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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Ohne Leitidee
Die Krise der Bildung
Gespräch mit Julian Nida-Rümelin
Sendung: Sonntag, 19. Februar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: Ohne Leitidee – Die Krise der Bildung. Es gibt heute ebensoviele
Bildungsbegriffe und Bildungskonzepte, wie es Anschauungen, Ideologien und
Meinungen gibt, die einen betonen das möglichst umfangreiche Wissen, andere
rücken Persönlichkeitsmerkmale in den Mittelpunkt oder Fähigkeiten, die man in
bestimmten Berufen unbedingt benötigt. Was ist Bildung, gibt es nicht doch noch
einen umfassenden Bildungsbegriff, den man heute wieder aktualisieren könnte,
darüber spreche ich mit Professor Julian Nida-Rümelin, Philosoph an der LMU
München.
Gespräch:
Caspary:
Was ist ein gebildeter Mensch?
Nida-Rümelin:
Bildung beinhaltet immer eine Idee der Vervollkommnung, dass man sich nach einem
Bilde formt, nach einem Idealbild, wenn man so will. Entsprechend ändern sich dann
die Inhalte. Bei Aristoteles etwa spielt die Mesotes eine Rolle – also die Mitte, das
Ausgeglichene, das Maßhalten, die Extreme- Meiden, die Dinge müssen stimmig
sein, zueinander passen, man muss kooperationsfähig sein mit anderen, und wichtig
ist, dass man die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringt – das ist ein ganz
schönes Bild. Das ist aristotelischen Ursprungs, aber keineswegs obsolet.
Caspary:
Warum nicht obsolet?
Nida-Rümelin:
Ich glaube nach wie vor, dass ein Bildungsverständnis, was darauf gerichtet ist,
Menschen nur lediglich performen zu lassen, also Leistungen erbringen zu lassen
für bestimmte Tätigkeiten, in Kontrast gerät zu diesem menschlichen Selbstbild, was
mir sehr wichtig zu sein scheint: nämlich, dass das Leben als Ganzes stimmig sein
muss; ich muss nicht nur performen, nicht nur leisten in bestimmten Aufgabenfeldern,
sondern am Ende muss ich ein ganzes Leben verantworten. Vielleicht äußert sich
das darin, dass man im glücklichen Fall mit sich im Reinen ist und nicht dauernd das
Gefühl hat: Ich werde vielleicht den Ansprüchen gerecht, die andere an mich stellen,
aber ich selbst kann mich mit dem nicht ganz identifizieren. Dieses Element wird von
manchen als Persönlichkeitsbildung bezeichnet und ist meines Erachtens nach wie
vor zentral.
Caspary:
Sie haben gesagt, es geht um das Ausschöpfen der eigenen Potentiale, um die
Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Dazu muss man aber wissen, was das eigene
Potential ist und was die eigenen Fähigkeiten sind. Das heißt, Bildung basiert auf
dieser Selbsterkenntnis?
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Nida-Rümelin:
Ich glaube, dass diese Selbsterkenntnis nicht am Anfang steht, sondern dass sie im
Laufe des Bildungsweges wächst. Man kann es vielleicht auch so formulieren: Ein
ideales Bildungssystem bietet unterschiedliche Bildungswege an, die jeweils auf die
individuellen Bedürfnisse, Interessen, Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten usw.
Rücksicht nehmen, also gewissermaßen diese Potentiale aufgreifen, entfalten und
fördern. Welche das nun im Einzelnen sind, lässt sich nicht am Anfang festlegen.
