taz.die tageszeitung

Schulz: Wie kann er es wagen?
Ein Hauch von sozialer Politik weckt sofort Empörung der alten Agenda-Freunde ▶ Seite 14
AUSGABE BERLIN | NR. 11258 | 8. WOCHE | 39. JAHRGANG
MITTWOCH, 22. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
Südsudan,
Februar 2017
KNASTBRUDER Lieber
Deniz: Die Welt braucht
dich! Wir auch. Grüße
aus Kreuzberg ▶ SEITE 13
KINDERSCHUTZ Chari-
té-Bilanz: Können frühe
Therapien Missbrauch
verhindern? ▶ SEITE 2
KOMMUNISMUS Wie
er im Schulbuch steht:
die Schlümpfe ▶ SEITE 18
BERLIN Was machen
die Ex-Piraten? ▶ SEITE 23
Fotos oben: Isabel Lott; dpa
HUNGER Zum ersten Mal seit
VERBOTEN
sechs Jahren hat die UNO
offiziell eine Hungersnot
ausgerufen – im Südsudan sind
100.000 Menschen akut vom
Tod bedroht, fast 5 Millionen
haben zu wenig zu essen.
Ursache ist der Bürgerkrieg,
der die Menschen in die Flucht
und Armut treibt. Große Teile
des Landes können höchstens
aus der Luft versorgt werden.
Warum es viel zu wenig Hilfe
und viel zu viele Waffen gibt
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Viele wissen es nicht. Aber als
die taz den Deniz Yücel zur
Welt gebracht hat, steckte dahinter ein Plan: Eroberung
durch Unterwanderung. Und?
Gestern, kaum anderthalb
Jahre später, druckt die einst
staubdeutscheste Zeitung, wo
gab, den pornobärtigsten
Turkogermanen, wo gibt, auf
den Titel, schreibt „WIR SIND
DENIZ“ daneben, knipst die
tazzig-soliplakative Redak­tion
mit der Eins in den Händen
und twittert das Ganze ins All.
Revolution accomplished!
Oder auf Süddeutsch:
▶ Schwerpunkt SEITE 3
„Trööt!“
Endlich Brot statt Bomben: Ein Flugzeug des World Food Programme der UNO wirft am Samstag im südsudanesischen Bundesstaat Unity Nahrungsmittelsäcke ab F.: S. Modola/reuters
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30608
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KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON ZUR HUNGERSNOT IM SÜDSUDAN
S
üdsudan ist nicht Syrien. Im Südsudan führen keine Weltmächte Stellvertreterkriege. Dort entscheiden
sich nicht die Supermachtansprüche
Russlands und der USA. Auch findet der
islamistische Terror dort keinen Unterschlupf. Worum es im Südsudan geht, ist
weltpolitisch viel unwichtiger: eine Hungerkrise, die in den nächsten Monaten
fünf Millionen Menschen in Lebensgefahr versetzen wird, und eine Hungersnot, die jetzt schon Menschen dahinrafft.
Diese Krise ist menschengemacht.
Gäbe es im Südsudan keinen Bürgerkrieg, müssten die Menschen nicht vor
Soldaten fliehen, sie müssten nicht ihre
Ernten und ihr Hab und Gut zurücklas-
Notstand als letzte Hoffnung
sen, sie müssten sich nicht in Sümpfen verstecken oder in überfüllten UNLagern Schutz suchen. Und gäbe es im
Südsudan keinen Bürgerkrieg, hätten
dort nicht seit der Unabhängigkeit 2011
skrupellose Warlords das Sagen, die ihre
Ölmilliarden ins Ausland scheffeln, die
Bevölkerung internationalen Helfern
überlassen und bedenkenlos ihr Land
in Brand setzen, wenn sie sich unter­
einander nicht einig werden.
