Schulz: Wie kann er es wagen? Ein Hauch von sozialer Politik weckt sofort Empörung der alten Agenda-Freunde ▶ Seite 14 AUSGABE BERLIN | NR. 11258 | 8. WOCHE | 39. JAHRGANG MITTWOCH, 22. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ Südsudan, Februar 2017 KNASTBRUDER Lieber Deniz: Die Welt braucht dich! Wir auch. Grüße aus Kreuzberg ▶ SEITE 13 KINDERSCHUTZ Chari- té-Bilanz: Können frühe Therapien Missbrauch verhindern? ▶ SEITE 2 KOMMUNISMUS Wie er im Schulbuch steht: die Schlümpfe ▶ SEITE 18 BERLIN Was machen die Ex-Piraten? ▶ SEITE 23 Fotos oben: Isabel Lott; dpa HUNGER Zum ersten Mal seit VERBOTEN sechs Jahren hat die UNO offiziell eine Hungersnot ausgerufen – im Südsudan sind 100.000 Menschen akut vom Tod bedroht, fast 5 Millionen haben zu wenig zu essen. Ursache ist der Bürgerkrieg, der die Menschen in die Flucht und Armut treibt. Große Teile des Landes können höchstens aus der Luft versorgt werden. Warum es viel zu wenig Hilfe und viel zu viele Waffen gibt Guten Tag, meine Damen und Herren! Viele wissen es nicht. Aber als die taz den Deniz Yücel zur Welt gebracht hat, steckte dahinter ein Plan: Eroberung durch Unterwanderung. Und? Gestern, kaum anderthalb Jahre später, druckt die einst staubdeutscheste Zeitung, wo gab, den pornobärtigsten Turkogermanen, wo gibt, auf den Titel, schreibt „WIR SIND DENIZ“ daneben, knipst die tazzig-soliplakative Redaktion mit der Eins in den Händen und twittert das Ganze ins All. Revolution accomplished! Oder auf Süddeutsch: ▶ Schwerpunkt SEITE 3 „Trööt!“ Endlich Brot statt Bomben: Ein Flugzeug des World Food Programme der UNO wirft am Samstag im südsudanesischen Bundesstaat Unity Nahrungsmittelsäcke ab F.: S. Modola/reuters TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.672 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Diese Krise ist menschengemacht. Gäbe es im Südsudan keinen Bürgerkrieg, müssten die Menschen nicht vor Soldaten fliehen, sie müssten nicht ihre Ernten und ihr Hab und Gut zurücklas- Notstand als letzte Hoffnung sen, sie müssten sich nicht in Sümpfen verstecken oder in überfüllten UNLagern Schutz suchen. Und gäbe es im Südsudan keinen Bürgerkrieg, hätten dort nicht seit der Unabhängigkeit 2011 skrupellose Warlords das Sagen, die ihre Ölmilliarden ins Ausland scheffeln, die Bevölkerung internationalen Helfern überlassen und bedenkenlos ihr Land in Brand setzen, wenn sie sich unter einander nicht einig werden. Die Reaktion der Weltpolitik auf Südsudans Drama ist lächerlich. Die UNMission im Südsudan ist intern zerstritten, politisch gelähmt und militärisch tatenlos. Nicht einmal ein Waffenembargo hat der UN-Sicherheitsrat zustande ge- bracht. Bei der letzten Abstimmung kurz vor Weihnachten 2016 enthielten sich Russland, China, Japan, Malaysia, Venezuela und alle drei afrikanischen Ratsmitglieder: Angola, Ägypten und Senegal. Die restlichen Ja-Stimmen waren zu wenige, um die Resolution passieren zu lassen. Ein Armutszeugnis. Es gibt einen afrikanisch vermittelten Friedensprozess für Südsudan. In drei Die Reaktion der Weltpolitik auf das Drama kann man nur lächerlich nennen Jahren hat er nichts erreicht. Er wird wohl endlos weitergehen und weiter nichts erreichen, denn Südsudans Warlords verbringen gerne mal ein paar Wochen kostenlos in Luxushotels mit Konferenzzentren in Nachbarländern. Aber das kann ja wohl nicht der Gipfel der internationalen Krisendiplomatie sein. Den Hungernden im Südsudan muss trotzdem sofort geholfen werden. Vielleicht sorgt das offizielle Ausrufen einer Hungersnot ja dafür, dass Hilfe nicht mehr so systematisch erschwert wird wie bisher. Vielleicht ermöglicht die praktische Hilfe vor Ort neue politische Prozesse, die Auswege aus dem Krieg aufzeigen. Es wäre immerhin ein Anfang. