Transgender-Gesetz: Trumps Griff ins Klo US-Präsident verbietet Trans*Personen die freie Toilettenwahl ▶ Seite 2 AUSGABE BERLIN | NR. 11260 | 8. WOCHE | 39. JAHRGANG FREITAG, 24. FEBRUAR 2017 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ Jobkiller Elektroauto ANTIRASSISMUS „Meine Wortwahl ist ein Angebot“: Autor Mohamed Amjahid über People of Color, Biodeutsche und sein Buch „Unter Weißen“ ▶ SEITE 13 TÜRKEI Putschisten vor Gericht ▶ SEITE 4 TUAREG Konfliktlösung mit Gitarren ▶ SEITE 15 BERLIN Wer kandidiert statt Ströbele? ▶ SEITE 21 Fotos (oben): K. Thielker; plainpicture ZUKUNFT Diese Teile braucht bald kein Mensch mehr: Warum die Umstellung von Benzin- auf Elektroautos Arbeitsplätze kostet – aber nötig ist und neue Chancen bietet ▶ SEITE 3 VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten gratuliert dem neuen Freitag-Chef und beglückwünscht die Herren Augstein und Todenhöfer zu dieser allzeit spitzen Feder. Das kann heiter werden! Denn im Vergleich zum Füller ist verboten „Was is das? Gerd, nun sag was! Sag doch endlich was, du bist der Mechaniker!“ Jedenfalls kein E-Auto! Til Schweiger (rechts) in „Manta, Manta“ zu alten Benzinautozeiten Foto: picture alliance KOMMENTAR VON BEATE WILLMS E ein Stift. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.672 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Die Krux ist aber: mit dem Elektroauto allein auch nicht. Am umwelt- und klimaschädlichsten ist nicht die Fahrerei, sondern die Herstellung der Autos. Einfach die Antriebe auszutauschen reicht also nicht. Helfen kann nur eine echte Mobilitätswende, zu der deutlich weniger Privat- und Firmenautos gehören – weshalb 100.000 wegfallende Industriejobs sogar eher zu niedrig geschätzt sind. Aber: Zugleich werden Fahrradwege, ÖPNV und Fernverkehr ausgebaut und alle Verkehrsmittel aufeinander abgestimmt, inklusive geteilter Autos, Fernbusse, Kabinenbahnen und irgendwann auch fliegender Taxis. Digitalisierung erleichtert die Vernetzung und sorgt für einen schnellen Zugriff auf Fahrpläne, den nächsten Fahrradverleih oder das um die Ecke stehende geteilte Auto. Das wiederum eröffnet Chancen auf ganz neue Arbeitsplätze. Neben mehr Personal direkt beim ÖPNV auch bei dessen Zulieferern; bei Start-ups wie etwa Anbietern von Apps, die die Verkehrsträger verknüpfen; für neue Services bei Elektromobilität, Sharing und Lade-In frastruktur. In Berlin könnten allein damit bis 2030 rund 14.000 neue Jobs entstehen, hat die Unternehmensberatung McKinsey ausgerechnet. Im Übrigen verschaffen Ausbau und Instandhaltung von Auch für den Ausbau von ÖPNV und Fernverkehr braucht es Personal Schieneninfrastruktur doppelt so viel Arbeit wie der Bau von Straßen. Das sind natürlich andere Jobs als die der Automobilarbeiter heute. Aber die Wende passiert ja auch nicht von jetzt auf gleich. Wenn man den Strukturwandel als Chance – nicht nur fürs Klima – begreifen will, muss man ihn jetzt ernst nehmen: mit strukturpolitischen Konzepten, der Förderung von ÖPNV und innovativen Start-ups, mit richtigen Ausbildungsangeboten für die grünen Jobs. Wenn das mit der gleichen Energie verfolgt wird wie bisher der Schutz der Autoindustrie, dann kann Zukunftsmobilität vielleicht sogar der neue Exportschlager werden. Unsicher gelandet Zwei gegen Le Pen AFGHANEN Einige Abgeschobene kommen aus eindeutig gefährlichen Regionen FRANKREICH MÜNCHEN/KABUL afp/taz | Un- PARIS dpa | Zwei Monate vor geachtet der Kritik von Menschenrechtlern sind 18 Afghanen von München aus in ihr Heimatland abgeschoben worden. Vier Personen seien Straftäter, teilte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) mit und erklärte: „Es gehört zu einem Rechtsstaat dazu, dass bestandskräftige Ablehnungsbescheide des Bundesamts auch vollzogen werden.