SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________ SWR2 MusikGlobal Zwischen Himmel und Erde Georgische Gesänge aus dem Hohen Kaukasus Von Ariane Huml Sendung: Dienstag, 21. Februar 2017, 23.03 Uhr Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2017 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 MusikGlobal sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. 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Inmitten einer gigantischen Berglandschaft haben sich in den Dörfern Swanetiens vorchristliche Gesangstraditionen und Rituale erhalten, die weit in die Antike zurückreichen, bis hin zu den alten Kulturen Mesopotamiens. Die Sage um Prometheus, das Goldene Vlies und die Argonauten haben hier ihren mythischen Ursprung. Die aus der vorchristlichen Antike stammenden polyphonen Gesänge prägen den Alltag der Menschen bis heute – beim Feiern, beim Essen, bei der Arbeit, beim Wandern durch die weiten, wilden Gebirgslandschaften ebenso wie bei den Trauer- und Gedenkfeiern. Musik 2: getragenes Lied Sprecherin: Frank Scherbaum, bis vor kurzem Professor für Erdbebenforschung in Potsdam, hat sich ein paar Monate auf die Spur dieser alten Gesänge begeben und ist mit Nana Mhavanadze, einer georgischen Musikerin und Sängerin, durch Swanetien gereist, um vor Ort zu dokumentieren, was sich an Liedgut in den abgelegenen Dörfern des Hohen Kaukasus erhalten hat. Musik 3: „Ts‘minda“ von ferne als Einstimmung anspielen und drunterlegen… O-Ton 1: Frank Scherbaum: [24’41-26‘21] Hier in Swanetien erleben wir eine sehr ursprüngliche Form der Polyphonie. Die Theorie, wie Polyphonie hier entstanden ist, geht eigentlich davon aus, dass ursprünglich eine einstimmige Melodie die Grundlage bildete und dass sich dann darüber und darunter dann noch zwei Zusatzstimmen entwickelt haben. Aber es gibt in Swanetien bestimmte Gesänge, zum Beispiel die Totengesänge, die lassen ziemliche Zweifel an dieser Theorie aufkommen, es gibt nämlich praktisch keine Melodie in diesen Totengesängen. Die Mittelstimme, die die Hauptstimme dabei darstellt, die besteht im Wesentlichen aus einzelnen Phrasen, die manchmal wie gerufen werden und man kann nicht wirklich erkennen, dass sich jetzt die Ober- und Unterstimme dazu als Harmonisierung entwickelt haben. Also von daher besteht der Verdacht, und dem wollen Nana Mhavanadze und ich auch noch theoretisch nachgehen, dass sich die Polyphonie hier, diese Art von Polyphonie hier direkt vielleicht als harmonische Polyphonie entwickelt hat. Da gibt es auch noch andere 2 Hinweise dafür in anderen Arten von Musik. Aber im Großen und Ganzen ist die Meinung der georgischen Musikwissenschaftler, dass Swanetien eine der Wurzeln der Polyphonie Georgiens darstellt. Und von daher war auch Swanetien natürlich das natürliche Ausgangsgebiet für unsere Untersuchungen, denn wenn man einen Fluß kennenlernen will, sollte man erst zur Quelle gehen und ich glaube, dass in Swanetien die Quelle dieser Musik ist. Sprecherin: Noch werten die beiden Forscher aus Berlin und Tiflis ihre Daten aus, wir können gespannt sein, was wir da noch hören werden. Wie wichtig der Gesang für die Swanen nicht nur bei Festen, sondern auch im Alltag ist, wird schnell deutlich. Selbst im Angesicht des Todes wird nach bestimmten, tradierten Mustern gesungen: Sie geben Halt und trösten den Einzelnen wie die Gemeinschaft – die identitätsstiftende Funktion des swanetischen Gesanges ist unüberhörbar. Zunächst einer der seltenen Totengesänge aus dem Jahr 1969. Musik 4: Swanuri