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN SCH LEPPER LASSEN FLÜCHTLI NGE IM STICH DEUTSCH LAN D RÜSTET AUF Dutzende sterben vor Libyens Küste Bundeswehr soll größer werden TRIPOLIS | Die Leichen von 74 Neuer Nationaler Sicherheits berater: H. R. McMaster Foto: dpa Donald Trumps zweite Wahl H erbert Raymond McMaster, dessen Vorname eigentlich immer und überall nur „H. R.“ abgekürzt verwandt wird, ist ein Militär durch und durch. Seit Montag ist der Drei-Sterne-General außerdem neuer Nationaler Sicherheitsberater der USA. Er folgt auf den nach nur drei Wochen Amtszeit entlassenen Exgeneral Michael Flynn. Im Unterschied zu Flynn, der ganz offensichtlich aufgrund seiner absoluten Loyalität zu Präsident Donald Trump ins Amt gekommen war – Flynn war im Wahlkampf oft für ihn aufgetreten und hatte die Menge gegen Hillary Clinton angeheizt –, genießt McMaster uneingeschränkten Respekt im Militär und selbst bei politischen Gegnern des Präsidenten. Der republikanische Senator John McCain, einer der wichtigsten Trump-Kritiker aus den Reihen der eigenen Partei, lobte die Berufung McMasters in den höchsten Tönen. Der 55-Jährige war im Golfkrieg von 1991 genauso dabei wie im Irakkrieg und in Afghanistan. In allen Kriegen tat er sich als geschickter Militärstratege hervor. Im Irakkrieg setzte er beispielhaft Aufstandsbekämpfungsstrategien durch, die in das von General Petraeus ausgearbeitete entsprechende Handbuch Eingang fanden. Schon als junger Offizier hatte er sich einen Namen gemacht, als er ein Buch über die gescheiterte Militärstrategie im Vietnamkrieg veröffentlichte – nicht zuletzt auch eine Kritik am Generalstab, der sich wider besseren Wissens nicht gegen die politische Führung durchsetzte. Vor allem dieser Veröffentlichung verdankt McMaster seinen Ruf als Militärintellektueller. Seine Karriere, so verzeichnen es alle Würdigungen, wurde immer wieder verlangsamt, weil er durchaus seine Vorgesetzten kritisierte, sich als unabhängiger Denker etablierte. Auch deshalb wohl schlägt ihm zunächst große Sympathie von allen Seiten für den neuen Posten entgegen. Sofern er sich in jüngster Zeit überhaupt politisch geäußert hat, ist er durch eine kritische Haltung zu Russland aufgefallen, was die Nato-Partner beruhigen dürfte. McMaster bleibt auch als Sicherheitsberater aktiver General. BERND PICKERT Meinung + Diskussion SEITE 12 Der Tag M IT TWOCH, 22. FEBRUAR 2017 Flüchtlingen sind an einem Strand nahe der libyschen Stadt Sawija gefunden worden. Der Hilfsorganisation Roter Halbmond zufolge sind die Menschen vermutlich innerhalb der letzten beiden Tage gestorben. Die meisten seien erwachsene Männer, nur drei Frauen befänden sich unter den Opfern, die größtenteils aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammten. Laut Küstenwache und der Internationalen Organisation für Migration haben Schlepper den Motor des Schlauchbootes ge- stohlen und die Migranten im Meer treibend zurückgelassen. Einige Tote befanden sich noch in dem angeschwemmten Boot. Ein Helfer sagte, die Zahl der Opfer werde noch steigen. Einige Leichen seien im Meer treibend ausgemacht, aber noch nicht geborgen worden. Libyen ist derzeit der Hauptausgangspunkt für Flüchtlinge, die Europa per Schiff erreichen wollen. Allein 2016 haben 181.000 Migranten versucht, von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Davon sind