Kritik von Faust-Inszenierungen auf DVD

Winfried Lintzen
Kritik von Faust-Inszenierungen auf DVD
Inhalt:
Theater auf DVD ............................................................................................................ 1
Stein-Inszenierung ...........................................................................................................2
Gründgens-Inszenierung ................................................................................................19
Dorn-Inszenierung .........................................................................................................21
Zugabe: Goethe und Quote – Warum die Publikumswirksamkeit von Goethes Faust
verkannt wird und was das mit ARD und ZDF zu tun hat .......................................22
Unser reim auf copy-right...............................................................................................25
Theater auf DVD
Filmische Aufzeichnungen von Theater können die Entfaltung des Erlebens blockieren. Margaretes
Gesicht in Großaufnahme zu zeigen, wenn sie am Spinnrad sitzt und dann nach und nach ihre ganze
Gestalt sichtbar zu machen bedeutet: den Informationen aus dem Text sich ständig ändernde,
aufmerksamkeitsbindende visuelle Informationen hinzuzufügen. Das Erleben wird dadurch
eingeschränkt. Würde es sich um einen Film handeln, wäre eine solche Kameraführung
wahrscheinlich bestes Handwerk. Aber Sprechtheater lebt vom Text! Solche Kameraeffekte können
höchstens solche Zuschauer gut finden, die für die Poesie des Textes wenig empfänglich sind.
Es ist klar, daß die Kameraleute auch gerne ihre Kunst zeigen möchten. Aber hat ihnen noch keiner
gesagt, daß es bei der Aufzeichnung von Theaterstücken andere Gesetzmäßigkeiten gibt als beim
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Film? Die Kameraführung ist etwas Diktatorisches: der Zuschauer hat keine Chance mehr, sich auf
dasjenige auf der Bühne zu konzentrieren, was er möchte, sondern er muß nehmen, was kommt und
er kann nie wissen, was wann kommt oder ausgeblendet wird. - Doch es ist lehrreich, auf diese
Weise die Sensibilität der poetischen Potentiale eines Textes - also die Sensibilität der Form - zu
erleben: Die Kunst des Regisseurs sollte sein, genau zu wissen, was ein Text braucht, um sein
Potential zu entfalten und vor allem: wie viel davon, und was diese Entfaltung beeinträchtigt.
Das gilt auch für die Musik. Wie Stein es dem Theaterkomponisten durchgehen lassen konnte, den
Auftritt Helenas im dritten Akt mit einer mehrstimmigen Chormusik zu unterlegen, ist mir rätselhaft
- zumal die Musik dem antikisierenden Eindruck, den Goethe hier im Sinn hatte, massiv
zuwiderläuft. Abgesehen davon ist sie auch noch ziemlich betulich.
Also: Nicht von DVD-Aufzeichnungen auf die Potentiale eines Stückes schließen!!!
Die Inszenierung von Peter Stein
Zusammenfassung:
Als störend an der Inszenierung und ihrer DVD-Fassung könnte empfunden werden:
- Die Faust-Darstellung wird durch Manieriertheit weitgehend entdifferenziert, vorhersehbar und
eintönig.
- Die mühlose Textverständlichkeit hat keine Priorität sondern wird durch Stimm- und
Sprechgestaltung trotz deren Virtuosität oft erschwert.
- Das Bühnenbild ist oft auf eine Weise stilisiert, die nichts vermittelt, nicht "anmutet", sondern nur
als Zeichen zu verstehen ist: z.B. "das soll jetzt Gebirge sein".
- Die Kameraführung wirkt teilweise geradezu närrisch und stört die Aufmerksamkeit. (Das zeigt
den Dilletantismus des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks bezüglich Kunst und Kultur.)
Die DVD-Fassung darf nicht mit der Inszenierung verwechselt werden und die Inszenierung
nicht mit dem Stück!
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Übersicht:
(1) Faust-Darstellung
(2) Mummenschanz und Schauderfest
(3) Helenaakt
(4) Himmelfahrt (Epilog)
(5) Bühnenbild
(6) Sprechbehandlung. Eine wahrnehmungspsychologische Kritik
(1) Faust-Darstellung
Schon nach den ersten Versen des Eingangsmonologs wird Ganz´s manieriertes Spiel ziemlich
vorhersehbar und redundant. Man hat den Eindruck, ins Puppenspiel versetzt zu sein. Es mutet an
wie eine Faust-Karikatur. Viele Betonungen, Dehnungen aber auch Retardierungen und Zäsuren
sind künstlich und unmotiviert. (Zu diesem Problem vergl. auch: "Sprechbehandlung".)
Der erste Kommentar einer theatererfahrenen Zuschauerin beim Eingangsmonolog des Faust war:
"Ein bepißter alter Greis". Sie fand das klasse, Faust so darzustellen. Vermutlich ist diese Reaktion
aber eher eine Erleichterung darüber, daß endlich mal einer die Patina abmacht. Daß das auf eine
Weise geschieht, die die darunterliegende Figur unnötig und wenig sinnig verbiegt, steht auf einem
anderen Blatt... Ich fürchte, daß diese Faust-Darbietung bei vielen Zuschauern eine weitere
Beschäftigung mit dem Drama eher demotiviert, weil sie sich fragen: was gehen mich die Leiden
eines solchen Sonderlings an?
Wieso ein solcher Faust, eine derart wunderliche Persönlichkeit, vom Dichter ausersehen sein soll,
durch alle Lebensirrtümer geschleust zu werden, ist nicht nachvollziehbar. Einen
Alzheimerpatienten würde niemand mehr auf Weltreise schicken...
Ein Spannungsbogen, der einen differenzierten Eindruck von einer persönlichen Krise vermittelt,
kann nicht entstehen, weil man so einem Mann nicht mehr zutraut, differenziert und kreativ zu
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verstehen und zu bewältigen, was in ihm vorgeht, sondern nur noch: sonderbare stereotype Denkund Handlungsmuster abzuspulen.
Natürlich kann man Faust so verstehen und darstellen: hölzern, ekelhaft und schmierig, wie Stein
seine Intention in der Probendokumentation verrät. Aber wenn aus dem Faust ein allzu
wunderlicher Kauz wird, der niemandem mehr gefährlich werden kann, weil sich niemand mehr mit
ihm identifizieren mag und weil man für ihn nur noch Mitleid empfinden kann: dann ist das Thema
verfehlt. Daß ein wunderlicher Mensch wunderlich ist, um das zu zeigen, braucht niemand ein
Drama zu schreiben. Aber wie selbst das Starke und Unwunderliche am Menschen qua Menschsein
nicht verhindert, daß der Mensch "so wunderlich als wie am ersten Tag" bleibt: das gilt es zu
zeigen!
Bei der Faust-Figur kommt es darauf an, sie so darzustellen, daß sie selbst in ihrer Pathologie noch
Züge von Souveränität und Stärke hat: die Pointe liegt ja gerade darin, dass auch
überdurchschnittliche, "starke", intelligente und intellektuelle Menschen an ihrer Beschränktheit
und Unreflektiertheit scheitern können. Der Faust der Stein-Inszenierung ist keine schillernde Figur,
an der Stärken und Größe des Menschlichen zugleich mit seinen Grenzen und mit seinen
Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich werden. Stein und Ganz geben dem
Text keine Chance, selbst zum Vorschein kommen zu lassen, was in ihm von dem Abgeschmackten,
Gestörten, Fragwürdigen, Beschränkten, ja vielleicht Abseitigen des Faustischen angelegt ist.