Zari – swanetischer Totengesang [0’00-1‘17] Sprecherin: Die Musik der georgischen Region Swanetien beruft sich auf uralte, nur mündlich tradierte Lieder und Rituale, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und so umfassen die zumeist dreistimmigen Lieder die gesamte Spannbreite des menschlichen Lebens – die polyphonen Gesänge sind die akustischen Begleiter des Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tod. O-Ton 2: [12’59-13‘42]: Frank Scherbaum: Für mich ist Swanetien die Region, in der Musik noch sehr stark verwurzelt ist, wo die Musik wirklich ein Teil des Alltags ist. Also weniger für das Publikum, das natürlich auch, man entdeckt auch, dass das einen Marktwert für Touristen hat, d.h. man lockt auch die Touristen mit den traditionellen georgischen oder swanetischen Gesängen, aber es ist einfach auch noch ein Teil des Alltags. Es ist alles rituelle Musik, wenn man die Riten des Alltags mit einbezieht, also zum Beispiel Geburt, Hochzeiten, Todesfälle, Supras, also, diese festlichen Gastmähler. Zu allen Angelegenheiten gibt es dann besondere Lieder, die dann auch gesungen werden. Zu jedem Supra werden bestimmte Toasts ausgebracht und zu jedem Toast auch gibt im Prinzip auch bestimmte Lieder, die man singt. Sprecherin: Viele dieser alten Lieder wurden von der Antike einfach übernommen ins frühe Christentum, das in Georgien schon seit etwa dem 1. Jahrhundert heimisch ist. Sie wurden kurzerhand „christianisiert“: Die Gesänge selbst aber gehen auf sehr frühe, vermutlich altsumerische Wurzeln zurück. Musik 5: „Christe asraguedi“ [0’00-1‘00] 3 Sprecherin: Madona, eine der drei Töchter der Musikerfamilie Chamjeliani aus dem Dorf Lakhushdi im Bezirk Latali weiß mehr über diese alten Wurzeln ihrer Kultur. Neben der Jagdgöttin Dali existierte im swanischen Universum die Sonnengöttin Kaltidi, zu der das kultische Lied „Lile“ gehört. Zu ihr gehörten die sog. Kultochsen, die für die kleinen Dorfgemeinschaften häufig wichtiger waren als die Dorfbewohner selbst. Denn nur mit ihrer Hilfe konnten sie in den unwegsamen Bergregionen des Hohen Kaukasus überleben und die schwere Arbeit auf den Feldern bewältigen. Die Kultochsen wohnten mit ihren Besitzern damals noch unter einem Dach und wurden verehrt, gehegt und gepflegt: Sie waren ihnen heilig. O-Ton 3: Madona und Thekla [2’33 f.-ca. 6’30, 6’36 ff.] OVERVOICE Es gab eine Art Kult der Ochsen. Sie galten als Symbol der Sonne und stellten das beste Opfer für Gott dar. Diese Tiere wurden niemals geschlagen, im Gegenteil, sie gaben ihnen extra viel Heu zu fressen. Das ganze Haus war voller Knochen und Hörner, die man extra gesammelt hatte. Man glaubte, dass bei der Wiederkehr Gottes auf die Erde auch die Tiere wiederauferstehen würden und je mehr Knochen man besaß, umso mehr Tiere würden auferstehen und man war reich gesegnet. Sprecherin: Bemerkenswert ist auch die Geschichte vom guten Wolf, dem Begleiter des Heiligen Georg, ebenso wie die von der weißen Schlange als Schutz- und Hausgöttin: der gute Engel der Swanen. O-Ton 3 weiter: Madona und Thekla [2’33 f.