Deswegen bin ich auch gegen frühe Selektion von Kindern in unterschiedliche
Bildungs-Stränge. Sondern das entwickelt sich im Laufe dieses Bildungsweges. Man
kann es noch philosophischer formulieren: Wir sind Autorinnen oder Autoren unseres
eigenen Lebens – im günstigen Fall jedenfalls, wir sind nicht nur Getriebene , wir
reagieren nicht nur auf Umstände, sondern wir sind diejenigen, die das Drehbuch
unseres eigenen Lebens schreiben und danach leben. Aber das können wir nicht am
Anfang schreiben, sondern wir schreiben dieses Drehbuch im Laufe eines langen
Weges, einschließlich eines Bildungsweges. Zu Beginn des Lebens ist noch vieles
offen. Im Idealfall finden die Personen auf diesem Bildungsweg sich selbst und
sagen: „Das bin ich. So will ich sein. Und deswegen bin ich hier richtig“.
Caspary:
Und wenn man sich selbst gefunden hat, ist das die Basis für ein gelingendes,
glückliches Leben. Wäre dies das Endziel von Bildung?
Nida-Rümelin:
Gelingendes Leben, würde ich sagen: Ja. Gelingendes Leben eben in dem Sinne:
Man kann mit sich im Reinen sein; ich muss nicht dauernd bereuen, was ich tue,
oder beklagen, was ich tue. Das mit dem „glücklich“ ist etwas problematisch, weil wir
in der Moderne so eine hedonistische Schlagseite haben. Das heißt, wir
interpretieren glücklich in dem Sinne, wir haben ein hohes Zufriedenheitsniveau. Da,
glaube ich, lauern große Gefahren. Eine Gefahr ist, wenn man sich zum Ziel setzt
möglichst zufrieden oder glücklich in diesem Sinne zu sein, einen mehr oder weniger
glücklichen mentalen Zustand über lange Zeit aufrecht zu erhalten; erstens gelingt
das nur in den seltensten Fällen – dazu gibt es psychologische Untersuchungen – in
beide Richtungen: Der Lottogewinn bringt eine gehobene Stimmung für ein paar
Monate. Und dann ist es auch vorbei, dann ist man wieder so wie vorher. Oder eine
Verletzung durch einen Unfall bringt natürlich eine Verschlechterung der
Stimmungslage. Aber nach ein paar Monaten nimmt das auch ab und dann
normalisiert sich das wieder. Allein die Zielerreichung ist ein Problem. Aber
grundlegender noch ist die Frage: Was ist im Leben eigentlich wichtig? Und wenn es
nur darum geht, das eigene Zufriedenheitsniveau zu heben, wie das so einer weit
verbreiteten Weltanschauung entspricht und ganze Bücherregale in den
Buchhandlungen füllt, dann besteht die Gefahr, dass am Ende die Dinge leer
werden. Wenn Menschen sich quälen, zum Beispiel bei einem großen Projekt, dann
sind sie nicht dauernd glücklich und zufrieden. Die meisten Autoren, die Bücher
schreiben, sind nicht permanent glücklich während sie Bücher schreiben. Und
trotzdem kann es sein, dass sie am Ende das Gefühl haben: Ich habe hier etwas
Sinnvolles getan. Also glücklich meine ich nicht im Sinne der dauernden
Zufriedenheit.
Caspary:
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Welche Rolle spielt für Sie der Begriff: „Resilienz“, der ja auch Hochkonjunktur hat
und der meint: die Widerstandsfähigkeit des Individuums gegen Schicksalsschläge,
gegen negative Erfahrung. Ist das ein wichtiger Baustein bei einer guten Bildung?