Der Text sagt selbst, was für einen Faust er möchte: Manto, die Seherin, nennt Faust einen Halbgott,
Chiron, der Kentaur, bestätigt ihr das, obgleich er Faust wegen seines Vollkommenheitsanspruchs
für verrückt hält. Manto dagegen liebt Leute, die Unmögliches Begehren. Sie nennt Faust
"verwegen". - Bruno Ganz Faust-Darstellung zeigt keine Persönlichkeit, der man Verwegenheit
zuschreiben würde, deren hoher Anspruch ans Leben Respekt abnötigen würde. Er wirkt eher wie
ein hysterischer Onkel, der völlig den Sinn für Realität verloren hat - nicht weil er Unmögliches im
Sinn hat, sondern weil er das bloße Fantasieren über das Unmögliche mit dem Begehren, dem
Bemühen, dem Engagement für das Unmögliche verwechselt, und schließlich irgendwann in
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frustriertem Selbstmitleid feststellt, daß die Welt schlecht ist, weil sie ihm das Unmögliche nicht an
die Haustür geliefert hat.
(2) Mummenschanz und Schauderfest
Mummenschanz und klassische Walpurgisnacht ("Schauderfest"): beides sind Feste, auf denen
fantastische mythologische Figuren auftreten, teilweise sogar mit denselben oder nahverwandten
Inhalten (Seismos und Holzfäller, Furien und Lamien, Zwerge und Gnome). Für das Erleben ist es
wichtig, daß der Zuschauer die Unterschiedlichkeit beider Feste deutlich wahrnimmt, nur dann
entsteht, was Goethe hier geleistet haben will: eine spezielle Erkenntnisquelle zu erzeugen durch
"sich ineinander abspiegelnde Gebilde". Dafür müßte der Unterschied zwischen allegorischem und
lebendigem Mythos, zwischen höfischer Kultur und menschlichem Erleben der Naturkräfte
eindeutiger markiert werden. Es müßte ein klares Konzept von Ähnlichkeiten und Unterschieden
erkennbar werden, sonst entsteht keine Spiegelung sondern Redundanz! Freilich schwer genug: Bei
beidem geht es um Rausch und Ausgelassenheit, Festlichkeit und Heiterkeit. Doch die von
Naturgeistern bevölkerte südliche Walpurgisnacht müßte in einem rauschhafteren Sinne rauschhaft
und in einem gelösteren Sinne heiter sein als der nordische menschengemachte Mummenschanz.
Spezielles Inszenierungsproblem: der Text. Beim Anschauen von Steins klassischer Walpurgisnacht
geschieht es mir, daß ich einen regelrechten Signalschreck bekomme, sobald die Sirenen
auftauchen: "O je, jetzt kommt wieder soviel Fülltext!" Der Text wird chorisch und in
sirenenhaftem Singsang dargeboten. Das ist hochvirtuos gemacht. Doch dieser Singsang erschwert
nicht nur das Textverständnis erheblich, er wirkt auch sehr schnell entnervend und wird bald
langweilig, weil er schnell vorhersehbar wird und nichts mehr Neues, Gehaltvolles zum Erleben
beiträgt, sondern nur noch als "Erkennungszeichen" fungiert. - Der Text ist hier das primäre
Rauschmittel! Alles andere Inszenierungswesen muß ihm bedingungslos dienen. Sonst streicht man
ihn besser. Jedes andere Verfahren macht ihn zum Füllstoff und erzeugt nervtötende Längen. (Zu
diesem Problem vergl. auch: Chöre.)
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Nereus: Steins Inszenierung dieser Figur ist beispielhaft für eine andere "Technik", wie man einen
klassischen Text unattraktiv machen kann. Schon sein Kostüm scheint mir mißlungen, es ist nicht
beeindruckend sondern gibt Rätsel auf: Soll das ein Fischschuppenleib sein und sollen das
Wasserpflanzen sein, da, auf seinem Kopf? Und die komischen Bewegungen: sollen das vielleicht
fischige Bewegungen sein? Naja, kann man dafür halten, ganz sicher ist man nicht. Es vermittelt
keinen Eindruck, es vermittelt gar nichts, man ist abgelenkt von den Fragen, die Kostümierung und
Bewegung aufgeben, man ist in Anspruch genommen von ihrer Dechiffrierung ("Hä, was soll das
jetzt bedeuten?"). Das geht dem Text und seinem Erleben sowie dem Erleben des Zusammenhangs
verloren. Zudem scheint es sich eher um einen jovialen Gesellen statt um einen Griesgram zu
handeln. Das Griesgrämige nimmt man ihm nicht so recht ab. Dadurch wird die Pointe vermasselt:
Ein alter Mann ist verbittert über die Menschen, weil niemand auf ihn gehört hat (Goethe bringt hier
ein burn-out-induzierendes, nach heutigen Maßstäben "unprofessionelles" Beratungskonzept genial
auf eine "poetische Formel"); dennoch zeigt die Freude über seine Töchter, daß er - im Gegensatz
zu Faust - durch die Frustrationen über das Leben nicht im geringsten am Leben zweifelt sondern es
grundsätzlich bejaht.
(3) Der Helenaakt
Der dritte Akt zeichnet sich dadurch aus, daß es kaum Handlung und umsomehr Text gibt. Nichts ist
prädestinierter dafür, langweilig zu werden. - Und so erlebe ich auch Steins Inszenierung. Woran
liegt das?
Das, was es dort an Lebendigkeit gibt: den Wechselgesang, die tänzerischen Bewegungen oder das
Umhergehen, erlebe ich meist (nicht immer) als künstlich, als zu gespielt (freilich auf hohem
Niveau), als "unmotiviert": An vielen Stellen wird mir nicht klar, warum jemand geht und warum er
dorthin geht, wohin er geht. Es scheint, als ob Stein fürchtet, daß der Text allein nicht reicht und daß
sich deshalb da auf der Bühne was bewegen muß. Aber wenn sich was bewegt, sollte das gezielt mit
dem Text verbunden sein! Jede Bewegung, die sich nicht aus den Erfordernissen einer
Verlebendigung der gerade gesprochenen Worte ergibt, ist überflüssig, eben "unmotiviert", wirkt
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aufgesetzt und irritiert als zusätzliche Information das Erleben. Mit "unmotivierter" Lebendigkeit
hat es zudem generell die Bewandtnis, daß sie schnell einförmig wird, so wie alles Willkürliche und
Zufällige, dem nichts zu entnehmen ist, zu einem "Rauschen" wird, d.h. daß man sie, ähnlich wie
das Stimmengewirr auf einer Party, zu einer Masse von Irrelevantem vereinheitlicht, gleichwohl
aber unbewußt aufmerksam bleibt, ob in dem Rauschen nicht doch noch etwas Relevantes auftaucht
bzw. ob man etwas Brauchbares "entziffern" kann, z.B. den eigenen Namen. Das ist
unterschwelliger Stress. Es gibt in Steins Inszenierung sozusagen "Bewegungsrauschen" und
"Wechselgesangsrauschen", ja, selbst (vor allem bei Bruno Ganz) "Deklamationsrauschen" (was ich
damit meine finden Sie unter "Sprechbehandlung").
Die Eintönigkeit der chorischen Rezitation resultiert daraus, daß sie keinen natürlichen Sprachfluß
gestattet und daher die Möglichkeiten der Sprachgestaltung schnell erschöpft sind. Es wirkt gestelzt
und es klingt alles gleich - und umso gleicher, je weniger man versteht, denn auch das
Sprachverständnis ist eingeschränkt. Aber selbst, wo die Worte gut verständlich sind, leidet der Text
unter Steins chorischer Darbietung: Durch die unvorhersehbaren Wechsel zwischen einzeln und
chorisch gesprochenen Passagen geschieht zweierlei: Einerseits wird der Text zerpuzzelt, der Hörer
kann der Bedeutung nur mit Anstrengung und Einschränkungen folgen, weil er mehr als genug
damit zu tun hat, die Puzzelteile zusammenzusetzen. Zweitens erlebe ich diesen Wechselgesang
ähnlich wie die Kameraführung: jeder Wechsel ist eine zusätzliche Information, die die
Informationsverarbeitung zusätzlich belastet. - Es würde sich lohnen, einmal genau zu untersuchen,
wo die Chorische Rezitation bei Stein einen Gewinn bringt (z.B. bei den Lamien) und wo sie zum
Problem wird. (Weitere Hinweise unter "Chöre").