-ca. 6’30, 6’36 f., 15‘47] OVERVOICE Der Wolf war eine Art Hund für den heiligen Georg. Der heilige Georg selbst geht auf die Figur des heiligen Reiters zurück. Dieser wurde früher Schkrak genannt. Das war eigentlich der Name des Mondgottes. Schkrak hatte zwei Brüder, er war der Jüngste von ihnen. Als seine Eltern starben, teilte man das Familienvermögen unter den Söhnen auf. Aber als Jüngster bekam er nur seinen kleinen Hund mit auf den Weg. So begann er zu reisen und tat gute Taten mit seinem Hund, wo immer er auch war. Doch eines Tages…. Sprecherin: Madonas Erzählung von Schkrak, dem gutherzigen Reiter mit dem kleinen Hund, ist noch lange nicht zu Ende. Ich erfahre von seiner Verwandlung, wie er durch seine überschüssigen Kräfte unabsichtlich vom Guten zum Bösen getrieben wird. Als Gott ihn aufgrund seiner Zwiespältigkeit zu sich in den Himmel holt und ihn zum Herrscher über alle Männer auf der Erde macht – ihn als Mondgott an den Himmel setzt – ist sein kleiner Hund so traurig, dass er den Mond anheult. Und so wird auch aus dem einst braven kleinen Hund ein wildes Tier, er wird zum (guten) Wolf. Und so heulen seit jenen Tagen die Wölfe im Hohen Kaukasus den Mond an. Sie sind seither den Swanen heilig. Wölfe werden daher im heutigen Swanetien auch nicht gejagt, sie 4 stehen unter strengem Schutz. Und wenn ein Mann aus dem Dorf doch aus Versehen einmal auf die Idee kam, einen Wolf zu töten, wurde dieser im Wolfspelz durch das Dorf gejagt und aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen. Harte Sitten weicher Herzen in einer rauen Natur. Die Geschichte vom Mondgott und dem guten Wolf! Musik 6: Das Lied der Frauen O-Ton 4: Madona und Thekla [0’00 f. Türenquietschen 6’36-7‘40] OVERVOICE Nur den Frauen war es erlaubt, den heiligen Raum unter dem Boden des Hauses zu betreten, um zu beten. Sie standen der Erde näher, der Fruchtbarkeit. Die Männer des Hauses gingen dagegen in den Turm, um zu beten, um so die Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde herzustellen. Die Frauen hielten eine Schlange im heiligen Raum unter dem Boden des Hauses gefangen, der sie täglich Milch opferten. Sie beteten die weiße Schlange an, sie galt den Menschen als schützender Engel, als Schutz- und Hausgöttin, und auch heute wird sie im Freien in Swanetien stets geschützt. Man sagt, wer eine Schlange tötet, dem stirbt als Strafe ein Mensch in der Familie. Sprecherin: Wirksame Naturschutzmethoden aus fernen Tagen. Madonas Wissensschatz über die Geschichte Swanetiens und die alten Mythen ist riesig. So saßen auf der einen Seite des swanetischen Himmels der Mondgott mit seinem Wolf und auf der anderen Seite die Sonnengöttin mit ihrer weißen Schlange. Beide Tiere sind bei den Swanen positiv besetzt und waren nicht, wie später im Christentum, mit der menschlichen Sünde oder dem Bösen verbunden. Musik 7: „Tamardedpal“ von Murat, Giwi und Gigo Chamgeliani [0’12- 2‘44] Sprecherin: Über alles geliebt und verehrt in Swanetien war auch die Gestalt der berühmten Königin Tamar, deren Mut und Heldentaten sich bis ins unsere Zeit hinein tradiert haben. Das Lied „Tamardedpal“ wird noch heute im Swanischen oft und gerne gesungen. Man fasst sich an den Händen und tanzt im Kreis dazu. Manche der Lieder haben ihren Ursprung in so fernen Zeiten, dass selbst Kenner des Swanetischen nicht mehr genau klären können, worum es in den nur bruchstückhaft gehaltenen Texten geht. Hier ein altes Gebet, das Gott beschwören soll, früher wie heute: „Heiliger Geist, allmächtiger Gott, unsterblicher Gott“, so der kurze Text des Liedes. Musik 8: Ts’minda [0’00-2‘32] 5 Sprecherin: Jeden Abend sitzen wir – junge wie ältere, Geübte wie Neulinge des swanetischen Gesangs aus aller Welt – zusammen mit den Dorfbewohnern am Tisch inmitten der grandiosen Berglandschaft des Hohen Kaukasus. Wir singen und essen miteinander, erzählen und feiern unser Leben. Abend für Abend beginnt einer nach dem Toast des Tamada, des obligatorischen