“ SchleswigHolsteins Innenminister Stefan Studt (SPD) hingegen sagte, es gebe derzeit keine Regionen im Land, in die eine Rückkehr in Sicherheit und Würde möglich sei. Wie taz-Autor Thomas Ruttig aus Kabul berichtet, stammen sieben Abgeschobene aus Provinzen, die selbst die Bundesregierung nicht als sicher betrachtet. ▶ Ausland SEITE 11 Zentrist Bayrou unterstützt Macron der französischen Präsidentschaftswahl hat der unabhängige Kandidat Emmanuel Macron einen wichtigen Helfer gewonnen. Der Zentrumspolitiker François Bayrou verzichtete auf eine eigene Kandidatur und bot Macron eine Allianz an. Dieser nahm das Angebot an. Bayrou begründete seine Entscheidung mit der Gefahr eines Erfolgs von Marine Le Pen, die in Umfragen für den ersten Wahlgang führt. ▶ Ausland SEITE 10 ▶ Meinung + Diskussion SEITE 12 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN BUN DESHAUSHALT UNTERSCH LAGUNG Überschuss im Jahr 2016 auf Rekordniveau Haftstrafe für Ex-IWF-Chef Rato BERLIN | Mit fast 24 Milliarden Gen Hongkong entschwunden: Oh Myeong-se Foto: reuters Der biedere Millionendieb N ach außen hin wirkte Oh Myeong-se wie der Prototyp eines vorbildlichen Angestellten. Im koreanischen Zweig des Züricher Technologieunternehmens ABB stieg der 58-Jährige bis zum Schatzmeister auf. Bei 800 Mitarbeitern stand er nur eine Stufe unter dem örtlichen Finanzchef. Mit biederem Seitenscheitel, fliehendem Kinn und schwarz gedeckter Krawatte wird er im Mitarbeitermagazin auf einer ganzen Seite porträtiert – in seiner zweiten Position als Ombudsmann. „Wem kann ich mich bei Compliance-Angelegenheiten anvertrauen?“, lautet die Überschrift des Artikels. Mittlerweile liest sich das wie ein bitterböser Scherz. Denn am 7. Februar erschien Herr Oh nicht mehr zur Arbeit. Als er auch am Folgetag unentschuldigt fernblieb, begannen Untersuchungen. Deren Ergebnis veröffentlichte ABB jetzt in einer Pressemitteilung: Oh Myeong-se, seit über 20 Jahren unbescholtener Angestellter, hatte unbemerkt Firmengelder im Wert von 30 Millionen Euro in seine eigenen Taschen abgezweigt. Nun fahndet Interpol nach dem biederen Herrn Oh. „In den kommenden Wochen und Monaten müssen wir mit kritischer Berichterstattung rechnen“, schrieb ABB-Chef Ulrich Spiesshofer an seine Mitarbeiter. Wenn man bedenkt, dass die südkoreanische Filiale im 2015 rund eine halbe Mil liarde Umsatz generiert hat, ist es umso erstaunlicher, dass eine derart hohe Summe einfach verschwinden konnte. Fest steht: Oh Myeong-se hat das Geld in 73 Transaktionen beiseite geschafft. Dafür muss der Schatzmeister nicht nur akribisch Bankbelege gefälscht, sondern auch mit Komplizen zusammengearbeitet haben. Ob es auch einen Maulwurf im Unternehmen gab, dazu ermittelt derzeit die koreanische Polizei. Laut deren Angaben hat Herr Oh seine Ehefrau und zwei Kinder im Stich gelassen und sich nach Hongkong abgesetzt. Dass er die Banknoten in Koffern außer Landes gebracht hat, gilt als unwahrscheinlich, da zu riskant. Der Fall von Oh Myeong-se mag in seiner Dimension spektakulär anmuten. Dabei gibt es auf unterster Ebene viele Herr Ohs in koreanischen Unternehmen: Veruntreuungen sind weiter verbreitet als das Kimchi am Mittagstisch.FABIAN KRETSCHMER Der Tag FREITAG, 24. FEBRUAR 2017 Euro hat der deutsche Staat im vorigen Jahr den höchsten Überschuss seit der Wiedervereinigung verbucht. Bund, Länder, Sozialversicherungen und Kommunen hätten 23,7 Milliarden Euro mehr eingenommen als ausgegeben, teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden unter Verweis auf aktualisierte Zahlen