Komisch finde ich es, wenn Helena ihren Gefährtinnen, die mit ihr aus dem Schiff gestiegen sind,
erzählt, daß sie gerade vom Strande kommt und Schiff gefahren ist. Das scheint eine Kleinigkeit
aber ich erlebe es so, als ob dem Text dadurch die Luft rausgelassen wurde: Was Helena sagt, wird
dadurch eigentümlich redundant. Außerdem entsteht ein Störimpuls, weil der Zuschauer irritiert ist:
Warum sagt sie das jetzt denen, die es schon wissen? Ich finde es interessant, wie hier die
Bedeutungsentfaltung eines Textes performativ gestört werden kann. (Vielleicht bin ich hier ja zu
zwanghaft. Aber wenn, dann ist das hier vielleicht gerade brauchbar im Sinne von "Tick als
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Vergrößerungsglas" (Adorno), weil es etwas aufspürt, das andere vielleicht sowenig stört, daß sie es
nicht benennen können, aber eben doch stört...) - (Natürlich könnte man diesen Effekt der
performativen Bedeutungsdiffusion auch künstlerisch nutzen, aber das wäre dann Regietheater...)
•Faust und Lykeus spielen m.E. in dieser Szene die Potenzen ihres Textes und ihrer Rollen nicht
aus. Auch halte ich Steins Interpretation hier für problematisch: daß Faust Lykeus für sich (Faust)
sprechen lässt, als "Stimme seines Herrn" (Programmbuch S.157). Ich halte es für plausibler, daß
hier zwei Männer um die gleiche Frau konkurrieren.
Eigentümlich steif wirkt Euphorion, steif und stilisiert. Christian Nickel spielt Euphorions Euphorie
so brav-bierernst, so aseptisch, daß jeder merkt: aha, das soll jetzt Euphorie sein. Jedenfalls ist in
dieser Szene keine Spur davon, daß es sich bei "Faust 2", laut Aussage seines Autors, um "sehr
ernste Scherze" handelt...
Als ich die Euphorion-Szene nach meinen psychotherapeutischen Studien wieder las, war ich
frappiert: Goethe hat hier ein pathogenes Beziehungsmuster begriffen, das erst im 20. Jahrhundert
reflexiv zugänglich wurde: daß jemand einem anderen nicht sein eigenes Leben lassen kann, weil er
ihn zur Stabilisierung seines eigenen seelischen Gleichgewichts benötigt. (Ein anderes Beispiel
dieser Art ist die Figur des Stephan Trofimowitschs in Dostojewskies "Dämonen", dort sieht man
noch besser und erschreckender, was dadurch alles angerichtet werden kann... Vgl. dazu:
H.E.Richter, "Patient Familie" sowie H. Bauriedl, "Beziehungsanalyse). - Alle Kommentare, wie
auch das Programmbuch, beeilen sich, darauf hinzuweisen, daß Goethe bei der Gestalt des
Euphorion Lord Byron im Sinn gehabt habe. Der Hinweis ist ja ganz nett, aber wenig hilfreich zum
Verständnis der Szene. Er führt eher dazu, daß man alles zu schwer nimmt und es auch bei Stein zu
bierernst geraten ist... Und daran ist nicht zuletzt schuld, daß man die Lebendigkeit des Chors
wegen der Schwerfälligkeit und Stilisiertheit seiner chorischen Rezitation und der ständigen
Anspannung und Anstrengung beim akustischen Textverständnis, nur erahnen aber kaum erleben
kann.
Jedenfalls: daß es sich hier um das Thema: "Pubertät unter pathogenen Bedingungen" handelt,
erschließt sich mir nicht aus dem Erleben. Ich habe noch keinen Kommentar gelesen, der einfach
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mal davon ausgeht, daß Goethe hier in erster Linie die Faustgeschichte weiter schreiben wollte und
nicht eine steife-barocke Allegorie über die Problematik der byronschen Dichtung. Möglicherweise hat Goethe hier sein eigenes Versagen als Vater "verarbeitet". Jedenfalls passt es
ganz zu der Linie, mit der Goethe das "Faustische" zeichnet: Egozentrik, die sich selbst als solche
nicht begreift und dadurch ein Versagen ans andere reiht...
Faust ist fortpflanzungsunfähig: bereits das zweite Kind stirbt, bevor es erwachsen ist und zwar
nicht aus schicksalhafter Krankheit sondern wegen Fausts Beziehungsunfähigkeit. Er bekommt erst
im Himmel die Chance, sich um den Nachwuchs verdient zu machen, als "Lehrer" der "Seligen
Knaben". (Hoffen wir für ihn, daß sie ihm nicht auf der Nase rumtanzen...)
Problematisch finde ich auch in dieser Szene wieder Steins "Versatzstückphilosophie": Euphorion
tatsächlich mit einer Umhängeharfe auszustatten und buchstäblich fliegen zu lassen! Das ist
zuwenig "Kontrapunkt": die Inszenierung parallelisiert die Worte, fügt nichts hinzu, wiederholt nur,
was die Worte schon sagen, "ikonographiert" den Text - es ist wie eine Melodie in Terzgängen. - Ein
Euphorion, der einfach nur auf einen Tisch klettert, ist unter Umständen ausdrucksstärker, als dieses
ganze mechanisierte Inzenierungswesen...
(4) Epilog
Aus dem Begleitbuch zur Aufführung geht hervor, wie genau Stein wußte, was hier zu tun ist und
die Schauspieler entsprechend instruierte. Liest man das, freut man sich auf eine gelungene
Inszenierung der Schlußszene. Doch meine Enttäuschung war riesig. Egal, woran das liegt, es gilt,
zu analysieren, was man dort sieht und Lehren daraus zu ziehen:
Die Einsiedler: Sie wirken klerikal und uniform. (Das wird durch die Kameraeinstellung noch
verstärkt, da der Zuschauer nicht mal ihren Standort im Raum wahrnehmen kann. Aber dafür kann
Stein natürlich nichts.) Das giftgrüne Licht im Hintergrund soll wohl den Wald andeuten. - Was
schafft das alles für eine Atmosphäre? Eine, die hilfreich ist für das Verständnis des Textes? - Es ist
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mir rätselhaft, wieso Stein es vorzieht, mit Versatzstücken (Grün für Wald, Kutte für Mönch) etwas
vom Werk eins zu eins treu abzubilden, statt sich zu überlegen, wie er im Rahmen der Konzeption
seines Bühnenbildes eine gehaltvolle Atmosphäre schaffen kann, wie er Bilder schaffen kann, die
etwas erzählen, das konvergent ist mit dem Gehalt und der Form des Textes, ihm aber gleichwohl
eine "dritte Dimension" hinzufügen.
Problematisch finde ich vor allem die eintönige und bestenfalls marionettenhafte Art des Vortrags:
keimfrei und ziemlich unlebendig oder von aufgesetzter hölzerner Lebendigkeit. Es ist mir ein
Rätsel, wie Stein das durchgehen lassen konnte. (Aber vielleicht waren die Schauspieler auch
einfach erschöpft!) Ich denke, in dieser Szene kommt alles darauf an, hinter den Bildern das Leben
zu erwecken! Gerade in dieser Szene sollten Verspieltheit, Spontaneität und Authentizität obwalten.
Es ist nicht einzusehen, warum Mephisto soviel "echter" wirkt, als der Pater Profundus. Einsiedler
sind Menschen, die die Konflikte des Lebens kennen und zwar so sehr, daß sie ihrer nicht Herr
wurden und vor ihnen "aus der Welt" geflohen sind, aber ohne ihr Streben nach persönlichem
Wachstum dafür aufgeben zu wollen. - Und jeder der Einsiedler benennt ja auch die Heftigkeit der
Konflikte, die das Leben ihn spüren ließ... Doch davon ist bei Stein nicht viel zu spüren...