Zeremonien- oder Tischmeisters, ein neues Lied zu singen und die anderen stimmen mit ein. Wie bei dem Lied „Arula“: Musik 9: Gesang Arularo Atmo 1: Dorfbrunnen u. Bebbia füttert die Hühner Sprecherin: Es ist eine ganz besondere Atmosphäre da oben auf fast 1900 Meter Höhe inmitten der alten Holz- und Steinhäuser Lakhushdis: Man hört das ständige Plätschern des einzigen Dorfbrunnens, da sind die von Mensch und Tier ausgetretenen Dorfpfade, die man jeden Tag entlangläuft an den reich gefüllten, blühenden Gärten, vorbei an bunten Blumenwiesen und Tannenwälder, die das kleine, kaum 100 Einwohner zählende Dorf umgeben. Um uns die berühmten 4-5000 des Hohen Kaukasus, der Berg „Ushba“, der auch „Der Schreckliche“ genannt wird. Und in der Ferne leuchtet bläulich-weiß der gigantische, schneebedeckte Gletscher des Tetnuldi, den wir eines Tages von Lakhushdi aus mit einem verbeulten Kleinbus besuchen. Alle Mann rein – und los geht die Fahrt! Atmo 2: Musik bei Autofahrt [0’00-…] drunterlegen…. Wer hier nicht schwindel- und angstfrei ist, dem stehen unangenehme Stunden bevor. Denn der Bus schaukelt und wackelt bedenklich. Der Fahrer umfährt, wenn möglich, in halsbrecherischer Fahrt die zahllosen Schlaglöcher und die auf der einzigen asphaltierten Strasse liegenden oder herumlaufenden Kühe und Menschen. Im kleinen Bus, in dem wir zu sechst etwas gedrängt, aber glücklich sitzen, rauschen wir an der vielfach noch gänzlich unberührten Berglandschaft und an kleinen mittelalterlich anmutenden Dörfer vorbei; von weither schon sichtbar sind ihre Wahrzeichen, die swanetischen Wehrtürme. Und natürlich ist auch hier die georgische Musik mit ihrem starken, kräftigen Ausdruck allgegenwärtig. Der Fahrer spielt uns seine Lieblingslieder vor – eine temperamentvolle und stolze Kultur haben die georgischen Swanen da, um die wir sie mit unseren zarten und romantischen Volksliedern doch ein bisschen beneiden. Hier, wo noch Bären, Wölfe und Adler zu Hause sind, lebt eine urige Bergkultur, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Nicht umsonst ist Swanetien seit 1996 Weltkulturerbe. Atmo 3: Musik bei der Autofahrt … [1’23…ff]: 6 Und weiter geht die wilde Fahrt durch die Berge, vorbei am Verwaltungszentrum Mestia, das wir mit seinen alten Gassen und vielen Türmen für den Moment links liegen lassen. Immer weiter geht es hinauf zum Gletscher Tetnuldi, dessen Gipfel mit 4858 Metern bis in die Wolken hereinreicht. Als wir mitsamt den wenigen Touristen vor Ort die noch sandige, neu gebaute Skipiste bis 3000 Meter hinauffahren und endlich aussteigen, bricht die Sonne durch die Wolken. Eine gigantische Bergwelt aus grünen Rücken, Fels, Schnee und Eis fällt uns ins staunende Auge. Und kreist da vorne nicht ein Adler? Musik 10: Alilo auf dem Berg….[0’00-1‘17] Sprecherin: Das Lied strahlt eine besondere Ruhe und Würde aus. Wir sind gefangen und beglückt in einer Welt aus Musik und Mythen, aus Klang, ewigem Schnee und Eis. Denn in den Schnee, da gehört es eigentlich hin, dieses Lied. Eigentlich ist Alilo ein berühmtes swanetisches Weihnachtslied, das man singt, wenn draussen meterhoch der Schnee liegt und die Täler im Hohen Kaukasus für Monate abgeschlossen sind von der Außenwelt. In den Fenstern der Holzhäuser stehen dann Kerzen und leuchten der kleinen Gruppe den Weg, die sich singend von Haus zu Haus durch den Schnee den Weg bahnt. Im georgisch-orthodoxen Christentum verbindet man das Lied mit der Geschichte von Maria und Josef und ihrer Suche nach einer Herberge. Zurück geht es