mit. Alle vier Ebenen erwirtschafteten dabei auch jeweils für sich einen Finanzüberschuss. Am stärksten verbesserte sich die Finanzlage der Sozialkassen, die im Jahr 2016 ein Plus von 8,2 Milliarden vermeldeten. An zweiter Stelle folgte der Bund mit 7,7 Milliarden Euro. Im Vorjahr hatte dessen Finanz überschuss allerdings noch bei 10 Milliarden Euro gelegen. Die Länder schlossen mit einem positiven Saldo von 4,7 Milliarden Euro ab, die Kommunen erwirtschafteten ein Plus von 3,1 Milliarden Euro. Das war etwas weniger als im Vorjahr. Der hohe Gesamtüberschuss kam durch stark steigende Steuereinnahmen sowie die gute Arbeitsmarktlage zusammen, die zu höheren Sozialbeitragszahlungen führte. (afp) MADRID | Der ehemalige Direk- tor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Rodrigo Rato, ist wegen Unterschlagung zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Haftstrafe erhielt der 67-Jährige, weil er als Chef zweier spanischer Banken Kreditkarten nutzte, die Ausgaben in unbegrenzter Höhe und ohne jede Kontrolle erlaubten. Demnach gab er gut 99.000 Euro aus. Angeklagt wurden weitere 64 Exbankmanager. Insgesamt sollen sie zwischen 2003 und 2012 rund 12 Millionen Euro veruntreut haben. (afp) TAZ LI EST DEN IZ WARTEN AUF ASYL Unser Exkollege Deniz Yücel sitzt in Istanbul hinter Gittern. Solange er nichts Neues veröffentlichen kann, lesen wir einfach seine alten Texte noch einmal. Und zwar jeden Tag. Jede Menge davon finden Sie unter www.taz.de/Deniz Journalismus ist kein Verbrechen www.taz.de Verfahren dauern wieder länger BERLIN | Die Asylverfahren in Deutschland dauern im Schnitt wieder länger. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge brauchte 2016 für die Bearbeitung eines Antrags im Schnitt 7,1 Monate. 2015 waren es nur 5,2 Monate. Das geht aus einer Antwort des Innenministeriums auf eine Linken-Anfrage hervor. Im vierten Quartal 2016 lag die durchschnittliche Bearbeitungszeit sogar bei 8,1 Monaten. Das Ministerium begründet den Anstieg damit, dass nun vermehrt komplexe Altfälle abgearbeitet würden. (dap) Die leidige Klo-Frage USA Donald Trump hat die von seinem Vorgänger Barack Obama angeordnete freie Toilettenwahl für Trans*Personen wieder rückgängig gemacht – ein Wunsch der radikalen rechten Basis AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN Einen Monat nach Amtsantritt ist die Trump-Regierung im Klo angekommen: In einem gemeinsamen Memorandum hoben das Justiz- und das Erziehungsministerium am Mittwoch das Recht von Trans*Jugendlichen auf die Benutzung einer Toilette ihrer Wahl wieder auf. Die neue Regierung in Washington betrachtet das erst 2016 eingeführte Bundesrecht, zum Schutz von TransgenderSchülerInnen und -StudentInnen als eine unzulässige Einmischung. Künftig sollen wie- der die Schulbezirke und die Bundesstaaten entscheiden. Letztere sind zu mehr als zwei Dritteln republikanisch regiert. Noch am Mittwochabend protestierten Jugendliche vor dem Weißen Haus gegen die Wegnahme des bis dato konkretesten Schutzes für Trans*-Personen. Zahlreiche Hollywood- und Justizminister Jeff Sessions wollte das Memorandum unbedingt haben Mediengrößen veröffentlichten ihre Empörung per Tweet. Talkmasterin Ellen DeGeneres erklärte mit 140 Zeichen: „Hier geht es nicht um Politik, sondern um Menschenrechte.