Nida-Rümelin:
Ich habe mich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt, auch mit einem
Forschungsverbund, der hier in Bayern besteht. Resilienz ist ein ganz wichtiger
Aspekt. Resilient heißt erst mal: Ich kann Stresssituationen aushalten, durchhalten,
ich zerbreche daran nicht. Der Ausgangspunkt dieser Resilienzdebatte sind
psychologische Beobachtungen gewesen, dass zum Beispiel Kinder und Jugendliche
unter extrem ungünstigen Bedingungen – sagen wir einmal: beide Eltern sind
Alkoholiker, arbeitslos usw. – nicht alle traumatisiert sind, nicht alle schwer psychisch
belastet sind und Schwierigkeiten haben in ihrem Leben, sondern, dass ein Teil, je
nach Umständen 30-50 %, am Ende trotzdem gesunde, lebensfähige Personen
werden . Dann hat man sich Gedanken gemacht: Was unterscheidet die von den
anderen? Was unterscheidet diejenigen, die das durchstehen, von denjenigen, die
das nicht tun? Da kommen auch Umweltbedingungen ins Spiel, zum Beispiel ist es
für ein Kind sehr wichtig, dass es sich akzeptiert fühlt als Kind, das macht es offenbar
widerstandsfähig. Oder wichtig ist auch die Erfahrung, dass man selber etwas
erreichen kann, indem man etwas tut…
Caspary:
…Selbstwirksamkeit heißt das so schön…
Nida-Rümelin:
…genau. Das ist ein wichtiger Punkt, und vieles andere. Ich bin kein Psychologe und
will mich da nicht zu sehr einmischen. Daraus ist die psychologische und dann auch
soziologische Resilienzforschung entstanden. Aus philosophischer Sicht darf man
das Konzept aber nicht verabsolutieren. Um es spöttisch zuzuspitzen: Die
resilienteste Regierungsform, die ich gegenwärtig auf der Welt beobachten kann, ist
Nordkorea, was mit massivem Stress und vielen Gegnern kämpft und als kleiner
Staat erstaunlich überlebensfähig ist und nichts ändert. Das gilt auch für Individuen:
Wenn Resilienz so definiert wird: Man bleibt konstant, auch bei äußerem Stress,
dann kann das auch negativ sein. Ich muss mich ja immer wieder anpassen, ich
muss mich verändern, ich muss mir überlegen: Wie reagiere ich auf negative Dinge?
Das bloße Durchhalten ist für sich genommen noch kein Wert. Das muss man
einordnen in den größeren Zusammenhang.
Caspary:
Wo würden Sie das einordnen?
Nida-Rümelin:
Insbesondere in die Frage „Wie kann die Biographie als ganze stimmig bleiben?“. Es
ist typisch, dass nach einem schweren Autounfall oder einer Trennung Menschen oft
die Lebenslinie verlieren. Dann zerbricht alles. Bei Frauen gibt es dann mehr
Medikamentenabhängigkeit, bei Männern Alkoholabhängigkeit als Reaktion darauf.
Das heißt, der Lebensfaden, die Lebenslinie, wird nicht mehr kontrolliert und nicht
mehr fortgeführt – gewissermaßen ist das eine Art Selbstaufgabe als Reaktion. Ich
würde sagen, das ist der interessante Aspekt der Resilienzforschung: Unter welchen
Bedingungen bleiben die Menschen AutorInnen ihres Lebens und verlieren diese
Fähigkeit zur Autorschaft nicht? Aber Resilienz darf nicht nur so definiert werden:
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Wie viel bleibt unverändert? Es kann ja eine richtige Reaktion sein auf ein Trauma zu
sagen: „Jetzt ändere ich vieles, weil eben manches auch falsch gelaufen ist in
meinem Leben“.
Caspary:
Sie hatten die ganzheitliche Entfaltung, die Entfaltung der eigenen Potentiale, die
Autorschaft genannt- sind das typische Elemente eines humanistischen,
traditionellen Bildungsbegriffs?