Die "Seligen Knaben" in Form einer sitzenden jungen Frau darzustellen ist wohl die einfallsloseste
Variante. Wieder ist mir ein Rätsel, was Stein damit verband. Auch hier ist der Ausdruck relativ
monoton und aseptisch. Die seligen Knaben sind bei Goethe höchst aktiv: sie "schweben" und
"wallen", "regen" sich in luftigem Ringelrein und packen ihr Geschenk aus (Faust). Sitzen
vermittelt da einfach die falsche Botschaft! Das "friert" den Gehalt des Textes ein, entdifferenziert
ihn und nimmt ihm die Lebendigkeit. - Den "Seligen Knaben" ist nur beizukommen, wenn man sie
genau so darstellt, wie ihr Name und die dahinter stehende Vorstellung anmutet: ironisch und
surrealistisch, tröstlich und doch auch durchwebt von der Tragik und Traurigkeit des "Plötzlichen
Kindstods"...
Richtig ist unter solchen Bedingungen, daß dann noch ein Rätsel inszeniert wird: was sollen die vier
Lebensalter: Faust als Baby, Kind, Jugendlicher und Erwachsener? Nachdem die Szene so
aseptisch, blaß, zweidimensional und einfallslos ablief, musste noch irgendwas kommen, noch
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irgendein Denk- und Erlebnisreiz. Aber ob der hilfreich ist, ist die andere Frage: Rätsel hemmen das
Erleben, weil man sich fragt: "Was heißt das denn jetzt? Wie soll ich das denn jetzt erleben?" - Als
wenn der Text nicht bedeutungsträchtig genug wäre! Dafür darf man ihn aber nicht so somnabul
darbieten. Ist doch wahr! Die reden doch alle wie bekifft! Kein Wunder, das sich das
Vogelgezwitscher am Schluß in ein so unangenehmes Fiepen steigern muß: irgendwie muß man die
Zuschauer nach soviel Rammdösigkeit ja wieder wach kriegen...
Es ist wirklich schade, dass der Epilog so vermasselt ist (zumindest auf der DVD). Hier käme alles
darauf an, so zu inszenieren, daß die mythologischen Figuren ihren poetischen Gehalt entfalten
können! Wie gesagt: Goethe war ein Geschichtennarr! Er hatte Sinn für das, was die Geschichten,
die sich Menschen erzählen, von Seligen Knaben, Engelhierachien, Gottesmüttern und -söhnen,
Büßerinnen und Einsiedlern, was diese Geschichten vom Menschlichen sichtbar machen. Er wollte
damit an die Kreativität, die darin zum Ausdruck kommt, anknüpfen und ein Band zwischen den
Menschen verschiedener Kulturen und Zeiten knüpfen ("Intertextualität"). Er wollte keine
philosophische Abhandlung schreiben über Schuld, Sühne, Liebe, Solidarität, über alles, was
"soziale Intelligenz" ausmacht, sondern es stellte sich ihm die Frage, wie er soziale Intelligenz
poetisch, d.h. bildhaft, anschaulich, erlebnishaft, suggestiv darstellen konnte und dafür griff er auf
entsprechende Figuren der christlichen Mythologie und des Volksglaubens zurück.
(5) Kostüme und Bühnenbild
Die eins zu eins Abbildungen des Textes sind in dieser Inszenierung an vielen Stellen offenbar
wichtiger als Schaffen von Athmosphäre. Die Abbildung ist dabei indifferent gegen den
Ausdrucksgehalt: Nereus wird so ausstaffiert, daß man sieht, daß er ein Meerwesen ist, bei den
Phorkiaden soll man auch sehen, worum es geht: daß sich drei Frauen eines Auges und eines Zahns
bedienen. Stein hat wohl Angst gehabt, daß die Zuschauer sonst die Surrealistik des Textes nicht
glauben. Es ist ein Aspekt von Inszenierungskunst, solche "Veranschaulichung" zu leisten. Steins
Lösung zeigt jedoch, daß Veranschaulichung nicht auf Kosten des Erlebens gehen darf, sonst ist
mehr verloren als gewonnen. Drei Greisinnen zu zeigen, einfach so, ohne jeden requisitorischen
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Kommentar wäre hier ungleich erlebnisreicher, weil das Erleben durch die Ausstaffierung nicht so
abgelenkt und verstellt würde.
Atmosphäre kann auch nicht entstehen durch unmotiviert-widersprüchliche Assoziationen:
Fabrikhalle und Meeresfest passen nicht zusammen - es sei denn, man will darstellen, daß sich das
Meeresfest in einem Industriehafen abspielt, der just da errichtet wurde, wo die Meergeister immer
feiern. Das wäre ja wieder in Ordnung. Dahinter stände ein Prinzip. Aber einfach ein Stahlgerüst
mitten in der Szenerie stehen zu lassen: dabei bleibt etwas ungestaltet ohne daß man erkennen kann,
warum ausgerechnet das jetzt ungestaltet bleibt, wo doch alles mögliche andere gestaltet wurde! Es
muß die Regel erkennbar sein und die Regel muß als Interpretation des Textes, als aus dem Text
motiviert erkennbar sein, oder als Stiftung eines Zusammenhangs zwischen Text und Welt. Wenn da
so unmotiviert ein ungestaltetes Stahlteil in die Szene einbezogen wird, dann braucht Stein die
Sirenen auch nicht in einem sirenenhaften Singsang auf Kosten der Textverständlichkeit leiern zu
lassen! Warum hier ein besonderer Aufwand für eine besondere Gestaltung und dort nicht? Bei
soviel Aufwand in allen möglichen Einzelheiten, wo wäre das Problem, die Stahlträger in
irgendeiner Form zu verkleiden, zu "gestalten"? "Durchbrochenheit": gut. Aber wenn dieses Prinzip
der modernen Ästhetik zum Freibrief wird, einfach hier mal was zu machen und dort mal was zu
lassen, dann ist das nicht modern sondern Schlamperei! Der Eindruck entsteht, als ob sich die
Ausstattung nicht nach dem Text richtet sondern nach logistischen Gegebenheiten. - Chiron z.B.
gefällt mir gut, es ist eine artige Verspieltheit, die der "Heiterkeit" der Szene gerecht wird. Aber ich
finde es fraglich, ob eine Inszenierung hilfreich ist dabei, ein Gefühl von "Einheit" über die großen
Divergenzen des Textes herzustellen, wenn sie ihre Prinzipien und Konzepte von Szene zu Szene
wechselt ohne daß es vom Gehalt des Textes her motiviert wäre: Einen Zentauren darzustellen in
dem Stil, wie die Meerkatzen ist ziemlich aufwändig, vor allem, wenn er so "naturalistisch" wirken
soll, wie die Meerkatzen. Aber entweder entschließt man sich dazu, oder man legt beiden das
gleiche Prinzip von Stilisierung zu Grunde. Sonst wirkt es wie das Spiel eines Pianisten, der an
schwierigen Stellen langsamer spielt... (Die opulente Ausstattung der Hexenküche hat eine andere
Art von Nachteil: Sie ist so toll, daß man nur schauen will und darüber der Text zur Nebensache
wird, zur Kulisse...)
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Das Inszenierungsprinzip der Eins-zu-Eins-Umsetzung und der symbolisierenden Ausstattung
vermasselt auch den Epilog. Das ganze Konzept halte ich für unglücklich: Hier unbedingt die
Spiralsymbolik mit hineinbringen zu wollen. Das ist ein intellektueller Zusammenhang! Das
Theater ist kein Hörsaal, man sollte da nicht zu denken geben sondern zu erleben! Das Denken
kommt dann von ganz allein! Was ist der Erlebnisgehalt dieser sonderbaren wackeligen
stahlgerüstartigen Konstruktion? Das ist alles viel zu ausgedacht und dem Text übergestülpt. Äußere
Symbole und Denkanstöße sollen hier den Text erklären, statt daß der Text eine Chance bekommt,
sich selbst zu erklären.