“ Am peinlichsten für Trump ist ein Tweet von Jackie Evancho. Die 16-Jährige hatte bei seiner Inauguration am 20. Januar, als zahlreiche andere Stars seine Einladung abgelehnt hatten, die Nationalhymne am Fuß des Capitols gesungen. Ihre ältere Schwester, die vor zwei Jahren ihr Coming-out als Transgender hatte, war der Zeremonie fern geblieben. Am Mittwoch- Aktivist*innen protestieren am Mittwochabend vor dem Weißen Haus Foto: Andrew Harnik/ap Belästigt, attackiert, getötet HASS abend tweetete Evancho, sie sei „enttäuscht“ und schlug Trump ein Treffen mit ihr und ihrer Schwester vor. Die freie Toilettenwahl, je nach Geschlechteridentität, war Ende des Jahres nach monatelanger Debatte auf Bundesebene eingeführt worden. Den Anstoß gab der Bundesstaat North Carolina, wo im März das Parlament entschied, dass Jugendliche die Toilette ihres biologischen Geschlechts benutzen müssten. Die Entscheidung führte zu Aufregung auf beiden Seiten. Städte und Schulbezirke stimmten über Resolutio nen zur Klo-Frage ab. Die Progressiveren unter ihnen führten die freie Toilettenwahl ein, die Konservativen beschworen alle möglichen erfundenen Gefahren herauf. Darunter angebliche Überfälle auf Mädchentoi letten durch Trans*-Personen. Ein knappes Dutzend Bundesstaaten zog gegen das Bundesrecht vor Gericht. Als Kandidat gab sich Trump in der Toiletten-Frage noch liberal. Im April versicherte er auf NBC, dass er für die freie Toi lettenwahl eintrete. Die Demo kra tInnen stürzten sich in der Hochphase des Präsidentschaftswahlkampfs mit so viel Wucht in die Toilettenfrage, dass es zeitweise schien, sie wäre das wichtigste Thema – weit vor den sozialen und ökonomischen Ungleichheiten im Lande. Die Genese des Memorandums vom Mittwoch, das das kurzlebige Bundesrecht wieder abschafft, zeigt, dass sich in Trumps Regierung die gesellschaftlich konservativsten Kräfte und die Wünsche der radikalen rechten Basis durchgesetzt haben. Der Mann, der das Memorandum unbedingt haben wollte, ist Justizminister Jeff Sessions. Schon in seinen früheren Posi tio nen im Südstaat Alabama war er durch besondere Intoleranz gegenüber Minderheiten, damals insbesondere AfroamerikanerInnen aufgefallen. In der neuen Regierung hat er die Bildungsministerin Betsy DeVos, die sich nach Recherchen der New York Times zunächst gegen das Memorandum gesperrt hat, auf seine Seite gezwungen. Trump persönlich soll DeVos klargemacht haben, dass sie keine andere Wahl habe. THEMA DES TAGES Nicht nur in den Vereinigten Staaten werden Trans*Personen regelmäßig Opfer von Gewalttaten bis hin zum Mord BERLIN taz | Es ist Dienstag kurz nach sechs Uhr morgens, als die 24-jährige Keke Collier im Stadtteil Englewood in Chicago auf offener Straße erschossen wird. Die Polizei bezeichnet sie zunächst als männliches Opfer. Colliers Freunde stellen später klar, dass sie sich als Transgender-Frau identifizierte. Sie hat Schusswunden an Brust, Arm und Hand. Sie wird ins Krankenhaus transportiert, wo sie später stirbt. Der Täter ist flüchtig, die Polizei ermittelt. Keke Collier ist bereits die vierte Trans*Person, die in die- sem Jahr in den USA ermordet wurde. Die Bezeichnung Trans*Person umfasst all jene Menschen, die sich ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht, nicht, nicht vollständig oder zeitweise nicht zuordnen können oder wollen – eine Zuordnung erfolgt grundsätzlich über Selbst- und nicht über Fremddefinition. Insgesamt identifizieren sich etwa 1,4 Millionen Personen als Trans*Menschen in den USA. Und auch wenn ihre Präsenz in der Öffentlichkeit heute zugenommen hat – etwa durch die Schauspielerin Laverne Cox oder die ehemalige Sportlerin Caitlyn Jenner –, sinkt die Gewalt gegen Trans*Personen im Alltag nicht. Inoffiziellen Listen zufolge, die sich meist auf Berichte lokaler Organisationen stützen, wurden in den USA auch 2016 – je nach Quelle – zwischen 21 und 27 Morde an Trans*Personen gezählt, die offenbar aufgrund ihrer Geschlechteridentität begangen wurden. Meist handelte es sich dabei um Women of