Nida-Rümelin:
Wenn Sie das traditionell raus nehmen, würde ich sagen: Ja, Humanismus in dem
weiten Sinne, wie ich Humanismus verstehe. Ich meine jetzt nicht humanistische
Bildung im Sinne einer Orientierung an alten Sprachen – zum Beispiel Griechisch
oder Latein – , dafür kann man sein, das ist aber nicht das Zentrum eines
humanistischen Bildungsbegriffes. Ich meine diese Traditionslinie, die in der Tat in
der Antike, bei Platon beginnt und die dem Menschen zutraut, sich selbst ein Urteil
zu bilden und auf der Grundlage dieser Urteilsfähigkeit zu agieren, zu handeln. Das
ganze sokratische Programm besteht darin, das eigenständige Denken zu initiieren,
gemäß der sokratischen Hebammenkunst. Bildung ist kein Nürnberger Trichter, die
Menschen erarbeiten sich das Wissen selbst, es ist nicht aufoktroyiert, und die
Ergebnisse sind nicht lediglich instrumentell auf bestimmte externe Ziele gerichtet,
sondern werden auch um ihrer selbst Willen verfolgt. Das ist dann die große Tradition
der Persönlichkeitsbildung. Das verstehe ich unter Humanismus. Und diese Form
des Humanismus muss sich immer wieder zur Wehr setzen gegen die
Instrumentalisierer, die sagen „Wir wollen verwertbares Wissen. Wir wollen
Verwertbarkeit in erster Linie und alles muss sich dem unterordnen“, bis hin zu der
zynischen Politik über viele Jahrhunderte, dass es ja geradezu gefährlich ist, wenn
die Menschen zu gebildet sind, weil sie dann kritisch sind. Dann sind sie vielleicht
sogar der Auffassung, sie müssten ihre politischen Geschicke selbst in die Hand
nehmen. Lange Zeit war die Vorstellung verbreitet: Warum sollen Frauen überhaupt
gebildet sein? Da sie sich ja um den Haushalt kümmern und die Kinder aufziehen
sollen, brauchen sie auch keine Bildung. Das ist genau das Gegenmodell von
humanistischer Bildung, weil hier die Autorschaft in Frage gestellt wird.
Caspary:
Ich versuche das einmal durchzuspielen, mit den Instrumentalisierern und
Verfechtern der humanistischen Bildung , wir gehen ins Gymnasium, sagen wir 9.
Klasse, der Zitronensäurezyklus wird durchgenommen. Da würden die
Instrumentalisierer sagen: „Völliger Unsinn, das braucht man überhaupt nicht zum
Leben; die Kinder sollen Geld verdienen und einen guten Beruf haben, sich selbst
verwirklichen – wozu Zitronensäurezyklus?“ Der Humanist sagt: „Aber das gehört
auch zu dieser ganzheitlichen Bildung; davon sollte man etwas gehört haben“.
Nida-Rümelin:
Genau. Ich würde sagen, das ist ja auch humanistisch – diese Idee der
Allgemeinbildung, der Humboldt die Specialbildung entgegenstellt. Die
Specialbildung ist auf bestimmte Fähigkeiten und spätere Aktivitäten gerichtet und
die Allgemeinbildung adressiert im Grunde alle gleichermaßen. Das ist ein
Hintergrund, vor dem dann erst Verständigung, Kommunikation, Interaktion,
Selbstentfaltung usw. möglich ist. Aber es lohnt sich schon, gründliche darüber
nachzudenken: „Was muss da alles dazugehören?“. Und da bin ich der Meinung, wir
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brauchen beides, wir brauchen einen allgemein gemeinsamen Hintergrund, vor dem
wir uns verständigen können. Was dazu im Einzelnen gehört, darüber kann man
streiten, das kann auch von Land zu Land ein bisschen unterschiedlich sein. Wie
wichtig ist meinetwegen Shakespeare für den Senegal? Aber ich würde sagen, in
Europa ist Shakespeare wichtig; Goethe auch und vielleicht auch der
Zitronensäurezyklus. Und dann brauchen wir aber – und das ist viel wichtiger – die
Urteilsfähigkeit, die Urteilskraft. Die bildet sich durch das In-die-Tiefe-Gehen, das ist
wichtig, Urteilskraft entsteht eigentlich erst in der gründlichen Auseinandersetzung
mit bestimmten Themen. Da geht man in die Tiefe. Das ist meine Kritik an der
gegenwärtigen Entwicklung in den Bildungseinrichtungen, auch an den Hochschulen,
dass wir vor lauter Wissensansammlung, Wissensvermehrung und
Wissensvermittlung in unterschiedlichsten Disziplinen das Vertikale verlieren, das wir
keine Zeit mehr haben, zu reflektieren. Wenn das weitgehend fehlt, dann lernen die
Kinder und Jugendlichen gewissermaßen eine rezeptive Haltung. Das heißt, sie
hören sich das an, merken sich das Wichtigste, vergessen das dann wieder, wenn
dann die Klausur ist; und dann wird es abgehakt und dann kommt das Nächste. Das
ist eine hoch gefährliche Entwicklung.