mindestens 4.500 ums Leben gekommen. (rtr) BERLIN | Wegen neuer Bedro- hungen und wachsender Aufgaben für die Truppe will die Bundeswehr kräftig aufstocken. Bis 2024 soll sie laut Verteidigungsministerium auf 198.000 Soldaten und 61.000 Zivilisten wachsen. Derzeit zählt die Bundeswehr knapp 178.000 aktive Soldaten. „Die Bundeswehr ist gefordert wie selten zuvor“, betonte CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und führte den Kampf gegen den ISTerror, Einsätze in Mali und Afghanistan und die Nato-Präsenz im Baltikum an. (dpa) TAZ LI EST DEN IZ Unser Exkollege Deniz Yücel sitzt in Istanbul hinter Gittern. Solange er nichts Neues veröffentlichen kann, lesen wir einfach seine alten Texte noch einmal. Und zwar jeden Tag. Jede Menge davon finden Sie unter www.taz.de/Deniz Journalismus ist kein Verbrechen www.taz.de „Bei mir stimmt was nicht“ SEXUELLE GEWALT Ein Pilotprojekt kümmert sich um Jugendliche, die sich zu Jüngeren oder Kindern hingezogen fühlen. Mit Erfolg. Keiner der Behandelten wurde sexuell übergriffig AUS BERLIN SIMONE SCHMOLLACK Wenn Johannes an einem Bolzplatz vorbeikommt und dort Jungs Fußball spielen sieht, bleibt er stehen. Er sieht, wie die Jungs rennen, er sieht ihre verschwitzten Körper und die klebrigen T-Shirts. Das erregt ihn sexuell. Aber Johannes weiß, dass er keinen dieser Jungs anfassen darf. Oder – noch schlimmer – mit einem von ihnen Sex haben darf. Weil Johannes das bewusst ist, geht er rasch weiter. Johannes ist fiktiv. Aber Jugendliche, die sich sexuell zu Jüngeren und sogar zu Kindern nicht irgendwann einem Kind sexuelle Gewalt antun. Wer Hellenschmidt in seinen Diensträumen im Klinikum in Friedrichshain besucht, erlebt einen zurückgelehnten, bedachten Mediziner. Von Fällen redet er vorsichtig, um die Betroffenen zu schützen. Man kann sich vorstellen, wie er mit den jungen Patienten über deren sexuelle Präferenzstörung – das ist der Fachbegriff für das sexuelle Hingezogensein zu Kindern – spricht. Von Hellenschmidt geht eine große Ruhe aus. Die braucht es bei einem Thema, das in der Bevölkerung Haus von Manuela Schwesig (SPD) finanziert das Projekt PPJ mit insgesamt 600.000 Euro. Ende 2017 wird es nach dreijähriger Laufzeit beendet werden. Der Grund dafür sei nicht, wie Kleindiek betont, dass Schwesigs Ministerium das Projekt nicht wichtig fände. Sondern dass die Therapiekosten für die Betroffenen bereits seit Beginn dieses Jahres von den Krankenkassen bezahlt würden. „Anonym“, wie Kleindiek versichert. Ein „Meilenstein“, wie Projektleiter Beier sagt. Um das zu erreichen, war PPJ als Pilotprojekt nötig. Bevor es 2014 startete, stell- Eins der Plakate, mit das Projekt der Berliner Charité Jugendliche ansprechen will Foto: Britta Pedersen/dpa hingezogen fühlen, gibt es. Laut Schätzungen – genaue Zahlen gibt es nicht – ist das ein Prozent Betroffener der Jugendlichen in Deutschland. Das sind rund 250.000 Jugendliche, in der Regel männlich. Tobias Hellenschmidt kennt manche von ihnen. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater im Vivantes-Klinikum Berlin-Friedrichshain, dort leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und zuständig für ein deutschlandweit einzigartiges Projekt mit dem sperrigen Titel „Primäre Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendliche“ (PPJ). Einfach ausgedrückt: Hellenschmidt bringt Jungs und jungen Männern bei, mit ihrem besonderen Begehren umzugehen. So, dass sie leicht Hysterie auslöst. Umfragen zufolge würden 80 Prozent der „Normalbevölkerung“ sogenannte Kinderschänder am liebsten