(6) Sprechbehandlung
Wenn ein Ausnahmeregisseur wie Stein mit jahrzehntelanger Inszenierungserfahrung sein "Opus
Magnum" schafft und dafür einen Theaterapparat zur Verfügung hat, der in der Theatergeschichte
kaum seinesgleichen hat, dann muß man wohl davon ausgehen, daß es sich dabei auch um ein
Optimum an künstlerischem Gelingen handelt. Doch um es rundheraus zu sagen: So
bemerkenswerte Einzelleistungen diese Aufführung auch aufweist (die Margarete, ein Mephisto
(Oest), Auerbachs Keller, die Lamienszene, die Grablegung u.v.a.) und so wichtig sie für die
Theatergeschichte auch sein mag: mein erster Eindruck war: "ein großer Aufwand, schmählich ist
vertan!" - Die Faustdarstellung von Bruno Ganz - so virtuos sie sein mag - finde ich höchst
fragwürdig, so wie überhaupt Grundprinzipien der Textbehandlung bei Solisten und Chören. Andere
"Fragwürdigkeiten" treten dahinter stark zurück und wären durchaus tolerabel. Aber die Darbietung
des Textes halte ich an vielen zentralen Stellen für misslungen. Doch ob dem so sei oder nicht: es
kommt darauf an, aus den Fragen, die sich hier stellen, zu lernen.
Deklamation: Ein wesentliches Prinzip der Inszenierung scheint die Überzeichnung zu sein, in
Reinkultur bei Bruno Ganz, aber so extrem nur bei ihm (Bsp.: "Mir eeeekelt lange vor allem
Wissen"...) Die Worte werden zu überzeichneten Ausdrucksgesten benutzt. Nicht der Text steht im
Mittelpunkt sondern die Inszenierungsidee: jedes Wort soll offenbar dafür benutzt werden, zu
zeigen, was der Faust für ein wunderlicher Kauz ist. Ein solches Konzept bewährt sich da, wo
Worte fehlen, wo man mit anderen Mitteln und in anderem Zeitrahmen zeigen muß, was man
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zeigen will. Hier gibt es weiß Gott genug Worte und genug Zeit! Warum lässt Stein nicht die Worte
selber für sich sprechen? Mir scheint daß hier ein Prinzip des Puppenspiels genutzt wurde. Ich kann
mir vorstellen - und halte es für lehrreich, das einmal ohne Ironie zu überdenken - daß der Effekt,
der "Eindruck" der Inszenierung sich nicht wesentlich ändern würde, wenn Bruno Ganz im
Eingangsmonolog durch eine chinesische Stabpuppe ersetzt würde.
Was ich an Steins Sprechbehandlung als ungünstig und störend, ja "stressend" erlebe, müsste sich
wahrnehmungs- und rezeptionspsychologisch fassen lassen:
•
Wir sind von Natur aus darauf programmiert, allem Ungewöhnlichen besondere
Aufmerksamkeit zu schenken. Das Ungewöhnliche hebt sich heraus, drängt sich in den
Vordergrund. Deshalb ist man bei überzeichnender Deklamation mehr darauf aufmerksam,
wie etwas gesagt wird, als was gesagt wird. So ist man bei Ganz ständig von seinem Text
abgelenkt dadurch, wie "komisch" er spricht. Der Gehalt des Textes gerät in den
Hintergrund, die Entfaltung des Erlebens ist durch das Verwundern über die ungewöhnliche
Aussprache beeinträchtigt. Darüberhinaus entsteht eine Art Monotonie: es wird
vorhersagbar, daß Ganz bei der nächsten Gelegenheit freudiger oder ärgerlicher Erregung
wieder einen Vokal lang zieht, "nach derselben Manier". Das sich heraushebende
Überzeichnete bildet eine Einheit, eine die Zeit übergreifende "Gestalt". Und da die
Überzeichnung sich überall der gleichen sehr beschränkten Anzahl von Mitteln bedient, hat
diese "Gestalt" monotone, wenig differenzierte Züge, sie wird im wahrsten Sinne des Wortes
"eintönig". - Ich denke, Stein hat nicht erkannt, daß die Form der Darbietung des Textes im
Hintergrund bleiben muß, sich nicht in den Vordergrund spielen darf, weil sonst keine
Einheit zwischen Gehalt und Expression eines Sprechaktes entsteht. Wahrscheinlich würde
ein ähnlicher Effekt entstehen, wenn es einen Filter gäbe, der bei ganz normalem
Alltagsreden die Sprachmelodie hervorhebt. Die Eigenart des Sprechens ist ja, daß es eine
Divergenz gibt zwischen dem beschränkten Arsenal an Möglichkeiten des stimmlichen
Ausdrucksverhaltens und der Unendlichkeit dessen, was sich inhaltlich in der Sprache
ausdrücken läßt. Das Ausdrucksverhalten in den Vordergrund zu rücken muß daher zur
Monotonisierung führen, weil es die Bedeutungsdiversität nivelliert, indem sie sie in den
Hintergrund abdrängt. - Außerdem entsteht noch eine Art "Binnenentdifferenzierung", weil
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das "natürliche" verbale Ausdrucksverhalten "elastischer" und differenzierter ist, als jede
Form von "Manier" es sein kann. Mir scheint hier etwas Analoges zu dem vorzuliegen, was
Musikethnologen bei der griechischen Volksmusik beschrieben haben: als es in den 60ziger
Jahren "Mode" wurde, die Instrumente elektronisch zu verstärken, entdifferenzierte und
trivialisierte sich diese Musik, weil viele Feinheiten vom elektronischen Klang oder mit
elektronischen Instrumenten nicht mehr darstellbar waren. Ein ähnlicher "Verstärkereffekt"
stellt sich offenbar bei der "Verstärkung" deklamatorischen Ausdrucksverhaltens ein.
•
Die Erlebnisfähigkeit wird zusätzlich eingeschränkt, weil die Aufmerksamkeit stets damit
beschäftigt ist, aus dem überzeichnenden Sprechgesang den Sinn herauszulesen, z.B. bei der
Stelle: "Mir ekelt lange vor allem Wissen". Ganz schreit das "e" fast und zieht es unnatürlich
in die Länge. Daß der Ekel hier ein ganz besonderer Grund zur Wut ist, erschließt sich aus
Lautstärke und Langgezogenheit, aus der ganzen Übertriebenheit des Ausdrucks. Genau das
ist das Problem: Man muß den Gehalt einer Deklamationsgeste "erschließen" anhand von
morphologischen Qualitäten, so wie man eine gezackte Linie als "zornig" erleben kann.
Auch wenn das relativ spontan geschieht: es ist ein Vermittlungsschritt mehr. Die
Überzeichnung des Ausdrucks ist Bedeutungsträger, nicht der Ausdruck selbst. Die
Überzeichnung führt dazu, daß gewissermaßen "Expressionszeichen" an die Stelle der
Expression treten: Ständig sind es Qualitäten des Ausdrucksverhaltens, die weniger für sich
selbst sprechen, sondern, wie Zeichen, dasjenige vertreten, von dem sie sprechen. Durch
diese erhöhte Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit entsteht eine Art Tunnelblick: größere
Zusammenhänge können nur sehr eingeschränkt und undifferenziert zu einem Erlebnis
zusammengefasst werden.
•
Es entsteht auch ein erhöhter hermeneutischer Aufwand: "Hm, daß Faust hier ungehalten ist,
ist ja klar, aber warum er hier so furchtbar heftig wird, kann ich unmittelbar nicht
nachvollziehen - aha, das könnte vielleicht daher kommen, weil..." - Auch das nimmt dem
Erleben Aufmerksamkeit und führt darüberhinaus noch zu der oben ("Faustdarstellung")
beschriebenen Verzeichnung: Je weniger unmittelbar nachvollziehbar ein Verhalten ist, je
"kauziger" wirkt es.
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•
Selbst die weniger übertrieben deklamierten Passagen (ab "wer lehrt mich nun" bis "Dem
Wurme gleich ich" und dann wieder ab "Doch warum heftet sich mein Blick" bis "Was sucht
ihr") sind "verseucht" von der Manieriertheit, weil man ständig einem Rückfall in sie
gewärtig sein muß und weil man dem Faust das weniger Manierierte auch schon gar nicht
mehr abnimmt.