Die Reaktion der Weltpolitik auf
Südsudans Drama ist lächerlich. Die UNMission im Südsudan ist intern zerstritten, politisch gelähmt und militärisch tatenlos. Nicht einmal ein Waffenembargo
hat der UN-Sicherheitsrat zustande ge-
bracht. Bei der letzten Abstimmung kurz
vor Weihnachten 2016 enthielten sich
Russland, China, Japan, Malaysia, Venezuela und alle drei afrikanischen Ratsmitglieder: Angola, Ägypten und Senegal. Die restlichen Ja-Stimmen waren zu
wenige, um die Resolution passieren zu
lassen. Ein Armutszeugnis.
Es gibt einen afrikanisch vermittelten
Friedensprozess für Südsudan. In drei
Die Reaktion der Weltpolitik auf das Drama kann
man nur lächerlich nennen
Jahren hat er nichts erreicht. Er wird wohl
endlos weitergehen und weiter nichts erreichen, denn Südsudans Warlords verbringen gerne mal ein paar Wochen kostenlos in Luxushotels mit Konferenzzentren in Nachbarländern. Aber das kann
ja wohl nicht der Gipfel der internationalen Krisendiplomatie sein.
Den Hungernden im Südsudan muss
trotzdem sofort geholfen werden. Vielleicht sorgt das offizielle Ausrufen einer Hungersnot ja dafür, dass Hilfe nicht
mehr so systematisch erschwert wird wie
bisher. Vielleicht ermöglicht die praktische Hilfe vor Ort neue politische Prozesse, die Auswege aus dem Krieg aufzeigen. Es wäre immerhin ein Anfang.
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
SCH LEPPER LASSEN FLÜCHTLI NGE IM STICH
DEUTSCH LAN D RÜSTET AUF
Dutzende sterben vor Libyens Küste
Bundeswehr soll
größer werden
TRIPOLIS | Die Leichen von 74
Neuer Nationaler Sicherheits­
berater: H. R. McMaster Foto: dpa
Donald Trumps
zweite Wahl
H
erbert Raymond McMaster, dessen Vorname eigentlich immer und überall nur „H. R.“ abgekürzt verwandt wird, ist ein Militär durch
und durch. Seit Montag ist der
Drei-Sterne-General außerdem
neuer Nationaler Sicherheitsberater der USA. Er folgt auf den
nach nur drei Wochen Amtszeit
entlassenen Exgeneral Michael
Flynn.
Im Unterschied zu Flynn, der
ganz offensichtlich aufgrund
seiner absoluten Loyalität zu
Präsident Donald Trump ins
Amt gekommen war – Flynn war
im Wahlkampf oft für ihn aufgetreten und hatte die Menge gegen Hillary Clinton angeheizt
–, genießt McMaster uneingeschränkten Respekt im Militär und selbst bei politischen
Gegnern des Präsidenten. Der
republikanische Senator John
McCain, einer der wichtigsten
Trump-Kritiker aus den Reihen
der eigenen Partei, lobte die Berufung McMasters in den höchsten Tönen.
Der 55-Jährige war im Golfkrieg von 1991 genauso dabei
wie im Irakkrieg und in Afghanistan. In allen Kriegen tat er
sich als geschickter Militärstratege hervor. Im Irakkrieg setzte
er beispielhaft Aufstandsbekämpfungsstrategien durch,
die in das von General Petraeus
ausgearbeitete entsprechende
Handbuch Eingang fanden.
Schon als junger Offizier
hatte er sich einen Namen gemacht, als er ein Buch über die
gescheiterte Militärstrategie im
Vietnamkrieg veröffentlichte –
nicht zuletzt auch eine Kritik
am Generalstab, der sich wider
besseren Wissens nicht gegen
die politische Führung durchsetzte. Vor allem dieser Veröffentlichung verdankt McMaster seinen Ruf als Militärintellektueller.
Seine Karriere, so verzeichnen es alle Würdigungen, wurde
immer wieder verlangsamt, weil
er durchaus seine Vorgesetzten
kritisierte, sich als unabhängiger Denker etablierte. Auch deshalb wohl schlägt ihm zunächst
große Sympathie von allen Seiten für den neuen Posten entgegen.
