G., Prosperität und Depression. Eine theoretische Untersuchung der
Konjunkturbewegungen, 3. Auflage, Bern, Francke, 1948.
Hicks, J.R., Mr. Keynes and the 'Classics': A Suggested Interpretation, Econometrica 1937,
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Jaimovich, N., Rebelo, S., Can News about the Future Drive the Business Cycle? American
Economic Review, Sept. 2009, 1097-1118.
Keynes, J.M., The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936.
Konrad, K.A., Zschäpitz, H., Schulden ohne Sühne? Warum der Absturz der Staatsfinanzen
uns alle trifft, München 2010.
Winfried Vogt
Marktwirtschaft Kapitel 4
52
Lorenzini, G., A Theory of Demand Shocks, American Economic Review, Dec. 2009, 20502084.
Milani, F., Expectation Shocks and Learning as Drivers of the Business Cycle, Economic
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Minsky, H.M., Instabilität und Kapitalismus, Zürich 2011.
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the United Kingdom, 1861-1957, Economica 1958, 283-299.
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Synthese, in: Laski, K., Matzner, E. Nowotny, E., Beiträge zur Diskussion und Kritik
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Springer 1979, 65-76.