Color. Die Fälle, die in diesen Listen genau dokumentiert sind, zeigen nicht selten ein hohes Maß an Aggression, beinhalten Folter oder Verstümmelung. Oft wurden die Opfer schon zuvor regelmäßig belästigt, bedroht oder attackiert. Doch das betrifft nicht nur die USA. Laut den Zahlen des Trans Murder Monitoring Projektes (TMM) wurden 2016 weltweit 295 Trans*Personen aufgrund ihrer Geschlechteridentität ermordet. Die meisten Opfer gab es demnach in Brasilien, Mexiko und den USA – aber auch in Italien und in der Türkei wurden je fünf Trans*Personen getötet. Viel mehr Trans*Menschen werden freilich im Alltag regelmäßig belästigt. Die bisher größte US-Studie mit 27.000 Trans*Personen stellte 2015 fest, dass 46 Prozent im Jahr zuvor verbal belästigt, 9 Prozent körperlich attackiert und 10 Prozent Opfer sexueller Gewalt wurden. Ganze 47 Prozent gaben an, schon einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden zu sein. Von den Befragten waren 15 Prozent ohne Arbeit, ein Drittel lebte in Armut und 40 Prozent hatten schon einen Suizidversuch hinter sich. SASKIA HÖDL Schwerpunkt Elektroautos FREITAG, 24. FEBRUAR 2017 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Wenn das E-Fahrzeug in Zukunft das Auto mit Verbrennungsmotor ablöst, stehen massenweise Arbeitsplätze auf dem Spiel. Was tun? VON RICHARD ROTHER Öffnen Sie mal die Motorhaube Ihres Autos. Schauen Sie nach, was in Ihrem Fahrzeug nicht mehr gebraucht würde, wäre es ein E-Auto: der ganze Verbrennungsmotor mit Zylindern, Kolben und Einspritzsystem, dazu Getriebe, Gangschaltung, Auspuff, Abgasreinigungsanlage, Tank. All diese Teile braucht ein Elektroauto nicht. Und wenn es dereinst keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr gibt, braucht auch niemand mehr Fabriken und Arbeitskräfte, die diese Teile herstellen. Die Automobilindustrie steht vor einem Umbruch. Wie viele Jobs in der Branche, eine Stütze des Wohlstands in Deutschland, wegfallen werden, weiß niemand. Denn noch ist unklar, wie schnell der Umbruch stattfindet. Derzeit gibt es gerade mal 26.000 reine E-Autos in Deutschland, während rund 45 Millionen Autos von Verbrennungsmotoren angetrieben werden. Ein Verbrennungsmotor besteht aus 1.000 Teilen, ein E-Motor aus weniger als 50 Fakt ist aber: Der Antriebsstrang eines Verbrenner-Autos ist komplexer und in der Herstellung arbeitsintensiver als der eines E-Autos. Die verbauten Teile im Motor sind keine einfachen Lego-Klötzchen, sondern Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und Herstellungsoptimierung – sie müssen hohen Druck, Temperaturen und Geschwindigkeiten aushalten. Verschwinden die Teile, verschwindet auch Know-how. Einbußen wird es auch beim Drumherum geben, das zum Betrieb eines Benzin- oder Dieselautos notwendig ist: von der Entwicklung der Motorsteuerungssoftware bis zu den Werkstätten, von den Raffinerien bis zu den Tankstellen. Das bedeutet: Ohne Verbrenner wird die Branche langfristig wohl weniger Menschen beschäftigen – selbst wenn auch E-Autos Karosserien, Achsen, Bremsen, Räder, Reifen, Sitze, Scheiben und Beleuchtung brauchen. Links geht’s schneller, rechts ist’s grüner. Hier können E-Autos und Benziner friedlich nebeneinander tanken Foto: Gaetan Bally/Keystone/laif Batterie voll, Tank leer MOBILITÄT Die Umstellung auf elektrische Antriebe stellt die Autoindustrie vor Herausforderungen. Experten halten Investitionen in neue Technologien für dringend nötig. Sonst blieben viele Betriebe auf der Strecke „Wenn das Auto mit Verbrennungsmotor durch das Elektroauto ersetzt wird, fällt ein Großteil der Wertschöpfung weg“, sagt Stefan Bratzel, Autoexperte an der Fachhochschule Bergisch Gladbach gegenüber der taz. 30 bis 40 Prozent der Wertschöpfung beim Verbrenner mache der Antriebsstrang aus. Ein Verbrennungsmotor bestehe aus 1.000 Teilen, bei einem E-Motor seien es nur 50. „Das macht Herstellung und Montage eines Elektromotors wesentlich einfacher.