Sofern er sich in jüngster
Zeit überhaupt politisch geäußert hat, ist er durch eine kritische Haltung zu Russland aufgefallen, was die Nato-Partner beruhigen dürfte. McMaster bleibt
auch als Sicherheitsberater aktiver General. BERND PICKERT
Meinung + Diskussion SEITE 12
Der Tag
M IT TWOCH, 22. FEBRUAR 2017
Flüchtlingen sind an einem
Strand nahe der libyschen Stadt
Sawija gefunden worden. Der
Hilfsorganisation Roter Halbmond zufolge sind die Menschen vermutlich innerhalb
der letzten beiden Tage gestorben. Die meisten seien erwachsene Männer, nur drei Frauen
befänden sich unter den Opfern, die größtenteils aus afrikanischen Ländern südlich der
Sahara stammten.
Laut Küstenwache und der Internationalen Organisation für
Migration haben Schlepper den
Motor des Schlauchbootes ge-
stohlen und die Migranten im
Meer treibend zurückgelassen.
Einige Tote befanden sich noch
in dem angeschwemmten Boot.
Ein Helfer sagte, die Zahl der Opfer werde noch steigen. Einige
Leichen seien im Meer treibend
ausgemacht, aber noch nicht geborgen worden.
Libyen ist derzeit der Hauptausgangspunkt für Flüchtlinge,
die Europa per Schiff erreichen wollen. Allein 2016 haben
181.000 Migranten versucht,
von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen.
Davon sind mindestens 4.500
ums Leben gekommen. (rtr)
BERLIN | Wegen neuer Bedro-
hungen und wachsender Aufgaben für die Truppe will die Bundeswehr kräftig aufstocken. Bis
2024 soll sie laut Verteidigungsministerium auf 198.000 Soldaten und 61.000 Zivilisten
wachsen. Derzeit zählt die Bundeswehr knapp 178.000 aktive
Soldaten. „Die Bundeswehr ist
gefordert wie selten zuvor“, betonte CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und
führte den Kampf gegen den ISTerror, Einsätze in Mali und Afghanistan und die Nato-Präsenz
im Baltikum an. (dpa)
TAZ LI EST DEN IZ
Unser Exkollege Deniz Yücel sitzt in
Istanbul hinter Gittern. Solange er
nichts Neues veröffentlichen kann,
lesen wir einfach seine alten Texte
noch einmal. Und zwar jeden Tag.
Jede Menge davon finden Sie
unter www.taz.de/Deniz
Journalismus
ist kein
Verbrechen
www.taz.de
„Bei mir stimmt was nicht“
SEXUELLE GEWALT Ein Pilotprojekt kümmert sich um Jugendliche, die sich zu Jüngeren oder
Kindern hingezogen fühlen. Mit Erfolg. Keiner der Behandelten wurde sexuell übergriffig
AUS BERLIN SIMONE SCHMOLLACK
Wenn Johannes an einem Bolzplatz vorbeikommt und dort
Jungs Fußball spielen sieht,
bleibt er stehen. Er sieht, wie die
Jungs rennen, er sieht ihre verschwitzten Körper und die klebrigen T-Shirts. Das erregt ihn sexuell. Aber Johannes weiß, dass
er keinen dieser Jungs anfassen
darf. Oder – noch schlimmer –
mit einem von ihnen Sex haben
darf. Weil Johannes das bewusst
ist, geht er rasch weiter.
Johannes ist fiktiv. Aber Jugendliche, die sich sexuell zu
Jüngeren und sogar zu Kindern
nicht irgendwann einem Kind
sexuelle Gewalt antun.
Wer Hellenschmidt in seinen
Diensträumen im Klinikum in
Friedrichshain besucht, erlebt
einen zurückgelehnten, bedachten Mediziner. Von Fällen redet
er vorsichtig, um die Betroffenen zu schützen. Man kann sich
vorstellen, wie er mit den jungen Patienten über deren sexuelle Präferenzstörung – das ist
der Fachbegriff für das sexuelle
Hingezogensein zu Kindern –
spricht. Von Hellenschmidt geht
eine große Ruhe aus.