dauerhaft hinter Gitter sehen. Manche wünschen ihnen den Tod. Am Dienstag sitzt Hellenschmidt in einem Konferenzraum in der Berliner Charité, die zusammen mit Vivantes das Projekt PPJ ins Leben gerufen hat. Vorbild dafür ist das seit 2005 laufenden Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ für pädosexuelle Männer. Neben Hellenschmidt sitzt unter anderen Klaus Beier, Professor für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité und PPJ-Projektleiter, und Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Familienministerium. Das „Die Betroffenen leiden oft an Depressionen“ TOBIAS HELLENSCHMIDT, PSYCHIATER ten sich SexualtherapeutInnen und JugendpsychiaterInnen Fragen wie: Wie kommen wir an betroffene Jugendliche heran, bevor sie als Erwachsene zum Täter werden? Können wir ihnen helfen? Hellenschmidt, Beier und andere MitarbeiterInnen starteten die Kampagne „Du träumst von ihnen“, sie posteten das Projekt im Internet. Seither haben sich 134 Jugendliche gemeldet. 41 von ihnen wurden erfolgreich behandelt. „Keiner von ihnen ist bislang sexuell übergriffig geworden“, sagt Beier. Angesprochen werden sollen Kinder ab 12 Jahren, ein Alter, in dem Pubertät und damit eine intensivere Sexualität einsetzen. Doch das Durchschnittsalter der Jugendlichen in der Sprechstunde liegt bei 15 Jahren. Sie reisen aus der gesamten Bundesrepublik an, ein Patient fliegt regelmäßig aus Süddeutschland nach Berlin zu Hellenschmidt. Es sind ausschließlich Jungen. Sie schreiben E-Mails oder rufen an. Sie werden Sätze los wie: „Ich glaube, bei mir stimmt was nicht.“ Bis- EU-STEUERENTSCH EI DUNG Apple greift in seiner Klage massiv an CUPERTINO | Apple greift die 13-Milliarden-Euro-Steuernachzahlung in Irland in seiner Klage beim EU-Gericht auf breiter Front an. In den Infos zur Klageschrift listet der US-Konzern 14 Gründe für den Gang vor Gericht auf. So habe die EU-Kommission unter anderem irisches Recht nicht richtig ausgelegt, Fehler bei der Bewertung der Tätigkeit von Apple gemacht und „keine sorgfältige und unparteiische Untersuchung durchgeführt“. Apple will erreichen, dass die EU-Entscheidung annulliert wird. (dpa) Pädophilie oder Präferenz Warum Jugendliche noch nicht pädophil sein können SACHKUNDE BERLIN taz | Wenn über Män- ner gesprochen wird, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, fallen viele Begriffe für dieses Begehren. Die häufigsten sind Pädophilie oder Pädosexualität. Pädophilie stammt vom griechischen pais und heißt übersetzt Knabe oder Kind und drückt das primäre sexuelle Interesse an Kindern aus, bevor diese in die Pubertät kommen. SexualtherapeutInnen vermeiden diese Begriffe und verwenden dafür eher die Formulierung sexuelle Präferenz: wenn sich die Libido auf Kinder richtet. Bei Jugendlichen wird die Diagnose „Pädophilie“ ohnehin nicht gestellt, sagt Tobias Hellenschmidt, Kinder- und Jugendpsychiater am VivantesKlinikum Berlin-Friedrichshain. Dafür sei zu unklar, wie sich die Sexualität des jungen Menschen im Laufe dessen Lebens entwickle. Hellenschmidt therapiert Jugendliche, die sich sexuell von Jüngeren und von Kindern angezogen fühlen, so dass sie dieses Empfinden nicht ausleben. Nun sind Begehren und das Umsetzen von Lust in die Realität zunächst zwei verschiedene Dinge. „Das eine muss mit dem anderen nicht in direkter Verbindung stehen“, sagt Tobias Hellenschmidt. Auf der einen Seite steht die Fantasie, in der ein Jugendlicher oder ein Mann sich Kinder als Sexobjekte vorstellt. Auf der anderen Seite gibt es das reale sexuelle Verhalten, wie ein Mensch THEMA