aber eigentlich auf einen alten Brauch aus der Antike, wo man ebenfalls in einer langen Prozession mit Fackeln durch das Dorf zog und um milde Gaben bat. Doch nicht um Geld und Schokolade ging es hier, sondern um Essen, um das pure Überleben. Milde Gaben: Ein gebratenes Kaninchen, von dem im Lied als „heiligem Hasen“ die Rede ist, würde den Sänger und seine Familie vor dem sicheren Hunger- und Kältetod retten. Musik 10: Alilo, gesungen von Nana Mhavanadze und den Schwestern Chamgeliani Sprecherin: Es war ein hartes und karges Leben hier in den Bergen Swanetiens und das über viele Jahrtausende lang, auch wenn die swanetische Kultur in ihrer christlichorthodoxen Variante ab etwa dem 8. Jahrhundert eine Blütezeit erfuhr, die ihresgleichen suchte. Die Verbindungen der reisenden Mönche und Gelehrten aus Swanetien reichten bis nach Jerusalem und Konstantinopel und so manch einer wanderte in seinem kurzen Leben mehrmals hin und wieder zurück. Die Mönche brachten im Gegenzug wertvolle Kultgegenstände und bedeutende Abschriften der Heiligen Schrift und anderer wichtige Bücher mit. Das ethnographische Museum in Mestia erzählt ihre Geschichte. Eröffnet im Jahr 2013 ist das ethnologisch-historische Museum von Mestia auf dem neuesten Stand der Museumkultur und weitet den Blick eines jeden Besuchers von der Antike bis in die heutige Zeit hinein. 7 O-Ton 5: [0’52-2‘57]: Direktorin des Museums: Rusudan Kochkiani (OVERVOICE): In diesem Museum haben wir archäologische Funde. Und die Funde reichen zurück bis ins Neolithikum. Es sind Erinnerungsstücke aus längst nicht mehr vorhandenen Dörfern, aber das tatsächliche archäologische Material reicht zurück bis ins 4. Jahrtausend vor Christus. Die Ausgrabungen in dieser Region waren nicht immer sehr systematisch, eher fragmentarisch. Es gab große swanetische Archäologen wie Schotartscharkolani, aber vor allem waren es die einfachen Leute, die bei der Feldarbeit oder beim Umgraben ihres Gartens besondere Dinge gefunden haben. Die Funde, die wir im Museum ausgestellt haben, decken die Zeit von 3000 v. Chr. bis 1900 n. Chr. ab. Sprecherin: Gefragt nach der Herkunft der Swanen und der Theorie, sie kämen aus Mesopotamien, antwortet die derzeitige Direktorin Rusudan Kochkiani: O-Ton 5 weiter: [6‘47/8’17-9’12: Nana M. übersetzt]: Direktorin des Museums in Mestia, Rusudan Kochkiani (OVERVOICE): Diese Theorie existiert: Zunächst sind die Swanen natürlich Georgier, ursprünglich eigentlich Kartvelianer: Die Swanen waren Teil des olchetischen Königreichs, das von georgischen Stämmen besiedelt wurde, inklusive der Swanen eben. Aber zurück zu Ihrer Theorie: Ja, die Swanen stammen wie manch andere georgische Völker ursprünglich aus Mesopotamien. Wir sind sehr stolz darauf, denn es bedeutet, dass wir eine sehr alte Nation sind, deren Wurzeln zurückreichen in eine weit entfernte Zeit der Menschheitsgeschichte. Musik 11: Gruppengesang am Festabend erst frei stehen lassen, dann drunterlegen…[0’00-2‘10] Sprecherin: So sind es also nicht nur die Lieder und die typischen Instrumente der Swanen wie die Tschangi, die sechs- bis siebensaitige Winkelharfe, die einst dem Jagdbogen nachempfunden wurde, und die in den Dörfern viel geliebte und gespielte Tschuniri; eine dreisaitige Spießgeige mit einem runden Korpus aus Tierfell, die den besonderen Klang der swanetischen Musik ausmachen und ihrer Herkunft nach von den alten Sumerern stammen. Es sind die Menschen selbst, deren Wurzeln und kulturellen Traditionen bis in das alte Reich des Zweistromlands