Caspary:
Der Instrumentalisierer würde sagen: „Die Kinder lernen fürs Leben, für den späteren
Beruf. Allgemeinbildung klingt super, aber es sollte schnell gehen, man sollte schnell
zu Potte kommen“. So ist ja die Schule organisiert in Deutschland?
Nida-Rümelin:
Das war auch das Beschleunigungsprogramm, das viele unterdessen – wenigstens
hinter vorgehaltener Hand – wieder bereuen. Wir haben eine mehrfache
Beschleunigung: Wir haben den Schulbeginn im Schnitt um ein Jahr nach vorne
verlegt; wir haben die gymnasiale Schulzeit um ein Jahr verkürzt. Die Ironie der
ganzen Geschichte ist, dass dann am Ende die Sache doch nicht so funktioniert, wie
gedacht. Unterdessen haben wir ja schon – wenn es ganz rasch geht – mit 20 die
Bachelorabsolventen, spätestens mit 21. Dann gehen die in die Unternehmen – ich
habe viele Gespräche mit Personalentscheidern von Unternehmen, die sagen: „Das
ist alles zu früh. Wollen Sie nicht noch ein Auslandsjahr?
Caspary:
Das machen auch viele, eben weil sie zu jung sind…
Nida-Rümelin:
…und dann kommt noch etwas hinzu, dass an den Universitäten nicht eingetreten ist,
was geplant war, nämlich dass 80 % mit dem Bachelor abgehen und erst einmal
berufstätig sind – so wie in den USA – und dann vielleicht, wenn sie wollen, noch
einmal zurückkehren und ein Masterstudium absolvieren. Stattdessen: 80 % der
Studierenden wollen an den Universitäten weiter studieren, was auf dem Papier
sogar eine Verlängerung der Studienzeiten bedeutet – drei Jahre Bachelor plus zwei
Jahre Master sind fünf Jahre, vorher waren es – wenigstens auf dem Papier – vier
Jahre. Es waren dann – gebe ich zu – zwar nie vier Jahre, aber das mit der
Verkürzung hat nicht so richtig geklappt.
Caspary:
Hat es denn geklappt, die Abbrecherquote zu reduzieren?
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Nida-Rümelin:
Das war ein wichtiges Ziel der Bolognareform – in Deutschland zumindest, dass man
die Abbrecherzahlen drückt – da muss man genau die Fächer anschauen. Das ist in
manchen Fächern gelungen. Zum Beispiel in meinem Fach: Die Philosophie hatte
zum Teil astronomisch hohe Abbrecherquoten. Das hing aber auch damit
zusammen, dass viele Philosophie als Studium generale aufgefasst haben und
gesagt haben: „Naja, das studieren wir einmal und ich kann nebenbei schon jobben
oder etwas anderes machen. Oder ich warte auf den Medizinplatz“. Das ist so heute
alles nicht mehr möglich. Aber insgesamt, über alle Fächer betrachtet, sind die
Abbrecherquoten interessanterweise gestiegen und nicht gesunken, obwohl alle, die
an den Hochschulen lehren, wissen, dass die Erfordernisse, Qualitätsstandards,
zwangsläufig sinken mussten und auch gesunken sind. Das heißt, wir haben
sinkende Qualitätsstandards und steigende Abbrecherquoten. Das ist in meinen
Augen ein Indiz für eine doch recht massive Fehlsteuerung im Bildungssystem.