DES im Laufe seines LeTAGES bens Sexualität lebt. lang hat sich nur ein Dort hinein spielen soziale, intellektuelle und Mädchen gemeldet, zur familiäre Aspekte, die BetrofSprechstunde ist es nicht erschienen. fenen im besten Falle suggerieHäufig melden sich die El- ren: Das, was du ersehnst, darfst tern der Jungen, wenn sie fest- du nicht. „Es gibt also Menschen stellen, dass ihre Söhne anders mit eindeutig auf Kinder gerichsind als andere Kinder. Dass sie teten Fantasien, die sie aber niesich nicht – wie üblich – in Mäd- mals ausleben.“ chen oder andere Jungs verlieWie bringt man Jugendliche ben, sondern dass sie sich Bil- und Männer dazu, sich zu beder von kleinen Kindern im In- herrschen und sexuell nicht ternet anschauen. übergriffig zu werden? EinerDie betroffenen Jungen ha- seits mit Medikamenten, die die ben einen großen Leidens- „sexuelle Impulsivität“ dämpdruck, sagt Hellenschmidt: „Sie fen, erklärt Hellenschmidt. fühlen sich schlecht und leiden Andererseits mit Verhaltensoft an Depressionen.“ Sie wollen therapien, um die „kognitive keine „Kinderficker“ sein. Aber Dissonanz“ zwischen sexuelsie wissen auch, dass „das“ nicht ler Erregung und dem Wissen, weggeht. Ihr größter Wunsch diese nicht ausleben zu dürfen, ist, ein ganz „normaler“ Mann zu handhaben. SIMONE SCHMOLLACK zu sein. Schwerpunkt Südsudan M IT TWOCH, 22. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 In dem Bürgerkriegsland rufen Regierung und UNO eine Hungersnot aus. Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist bedroht Von Anfang an zerrissen Der jüngste Staat der Welt kommt nicht zur Ruhe POLITIK Die Republik Südsudan, mit 619.745 km² Fläche und rund 12 Millionen Einwohnern, ist der jüngste Staat der Welt. 2011 entstand er nach Jahrzehnten des Befreiungskrieges: Guerilla gruppen nichtarabischer und nichtmuslimischer Völker Sudans kämpften gegen die Regierungen in Khartoum. Nach einem Friedensabkommen wurde Südsudan 2005 autonom, dann am 9. Juli 2011 unabhängig. Präsident wurde Salva Kiir, der Chef der Sudan People’s Liberation Army (SPLA). Er ist Angehöriger der größten Volksgruppe der Dinka. Sein Rivale Riek Machar von der zweitgrößten Volksgruppe der Nuer wurde Vizepräsident. Was ging schief? Südsudan, Bundesstaat Unity, am 18. Februar: Ein Junge wartet auf Lebensmittel, die vom Hilfswerk WFP abgeworfen werden Foto: Siegfried Modola/reuters „Die Menschen haben alles verloren“ GEWALT Dort, wo jetzt die UNO eine Hungersnot ausgerufen hat, führt die Regierung des Südsudan einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Zivilbevölkerung. Die Region ist Heimat des Rebellenführers BERLIN taz | Es dauert lange, an Hunger zu sterben. Erst verzehrt der Körper sich selbst. Wenn alles Fett und alles Gewebe aufgebraucht ist und nur Haut und Knochen übrig sind, kommt jede Hilfe zu spät. Meist tritt der Tod vorher ein, verursacht von Infekten. Es dauert noch länger, bis die Vereinten Nationen eine Hungersnot ausrufen. Von drei Kriterien lautet das wichtigste: Mindestens zwei Hungertote pro 10.000 Menschen pro Tag. Das klingt wenig – aber auf die Bevölkerung Berlins hochgerechnet wären das rund 700 Hungertote täglich. Zuletzt stellte die UNO im Jahr 2011 eine Hungersnot fest, in Somalia. Schätzungsweise die Hälfte der 250.000 Opfer war zum Zeitpunkt der Verkündung schon tot. Am Montag stellten UN-Hilfswerke gemeinsam mit Südsudans Ernährungsbehörde IPC eine Hungersnot in den südsudanesischen Landkreisen Leer und Mayendit fest. Dort leben 100.000 Menschen. Hungersnot heißt also: mindestens 20 Tote