Die braucht es bei einem
Thema, das in der Bevölkerung
Haus von Manuela Schwesig
(SPD) finanziert das Projekt PPJ
mit insgesamt 600.000 Euro.
Ende 2017 wird es nach dreijähriger Laufzeit beendet werden.
Der Grund dafür sei nicht, wie
Kleindiek betont, dass Schwesigs Ministerium das Projekt
nicht wichtig fände. Sondern
dass die Therapiekosten für die
Betroffenen bereits seit Beginn
dieses Jahres von den Krankenkassen bezahlt würden. „Anonym“, wie Kleindiek versichert.
Ein „Meilenstein“, wie Projektleiter Beier sagt. Um das zu erreichen, war PPJ als Pilotprojekt nötig. Bevor es 2014 startete, stell-
Eins der Plakate, mit das Projekt der Berliner Charité Jugendliche ansprechen will Foto: Britta Pedersen/dpa
hingezogen fühlen, gibt es. Laut
Schätzungen – genaue Zahlen
gibt es nicht – ist das ein Prozent Betroffener der Jugendlichen in Deutschland. Das sind
rund 250.000 Jugendliche, in
der Regel männlich.
Tobias Hellenschmidt kennt
manche von ihnen. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater im
Vivantes-Klinikum Berlin-Friedrichshain, dort leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und zuständig für ein
deutschlandweit einzigartiges
Projekt mit dem sperrigen Titel
„Primäre Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch
Jugendliche“ (PPJ). Einfach ausgedrückt: Hellenschmidt bringt
Jungs und jungen Männern bei,
mit ihrem besonderen Begehren umzugehen. So, dass sie
leicht Hysterie auslöst. Umfragen zufolge würden 80 Prozent
der „Normalbevölkerung“ sogenannte Kinderschänder am
liebsten dauerhaft hinter Gitter sehen. Manche wünschen
ihnen den Tod.
Am Dienstag sitzt Hellenschmidt in einem Konferenzraum in der Berliner Charité,
die zusammen mit Vivantes
das Projekt PPJ ins Leben gerufen hat. Vorbild dafür ist das seit
2005 laufenden Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“
für pädosexuelle Männer.
Neben Hellenschmidt sitzt
unter anderen Klaus Beier, Professor für Sexualwissenschaft
und Sexualmedizin an der Charité und PPJ-Projektleiter, und
Ralf Kleindiek, Staatssekretär
im Familienministerium. Das
„Die Betroffenen
leiden oft an
Depressionen“
TOBIAS HELLENSCHMIDT, PSYCHIATER
ten sich SexualtherapeutInnen
und
JugendpsychiaterInnen
Fragen wie: Wie kommen wir
an betroffene Jugendliche heran, bevor sie als Erwachsene
zum Täter werden? Können wir
ihnen helfen?
Hellenschmidt, Beier und andere MitarbeiterInnen starteten
die Kampagne „Du träumst von
ihnen“, sie posteten das Projekt
im Internet. Seither haben sich
134 Jugendliche gemeldet. 41 von
ihnen wurden erfolgreich behandelt. „Keiner von ihnen ist
bislang sexuell übergriffig geworden“, sagt Beier.
Angesprochen werden sollen Kinder ab 12 Jahren, ein Alter, in dem Pubertät und damit
eine intensivere Sexualität einsetzen. Doch das Durchschnittsalter der Jugendlichen in der
Sprechstunde liegt bei 15 Jahren.