zurückzuverfolgen sind. Und sie haben es geschafft – einst geflohen als Sklaven aus Kolchis – in den abgeschiedenen Tälern des Hohen Kaukasus zu überleben. In der Tat, beeindruckend und schön zugleich, so, wie die Landschaft, ihre Menschen, ihre Fröhlichkeit, ihre Tiefe, ihre musikalische Sanges- und Spielfreude. Musik wieder hochziehen 8 Musik 12 = Musik 7 weiter: „Tamardepdal“ auf dem Berg [1‘14 -7‘19] erst frei stehen lassen, dann drunterlegen, dann die Musik wieder hoch und freistehen lassen, die das Lied ausklingt. Sprecherin: Mächtig ist nicht nur die Musik in Georgien, sondern es sind auch die kulturellen Errungenschaften und gelebten Traditionen dieses Volkes an der Grenze zwischen Europa und Asien, die dieses Land so besonders machen. Epische Lieder wie das über die legendäre Königin Tamar aus dem 13. Jahrhundert erzählen die wechselvolle georgische Geschichte. Sie wird auf diese Weise weitergegeben von Generation zu Generation. Und nun auch an uns Fremde aus dem alten Europa. Immer wieder werden die Lieder des Epos wiederholt, man tanzt dazu im Kreis und klatscht, bis auch der letzte Reisende unter uns es mitsingen und mittanzen kann: zu Ehren von „König Tamar“, wie sie huldvoll genannt wurde. Der Berg Zuruldi, auf dem wir das mittelalterliche Lied in der freien Natur zum Besten geben, kennt ihre Geschichte längst und ist doch jedes Mal froh, sie wieder zu hören. Das Lied von der mächtigen Königin Tamar und des ebenso mächtigen Königreichs Georgien stärkt die Menschen auch heute noch in ihrem Selbstbewusstsein. Musik wieder hoch bis zu Schluss! Sprecherin: Zurück zum Dorf geht es in wilder Fahrt durch die ebenso wilde Berglandschaft, vorbei an klapprigen Kühen und kleinen bunten Menschengrüppchen, die mit Kind und Kegel die einzige Strasse im Tal entlangwandern. Manchmal sind auch junge Backpacker darunter, die sich mit ihren schweren Rucksäcken in der glühenden Hitze wohl nichts sehnlicher wünschen, als eine kalte Dusche und ein kühles Bier. Und vorsichtig ihre Daumen raushalten, in der Hoffnung, der nächste wilde swanetische Fahrer könnte noch ein Plätzchen auf seinem Kleinlaster frei haben. Natürlich mit laut aus den Fenstern schallender Musik, die darf im georgischen Alltag niemals fehlen, schon gar nicht im Auto. Musik 13: Autofahrt durch die Berge, Hupen, Gemurmel…. Musik 14: Autofahrt mit georgischen Gesängen… Sprecherin: Zurück im Dorf kehrt Ruhe ein – die Abgeschiedenheit der Berge erlaubt es auch uns, zur Ruhe zu kommen und über vieles nachzudenken, nicht nur über Fragen der Polyphonie. Es ist, als ob es bald regnet, die Kinder quengeln, wir sind alle hungrig und erschöpft vom überreichen Erleben des Tages. Da nimmt Ana die Tschuniri und stimmt ein georgisches Wiegenlied an… Musik 15: Nanas Wiegenlied „Naninana“ [0’00-3‘28] 9 Sprecherin: Nicht nur die Kinder, auch wir werden ganz still. Und auf einmal gehen die Tore des Himmels auf: Es gibt ein heftiges, aber kurzes Gewitter; Sommerregen im Hohen Kaukasus. Endlich Kühlung für die ausgetrocknete Erde, die Bergwelt, die erhitzten Gemüter. Atmo 4 Regen/Gewitter in Lakhushdi Musik 16: Die Schwestern Eka, Ana und Madona Chamgeliani singen zur Tschuniri Sprecherin: Melancholie hält ihren Einzug in die am Tag noch „fröhlich“, in der Sommersonne fast paradiesisch wirkenden Berge. Aber das Gewitter verschwindet so schnell wie es aufgezogen ist. Und schon sind die Grillen wieder hörbar und die Kinder brabbeln zufrieden vor sich hin. Als Teil dieser Gemeinschaft begreift man erst, was es wohl in früheren Jahrhunderten bedeutete, gemeinsam zu essen und zu singen, Zeit zu haben füreinander – für die schönen Dinge des Lebens! Atmo 5: [2’54-3’11 ff.] Sprecherin: Ein Toast des Tamada erklingt. Das Oberhaupt der Familie Chamgeliani erhebt sein Glas und trinkt auf eine friedvolle Nacht: „Auf den Frieden!