Caspary:
Wie hätten Sie es denn gerne? Etwas polemisch gefragt. Entschleunigung, also
wieder G9?
Nida-Rümelin:
Entschleunigung heißt nicht unbedingt, den zeitlichen Rahmen zu verändern. Ich bin
sogar der Auffassung – immer schon gewesen – wenn es unbedingt sein muss, kann
man auch mit einem G8 entschleunigen. Aber das setzt dann voraus, dass man
wirklich gründlich über die Stofffülle geht und das so reduziert, dass diese Vertiefung
möglich ist. Wenn man tatsächlich diese Stofffülle aufrecht erhalten will – de facto
wurde ja der Stoff von G9 in G8 hineingequetscht- ist die Folge eine
Oberstufenverkürzung von drei auf zwei Jahre. Das ist gerade das Problem, weil wir
jetzt selbst bei denjenigen, die über das Gymnasium eine
Hochschulzugangsberechtigung haben, nicht mehr wirklich voraussetzen können,
dass sie hochschulreif sind. Es ist auch interessant, dass die Ministerialbürokratien
von dem Begriff abgegangen sind: früher wurde ja eine Hochschulreife attestiert ,
heute eine Hochschulzugangsberechtigung. Das ist etwas ganz anderes. In der Tat
würde ich sagen, dass ein wachsender Teil der Studierenden nicht wirklich
studienreif ist. Da kann man sagen: „Na gut, das war in den USA auch immer so“ –
das war ja der Hintergrund, warum man den Bachelor überhaupt eingeführt hat –
„dann müsst ihr das halt nachholen. OK, uns fehlt es ein bisschen an Lehrpersonal,
die das dann können. Aber ihr müsst im Grunde die gymnasiale Oberstufe
nachholen, vor allem für die, die über andere Wege – zum Beispiel eine
Meisterprüfung – in das Studium kommen“. Ich bin sehr dafür, dass es diese
Durchlässigkeit in beide Richtungen gibt. Aber man muss sich dann von der
Vorstellung verabschieden, dass die Leute jeweils schon studierfähig sind. Das heißt
aber dann in der Konsequenz, dass man den Fächern überlassen sollte, wen sie
aufnehmen, nach ihren Kriterien, die sind ja unterschiedlich. In manchen Fächern
kann man mit guten Mathematikkenntnissen wunderbar zurande kommen, da muss
man nicht feinziselierte Sätze schreiben können; in der Philosophie ist das schon ein
bisschen problematischer.
Caspary:
Sie hatten für das Ganzheitliche plädiert. Zu diesem Ganzheitlichen gehört für mich
nicht die verkopfte Bildung, diese Vermittlung kognitiver Fähigkeiten, sondern auch
etwas anderes…
7
Nida-Rümelin:
…das ist die wichtige zweite Botschaft meiner Bildungsphilosophie – dass wir eine
kognitive Schlagseite haben…
Caspary:
…das heißt,?
Nida-Rümelin:
Mit kognitiver Schlagseite meine ich, dass wir in erster Linie die kognitive Dimension
der Bildung betonen. Das gilt in Bayern schon für die Neunjährigen. Dort wird nach
Mathematik, Heimat und Sachkunde und Deutsch auf die drei Schultypen selektiert.