Sie reisen aus der gesamten
Bundesrepublik an, ein Patient fliegt regelmäßig aus Süddeutschland nach Berlin zu Hellenschmidt. Es sind ausschließlich Jungen. Sie schreiben
E-Mails oder rufen an. Sie werden Sätze los wie: „Ich glaube,
bei mir stimmt was nicht.“ Bis-
EU-STEUERENTSCH EI DUNG
Apple greift in seiner
Klage massiv an
CUPERTINO | Apple greift die
13-Milliarden-Euro-Steuernachzahlung in Irland in seiner Klage
beim EU-Gericht auf breiter
Front an. In den Infos zur Klageschrift listet der US-Konzern
14 Gründe für den Gang vor Gericht auf. So habe die EU-Kommission unter anderem irisches
Recht nicht richtig ausgelegt,
Fehler bei der Bewertung der Tätigkeit von Apple gemacht und
„keine sorgfältige und unparteiische Untersuchung durchgeführt“. Apple will erreichen,
dass die EU-Entscheidung annulliert wird. (dpa)
Pädophilie
oder
Präferenz
Warum
Jugendliche noch nicht
pädophil sein können
SACHKUNDE
BERLIN taz | Wenn über Män-
ner gesprochen wird, die sich
sexuell zu Kindern hingezogen
fühlen, fallen viele Begriffe für
dieses Begehren. Die häufigsten
sind Pädophilie oder Pädosexualität. Pädophilie stammt vom
griechischen pais und heißt
übersetzt Knabe oder Kind und
drückt das primäre sexuelle Interesse an Kindern aus, bevor
diese in die Pubertät kommen.
SexualtherapeutInnen vermeiden diese Begriffe und verwenden dafür eher die Formulierung sexuelle Präferenz:
wenn sich die Libido auf Kinder richtet.
Bei Jugendlichen wird die Diagnose „Pädophilie“ ohnehin
nicht gestellt, sagt Tobias Hellenschmidt, Kinder- und Jugendpsychiater am VivantesKlinikum
Berlin-Friedrichshain. Dafür sei zu unklar, wie
sich die Sexualität des jungen
Menschen im Laufe dessen Lebens entwickle. Hellenschmidt
therapiert Jugendliche, die sich
sexuell von Jüngeren und von
Kindern angezogen fühlen, so
dass sie dieses Empfinden nicht
ausleben.
Nun sind Begehren und das
Umsetzen von Lust in die Realität zunächst zwei verschiedene
Dinge. „Das eine muss mit dem
anderen nicht in direkter Verbindung stehen“, sagt Tobias
Hellenschmidt.
Auf der einen Seite steht die
Fantasie, in der ein Jugendlicher
oder ein Mann sich Kinder als
Sexobjekte vorstellt. Auf der
anderen Seite gibt es das
reale sexuelle Verhalten, wie ein Mensch
THEMA
DES
im Laufe seines LeTAGES
bens Sexualität lebt.
lang hat sich nur ein
Dort hinein spielen soziale, intellektuelle und
Mädchen gemeldet, zur
familiäre Aspekte, die BetrofSprechstunde ist es nicht erschienen.
fenen im besten Falle suggerieHäufig melden sich die El- ren: Das, was du ersehnst, darfst
tern der Jungen, wenn sie fest- du nicht. „Es gibt also Menschen
stellen, dass ihre Söhne anders mit eindeutig auf Kinder gerichsind als andere Kinder. Dass sie teten Fantasien, die sie aber niesich nicht – wie üblich – in Mäd- mals ausleben.“
chen oder andere Jungs verlieWie bringt man Jugendliche
ben, sondern dass sie sich Bil- und Männer dazu, sich zu beder von kleinen Kindern im In- herrschen und sexuell nicht
ternet anschauen.
übergriffig zu werden? EinerDie betroffenen Jungen ha- seits mit Medikamenten, die die
ben einen großen Leidens- „sexuelle Impulsivität“ dämpdruck, sagt Hellenschmidt: „Sie fen, erklärt Hellenschmidt.
fühlen sich schlecht und leiden Andererseits mit Verhaltensoft an Depressionen.“ Sie wollen therapien, um die „kognitive
keine „Kinderficker“ sein. Aber Dissonanz“ zwischen sexuelsie wissen auch, dass „das“ nicht ler Erregung und dem Wissen,
weggeht. Ihr größter Wunsch diese nicht ausleben zu dürfen,
ist, ein ganz „normaler“ Mann zu handhaben.