“ Atmo 6: (0’45): Morgengemurmel… Sprecherin: Am nächsten Tag ist alles wie weggewischt. Der große Gesang geht weiter. Musik 17: Lied von Nicoletta und dem Chor [0’00-2‘02] Sprecherin: Nicoletta, eine von Geburt an blinde Nonne aus den USA, ist viele Male nach Georgien gereist, um hier die heiligen Gebete und traditionellen Gesänge, diesmal die der Swanen kennenzulernen. Wir alle bewundern sie sehr, denn wer erfahren hat, wie anstrengend es ist, sehend in den Hohen Kaukasus zu reisen, kann nur erahnen, wie es ist, blind den Weg über die Berge und Kontinente in ein Dorf im Hohen Kaukasus zu wagen. Aber Nicoletta ist nicht wirklich „blind“, sie liebt es zu reisen, neue Erfahrungen zu machen und neue Menschen kennenzulernen. Sie sieht ihre Umgebung mit anderen Augen, uns, die Menschen – wie die Musik. Die promovierte Musikethnologin betont, wie wichtig nicht nur für sie das gemeinsame Singen in dieser Gemeinschaft ist: 10 O-Ton 6: Nicoletta [4‘30– 5‘53; 7’48-8’08; 8‘15-8‘20] OVERVOICE: They are family at this point, because I think I have been coming here for, I think, six summers and keeping in touch in between. Sie sind mir schon zur Familie geworden. Ich komme schon seit sechs Sommern her und auch zwischendurch bleibe ich in Kontakt mit manchen von ihnen. (…) Es passiert alles durch und im gemeinsamen Gesang. Es ist eine soziale Aktivität, man führt Gespräche mit den Menschen, in dem man mit ihnen singt und in dem man gemeinsam die Feste feiert. Das ist eine wirklich wichtige Sache. Ich komme hierher als jemand, der denselben Glauben teilt: Wir beten und singen gemeinsam. Man nimmt so viel auf, wie möglich und lernt daraus, d.h. Aufnahmen machen, Gespräche führen, da ist die Musik selbst, Deine eigenen Erfahrungen und die Erfahrungen anderer um dich herum. So arbeiten wir Anthropologen und Ethnomusikwissenschaftler. Meine Arbeit läßt sich am besten als theologische Ethnomusikwissenschaft beschreiben. (…) The best way I describe my interdisciplinary work: It’s theological ethnomusicology! Sprecherin: Wieder geht ein schöner Tag zu Ende – man hört es nicht nur am Vergnügen der Kinder, sondern auch am Gesang, diesmal die Schwestern Chamgeliani im Trio – mit amerikanischem Bass: Musik 18: Woidananina [0’00-2‘55] Sprecherin: Ana, Eka und Madona singen diesmal gemeinsam mit Matthew, der wie Nicoletta extra aus Amerika angereist ist, um die Gesänge der Swanen zu studieren und darüber zu promovieren: Auch er hat in Lakhushdi weitaus mehr gelernt und erfahren, als er dachte. Neben der harten Arbeit im Garten und auf den Feldern sind es vor allem die gemeinschaftsstiftenden Lieder und Rituale, die diese Welt auf den Hochebenen des Kaukasus seit Urzeiten prägen. Nana und die Dorfbewohner Lakhushdis haben sie uns nahegebracht, diese Welt aus fernen Tagen. Die Antike ist noch sehr präsent im Swanetien von heute – im archaischen Gesang zwischen Himmel und Erde im Hohen Kaukasus. Musik wieder hoch und ausklingen lassen Sie hörten in SWR2 „Musik Global“: „Zwischen Himmel und Erde: Georgische Gesänge aus dem Hohen Kaukasus“. Am Mikrofon begleitete Sie heute ein Stück durch die Nacht: Ariane Huml. 11
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