“ Sollten die traditionellen Autos komplett durch E-Autos ersetzt werden, würden 20 bis 25 Prozent der Arbeitsplätze in der Autoindustrie wegfallen, schätzt Bratzel. Ob sie durch die Batterieproduktion ersetzt werden, ist fraglich. Manche Hersteller haben schlicht nicht vor, in diese Sparte zu investieren (siehe Interview unten). Und selbst wenn die Fertigung der Batteriezellen in Deutschland angesiedelt wird, werden trotz hoher Wertschöpfung dafür wenige Arbeitskräfte benötigt. Bratzel: „Die Batteriefertigung ist hochautomatisiert.“ Dennoch sei es sinnvoll, Batterien auch in Deutschland herzustellen, schon um die Abhängigkeit von den Produzenten in Fernost oder den USA zu verringern. „Die Transformation der Industrie wird aber nicht von heute auf morgen stattfinden“, ist sich Bratzel sicher. Mitte der zwanziger Jahre werde es wohl einen Umschwung geben, wenn wegen der Nachfrage nach Elektroautos das absolute Volumen bei den Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren abnehme. Dann könnten auch Zulieferer Probleme bei der Finanzierung von Innovationen bekommen. Die Zulieferer müssten sich bis dahin nach neuen Branchen umschauen oder in der E-Mobilität Fuß fassen. Das sehen die Insolvenzverwalter ähnlich. Allein in der Zulieferindustrie könnten 100.000 Arbeitsplätze verloren gehen, sagt Insolvenzanwalt Martin Prager. Gerade hoch spezialisierte Zulieferer stünden vor existenziellen Herausforderungen. „Viele werden die Anpassung nicht schaffen.“ Auch die IG Metall warnt. Mehr als jeder vierte Arbeit- nehmer in der Autoindustrie und bei den Zulieferern in Deutschland sei in der Fertigung von Motoren und Getrieben tätig: 250.000 von rund 880.000 Menschen. Sie bräuchten langfristig eine Perspektive. Ein Verbot von Autos mit Verbrennungsmotoren lehnt die Gewerkschaft jedoch ab. „Durch Verbote bekommen wir den klimafreundlichen Umstieg nicht hin, sondern gefährden nur Arbeitsplätze.“ Für Manfred Schoch, Arbeitnehmervertreter bei BMW, ist denn auch klar. „Arbeitsplätze, die wir in der Fertigung von Verbrennungsmotoren verlieren, müssen wir anderswo schaffen.“ Sonst bleibe „uns nur noch das Blechgehäuse, und dann Gnade uns Gott.“ Allerdings: Wo Schatten ist, da muss auch Licht sein. Denn die E-Autos erfordern nicht nur Investitionen in die Batterietechnik, Fahrzeugelektronik und -vernetzung, sondern es werden auch neue Herstellungsverfahren und Materialien benötigt. Wer da die Nase vor hat, kann in Zukunft gute Geschäfte machen. Der Lackieranlagenspezialist Dürr beispielsweise sieht viele Wachstumschancen durch E-Autos. „Es gibt viele Projekte von neuen Herstellern, die mit uns sprechen über neue Fabriken“, sagte Dürr-Chef Ralf Dieter am Donnerstag. Neben Lackierrobotern in neuen Fabriken könnte Dürr auch mit seiner Befülltechnik punkten, wenn vermehrt Batterien hergestellt werden. „Die Umstellung kommt nicht über Nacht“ GEMACH Jörg Grotendorst, Chef-Ingenieur bei ZF Friedrichshafen für E-Mobilität, sieht dem Strukturwandel in der Autoindustrie gelassen entgegen taz: Herr Grotendorst, Elek troautos werden für einen rie sigen Strukturwandel in der Autoindustrie sorgen. Was ma chen Sie, wenn keiner mehr Ihre Getriebe braucht? Jörg Grotendorst: Auch in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren wird es noch Autos mit Verbrennungsmotor und Getriebe geben. Die Zahl der Fahrzeuge mit verschiedenen Hybridantrieben, die