SIMONE SCHMOLLACK
zu sein.
Schwerpunkt
Südsudan
M IT TWOCH, 22. FEBRUAR 2017
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
In dem Bürgerkriegsland rufen Regierung und UNO eine
Hungersnot aus. Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist bedroht
Von Anfang
an zerrissen
Der jüngste Staat
der Welt kommt nicht
zur Ruhe
POLITIK
Die Republik Südsudan, mit
619.745 km² Fläche und rund 12
Millionen Einwohnern, ist der
jüngste Staat der Welt. 2011 entstand er nach Jahrzehnten des
Befreiungskrieges:
Guerilla­
gruppen nichtarabischer und
nichtmuslimischer Völker Sudans kämpften gegen die Regierungen in Khartoum. Nach
einem
Friedensabkommen
wurde Südsudan 2005 autonom,
dann am 9. Juli 2011 unabhängig. Präsident wurde Salva Kiir,
der Chef der Sudan People’s Liberation Army (SPLA). Er ist Angehöriger der größten Volksgruppe der Dinka. Sein Rivale
Riek Machar von der zweitgrößten Volksgruppe der Nuer wurde
Vizepräsident.
Was ging schief?
Südsudan, Bundesstaat Unity, am 18. Februar: Ein Junge wartet auf Lebensmittel, die vom Hilfswerk WFP abgeworfen werden Foto: Siegfried Modola/reuters
„Die Menschen haben alles verloren“
GEWALT Dort, wo jetzt die UNO eine Hungersnot ausgerufen hat, führt die Regierung des Südsudan
einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Zivilbevölkerung. Die Region ist Heimat des Rebellenführers
BERLIN taz | Es dauert lange, an
Hunger zu sterben. Erst verzehrt
der Körper sich selbst. Wenn alles Fett und alles Gewebe aufgebraucht ist und nur Haut und
Knochen übrig sind, kommt
jede Hilfe zu spät. Meist tritt
der Tod vorher ein, verursacht
von Infekten.
Es dauert noch länger, bis die
Vereinten Nationen eine Hungersnot ausrufen. Von drei Kriterien lautet das wichtigste: Mindestens zwei Hungertote pro
10.000 Menschen pro Tag. Das
klingt wenig – aber auf die Bevölkerung Berlins hochgerechnet wären das rund 700 Hungertote täglich. Zuletzt stellte die
UNO im Jahr 2011 eine Hungersnot fest, in Somalia. Schätzungsweise die Hälfte der 250.000 Opfer war zum Zeitpunkt der Verkündung schon tot.
Am Montag stellten UN-Hilfswerke gemeinsam mit Südsudans Ernährungsbehörde IPC
eine Hungersnot in den südsudanesischen Landkreisen Leer
und Mayendit fest. Dort leben
100.000 Menschen. Hungersnot heißt also: mindestens 20
Tote pro Tag. Oder 600 pro Monat. Oder mehrere tausend bis
Juli, wenn die magere Jahreszeit
vor der nächsten Ernte ihren Höhepunkt erreicht.
Leer, im Bundesstaat Unity
gelegen, ist das Epizentrum des
Hungers im Südsudan – und
zugleich die Heimatgemeinde
von Riek Machar, dem exilierten Rebellenführer. Die Regierung des Südsudan betrachtet
die Angehörigen von Machars
Volksgruppe der Nuer kollektiv
als Feinde.
Als im Dezember 2013 Regierungstruppen in der Hauptstadt Juba Massaker an Nuer verübten, antworteten meuternde
Nuer-Soldaten in Unitys Hauptstadt Bentiu mit Massakern an
Dinka, der Volksgruppe des Präsidenten. Unity ist der einzige
Bundesstaat des Landes, wo
Nuer in der Mehrheit sind.