Und ich frage mich: Wo bleibt zum Beispiel das Handwerkliche? Ist das nicht Teil der
Bildung? Kinder und Jungendliche, die ein feines Gespür für Stoffe, für Farben, für
Materialien haben; die mit Holz umgehen können und sich für so etwas interessieren,
sind doch nicht weniger gebildet. Das ist doch auch eine wesentliche Fähigkeit: das
Künstlerische, die Fähigkeit, mit Menschen zu kooperieren, also das Soziale,
Ethische. Und das wird systematisch abgewertet. Den Kindern wird gesagt: „Das
Wichtige ist das Kognitive. Ihr müsst in Deutsch und Mathematik besonders gut sein“.
Das andere ist nachrangig, mit der dann paradoxen Folge, dass diejenigen, die da
also nicht gut sind, auf Bildungswege geraten – was zunächst einmal gar nichts
Negatives ist – bei denen sie spezifische Fähigkeiten mitbringen müssen, die aber
vorher nicht hoch geschätzt wurden. Zum Beispiel: technische, handwerkliche
Fähigkeiten. Wir müssen eine Kultur gleicher Anerkennung etablieren. Es sind nicht
nur diejenige Schülerin gut, die eben in diesen kognitiven Fähigkeiten gute Noten
haben, sondern, es kann auch diejenige oder derjenige gut sein, der dafür im
Technischen, Handwerklichen, Künstlerischen, Gestalterischen, Sozialen gut ist. Da
müssen wir eine Korrektur vornehmen, sonst läuft uns das aus dem Ruder.
Caspary:
Aber andererseits sind wir doch – auch wenn das klischeehaft klingt – ein Volk von
Ingenieuren.?
Nida-Rümelin:
Aber Ingenieure sind nicht nur diejenigen, die Ingenieurwissenschaft studiert haben,
sondern eben auch die Techniker usw. ...
Caspary:
Woran liegt dann diese Abwertung dieses technischen, handwerklichen, praktischen
Bereichs?
Nida-Rümelin:
Wenn Sie sich zurück erinnern, dass vor ein paar Jahren von einer Bedarfslücke,
oder Nachwuchslücke im Bereich MINT gesprochen wurde – Mathematik, Ingenieur,
Naturwissenschaft, Technik – und man hat gefragt: „Was meint ihr eigentlich damit?“,
dann hieß es: „Wir haben zu wenige Studenten in dem Bereich“ . Mag ja sein – da
gibt es eine DIW-Studie, die sagt eigentlich ausreichend, aber gut, da kann man
drüber streiten – aber, dass MINT ganz überwiegend nicht- akademische Berufe
sind, das war gar nicht in der Debatte. Und das ist eine merkwürdige Geschichte.
Wenn Sie sich den Erfolg der deutschen Wirtschaft im Ausland anschauen, der hängt
zu einem ganz großen Teil an einem in der Exportwirtschaft sehr starken
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mittelständischen Bereich. Wenn Sie da genauer hinschauen, stellen Sie fest: Der
lebt von dieser handwerklich, technischen Tradition. Das wissen die auch in den USA
und versuchen das zu imitieren, bis hin zu Berufsbildungszentren, die Obama
eingeweiht hat , ob die funktionieren weiß ich nicht, aber das ist ein Versuch, sich an
Deutschland zu orientieren.
Wir haben jetzt Jahre hinter uns, in denen der sogenannte tertiäre Sektor – ganz
stark auf Hochschulausbau gesetzt hat. Das war problematisch. Und ich glaube, wir
müssen das jetzt korrigieren. Das heißt, wir müssen die berufliche Bildung genauso
ernst nehmen. Wir dürfen die Mittel, die zusätzlich in die Hochschulen gehen, nicht
mehr binden an die Zunahme der Studierenden – das ist zuletzt wieder geschehen –
das geschieht immer wieder. Wir dürfen auch nicht die Botschaft aufnehmen oder
umsetzen, die aus dem Bildungsministerium kommt: „Tut alles, damit die
Abbrecherquoten runtergehen, auch wenn die Qualitätsstandards damit
runtergehen“. Das geht nicht, das können wir uns nicht leisten. Sondern die
Botschaft sollte sein: Nicht jeder, der sich für Technik interessiert, muss
Ingenieurwissenschaft studieren; dort ist Mathematik wichtig und die würde ich nicht
aufgeben. Aber in einem technischen Beruf ist gewisses mathematisches
Grundverständnis , aber nicht sehr anspruchsvolle, hohe Mathematik erforderlich.