pro Tag. Oder 600 pro Monat. Oder mehrere tausend bis Juli, wenn die magere Jahreszeit vor der nächsten Ernte ihren Höhepunkt erreicht. Leer, im Bundesstaat Unity gelegen, ist das Epizentrum des Hungers im Südsudan – und zugleich die Heimatgemeinde von Riek Machar, dem exilierten Rebellenführer. Die Regierung des Südsudan betrachtet die Angehörigen von Machars Volksgruppe der Nuer kollektiv als Feinde. Als im Dezember 2013 Regierungstruppen in der Hauptstadt Juba Massaker an Nuer verübten, antworteten meuternde Nuer-Soldaten in Unitys Hauptstadt Bentiu mit Massakern an Dinka, der Volksgruppe des Präsidenten. Unity ist der einzige Bundesstaat des Landes, wo Nuer in der Mehrheit sind. Regierungstruppen haben Bentiu mittlerweile zurückerobert, aber die Stadt ist verwüstet. Über 120.000 Zivilisten sind in die UN-Basis von Bentiu geflohen, mehr als irgendwo sonst im Südsudan. Über 90 Prozent der Einwohner von Unity sind auf der Flucht, ebenfalls ein Rekord. Immer, wenn die Regenzeit endet und die Sumpfge- Hungersnot heißt also: mindestens 20 Tote pro Tag. Oder 600 pro Monat biete im Nil-Binnendelta mitten im Südsudan wieder zugänglich werden, stoßen die Regierungstruppen, die im Norden von Unity die Ölfelder bewachen, nach Süden vor, wo die Rebellen stehen. Bei diesen Feldzügen werden systematisch zivile Einrichtungen ausgeplündert. Das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Leer wurde mehrfach verwüstet und inzwischen geschlossen. „Die Menschen hier haben alles verloren“, berichtete am Dienstag MSF-Projektkoordinator Nicolas Peissel. Das Hilfswerk verbreitete den Erlebnisbericht der Südsudane- sin Nyayolah, die sich in Leer zu MSF gerettet hat: „Im Oktober und November mussten wir drei Mal aus unserem Dorf fliehen. Wir haben gelernt, die Geräusche von Autos und Panzern zu erkennen, und haben jedes Mal mitgenommen, was wir konnten, bevor wir geflohen sind. Die bewaffneten Männer haben auf uns geschossen und unsere Häuser geplündert. Ich bin mit den Zwillingen im Arm und meiner vierjährigen Tochter weggelaufen. Manchmal sahen wir Menschen, die beim Laufen zu Boden fielen, nachdem auf sie geschossen wurde, oder Menschen, die ihre Habseligkeiten wegwarfen, da sie damit nicht schnell genug rennen konnten. Wir versteckten uns bis Einbruch der Dunkelheit und gingen zurück, wenn die Soldaten weg waren. Jedes Mal fanden wir danach weniger zu Hause vor. Zuerst waren unser Vieh, unsere Ziegen und Hühner weg, dann unsere Ernte, und Geringfügig Angespannt Krise Notstand Hungersnot Spurlos verschwunden Am 3. Februar berichtete Ärzte ohne Grenzen, die 20.500 Bewohner des Ortes Wau Shilluk, der am Nil gegenüber Upper Niles Provinzhauptstadt Malakal liegt, seien alle in den Busch geflohen, weil Artilleriegeschosse ihren Ort trafen. Zwei Wochen später berichtete die UN-Mission im Südsudan (UNMISS), die Menschen dort seien spurlos verschwunden – und die Re- 100 km SUDAN Northern Bahr el Ghazal Bentiu Warrap Western Bahr el Ghazal ZENTRAL AFRIKANISCHE REPUBLIK schließlich wurden unsere Häuser geplündert und verbrannt.“ Ihre letzte Ernte haben die Menschen dieser Region auf diese Weise verloren, neu anpflanzen konnten sie nicht, weil sie fliehen mussten. Deswegen wird es kein schnelles Ende der Hungerkrise in Unity geben. Die Region ist der Brennpunkt des Hungers, aber nicht der einzige Brennpunkt des Krieges. Heftige Gefechte werden derzeit aus dem Bundesstaat Upper Nile gemeldet. Südsudan Upper Nile Unity Nil VON DOMINIC JOHNSON ÄTHIOPIEN Jonglei Lakes Western Equatoria DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO taz.Grafik: infotext-berlin.de/L. Ziyal SÜDSUDAN Juba Eastern Equatoria Central Equatoria KENIA UGANDA Quelle: IPC Südsudan gierungsarmee habe die UN daran gehindert, die Fliehenden zu suchen. UNMISS moniert, dass die Regierung Helfern den Zugang zu Bedürftigen erschwert – durch bürokratische Hürden und mit Gewalt. 