Regierungstruppen haben
Bentiu mittlerweile zurückerobert, aber die Stadt ist verwüstet. Über 120.000 Zivilisten sind
in die UN-Basis von Bentiu geflohen, mehr als irgendwo sonst
im Südsudan. Über 90 Prozent
der Einwohner von Unity sind
auf der Flucht, ebenfalls ein Rekord. Immer, wenn die Regenzeit endet und die Sumpfge-
Hungersnot heißt
also: mindestens 20
Tote pro Tag. Oder
600 pro Monat
biete im Nil-Binnendelta mitten
im Südsudan wieder zugänglich
werden, stoßen die Regierungstruppen, die im Norden von
Unity die Ölfelder bewachen,
nach Süden vor, wo die Rebellen stehen.
Bei diesen Feldzügen werden
systematisch zivile Einrichtungen ausgeplündert. Das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Leer wurde mehrfach
verwüstet und inzwischen geschlossen. „Die Menschen hier
haben alles verloren“, berichtete am Dienstag MSF-Projektkoordinator Nicolas Peissel.
Das Hilfswerk verbreitete den
Erlebnisbericht der Südsudane-
sin Nyayolah, die sich in Leer
zu MSF gerettet hat: „Im Oktober und November mussten
wir drei Mal aus unserem Dorf
fliehen. Wir haben gelernt, die
Geräusche von Autos und Panzern zu erkennen, und haben
jedes Mal mitgenommen, was
wir konnten, bevor wir geflohen
sind. Die bewaffneten Männer
haben auf uns geschossen und
unsere Häuser geplündert. Ich
bin mit den Zwillingen im Arm
und meiner vierjährigen Tochter weggelaufen. Manchmal sahen wir Menschen, die beim
Laufen zu Boden fielen, nachdem auf sie geschossen wurde,
oder Menschen, die ihre Habseligkeiten wegwarfen, da sie damit nicht schnell genug rennen
konnten. Wir versteckten uns
bis Einbruch der Dunkelheit
und gingen zurück, wenn die
Soldaten weg waren. Jedes Mal
fanden wir danach weniger zu
Hause vor. Zuerst waren unser
Vieh, unsere Ziegen und Hühner weg, dann unsere Ernte, und
Geringfügig
Angespannt
Krise
Notstand
Hungersnot
Spurlos verschwunden
Am 3. Februar berichtete Ärzte
ohne Grenzen, die 20.500 Bewohner des Ortes Wau Shilluk,
der am Nil gegenüber Upper Niles Provinzhauptstadt Malakal
liegt, seien alle in den Busch geflohen, weil Artilleriegeschosse
ihren Ort trafen. Zwei Wochen
später berichtete die UN-Mission im Südsudan (UNMISS),
die Menschen dort seien spurlos verschwunden – und die Re-
100 km
SUDAN
Northern
Bahr el
Ghazal
Bentiu
Warrap
Western Bahr
el Ghazal
ZENTRAL
AFRIKANISCHE
REPUBLIK
schließlich wurden unsere Häuser geplündert und verbrannt.“
Ihre letzte Ernte haben die
Menschen dieser Region auf
diese Weise verloren, neu anpflanzen konnten sie nicht, weil
sie fliehen mussten. Deswegen
wird es kein schnelles Ende der
Hungerkrise in Unity geben.
Die Region ist der Brennpunkt des Hungers, aber nicht
der einzige Brennpunkt des
Krieges. Heftige Gefechte werden derzeit aus dem Bundesstaat Upper Nile gemeldet.
Südsudan
Upper Nile
Unity
Nil
VON DOMINIC JOHNSON
ÄTHIOPIEN
Jonglei
Lakes
Western
Equatoria
DEMOKRATISCHE
REPUBLIK KONGO
taz.Grafik: infotext-berlin.de/L. Ziyal
SÜDSUDAN
Juba
Eastern
Equatoria
Central
Equatoria
KENIA
UGANDA
Quelle: IPC Südsudan
gierungsarmee habe die UN daran gehindert, die Fliehenden zu
suchen.