•
Das "Falsche" an dieser Sprechweise liegt m.E. schon allein darin, daß sie das akustische
Verständnis erschwert. (Wieder ist die Stelle mit "eeeekelt" dafür ein gutes Beispiel.) - Der
Text muß nicht nur verständlich sein, er muß mühelos verständlich sein! Jede Mühsal beim
Textverstehen geht auf Kosten des Erlebens, weil es dem Erleben Aufmerksamkeit raubt,
weil es Stress macht, weil es die "Hingabe" an den Text massiv beeinträchtigt. Mit
Anstrengung zu verstehen ist nicht viel besser, als gar nicht zu verstehen.
•
Chöre: Ein analoges Problem gibt es bei Steins Behandlung des Chors: man erlebt nicht die
Bedeutung des Geschauten sondern muß sie erschließen: man muß erst darauf kommen, daß
ein Sprecherwechsel mitten im Satz bedeuten soll: "dem andern ins Wort fallen". Vielleicht
bin ich ja phantasielos, aber ich habe es nicht als "ins Wort fallen" erlebt, erst dem
Programmbuch konnte ich entnehmen, daß es das bedeuten sollte. - Beim "Chor" ist der
Verlust der natürlichen Elastizität des sprachlichen Ausdrucksverhalten natürlich genau
gewollt: das Abschleifen individueller Ausdrucksvarianzen, die Entdifferenzierung
zugunsten einer "höheren" Macht: dem Kollektiv. - Dennoch ist die Frage, ob man die
Poesie mancher Texte nicht gegen das chorische Prinzip durchsetzen sollte - denn die
chorische Rezitation eines poetischen Textes ist etwa so, als ob man sich beim Betrachten
eines Rubensgemäldes eine rote Brille aufsetzt. Ferner braucht der Zuschauer Sicherheit:
hier mal eine Passage solo sprechen zu lassen und plötzlich spricht ein anderer oder ein Teil
des Chores weiter: wenn der Zuschauer ständig darauf gefasst sein muß, daß es wieder
akustisch anstrengend und interpretatorisch entdifferenziert wird, dann kann er sich dem
Geschehen nicht wirklich hingeben, dann bleibt es eine Rezeption unter Stress.
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Reime: Eine Entdifferenzierung des verbalen Ausdrucksverhaltens tritt auch ein, wenn die
Textform statt der Textinhalt die Sprechgestaltung bestimmt. - Auch hier gilt: ist die
Betonung des Endreims nur häufig genug, erwartet der Zuschauer sie schon wie einen
Stromschlag und bleibt unterschwellig ständig unter Stress: "Wann kommt wieder das
Verbogene?" Verbogen nenne ich das, weil ein Vers, der auf den Reim hin gesprochen wird,
die ganze Aufmerksamkeit auf diesen Reim zieht und der Gehalt aller anderen Wörter
nivelliert wird. Dieser Effekt ist um so größer, wenn er erwartbar, vorhersehbar ist. - Es ist
mir ein Rätsel, wieso Stein für diesen wahrnehmungspsychologischen Effekt offenbar weder
Sensibilität noch Bewusstsein hat. - Es ist wie: als ob der Beleuchter die Beleuchtung immer
auf alles richten würde, was Rot ist, egal ob sich da gerade was Wichtiges abspielt oder
nicht. Ganz deutlich wird die Wirkung dieses Prinzips und kann von jedem Leser selbst
ausprobiert werden, bei folgenden Versen: "Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, der
Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, mit Stürmen mich herum zu schlagen und in des
Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen". Weitere Stellen:
"Nun kenn ich deine würdigen Pflichten, du kannst im Großen nichts vernichten..."
"Der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein innerstes erregen, Der über allen meinen
Kräften trohnt, er kann nach außen nichts bewegen..."
"stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit..."
(Extrem unsinnig scheint es auch im 4. Akt bei Vers 10598).
•
Ein weiteres Problem: Die vom Rhythmus geforderten Wortverkürzungen oder -dehnungen
("Sternelein", statt "Sternlein") macht Stein oft nicht mit. Er findet diese "vertretbare
Minimalaktualisierung" klasse, wie der Probendokumentation zu entnehmen ist: "das ist das
Salz" (Programmbuch S. 107). Ich finde es läppisch. Wenigstens dort, wo es für die
Verständlichkeit nichts bringt. Dort wirkt es einfach deplaziert, z.B. "erquickliches" statt
"erquicklich" sprechen zu lassen, gerade im 3. Akt, für dessen Aussage noch mehr als für die
anderen, die Sprachform (und d.h.: der Rhythmus) konstitutiv ist. (Man mache die Probe
aufs Exempel: Vers: 8536 "...auch sprach er kein erquicklich Wort".) - Wenn schon eine
Silbe mehr, dann dort, wo dadurch der Text fasslicher wird, z.B. könnte man ein "auch"
einfügen an folgender Stelle: "und sollt ihr weiter mich nicht treiben, Mächte, wer ihr [auch]
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seid!"(Vers 8658). - An dieser Stelle der Inszenierung wird auch deutlich was hoch
artistische Sprachform an Umsichtigkeit bei der Sprechgestaltung erfordert: die Pause von
Corinna Kirchhof hinter "treiben" ist m.E. zu lang. So wusste ich einen Augenblick nicht, ob
sich das "ihr" auf Helenas Mädchen bezieht (zumal sie die kurz vorher adressiert). Natürlich
war das nur eine ganz kurze Desorientierung - aber das reicht, um die Auffassung von der
Sache abzulenken und dadurch das Texterleben in seiner Entfaltung zu beeinträchtigen.
Schade! (Egal, ob Frau Kirchhof das versehentlich passiert ist oder ob Stein es durchgehen
ließ oder ob es als interpretatorische Freiheit gemeint ist: es ist eine lehrreiche Stelle.)
(Übrigens werden auch einige Namen unrichtig ausgesprochen, z.B. "Äskulap"
(Chironszene) und "Sardanapal" (Hochgebirge 4.Akt). Ist das Absicht? Kaum vorstellbar,
daß Stein die richtige Betonung nicht kennt oder die falsche durchgehen ließ. - Aber auf
solche Kleinigkeiten sollte man nicht zuviel Wert legen...)
•
Freilich bin ich mir unsicher, ob ich, der Laie, mir so ein Urteil anmaßen darf. Doch alles,
was ich beim Anschauen der DVD erlebe, legt mir nahe, daß diese Inszenierung auf langen
Strecken den Anforderungen des Textes nicht wirklich gerecht wird: Erschwerung der
akustischen Verständlichkeit zugunsten einer fragwürdigen Sprechästhetik; Ignorierung
vieler Möglichkeiten, das Sinnverständnis zu erleichtern; Entnervung durch "emergente"
Monotonie und massive Beeinträchtigung des Erlebens durch unökonomische und wenig
sinnige Beanspruchung der Aufmerksamkeit.
•
Ich frage mich, ob das Absicht war, oder ob Stein die wahrnehmungspsychologischen
Tatsachen weder theoretisch reflektiert noch bei den Proben bemerkt hat. Ich vermute hier
einen professionalitätsbedingten mangelnden Abstand zum Endprodukt: Stein weiß, was er
sich wie vorzustellen hat, aber ich frage mich, ob er sich auch vorstellen kann, was für eine
Vorstellung im Zuschauer entsteht.
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Die Gründgens Inszenierungen (Kino- und Hörspielfassung)
(1) Faust-Film (Faust 1)
Will Quadflieg "hastet" durch den Text, der Text scheint nur Staffage zu sein für eine klischeehaft
grimmige Faustgrimasse. Tempo und Dynamik sind fast monoton und ziemlich vorhersagbar, es
gibt nur minimale Modulationen in Stimme, Mimik und Geste. Die wirken dann aber auch um so
"erquickender". Doch im Ganzen wird der Text nicht ausgespielt. Es entsteht ein holzschnittartiger
Eindruck.