sowohl einen Verbrennungs- als auch einen Elektromotor haben, wird rasant zunehmen und dominieren. Sie sorgen für einen Übergang in die neue Zeit des autonomen, elektrischen Fahrens. Wir haben damit genug Zeit, uns vorzubereiten. Natürlich wird es in der Branche einen Wandel geben. Betriebe, die Kolben oder Pleuel herstellen oder härten, Auspuffe entwickeln, die also vom Verbrennungsmotor abhängig sind, die haben mitunter ein Problem. Das sind Teile der Wertschöpfungskette, die nach und nach wegfallen werden. Die chinesische Regierung macht Druck und schreibt den Autobauern Quoten für Elek troautos vor. Bleibt wirklich genug Zeit zur Umstellung? Die Initiative aus China ist für uns eine echte Chance, den Fahrzeugherstellern unsere Produkte anzubieten und unser Angebot auszubauen. ZF ist in Sachen Elektromobilität schon seit Langem unterwegs und hat erst im letzten Jahr die Aktivitäten in diesem Bereich in einer neu g egründeten Division mit Sitz in Schweinfurt gebündelt. Schon im vergangenen Jahr haben wir in der Division E-Mo- bility einen Jahresumsatz von rund einer Milliarde Euro erzielt. Recht wenig bei einem Kon zernumsatz von insgesamt rund 30 Milliarden . . . Das ist sicher richtig. Dabei haben wir eine ganze Menge von Fahrzeugen in der Serienproduktion. Leider bleiben die Verkaufszahlen in den vergangenen Jahren jedoch deutlich unter den ursprünglichen Prognosen der Hersteller. Wenn diese ihre Autos nicht verkaufen, verkaufen wir leider auch keinen Hybridantrieb. Mit der neuen Abgasgesetzgebung ab 2021 steigt auch der Umsatz mit Produkten für die Elektromobilität kontinuierlich und rasant. Dafür sind wir dann bestens vorbereitet, liefern Produkte zur Elektrifizierung des Antriebs mit Verbrennungsmotor und vollelektrische Antriebe für Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeuge. Aber auf den Verbrennungs motor ist auch ZF noch ange wiesen. Ja, denn die Umstellung im Markt kann nicht über Nacht passieren. Wir haben die Infra struktur zum Tanken, ein akzeptables Preisniveau und dadurch eine hohe Akzeptanz der Endverbraucher. Jetzt gilt es den Verbrenner so zu ertüchtigen, dass auch zukünftige Generationen einen lebenswerten Planeten vorfinden. Wir sind also weniger auf den Verbrenner angewiesen als unsere Kunden auf hocheffiziente Getriebe zur Erreichung der Verbrauchsziele, und da kommt dann auch die Elektrifizierung ins Spiel. Das gilt natür- lich umso mehr, je mehr wir uns auf das autonome Fahren zubewegen. Studien haben gezeigt, dass junge Menschen heute autonomes Fahren ausschließlich mit einem Elektroantrieb verbinden und nicht mit einem Verbrennungsmotor. Entwickeln Sie Batterien? Nein, aber wir verstehen die Anforderungen und Eigenschaften – schließlich ist die Batterie als Energiespeicher wesentlich für die Leistungsfähigkeit eines Elektroantriebs verantwortlich. Daher verfügen wir auch über die Fähigkeit, die Batterie in die Simulation und Auslegung des Antriebs mit einzubeziehen. Zwar gibt es hierzulande Leute, die warnend den Finger heben und sagen, in der Elektromobilität kommen sie ohne Batterieproduktion in Deutschland nicht aus. Andere wiederum meinen, der Entwicklungsvorsprung von koreanischen und japanischen Herstellern sei nicht mehr aufzuholen, Batterien kaufe man also auch künftig lieber zu. Wir haben aktuell keine Pläne, in die Produktion von Zellen oder Batterien zu investieren. INTERVIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN Jörg Grotendorst ■■47, ist Leiter der Division E-Mobility der Zahnradfabrik (ZF) FriedFoto: ZF richshafen AG, des drittgrößten deutschen Automobilzulieferers.
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