Die Digitalisierung wird sowieso alle Berufe betreffen – akademische wie nicht
akademische – die Botschaft, dass nur akademische Berufe mit der Digitalisierung
umgehen können, ist völlig unbegründet. Denn die Vorstellung, dass in Zukunft all
die Probleme, die auftreten werden, mit volldigitalisierten Haushalten usw. gelöst
werden von promovierten Ingenieurwissenschaftlern, halte ich für abwegig. Das
müssen Techniker sein, die damit umgehen können. Das ist schon aus finanziellen
Gründen gar nicht anders denkbar. Wir sollten diese Chance eher nutzen;
Digitalisierung heißt, dass wir die Berufsschulen stärken müssen; dass wir die
Allgemeinbildung in den Berufsschulen stärken müssen. Das duale System kann nur
überleben, wenn die Berufsschulen stark sind. Das war aber ein Stiefkind der
Förderung im Bereich Bildung in den letzten Jahren.
Caspary:
Wir schauen mal, was mit den Berufsschulen passiert. Dass deren Image steigt, da
bin ich sehr skeptisch. Mir scheint das eher weiter zu sinken.
Nida-Rümelin:
Sagen wir es so: Ob so eine Schule ein hohes oder niedriges Image hat, hängt ja
auch mit der Bildungspolitik zusammen. Dass es so eine massive Verschiebung
gegeben hat, hing ja damit zusammen, dass die Botschaft war: „Den Akademikern
gehört die Zukunft; Mobilität, Flexibilität ist die Zukunft. Deswegen sind die 350 –
oder mehr – Ausbildungsberufe eigentlich von gestern“. Das war ja der Fehler. Und
jetzt sehen das die meisten ein. Es ist nicht so, dass ich das nur gebetsmühlenartig
wiederhole, sondern da hat sich ja etwas verändert. Es hat auch keinen Zuwachs
mehr gegeben in den letzten Jahren, das ist auch interessant.
Caspary:
An Studenten?
Nida-Rümelin:
Ja, die Studierendenquote ist seit 2012/13 nicht mehr gewachsen. Das heißt, es gab
da eine Vollbremsung. Nach plus 10 % jedes Jahr auf einmal nix mehr. Es hat ein
Umdenken stattgefunden. Aber jetzt muss der nächste Schritt erfolgen. Wir müssen
9
die berufliche Bildung aufwerten. Die Handwerkskammern haben in meinen Augen
eine super Kampagne gemacht. Das scheint zumindest in Bayern gewirkt zu haben –
mit über 5 % plus. Das muss weiter gehen.
Caspary:
Vielen Dank für das Interview.
Nida-Rümelin:
Bitte schön.
*****
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen in
Deutschland. Er lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München.
Julian Nida-Rümelin ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel sowie gefragter
Kommentator zu ethisch, politischen und zeitgenössischen Themen. 2013 stieß er
die Debatte zum Akademisierungswahn an. Julian Nida-Rümelin hält Vorträge und
Reden und berät Führungskräfte in philosophisch-ethischen Fragestellungen.
Internetseite:
www.julian.nida-ruemelin.de
Bücher (Auswahl):
- Humanistische Reflexionen. Suhrkamp. 2016.
- Die neue deutsche Bildungskatastrophe – Zwölf unangenehme Wahrheiten. Herder.
2015.
- Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung.
Edition Körber-Stiftung. 2014.
- Philosophie einer humanen Bildung. Edition Körber-Stiftung. 2013.
- Verantwortung. Reclam-Verlag. 2011.
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