UNMISS moniert, dass die Regierung Helfern den Zugang zu
Bedürftigen erschwert – durch
bürokratische Hürden und mit
Gewalt. 74 Mitarbeiter von Hilfswerken wurden im vergangenen
Jahr im Südsudan getötet und
108 verletzt, ein Weltrekord. Weil
das Land fast keine Straßen hat,
müssen Hilfsgüter per Flugzeug
transportiert werden. Keine Maschine kann ohne staatliche Genehmigung starten und landen.
Die Regierung macht kein Hehl
daraus, dass sie Blauhelme und
Hilfswerke am liebsten loswerden möchte.
Das Problem ist nicht nur der
Krieg. Die Wirtschaft ist komplett zusammengebrochen. Was
es noch an Geld gibt, schaffen
die Machthaber ins Ausland – in
Kenia gibt es viele gut gefüllte
Bankkonten von Südsudanesen. Die Preise für das Grundnahrungsmittel Maismehl haben sich 2016 verachtfacht.
Und die Lage wird sich weiter
verschlechtern: Laut IPC leben
jetzt 4,9 Millionen Menschen in
„schwerer Ernährungsunsicherheit“, bis Juli dürften es 5,5 Millionen sein. Viele Menschen, berichten die Helfer, ernähren sich
von Beeren, Zweigen, Baumrinde und Wasserlilien.
„Verlässliche, ausreichende
und rechtzeitige humanitäre Interventionen könnten die Hungersnot-Einstufung rückgängig
machen und viele Leben retten“,
so die IPC-Erklärung. „Es ist unerlässlich, dass alle Parteien des
aktuellen politischen Konflikts
bedingungslosen humanitären
Zugang gewähren.“
Dinka und Nuer waren innerhalb der SPLA schon immer
zerstritten. 2013 zerbrach das
Bündnis, Machar wurde entlassen. Mitte Dezember 2013
bezichtigte ihn Präsident Kiir
des Putschversuchs, zahlreiche
Nuer in der Hauptstadt Juba
wurden verhaftet oder getötet.
Die meisten Nuer in der SPLA
rebellierten und gründeten die
„SPLA In Opposition“ (SPLA-IO),
die selbst brutale Massaker an
Dinka beging. Ein Bürgerkrieg
zwischen ethnisch definierten
Armeeeinheiten und Milizen
begann. Mindestens 50.000
Menschen sollen umgekommen sein. Mehrere Anläufe zum
Friedensschluss scheiterten. Zuletzt brachen im Juli 2016 wieder schwere Kämpfe aus, nachdem Machar – erst kurz wieder
im Amt – erneut abgesetzt worden war.
Wie ist die Lage heute?
In Juba regiert Präsident Kiir
weiter. Rebellenführer Machar
konnte sich 2016 in den Kongo
retten und wurde schwer verletzt in den Sudan evakuiert.
Die SPLA-IO ist zerstritten. Auch
im Regierungslager brodelt es.
Zur Selbstverteidigung im Bürgerkrieg sind vielerorts lokale
Milizen entstanden. Das heizt
lokale Konflikte an, vielerorts
kommt es vermehrt zu Kämpfen. Derzeitiger Brennpunkt ist
die Provinz Upper Nile. Von den
12 Millionen Südsudanesen sind
über 1,5 Millionen in Nachbarstaaten geflohen; mehr als 1,85
Millionen sind im Land auf der
Flucht, davon nach jüngstem
Stand rund 224.000 auf Basen
der UN-Mission im Südsudan.
Seit Januar sind weitere 75.000
Bewohner in die Nachbarstaaten
geflüchtet.
Was tut die UNO?
Die Vereinten Nationen unterstützen die Friedensbemühungen der Afrikanischen Union,
bislang ohne Erfolg. 13.000
Blauhelme sind im Rahmen
der UN-Mission im Südsudan
(UNMISS) präsent. Außerhalb
ihrer Stützpunkte sind sie weitgehend machtlos. Nachdem sie
mehrfach beim Schutz von Zivilisten versagten, soll eigentlich
eine Eingreiftruppe von 4.000
Mann stationiert werden. Das
verzögert sich aber immer wieder – auch weil Südsudans Regierung sie nicht wirklich will.
D.J.