Diese "Inszenierungsphilosophie" betrifft hauptsächlich alle Szenen, in denen Faust alleine oder mit
Mephisto auftritt. Die "Hast" kommt zwar auch in den anderen Szenen immer wieder durch, aber
vor allem die Schülerszene oder auch viele Szenen der Margaretentragödie sind "ausgespielter". ·
Die "Gelehrtentragödie" wirkt dadurch viel flüchtiger und fragmentarischer als die Geschichte von
Margarete, sie bekommt fast so etwas episodisches wie die Tanz-, die Schüler-, die Kneipen- und
die Hexenszene. - Hinzu kommt, daß die Streichfassung zum Verständnis des Textes wichtige
Passagen dem Tempo opfert, so daß schon allein inhaltlich eine Verzeichnung entsteht.
•Das ganze Ausmaß der Ambivalenz Fausts kommt durch so ein Verfahren nicht zur Anschauung. Je
weniger Anschauung eine Inszenierung bietet, je schemenhafter, je erlebnisärmer sie ist, desto
weniger trägt eine Inszenierung auch zum Verständnis des Textes bei. Die Zuschauer müssen dann
die Schemen mit ihrem mitgebrachten Wissen selber ausfüllen, sie erleben nichts dazu, es wird
ihnen nichts geboten, was sie nicht schon selber kennen (hier: einen grimmigen Faust in seinem
faustischen Grimm). Die Figuren werden so auf eine Wiedererkennungs- und Erinnerungsfunktion
reduziert. Mit dieser Verarmung und Klischierung der Faustfigur geht Goethes Auseinandersetzung
mit dem Thema Ambivalenzkonflikte, die zu den größten Unruhestiftern im Menschenleben
gehören, verloren. -
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(2) Faust 1+2 als Hörspiel
Der "Hörspielfaust" ist im Eingangsmonolog noch deutlich erlebnisärmer: Man stellt sich einen
gemütlichen, onkelhaften, dickbäuchigen älteren Herrn vor, der behaglich im Ohrensessel sitzt und
seinen Enkeln erzählt, daß er auch mal Philosophie studiert hat und daß es das überhaupt nicht
gebracht hat. Viele andere Szenen sind aber lohnenswert, vor allem die Chironszene. Auch der
Helenaakt ist gewinnend. Allerdings hört sich die Helena doch etwas hausbacken an und der Faust
etwas zu salbungsvoll (doch das nannte man damals wohl "theatralisch"). Die Chöre im Helenaakt
sind gut anhörbar und der Sinn der Chöre vermittelt sich gut - im Gegensatz zu den Chören der
Steininszenierung. Allerdings ist die Hörspielfassung teilweise entstellend und wenig sinnreich
gestrichen. (Das gälte es im Einzelnen zu begründen.)
Es ist interessant: meist da, wo Faust und Mephisto nicht dabei sind, ist die Inszenierung
interessanter. Der Beginn des 4. Aktes: Monolog und Dialog bis zum Auftritt des Kaisers wirkt
einförmig. Will Quadflieg muß hier wieder die grimmige Faustgrimmasse aufsetzen, nachdem er im
einleitenden Monolog sehr salbungsvoll rezitieren musste. (Bsp: Vers 10231: "Und, weit hinein sie
in sich selbst zu drängen": wie Quadflieg hier spricht, erinnert mich an die Art, wie man Kindern
vorliest: dick aufgetragen, man will ihnen ja schließlich vormachen, was "faustischer Drang"
bedeutet.) Es wirkt auf mich etwas marionettenhaft: es hat etwas von der Steifheit, Ungelenkheit
und Stilisiertheit des Puppenspiels. (Und in der Tat: spätestens bei der Baucis glaubt man sich in die
Augsburger Puppenkiste versetzt.) Das scheint Absicht zu sein. Aber ich kann dem Beabsichtigten
nichts entnehmen. Es ist mir rätselhaft, was die daran gut fanden. Ich finde es nur verarmt. (So
verarmt wie die Streichfassung.)
Hinzu kommt, daß - übrigens auch bei Stein - manchmal zuviel Wert darauf gelegt scheint, die
Reime zu betonen (s.u. Reime). Offenbar ist das eine besondere Sprechtradition. Doch auf mich
wirkt es bestenfalls verbogen, manchmal aber nah am Rande dilletantischen Leierns. (Bsp: Verse
10379f: wie der Kaiser "empörten" auf "verheerten" reimt.) Ich weiß wirklich nicht, wer sich
ausgedacht hat, daß das sinnvoll oder schön sein soll. Ich finde es nur glitschig. Ich empfinde
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Reime als so stark, daß man sie nicht noch extra zu betonen braucht. Haben die nie ausprobiert, was
passiert, wenn man die Verse ganz normal spricht? Der Reim spricht doch für sich!
Die Dorninszenierung
Faust wird als komischer Kauz dargeboten, der niemandem gefährlich werden, über den man nur
lachen, den man nur bedauern kann. Die Folgekosten: auch Textpassagen wie "was kann die Welt
mir schon gewähren" verlieren viel von ihrer Expression. Auch viele andere Einzelheiten nimmt
man einem solchen Faust nicht mehr ab ("aus dieser Sonne quillen meine Leiden..." - "Kannst du
mich schmeichelnd je belügen..."). Und das Existentialistische "am End auch ich zerscheitern" geht
völlig verloren: man sieht einen unfreiwillig komisch leidenden Kauz. Die unfreiwillige Komik des
"alten" Faust überschattet selbst die "Liebeslieder" des verjüngten, wie z.B. Fausts Entrücktheit in
Margaretes Zimmer.
Überhaupt scheint das Grundprinzip der Inszenierung zu sein, Hässlichkeit, Alter, Unförmigkeit und
Lächerlichkeit zu exponieren. Es wirkt platt, die Gottesmutter abstoßend zu gestalten. Es ist keine
Kunst und sehr einseitig, auf diese Weise den Katholizismus zu kritisieren. So kommt man dem
nicht bei! Im Gegenteil: "Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt!"
Im Verlauf zeigt sich das Problem der Streichfassungen ähnlich wie bei Gründgens: die Szene in
Auerbachs Keller ist unverhältnismäßig lang, gemessen an den Studierzimmerszenen. Man kann sie
aber auch schlecht noch weiter kürzen, wenn sie nicht verstümmelt wirken soll. - Diese
Mißproportionaliät setzt den Streichfassungen eigentlich enge Grenzen. Doch die Regisseure
fürchten wohl, daß das Publikum zu wenig Zeit hat... Andererseits gibt es z.B. in der Hexenküche
unnötige Längen. Das ist lehrreich. - Das die Szene "Straße" weggelassen wurde, ist unverzeihlich.
Es ist eine der wichtigsten Szenen: hier wird dem Unbewussten auf die Finger geschaut: man sieht,
wie Faust seinen Betrug an Margarete vor sich selbst kaschieren will.
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Margaretes erstes großes Solo mit Kästchen hat zu viele Verlegenheitslösungen um Zeit zu sparen.
Einiges ist unüberzeugend, z.B. Mephistos Wut, als er über den Verbleib des Kästchens Bericht
erstattet. Es ist dabei auch sprachlich schwer verständlich, jedoch auch hier voll süffisanter
Einzelheiten virtuoser Schauspielkunst.
Überhaupt ist die Textverständlichkeit stellenweise mangelhaft. Ich verstehe nicht, wieso
Regisseure immer wieder virtuose Sprachgestaltung so überdehnen, daß man sich anstrengen muß,
die Worte zu verstehen. Das ist auch nicht virtuos, weil es einem der konstituierenden Parameter
nicht gerecht wird. - Jede Anstrengung beim akustischen Verständnis geht auf Kosten der
Erlebnisfähigkeit!
Aber trotz allem wird man des Schauens nicht satt. So sehr man die Maschen auch durchschaut: sie
sind verdammt gut gemacht und im Einzelnen einfalls- und erlebnisreich dabei aber immer sinnig
und stimmig, im Dienste des Stücks.
Zugabe: Goethe und Quote –
Warum die Publikumswirksamkeit von Goethes Faust
verkannt wird und was das mit ARD und ZDF zu tun hat.