74 Mitarbeiter von Hilfswerken wurden im vergangenen Jahr im Südsudan getötet und 108 verletzt, ein Weltrekord. Weil das Land fast keine Straßen hat, müssen Hilfsgüter per Flugzeug transportiert werden. Keine Maschine kann ohne staatliche Genehmigung starten und landen. Die Regierung macht kein Hehl daraus, dass sie Blauhelme und Hilfswerke am liebsten loswerden möchte. Das Problem ist nicht nur der Krieg. Die Wirtschaft ist komplett zusammengebrochen. Was es noch an Geld gibt, schaffen die Machthaber ins Ausland – in Kenia gibt es viele gut gefüllte Bankkonten von Südsudanesen. Die Preise für das Grundnahrungsmittel Maismehl haben sich 2016 verachtfacht. Und die Lage wird sich weiter verschlechtern: Laut IPC leben jetzt 4,9 Millionen Menschen in „schwerer Ernährungsunsicherheit“, bis Juli dürften es 5,5 Millionen sein. Viele Menschen, berichten die Helfer, ernähren sich von Beeren, Zweigen, Baumrinde und Wasserlilien. „Verlässliche, ausreichende und rechtzeitige humanitäre Interventionen könnten die Hungersnot-Einstufung rückgängig machen und viele Leben retten“, so die IPC-Erklärung. „Es ist unerlässlich, dass alle Parteien des aktuellen politischen Konflikts bedingungslosen humanitären Zugang gewähren.“ Dinka und Nuer waren innerhalb der SPLA schon immer zerstritten. 2013 zerbrach das Bündnis, Machar wurde entlassen. Mitte Dezember 2013 bezichtigte ihn Präsident Kiir des Putschversuchs, zahlreiche Nuer in der Hauptstadt Juba wurden verhaftet oder getötet. Die meisten Nuer in der SPLA rebellierten und gründeten die „SPLA In Opposition“ (SPLA-IO), die selbst brutale Massaker an Dinka beging. Ein Bürgerkrieg zwischen ethnisch definierten Armeeeinheiten und Milizen begann. Mindestens 50.000 Menschen sollen umgekommen sein. Mehrere Anläufe zum Friedensschluss scheiterten. Zuletzt brachen im Juli 2016 wieder schwere Kämpfe aus, nachdem Machar – erst kurz wieder im Amt – erneut abgesetzt worden war. Wie ist die Lage heute? In Juba regiert Präsident Kiir weiter. Rebellenführer Machar konnte sich 2016 in den Kongo retten und wurde schwer verletzt in den Sudan evakuiert. Die SPLA-IO ist zerstritten. Auch im Regierungslager brodelt es. Zur Selbstverteidigung im Bürgerkrieg sind vielerorts lokale Milizen entstanden. Das heizt lokale Konflikte an, vielerorts kommt es vermehrt zu Kämpfen. Derzeitiger Brennpunkt ist die Provinz Upper Nile. Von den 12 Millionen Südsudanesen sind über 1,5 Millionen in Nachbarstaaten geflohen; mehr als 1,85 Millionen sind im Land auf der Flucht, davon nach jüngstem Stand rund 224.000 auf Basen der UN-Mission im Südsudan. Seit Januar sind weitere 75.000 Bewohner in die Nachbarstaaten geflüchtet. Was tut die UNO? Die Vereinten Nationen unterstützen die Friedensbemühungen der Afrikanischen Union, bislang ohne Erfolg. 13.000 Blauhelme sind im Rahmen der UN-Mission im Südsudan (UNMISS) präsent. Außerhalb ihrer Stützpunkte sind sie weitgehend machtlos. Nachdem sie mehrfach beim Schutz von Zivilisten versagten, soll eigentlich eine Eingreiftruppe von 4.000 Mann stationiert werden. Das verzögert sich aber immer wieder – auch weil Südsudans Regierung sie nicht wirklich will. D.J.
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