Goethes Faust könnte ein Musterbeispiel dafür sein, daß bedeutungsvoller Gehalt so dargeboten
werden kann, daß keiner wegzappt. - Unkenntnis und Mißverständnis haben bisher zur Verkennung
des Stücks geführt, weil es durch Lesen nur mühsam zu erschließen ist, weil zu viel in das Stück
hineingeheimnist wurde, und weil seine Inszenierungen an Einfallslosigkeit und postmodernem
Brimborium leiden. Die Folge: Wir haben einen legendären Brillianten, der wie ein stumpfer
Rohling aussieht. Aber das traut sich niemand zu sagen, dafür ist er zu legendär. Um seinem
Nimbus gerecht zu werden, stellt man ihn in allen möglichen Arrangements zur Schau,
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doch niemand kommt auf die Idee, einfach mal den Staub runter zu pusten. [Anm.: Was
ich einfallslos finde, S. 24] - So geht es mit vielen Kunstwerken, die zum "Bildungsgut"
mißverstanden wurden, von Bildungsbürgern, denen es mehr darauf ankommt, sich mit Bildung zu
schmücken, statt sich engagiert damit zu beschäftigen. - Kunstwerke gehören nicht ins Museum
sondern ins Leben. Sie sind reiche Ressourcen von Lebensfreude, Lebensbejahung und
Bewältigung der menschlichen Fragen ans Dasein. - Es ist ungeheuerlich, was den meisten
Menschen heute entgeht, weil sie von den Kaufleuten darauf getrimmt werden, Spaß haben zu
wollen, statt sich Kunstwerke zu erschließen. Viele intelligente junge Leute sagen mir, es sei ihnen
zu mühsam, eine Beethovensinfonie zu hören. Das wirkt greisenhaft. - Goethes Faust könnte uns
zeigen: Das Unterhaltsame muß nicht gehaltlos sein, das Faßliche nicht dümmlich und das
Reizvolle nicht kitschig. (Beethovensinfonien zeigen das auch, aber die hört ja niemand - dabei ist
Beethoven in seinen Sinfonien der größte Zauberkünstler, was die Verbindung von Gehalt,
Stringenz, Faßlichkeit und "Hörlust" betrifft...)
Die guten Ansätze in den Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ("Örr") zeigen, daß
wir vieles längst haben, was man für gutes Fernsehen braucht, nur kommt die Kompetenz nicht zum
Zuge. - Die Forderung, daß der Örr eine bestimmte Quote erzielen soll, ist unabdingbar. Es geht
nicht, daß alle bezahlen, was nur wenige interessiert. Der Örr hat daraus bloß den falschen Schluß
gezogen: um der Quote Willen den Privaten nachzueifern mit Trivialisierung und Vulgarisierung. Von einem Örr ist Qualitätsquote zu fordern: Sendungen mit einer Qualität, die von der privater
Sender deutlich und zuverlässig unterscheidbar ist und die dennoch mindestens soviel Quote erzielt,
wie die Privaten. - Die Erfahrung, die der Örr bis jetzt mit der Quote gesammelt hat, sind
unschätzbar: Der Örr weiß, wann weggezappt wird. Das gilt es auszuwerten. Und es gilt, mit diesen
Auswertungen systematisch Experimente zu machen. Aber ich habe bei meinen Recherchen keinen
Hinweis darauf gefunden, daß soetwas je stattgefunden hat! Doch genau das wäre nach
der Einführung der privaten Sender die Aufgabe des Örr gewesen: mit unterhaltungs- und
informationsästhetischen Möglichkeiten zu experimentieren und neue zu entwickeln. - Sollte mein
Befund richtig sein, hätte der Örr seinen Auftrag eklatant verkannt oder ignoriert - oder auf gut
deutsch: verkackt. - Nichts könnte besser belegen, daß der Örr nicht über zureichende
Kompetenzstrukturen verfügt: Die, die wissen, wie´s geht, kommen offenbar nicht zum Zuge. Nur
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die Funktionäre haben das Sagen, denen es um nichts anderes geht als um eine blinkende
Oberfläche, um "Gilt-Als" und "Als-Ob". - Aber was nützt ein äußerlich prächtiger Apfel, wenn er
innendrin mehlig ist? Zumal, wenn er als Qualitätsobst verkauft wird...
Sicher, Qualitätsserien wie "The wire" oder "House of cards" hätten im Hauptabendprogramm
kaum Quote. Sie sind dafür zu "sperrig". Aber es wäre kein Problem, etwas mit vergleichbarem
Gehalt auf gleichem künstlerischen Niveau zu produzieren, das faßlicher und unterhaltsamer ist. Manche "Tatort"-Krimis zeigen diesbezüglich gute Ansätze. - Die Drehbücher müssen gehaltvoller
und künstlerisch wertvoller werden und Anklänge an Dilletantensprech bei den Schauspielern
dürfen nicht durchgehen. Es ist ein Rätsel, wieso beim reichsten Fernsehen der Welt im
Hauptabendprogramm Abend für Abend Dilletantismus präsentiert wird, billig und hastig
produzierte Dutzendware, die sich von der der Privaten höchstens dadurch unterscheidet, daß sie
von den Anstandswauwaus der Gremien sittlich zurechtgebellt wurde.
Weitere Beiträge zu dieser Thematik: Blochin oder die Möchte-Gern-Qualität des ZDF
ZDF-Krimiabend: Wie lächerlich will sich das ZDF machen? - Laienspiel.
Zum
Pfingstmontags-"Tatort"
Anm.:
Was ich einfallslos finde, an den Faust-II-Inszenierungen, die ich bisher sah? - Die Möglichkeiten,
Kommentare in die Inszenierung zu integrieren, wurden nicht genutzt. Dabei haben wir heute auf
der Bühne alle Freiheiten! - Mephisto z.B. fällt gern aus der Rolle. Wenn man ihn nur ließe, würde
er sich keine Möglichkeit entgehen lassen, etwas ironisch zu kommentieren... - Merkwürdig
eigentlich: der Kreativität der Regisseure und Dramaturgen wäre da keine Grenze gesetzt. Die
wollen doch so gerne super kreativ sein! Die Ausarbeitung solcher Kommentare stellt höchste
Anforderungen an Witz und Prägnanz und es erfordert viel Kreativität, das Kommentieren so
hinzukriegen, daß es paßt: das es sich nahtlos einfügt, die Stringenz eher erhöht statt stört, und daß
es so sparsam eingesetzt wird, daß es das Stück nicht überfrachtet. - Leider nutzen die
Regisseure ihre Kreativität eher dazu, den Wanderer auf Rollschuhen um Baucis herumkreisen zu
lassen, die von einer jungen Frau im Hochzeitskleid gespielt wird (so geschehen in Weimar).
- Stemann lud gleich Goethe persönlich mit seinem Faust-II-Team live auf die Bühne ein. Das war
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eine gute Idee. Aber offenbar hatten die keinen Bock, denn es kam nichts dabei herum. Außerdem
würde Mephisto das viel unaufwändiger und eleganter hinkriegen. Und es gibt in dem Stück weiß
Gott auch noch genug andere, die über das, was sie da machen, mal nen Ton mehr sagen könnten,
als vorgeschrieben...
Unser reim auf Copyright
So schick ich euch denn still und leise
Liebe Worte, auf die Reise.
Mich freut es, wenn ihr nützlich seit,
Und jemand euren Sinn entleiht.
Doch wenn euch jemand einfach stielt,
Fremden Namens mit euch dealt,
Dann seit nicht sauer, denket eher:
Mit fremden Federn fliegt sichs schwer.
.
Ein Tipp für den Gedankendieb:
Folg mal dem Sinn und nicht dem Trieb.
Und was ist schon daran so schwer,
Anzugeben, wo ists her?
Ein rechtes Wort am rechten Ort
Bringt immer Lob und zwar sofort.
Und wenns nicht von Dir selber ist,
So rühmt man, wie Du kundig bist.
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